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Titel: Der russische Muschik
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 42–44
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: teilweise pejorative Schilderung von Muschiks und ihrem Leben
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Der russische Muschik.

Mit Originalzeichnungen von G. Broling.

Vor dem „Obros“.

Alle Großstädte besitzen mehr oder minder ihre eigenartigen Volkstypen, die ein Spiegelbild des betreffenden nationalen und gesellschaftlichen Lebens sind. In den Städten Mitteleuropas haben indeß die Alles nivellirenden, unaufhörlich fortschreitenden Kulturbestrebungen schon viel Althergebrachtes und Eigenthümliches verwischt und dem öffentlichen Leben ein gleichförmiges Kleid angezogen, das man füglich die Ordonanzuniform unserer nüchternen Zeitrichtung nennen könnte. Nur im äußersten Süden, im Osten und Nordosten Europas hält man noch zähe an den nationalen Ueberlieferungen fest, aus denen sich naturgemäß verschiedene eigenthümliche Typen herausgebildet haben, die ausschließlich nur den betreffenden Ländern und Städten angehören. Wer könnte sich Neapel ohne Lazzaroni, den Osten ohne seine vielerlei charakteristischen, farbenprächtigen Gestalten, Petersburg und Moskau ohne Muschik denken?

Muschik, das fremde Wort, läßt sich schwer übersetzen. Es bedeutet nicht schlechthin Bauer, wie Viele meinen mögen, welche von Land und Leuten in Rußland eine oberflächliche Kenntniß nahmen. Bauer ist im Russischen „Kristjanin“, und so bezeichnet er sich auch selbst. Muschik hingegen ist Mann, der gemeine Mann. Auch der Ehemann wird so von den Frauen des niederen Standes bezeichnet: „Moi Musch“, mein Mann. „Mi Muschiki“ (wir Leute) hören wir auch den russischen Arbeiter sagen, wenn er von sich und seines Gleichen spricht. Sodann hat Muschik auch den Sinn von „Bauernkerl“, in so fern man nämlich einen Tölpel bezeichnen will.

Treffender hätte unser Künstler diesen Begriff der russischen Sprache, diese Figur der russischen Welt nicht illustriren können. Den Typus des Kristjanin, des russischen Bauern, dürfen wir uns ästhetischer und um vieles netter, sauberer vorstellen. Sauber und malerisch selbst dann, wenn wir auch keinen bäuerlichen Stutzer und Dorfprinzen im faltigen Manchesterbeinkleid und dunklen ärmellosen Kaftan, unter welchem das über dem Beinkleid getragene, grellfarbige Hemd von Zitz oder Seide gar elegant hervorlugt, im Auge haben. Der Stift des Künstlers zeigt uns [43] aber einen Mann des Volks, der, die ländliche Beschäftigung hinter sich lassend, in den Städten als Arbeiter thätig ist.

Beim Sonnenaufgang.

Mittagsschläfchen.

Mehr noch in Moskau als in St. Petersburg ist der Muschik eine oft wiederkehrende Figur in dem Straßenleben. Oefter als heut zu Tage begegneten wir ihm zur Zeit der Leibeigenschaft, wo die Adeligen Leibeigene in großer Zahl zu Dienstleistungen nach der Stadt brachten und außerdem dieselben für alle möglichen Arbeiten vermietheten. Nahmen nun auch die Herren eine bestimmte Abgabe (Obrok) von dem Verdienst des Arbeiters, so blieb immerhin der leibeigene Bauer in gesicherter Lage, da es im Vortheil seines Herrn lag, das nutzbringende Objekt, den Leibeigenen, ertragsfähig zu erhalten. Heute ist der Muschik freier Arbeiter und sein eigener Herr, und zwar in vielen Fällen nicht zu seinem Vortheil und Gewinn. Seine Leichtlebigkeit, seine Bedürfnißlosigkeit und ganz besonders sein Hang zum Branntwein verschulden es, wenn er nur ausnahmsweise seine Existenz dauernd verbessert, „es zu etwas bringt.“ Der Muschik ist trotzdem kein landloser Bauer, da seit der Aufhebung der Leibeigenschaft allen Bauern in Rußland Land zugewiesen wurde. Sein Antheil am Grund und Boden bleibt ihm darum gesichert, und so verläßt er in den meisten Fällen zur Zeit der Ernte die Städte und hilft seiner auf dem Lande zurückgebliebenen Familie, die Feldfrucht und das Heu einheimsen. In diesem Falle bringt er wohl den Seinen das in der Stadt Erworbene heim oder verwendet es zur Verbesserung seines Besitzes im Dorfe. Die Bauern jedoch, welche sich von der heimischen Scholle lossagten und ihren ständigen Aufenthalt in der Stadt haben, obschon sie gesetzlich noch stets als im Dorfe ansässig und dahin gehörig betrachtet werden, haben sich am allerhäufigsten von den schädlichen Einflüssen der Stadt nicht fern halten können, und es ist eben besonders der Genuß des Branntweins, der hier so verderblich wirkt. Wir sehen darum auch, daß der Künstler dem Muschik als sein Wahrzeichen, die, wenn auch in künstlerischer Freiheit etwas zu groß gerathene Flasche in den Arm gegeben. In der ersten Skizze finden wir ihn bei der Morgenandacht vor dem Obros (Heiligenbild) knieend, vor dem er sich übrigens nur unzählige Male verbeugen und bekreuzigen wird; denn eigentliches Gebet gehört kaum zu den religiösen Uebungen, die er mit großer Gewissenhaftigkeit beobachtet. Die große Schnapsflasche im zweiten Bild, mit welcher er beim Sonnenaufgang im Piteinin Dom, dem Branntweinladen, erscheint, will er sich keineswegs, wie man glauben möchte, füllen lassen; er kann sie höchstens gegen eine neue umtauschen; denn die alkoholischen Getränke dürfen in Rußland durchaus nicht wie in Deutschland und anderwärts nach dem Maß verkauft und verschenkt werden, sondern nur in versiegelten Gefäßen, die vom kleinsten bis zu den größten mit den russischen Steuerzetteln „verklebt“ sind. Der Branntwein bildet in Rußland ein Regal und die Haupteinnahmequelle des Staates, deren Erträgniß etwa 200 Millionen Rubel jährlich beträgt.

Mittagsmahl.

Beim Pfeifchen „Machorka“.

Wir finden den Muschik sodann bei der Arbeit; er leistet alle möglichen Dienste. Namentlich als Zimmermann zeigt er sich findig und anstellig. Seine Mahlzeit ist äußerst frugal, bescheiden und fast stets die gleiche: Kohlsuppe (Schtschi), Grütze von Buchweizen (Kascha) und grobes, schwarzes Roggenbrot; als Erfrischungsgetränk liebt er ungemein den nationalen Kwas, aus gesäuertem und gegohrenem Brotteig bereitet. Häufig sieht man ihn sein Mittagsbrot auf der Straße verzehren, das dann wohl bei den Pflasterern etwa auch nur aus Schwarzbrot und Wasser besteht. Sehr gebräuchlich aber ist es, daß die sogenannten „schwarzen“ Arbeiter sich zu einem Artel, zu einer Genossenschaft von Zwölfen und mehr vereinigen, um gemeinsame Menage in einem gemeinsamen Quartier zu machen. Volksküchen, welche als wohlthätige Anstalten in den Hauptstädten Rußlands unterhalten werden, besuchen in der Regel nur die Vagabunden und Bettler.

Ohne Rücksicht auf irgend welche Bequemlichkeit finden wir in den russischen Städten regelmäßig in der Mittagspause den Arbeiter im Freien, etwa auf dem Pflaster, falls dieses gerade sein Tagewerk ausmacht, zu einem Schläfchen ausgestreckt. Daß er sich bei der Arbeit des Wassertragens den Luxus eines Pfeifchens gestattet, beobachtet man seltener, obschon er den narkotischen Genuß des Tabaks keineswegs verschmäht. Indessen sind hierbei seine Ansprüche ungemein bescheiden. Er stopft sich in geschickter Weise in ein wenig Zeitungspapier, das er zu einer Cigarrette oder kleinen Pfeife zu drehen weiß, eine dem europäischen Westen [44] unbekannte, für denselben unmögliche billige Tabakssorte, die „Machorka“, welche auf den Feldern des südlicheren Rußlands gedeiht. Oder aber er schmaucht vergnüglich die letzten Züge aus dem Endchen eines „Papiros“, welches von dem eleganten Flaneur bei Seite geworfen wurde und von ihm sorgsam aufgehoben und aufbewahrt wird. Seltener schon raucht er aus einem kleinen messingenen Pfeifenkopf, wie unsere Skizze es zeigt. Der vielverbreitete, in Rußland unentbehrliche Samowar, die Theemaschine, gehört auch für Individuen, wie sie des Künstlers Griffel wiedergiebt, nicht gerade zum seltenen Luxus; der Theegenuß wird in Rußland ein immer allgemeinerer, und unser Muschik, der sich mit seinen Genossen behaglich um den Samowar reiht, wird gar gern nicht nur ein halbes, sondern ein ganzes Dutzend Gläser oder Schalen des dampfenden „Tschai“ schlürfen.

Beim Samowar.

Kamarinskaja.

Ganz regelmäßig pflegt der gemeine Russe die Woche mit einem Dampfbade zu beschließen, und so sehen wir unsern Muschik auf einer der Skizzen aus dem Bad kommend noch mit einem Bündel von Birkenruthen bewaffnet, mit denen er sich den mit Seifenschaum bedeckten Körper zu peitschen und zu frottiren pflegt. Eine Sitte, welche den niederen Ständen in Deutschland trotz ihrer hygienischen Vorzüge leider ganz unbekannt ist.

Ein anderes Bild führt uns die Stellung und Bewegungen des Muschik beim Kasak und Tropak vor, jenen originellen Nationaltänzen, die sich in dem Tanze Kamarinskaja vereinigen und für den gemeinen Russen den Inbegriff aller Lust bilden.

Das letzte Bild zeigt uns ein durchaus realistisch wiedergegebenes Interieur einer Bauernstube oder Schenke, wo ein Muschik in schwerem Schlafe auf einem Ofenungethüm ausgestreckt liegt.

Nach dem Bade.

Eine warme Schlafstätte.

Wenn uns auch der Künstler getreue und äußerst charakteristische Typen, die den russischen Städten eine ganz eigenartige Physiognomie geben, in seinen Bildern vorführt, so würde man sich doch irren, wenn man aus ihnen auf die Allgemeinheit schließen wollte. Es ist im Gegentheil darauf hinzuweisen, daß das russische Volksleben anziehenderer und ästhetischerer Motive nicht entbehrt, und daß wir vielmehr nur eine jener wenig sympathischen, aber doch häufigen Gestalten aus der niedersten und armseligsten Volksschicht vor uns sehen. Ein Stück socialen Elends, welches für Rußland so gefahrdrohend wird, ist in dem Leben des Muschik enthalten, welcher nur die harte Arbeit und die groben Genüsse des Lebens kennt. Sein Dasein ist ein Vegetiren, welches eben nur durch die Aufregungen des Branntweingenusses erträglich wird. Lehrt nun die Statistik, daß die westeuropäischen Länder zum Theil mehr Branntwein konsumiren als Rußland, so ist doch der Genuß desselben im Westen und Osten ein grundverschiedener. Der deutsche Arbeiter z. B. wird täglich ein bestimmtes kleineres Quantum Branntwein zu sich nehmen; der russische wird vielleicht eine Woche, ja nach Umständen einen Monat nüchtern bleiben, um sodann sich im Uebermaß, tagelang bis zur Sinnlosigkeit zu betrinken, und eben hierin liegt das unbedingt Schädlichere. In dieser Hinsicht nähern sich die russischen Verhältnisse gewissermaßen den seltenen Ausnahmen in den westeuropäischen Staaten. Auch in Holland giebt es einige wenige Distrikte, wo die Erdarbeiter zur Zeit der Kanal- und Dammbauten den Branntwein als Lohn verlangen und in ungeheuren Mengen trinken. Die russische Regierung arbeitet dem Uebel trotz der großen Einnahme, die sie aus dem Branntwein bezieht, mit aller Kraft entgegen, die Schädigung der Nationalwohlfahrt durch dasselbe sehr wohl erkennend. Sie hat noch kürzlich die Schenken um 80 000 im Reiche vermindert. Ebenso giebt es Gutsbesitzer, welche auf 10 Werst im Umkreise die Schenkgerechtigkeit erwerben, eine Branntweinschenke nicht gestatten und durch diese Maßregel die Pflege der Landwirthschaft und die Wohlhabenheit des Bauern ersichtlich heben. Und so darf von der Zukunft die Eindämmung der Branntweinpest in Rußland, die dem gewaltigen Reiche unberechenbare Nachtheile bringt, wohl erwartet werden.