Der neue Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses

Textdaten
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Autor: R.
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Titel: Der neue Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 93–95
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der neue Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses.


Rudolf von Bennigsen.
Auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Wenn man in der gegenwärtigen Session des preußischen Abgeordnetenhauses einer der zahlreichen interessanten Verhandlungen beiwohnt, so erblickt man in dem Präsidentenstuhle, den bisher der bekannte Herr von Forckenbeck mit so großer Ehre eingenommen hat, einen Mann, dessen aristokratisch stattliche Figur und intelligente Züge unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die ganze Erscheinung trägt den Typus der norddeutschen Natur und imponirt weniger durch bestechende Eigenschaften, durch glänzende Genialität, durch hinreißende Beredsamkeit, durch geistreiche Blitze, durch überraschenden Witz, als durch eine harmonische Bildung, durch praktische Tüchtigkeit und männliche Kraft, die unwillkürlich Vertrauen und Achtung fordert und verdient. Die Sicherheit und Ruhe, womit der neue Präsident die oft nur zu stürmischen Verhandlungen leitet, die Unparteilichkeit, welche er bei solchen Gelegenheiten zeigt, die Würde, die er sich und dem Hause stets zu wahren weiß, verrathen eine langjährige parlamentarische Thätigkeit, einen festen Charakter, ein bedeutendes staatsmännisches Talent.

Rudolf von Bennigsen stammt aus einem alten niedersächsischen Adelsgeschlecht und wurde am 10. Juli 1824 in Lüneburg geboren, wo sein höchst gebildeter Vater damals als Major in Garnison stand. Der Knabe genoß im elterlichen Hause eine ausgezeichnete Erziehung, die ihn vor den Vorurtheilen seiner hannoverschen Standesgenossen, die bekanntlich zu den beschränkt übermüthigsten Aristokraten zählen, glücklich bewahrte. Genügend wissenschaftlich vorbereitet, bezog er die Universität Göttingen, später Heidelberg, um die Rechte zu studiren. Obgleich er als Corpsbursche sich an einer Verbindung betheiligte, so zeigte er schon damals einen gewissen Ernst und eine ihm angeborene Zurückhaltung, die fast an Verschlossenheit grenzte. [94] Seine Commilitonen behaupteten, daß Bennigsen erst bei der zweiten oder dritten Flasche aufthaute und auch dann noch seine unerschütterliche Ruhe behauptete.

Nachdem er seine Studien beendet hatte, trat er in den hannoverschen Justizdienst. Obgleich ihm die glänzendsten Aussichten eröffnet wurden, zog er eine bescheidene, aber unabhängige Richterstellung an dem Obergerichte in Göttingen vor. Hier trat er bald mit einigen ausgezeichneten Männern in Verbindung, unter denen der berühmte Zachariä und der bekannte Abgeordnete Miquel einen großen Einfluß auf seine politische Richtung ausübten, während die reichen Hülfsmittel der Universität ihm die Gelegenheit boten, sein juristisches und staatsmännisches Wissen zu bereichern.

Im Jahre 1855 ward er von der hannoverschen Stadt Aurich zum Mitgliede der zweiten Kammer gewählt, doch versagte ihm der Justizminister zum Eintritt die erbetene Erlaubniß. Ohne sich zu besinnen, verzichtete Bennigsen auf den Staatsdienst und auf seine Richterstelle, die er ohne Pension verließ. Ihm stand seine Unabhängigkeit und der Wunsch, dem Volke zu nützen, höher, als alle Güter der Welt, als die Gunst des Fürsten, als die eigene Zukunft.

Mit der ihm angeborenen Energie und praktischen Tüchtigkeit widmete er sich der Landwirthschaft und übernahm, nachdem er einige Zeit die Oekonomie gründlich betrieben, das väterliche Erbgut Bennigsen.

Bei den Neuwahlen im Jahre 1857 mit großer Mehrheit zugleich für Danneberg und Göttingen gewählt, trat er für die letztere Stadt in die Kammer. Hier bekämpfte er an der Spitze der kleinen Opposition das verderbliche System des Ministeriums Borries, welches die im Jahre 1848 errungene Freiheit des Landes mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu unterdrücken suchte. Er begnügte sich jedoch nicht mit den hannoverschen Zuständen, mit den Verhältnissen seines engeren Vaterlandes, die er nach Kräften zu bessern und zu heben versuchte. Sein staatsmännischer Blick ließ ihn bereits im Jahre 1859 die Gefahren erkennen, welche dem zersplitterten, in sich zerrissenen Deutschland damals von einem auswärtigen Feinde drohten. Ganz von diesem Gedanken erfüllt, vereinigte er sich mit mehreren seiner bewährten Gesinnungsgenossen, um einen Mittelpunkt für die politisch-nationalen Bestrebungen zu schaffen. Mit seinem Freunde Miquel entwarf er eine Erklärung, welche gleichsam das Programm des neuen deutschen Reiches enthielt und durch die nachfolgenden Ereignisse fast wörtlich verwirklicht wurde. Schon damals forderte Bennigsen ein gemeinsames deutsches Parlament, eine starke Centralgewalt, die er der preußischen Regierung übertragen wissen wollte. Dieses historisch wichtige Programm erhielt sogleich die Unterschrift von fünfunddreißig hervorragenden, liberalen Männern.

Wenige Wochen später berief Bennigsen eine Versammlung aus allen Theilen Deutschlands nach Eisenach, welche jene bekannte, wie ein Blitz zündende Ansprache erließ. Die Wirkung war überraschend, überwältigend; durch ganz Deutschland flog von Neuem der Ruf nach Einheit und fand in allen Herzen den mächtigsten Wiederhall.

In der alten Kaiserstadt, in Frankfurt am Main, wurde der Grundstein zu dem neuen Baue gelegt, der in kurzer Zeit, wenn auch von anderen Händen, vollendet werden sollte. Am 15. und 16. September 1859 wurde unter Vorsitz von Bennigsen und im Verein mit Feodor Streit, Fries in Weimar, Schulze-Delitzsch, Unruh, Löwe-Calbe, Brater in München, Miquel etc. etc. der Deutsche Nationalverein gegründet, welcher trotz aller Hindernisse und Anfechtungen von Seiten eines beschränkten Particularismus mit bewunderungswürdiger Kraft und Ausdauer sein hohes Ziel verfolgte, den Boden vorbereitete und die segensreiche Saat ausstreute, welche erst nach Jahren die sehnlichst erwünschten Früchte tragen sollte. Dies ist und bleibt Bennigsen’s unsterbliches Verdienst, daß er zu dieser wichtigen historischen Verbindung die erste Anregung gegeben, daß er zuerst den einzig richtigen Weg zur Erlangung der deutschen Einheit gezeigt und die dahin zielende Bewegung in Fluß gebracht hat, indem er sein Ziel auf friedlichem Wege und ohne blutigen Kampf zu erringen hoffte. Muthig ertrug er die unausbleiblichen Anfeindungen der hannoverschen Particularisten, welche ihre Angriffe gegen ihn verdoppelten. Nichtsdestoweniger bewahrte er sich die Liebe und die Achtung seiner aufgeklärten Landsleute, die ihn als Vertrauensmann in die Vorsynode zur Entwerfung einer verbesserten Presbyterial- und Synodalverfassung wählten.

Obgleich Bennigsen diesen religiösen Streitigkeiten fern stand und offen erklärte, wenig oder gar nichts davon zu verstehen, so genügte ein kurzes Studium und sein scharfer Blick in wenigen Tagen, das ihm fremde Gebiet zu bewältigen und sich eine so klare Ansicht zu verschaffen, daß er seine Freunde und Gegner überraschte und das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen rechtfertigte.

Daß er auch in diesen kirchlichen Streitigkeiten das freisinnige Gemeindeprincip vertrat, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Hauptsächlich durch seine Bemühungen wurde die beschlossene Synodal- und Presbyterialverfassung angenommen und dadurch das bereits erschütterte System des Ministeriums Borries beseitigt.

Nach wie vor stand Bennigsen an der Spitze der hannoverschen Opposition und kämpfte gegen das neue, zwar gemäßigte, aber großdeutsch oder vielmehr österreichisch gesinnte Ministerium. Vergebens ließ er vor dem Ausbruche des Krieges im Jahre 1866 seine warnende Stimme ertönen; umsonst suchte er mit seinen Freunden die hannoversche Neutralität zu wahren. Der bethörte blinde König und die noch blinderen Räthe der Krone verschlossen diesen wohlgemeinten Mahnungen ihre Ohren und führten die unausbleibliche Katastrophe herbei, welche den Thron der Welfen und die Selbstständigkeit des Landes nach der Schlacht von Langensalza vernichtete.

Die nächste Folge dieser veränderten politischen Verhältnisse war die Bildung der nationalliberalen Partei, deren Führung Bennigsen übernahm. Mit seinen Freunden stellte er sich zunächst die Aufgabe, Deutschland in einen parlamentarischen Bundesstaat umzuwandeln, was nur mit Hülfe und im Verein mit der preußischen Regierung möglich schien. Ohne seine liberalen Grundsätze aufzugeben, glaubte er der vor allem von ihm gewünschten deutschen Einheit manche Concession machen zu müssen, wodurch er sich den Vorwurf der Vertrauensseligkeit und einer allzu großen Nachgiebigkeit gegen die preußische Regierung zuzog. Sowohl im norddeutschen Reichstag, wie im preußischen Abgeordnetenhause, zu dessen Vicepräsidenten er gewählt wurde, nahm er als Führer der nationalliberalen Partei den lebendigsten Antheil an den parlamentarischen Kämpfen, in denen er oft durch sein Wort und seinen Achtung gebietenden Einfluß den Ausschlag gab. Obgleich von jeher der entschiedenste Gegner eines beschränkten Particularismus, bewahrte er doch seinem engeren Vaterlande eine treue Anhänglichkeit, indem er der neuerworbenen Provinz Hannover ein möglichst zulässiges Maß provinzieller Selbstständigkeit zu bewahren und die gute administrative und communale Organisation zu erhalten suchte. Er wurde deshalb von den Provinzialständen zum Landesdirector gewählt und an die Spitze der Selbstverwaltung gestellt. Auch die preußische Regierung wußte die staatsmännische Fähigkeit Bennigsen’s zu würdigen und schenkte ihm ihr ehrenvolles Vertrauen.

Während des deutsch-französischen Krieges begab er sich mehrere Male im Auftrage seiner politischen Freunde nach Süddeutschland, um sich mit den dortigen Liberalen über eine gemeinsame Haltung in der deutschen Verfassungsfrage zu verständigen. Hauptsächlich seinen Bemühungen gelang es, das gewünschte Resultat herbeizuführen und die vielfachen Vorurtheile und Hindernisse zu beseitigen, wozu seine objective Ruhe und vermittelnde Natur, sowie seine hochgeachtete Persönlichkeit das Meiste beitrugen. Aus demselben Grunde wurde er im December 1870 von der preußischen Regierung nach dem deutschen Hauptquartier in Versailles berufen, um an den Berathungen über die Verträge zwischen den süddeutschen Regierungen und dem norddeutschen Bunde theilzunehmen. Nach dem Kriege widmete er sich von Neuem mit gleichem Eifer der parlamentarischen Thätigkeit sowohl im deutschen Reichstage, wie im preußischen Abgeordnetenhause, das ihn nach dem Ausscheiden Forckenbeck’s mit großer Majorität zu seinem Präsidenten gewählt hat. Auch in dieser neuen Stellung bewährt er seine ihm eigene Tüchtigkeit. Hier, wie in allen Lagen seines Lebens, leistet Bennigsen mehr, als seine Freunde und Gegner von ihm erwarteten; ein echter Deutscher, ein Aristokrat im schönsten Sinne des Wortes, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, edel, wahr und treu, im gewöhnlichen [95] Verkehr verschlossen, lebhaft in der Unterhaltung über ernste Fragen, ist er weniger geschickt zum Organisiren der Partei im Kleinen, desto trefflicher aber in der Oberleitung derselben, als Redner in der Form musterhaft, voll tiefer Gedanken und staatsmännischer Anschauungen, tiefblickend in die zukünftigen Ereignisse, niemals muthlos, sondern stets zuversichtlich auf den endlichen Sieg seiner Ideen. Hier und da wünschten früher seine Freunde wohl ein entschiedneres Auftreten, aber von Niemandem, auch von seinen Gegnern nicht, wird der Vorwurf erhoben werden, daß er jemals seiner Ueberzeugung untreu geworden.

R.