Der heimliche Gast
„Lassen Sie nur, Liese! Ich werde ohne Mühe schon allein fertig.“
So ganz ohne Mühe geschah es aber doch nicht; denn die schlanke Dame, welche lieber sich selbst helfen, als den Beistand der Dienerin annehmen wollte, mußte sich auf die äußersten Fußspitzen erheben und sich weit über den runden Eßtisch vorneigen, um die Majolikaschale in dessen Mitte zu setzen. Die Blumen und Gräser, von den schönen Händen geordnet, schmückten nun die festlich gedeckte Tafel; die zierliche Gestalt richtete sich wieder auf, und ein rascher Griff stellte ein zur Seite geschobenes Glas in die symmetrische Reihe zurück.
„Sie haben doch Susannen gesagt,“ fuhr die Herrin, während sie die durch die frühere Berührung zerknitterte Damastserviette von Neuem zum kunstvollen Aufbau formte, in ihren Unterweisungen fort, „daß der Braten nicht zu sehr ausschmoren darf? Mein[WS 1] Bruder liebt ihn, wenn er noch im Safte ist, und er soll zu Hause die Table d’hôtes nicht vermissen. Wir müssen ja auch vor der jungen Frau Ehre einlegen.“
„Ist geschehen, wie das gnädige Fräulein befohlen, aber —“
„Und dann soll Fritz immer bei meiner Schwägerin mit dem Serviren beginnen, nicht bei mir.“
Ein zufriedener Blick überflog noch einmal den Tisch, und so blieben die Zeichen und Mienen des Mädchens unbeachtet. Jetzt faßte sie sich ein Herz und sagte:
„Ja, gnädiges Fräulein, ich habe es ihm schon eingeschärft, aber der Herr Statthaltereirath stehen schon eine Weile hier.“ Liese deutete nach der Thür des kleinen Speisezimmers.
Das Fräulein, das derselben den Rücken zugekehrt hatte, wendete sich überrascht um, hatte aber nur ein flüchtiges Kopfnicken für den auf der Schwelle Stehenden, der jeder Bewegung der zarten Figur, die sich eben in ihrer ganzen Geschmeidigkeit und Grazie gezeigt, mit Blicken voll warmer Bewunderung gefolgt war. Unter den starken Brauen funkelte es wie jugendliches Feuer in den blauen Augen, die im Widerspruche zu dem Eindruck der ganzen Erscheinung standen; denn der Herr Statthaltereirath war bereits ein Mann in jenen Jahren, die man die „besten“ zu nennen liebt. Das kurzgehaltene, dunkelbraune Haar stand zwar noch dicht, zeigte aber in scharfer Beleuchtung schon den verrätherischen Stahlglanz der höheren Mannesjahre, und zwei Silbersträhnchen theilten glitzernd zu beiden Seiten des Kinns den schönen vollen Bart, in den sich der markig und ansprechend geformte untere Theil des Gesichtes verlor. Auch die gesetzte Haltung, die gelassenen Bewegungen der breitbrüstigen Gestalt standen in scheinbarem Gegensatze zu der Lebhaftigkeit des Auges, das zu den Worten, die um Verzeihung baten und das „unangemeldete“ Eintreten entschuldigten, einen fast schalkhaften Commentar bildete.
„Braucht es das? Guten Abend, lieber Meinhard!“ lautete die Entgegnung, aber unmittelbar nach dem familiären Gruß wendete sich die junge Dame wieder an das Mädchen, sodaß der flüchtige Uebergang eine gewisse Absichtlichkeit merken ließ. Die Aufträge waren jedoch bald erschöpft, und ein letztes: „Und was ich noch sagen wollte,“ machte dann den Schluß. „Sorgen Sie für ein kleines Feuer im Schlafzimmer, Liese! Wenn man von der Reise kommt, ist man immer ein wenig frostig.“
„Sie wissen das und lassen mir doch einen so kühlen Empfang zu Theil werden? Nicht einmal die Hand haben Sie mir gegeben,“ beklagte sich der Eintretende, rief damit bei dem Fräulein aber statt des Mitleids nur ein spottendes Lachen hervor.
„O, o! Sie wollen doch nicht zu den hohen Reisenden gezählt werden? Keine Einschleichereien!“ Dabei hatte sich die kleine Hand aber doch in die dargebotene gefunden, und ein ganz kurzes, aber herzliches Schütteln stellte das Einverständniß wieder her. Es klang nur noch ein vollkommen unschädliches Nachgrollen des schnell vorübergezogenen kleinen Ungewitters in der Erklärung: „Eigentlich sollte ich böse sein — wissen Sie, Meinhard? Mich so in der Noth zu lassen, ohne zu helfen!“
„Aber Sie wollen ja gar nicht, daß man Ihnen hilft. Ich habe es eben selbst gesehen und gehört. Nicht wahr, Liese, Fräulein Hilda will alles selber machen? Wir werden uns hüten, uns unberufen einzumischen.“
„Ich habe Sie aber berufen,“ sagte Fräulein Hilda vorwurfsvoll nickend und mit ein ganz klein wenig Verdruß um den selbst im Schmollen noch freundlichen Mund. „Allein Fritz wurde gar nicht vorgelassen. Seine Unnahbarkeit, der Herr Statthaltereirath, hatten Amtsstunde. Und diese währte, wie es scheint, nicht kürzer als vom Mittag bis zum Abend. Irgend eine Audienz der Herren Stadträthe oder sonst eine Wichtigkeit, über welche die alten Freunde getrost in Vergessenheit gerathen können!“
„In Vergessenheit gerathen?“ wiederholte er, „— das ist unmöglich, Sie wissen es wohl, Hilda.“ Der volle, tiefe Brustton der Ehrlichkeit, durch den diese Versicherung ungewöhnliche Bedeutsamkeit erhielt, ging jedoch sofort unmerklich wieder in Scherz über. „Uebrigens finde ich auch ohne mich alles gethan. Der ganze Garten ist für Guirlanden geplündert; ich sehe sogar Blumen auf den Tischen, Silberzeug auf dem Büffet, Lichter in den Fenstern [2] — also auch schon Vorbereitungen zur Illumination getroffen! Was wäre da mir noch übrig geblieben? Sollte ich unter jedem Arme einen Böller mitbringen, die Arkeley einüben oder den Chorgesang der Hirten und Feldbauern einstudiren?“
Die großen, grauen Augen vermochten da allerdings nichts weiter zu tadeln, und wenn auch die Hand noch ungnädig winkte, mußte das Köpfchen sich doch rasch zur Seite wenden, um das unbezwingliche Lächeln zu verbergen. Auch fand sich keine andere Antwort, als ein scheinbar unwilliges: „Ach, gehen Sie!“ Es konnte aber eigentlich ganz gut für ein „Kommen Sie!“ gelten; denn während sich das Fräulein der Thür zu bewegte, erfolgte an den sich Anschließenden bereits die Einladung in aller Form: „Wir wollen zu mir hinübergehen.“
Meinhard entschuldigte sich in ernsterer Weise, und während er eine Erklärung der Amtsangelegenheit gab, welche ihn Nachmittags über Land geführt, schritten Beide durch den Corridor, der von dem Haupttracte des Schlosses nach dem Seitenflügel führte, in welchem die Schwester des Gutsherrn ihre Wohnung hatte.
Es war ein ungemein traulicher Raum, den sie betraten; das milde Dämmerlicht, in dem die Zeichnung der dunkeln Tapeten und der Vorhänge, die Farben der Bilder und Möbelstoffe, die Formen des alten großen Ofens, des kleinen Sophas und der Fauteuils, sowie des breit aus der Ecke hervorstrebenden Claviers schon allmählich an Bestimmtheit verloren, erhöhte das Gefühl der Behaglichkeit, von der man hier umfangen wurde, noch mehr. Der rothe Schein am Abendhimmel hatte nicht mehr die Kraft, die leisen Schleier zu durchbrechen.
Hilda ging auf einen der Stühle in der Nähe der Fenster zu, und ihr Begleiter eilte dienstfertig voraus, die zwischen denselben befindliche Glasthür, von der einige Stufen in den Garten hinabführten, zu schließen.
„Nicht doch!“ wurde er gebeten, „lassen Sie offen!“
„Wir sind im September — es wird kühl.“
Der sorgliche Einwand fand aber seine Widerlegung.
„Es weht doch noch ein so frischer, wohlthuender Duft herein. Ich will das Jahr genießen, so lange als möglich, wie ich der Sonne nachsehen will, so lange noch ein Schimmer von ihr am Himmel ist. Gerade das ist es, was mir die Zimmer hier so lieb macht; sie gehen nach Westen, und das Schönste an Waltershofen ist, daß da drüben keine Berge liegen und die Sonne so spät untergeht. Ich möchte sie immer noch länger halten.“
„Das sind recht wehmüthige Gedanken.“
„Pfui! Wer wird denn sentimental werden, Freund! Nun kennen Sie mich schon so lange Jahre. Sie werden doch nicht glauben, daß ich mich in allegorischen Bildern ergehen will und um das Altwerden mich kümmere?“
„Das haben Sie wahrlich auch nicht nöthig,“ sagte er eifrig, und die Betheuerung, welche mit einem skeptischen Achselzucken aufgenommen wurde, kam dem Freunde vom Herzen.
Der matte Schein des sinkenden Gestirns, auf dessen purpurnen Mantelsaum sich ihre ernsten, weitgeöffneten Augen gedankenvoll richteten, zauberte hellen Goldglanz auf das braune Haar, das in üppigen Wellen die Stirn umfloß, und rief auf dem lieblichen Gesichtchen, wenn es auch nicht mehr die Fülle und den Sammethauch der ersten Jugend hatte, mit dem Spiele der zarten Farbe wunderbare Reize wach, die nichts mit der Melancholie des Abendroths gemein hatten.
Ein kurzes Schweigen trat ein, während so jedes von ihnen in seine eigenen Betrachtungen versunken blieb.
„Woher doch manchmal solch einfältige Stimmungen kommen!“ sagte Hilda, „aber diesmal sind Sie schuld daran. Warum unterlegen Sie meinen Worten eine ganz andere Deutung? Ist das alles, was Sie mir an Unterstützung bringen können, nachdem Sie mich den halben Tag in Unruhe allein gelassen?“
„Sie wissen, daß Sie in Allem auf mich zählen können, aber ich kann mir nicht denken, daß Sie meiner wirklich bedurften. Unruhe ist wohl ein zu gewichtiges Wort.“
„Keineswegs!“ fiel sie lebhaft ein und nahm von einem kleinen Tischchen, auf dem mehrere Photographien zerstreut lagen, ein Blatt Papier. „Da! Entziffern Sie selbst einmal das Telegramm, das wir heute Vormittag von Franz erhielten!“
Er las: „,Wir kommen heute Abend an. Es bleibt bei den Bestimmungen des Briefes. Zimmer bereit halten,‘“ und fast ehe er beendigt hatte, fiel sie schon wieder ein:
„Daraus soll man nun klug werden. Welches sind diese Bestimmungen? Was ist’s mit den Zimmern? Es versteht sich ja von selbst, daß wir die bereit halten, warum gerade das ausdrücklich betonen und uns telegraphisch auf die Seele binden? Stände dafür lieber etwas von den nicht selbstverständlichen ,Bestimmungen‘ da, die mein Herr Bruder zu treffen geruht! Wie sollen wir die errathen? Gott mag wissen, wo der Brief steckt, in welchem sie uns kund und zu wissen gegeben werden. Ich habe keine Zeile gesehen.“
„Warten Sie!“ überlegte Meinhard; „wenn der Brief gestern Vormittag geschrieben wurde, dann ist er wohl statt mit dem Nachtschnellzuge mit dem Postzuge gegangen, den jener überholt. Er ist also erst nach Amtschluß eingetroffen und wird erst morgen früh ausgegeben werden — ein Fall, der, so absurd er auf den ersten Blick erscheint, doch häufig eintritt. Die Letzten werden die Ersten werden.“
„Aber der Bibelspruch hätte wohl auch meinem Bruder vorschweben können! Sagen Sie mir, sind denn alle Ehemänner auf der Hochzeitsreise so — so gedankenlos?“
Er sah die Fragestellerin eigenthümlich an.
„Wie soll ich das wissen?“ entgegnete er, auf das „ich“ den Ton legend. „Es ist nicht meine Schuld, daß ich darüber keine Auskunft geben kann.“
„Seien Sie froh, daß Sie davor bewahrt blieben!“ lachte Hilda auf. „Statt alte, längstvergangene Geschichten aufzuwärmen, sollten Sie lieber Ihre Divinationsgabe anstrengen und mir sagen, was dieser fatale nachhinkende Brief enthält.“
„Tantchen, ich hab’s!“ rief da eine helle Stimme von der Thür her, welche in die weiteren Gemächer derselben Reihe führte.
Das Mädchen, welches, vollkommen zum Ausgehen gekleidet, mit halbem Hüpfen über den Teppich glitt, hatte zwar die Größe und Toilette einer Dame, aber Haltung, Figur, Organ und der Ausdruck des munteren Gesichtchens verriethen noch deutlich den Mangel voller Entwickelung.
„Was hat Fräulein Mimi?“ fragte Meinhard wohlwollend, wie etwa ein Vater sein Töchterchen neckt.
„Guten Abend, guten Abend, Onkel Meinhard!“ begrüßte ihn die Kleine fröhlich, ohne sich aber in der Mittheilung ihrer Entdeckung aufhalten zu lassen. „Ich hab’s, Tantchen! Weißt Du, was es ist? Papa bringt uns den Onkel mit.“
„Wilhelm?“ fragte Hilda leise, und mit seltsamem Tonfalle fügte sie hinzu: „Du vergißt, daß Amerika —“ Sie schwieg und seufzte.
„Ach nein, nicht den richtigen Onkel,“ erklärte Mimi, die letzten Knöpfe ihres rehfarbenen Paletots schließend.
„Doch nicht etwa mich?“ fragte Meinhard verwundert.
„Sie sind ja schon da,“ entgegnete Mimi, als ob sie eigentlich sagen wollte: „Wie einfältig!“ Dann schlug sie die Händchen zusammen und drückte dieselben, sich niederbeugend, zwischen die Kniee, wobei ihre Augen vor Vergnügen leuchteten. „Errathet Ihr’s denn nicht? Ich meine den neuen — den jungen Onkel. Wie spaßig das war, als ich ihn beim Gabelfrühstück nach der Trauung so ansprach! Da war es doch schon in der Ordnung — nicht wahr? Wie hätte ich denn auch sagen sollen? Und wie er sich’s so ernstlich verbat, da sagt’ ich es erst recht. Das klang so närrisch. ‚Onkel!‘ Hahaha! Bin ich hübsch so, Tantchen?“
Sie strich mit den Fingern die Falten ihrer Kleider glatt und machte dann einen tiefen Knix, wie bei Hofe.
„Es ist recht,“ sagte Hilda, „daß Du Dir Mühe giebst, Deiner neuen Mama gleich einen guten Eindruck zu machen.“
„Ach, der Stiefmutter!“ fiel die Kleine ein, aber der wegwerfende Ton verstummte sogleich unter dem verweisenden Blicke der Tante; sie wandte sich erröthend zur Seite, im nächsten Momente aber hing sie an Hilda’s Halse. „Ich frage nur nach Deinem Urtheile, liebes Tantchen, nur nach Deinem!“
Den Schmeichellauten war schwer zu widerstehen; was an Vorwürfen die Liebkosungen nicht erstickten, das schnitt die schlaue Mahnung ab, daß Tantchen ja noch immer nicht für die Ausfahrt fertig sei und der Wagen gleich vorfahren werde; man dürfe doch nicht zu spät auf dem Bahnhofe eintreffen.
„Das ist bald geschehen; ich brauche nur Hut und Mantel, und wir kommen noch lange zurecht,“ erwiderte Hilda, und band die weiße Wirthschaftsschürze ab, die sich von dem schwarzen Seidenkleide recht hausmütterlich abgehoben hatte. „Sage mir lieber, wie Du auf Deine sonderbare Vermuthung kommst!“
[3] „Du wirst sehen, daß ich Recht habe. Ich täusche mich gewiß nicht. Die Erinnerung betreffs der Zimmer bezieht sich darauf. Papa hat immer so charmante Ideen. O, ich freue mich so, ich freue mich so — auf Papa!“
Und wieder klatschte sie bei dem etwas nachträglich erst hinzugefügten Schlußworte in die Hände und drehte sich dabei wie ein Kreisel um sich selbst.
Hilda schüttelte den Kopf über die Bemerkung Meinhard’s, daß sich die Sache vielleicht wirklich so verhalte.
„Es ist wohl nur eine Ideenverbindung,“ meinte sie, „weil wir vorher über Edwin von Tonner sprachen, als wir die Photographien durchsahen, um die des jungen Herrn in das Zimmer seiner Schwester zu stellen. Wir haben aber keinen ganz passenden Rahmen gefunden und dann, dann — wer weiß? — Man hat mit den Brüdern nicht immer seine Freude.“
Sie nickte still vor sich hin und machte sich mechanisch daran, die zerstreuten Photographien zusammenzuschieben, um sie darnach in das Album einzuschließen. Ein eigenthümliches Geräusch ließ sie den Kopf wenden.
„Was hüpfest Du denn wie ein junger Ziegenbock, Mimi?“
„Aber Tantchen, welch ein Vergleich!“ rief die Kleine, bei aller Entrüstung lachend. Ihr hatte die Frage gegolten; denn vor einem der Pfeilerspiegel sprang sie mit gleichen Füßen, daß ihr fessellos über den Rücken wallendes Haar wie ein dunkler Schleier flatterte. „Das Band will nicht unter die Haare. Ich kann ja so die Cravatte nicht knüpfen.“
Und indem sie das Band nach rückwärts schwang, fuhr sie in der Anwendung ihres drolligen Mittels fort, das sich wie im Spiel ansah. So hüpfend und lachend, blieb an Stelle der verschwundenen Dame nur das harmlose, lebensfreudige Kind, für das die von Hilda neuerdings aufgeworfene Frage, was wohl der Brief enthalten möge, nur ein geringes Interesse bot.
„Wenn Ihnen soviel daran liegt,“ rieth Meinhard scherzend, „müssen wir wohl eine Somnambule fragen.“
„Woher eine nehmen?“
Der Seitenblick Meinhard’s nach der Kleinen entging Hilda ebenso, wie der bedeutsame Nachdruck, mit dem er seine Antwort gab:
„Ich glaube, wir haben sie schon; nur der Magnetiseur ist für den Augenblick noch nicht zur Stelle.“
„Darf ich vielleicht meine Erfahrungen und vielfach erprobten Kräfte zur Verfügung stellen? Ich würde es mir zur besonderen Ehre anrechnen, wenn mir die Herrschaften dazu Gelegenheit geben wollten. Mesmer, St. Germain, Doctor Balsamo. Un, deux, trois — sie schläft.“
Es war ein ganz sonderbarer Antrag und eine sonderbare Stimme, die ihn stellte, wie es schien aus der Tiefe eines Ziehbrunnens herauf. Sie kam aber offenbar nur aus der Brust eines kleinen dicken Mannes in abgetragenem schwarzem Röckchen, das zweifellos für eine weit schlankere Taille angefertigt worden war. Das graue, breite Gesicht mit seinen verschlemmten Zügen war in hohem Bogen von einer langen Strähne Haares überklebt, das sich an den Schläfen zu grotesken Locken einbog, während sich die fuchsigen Spitzen im Nacken mit dem echten Eigensinn einer alten Perrücke auswärts ringelten. Das Pathos, mit dem er gesprochen, die Haltung der erhobenen Hände, die ausgespreizten Finger gaben der Erscheinung des Mannes in dem abendlichen Zwielichte etwas unheimlich Groteskes. Er war so plötzlich aufgetaucht, und keiner der Drei hatte gesehen, woher er gekommen.
Die muntere Springerin stand starr, wie gebannt, und Hilda’s Fingern entfielen die kleinen Karten. Schneller ward Meinhard seiner Ueberraschung Herr.
„Darf ich Sie fragen, wie Sie hereingekommen sind?“ sprach er den Fremden scharf an, wiewohl ihm dessen Stellung nahe der offenen Gartenthür als Antwort genügen konnte.
„Der große Philadelphia fuhr gleichzeitig zu vier Stadtthoren hinaus. Man erscheint, und man ist da. Allez vite! Voilà!“
Das war von dem lebendigsten Geberdenspiel begleitet, gleich darauf aber hatte der kleine Mann seinen abgeschabten Claquehut unter dem Arme hervorgenommen, ließ ihn mit einem Knall springen, drückte ihn mit theatralischer Bewegung an die Brust und schnappte in einer tiefen Verbeugung zusammen.
„Hochansehnliche Anwesende,“ begann er dann mit dem demüthigsten Lispeln, „ich komme blos, meine ergebenste Einladung zu machen, da ich demnächst mir erlauben werde, eine große Vorstellung zu geben, und es mir zur größeren Ehre gereichen würde, wenn der hohe Adel der Umgebung mir seine unschätzbare Gönnerschaft zu Theil werden lassen wollte.“
Die Damen hatten noch immer ihre Stimme nicht gefunden. Meinhard ergriff für sie das Wort. Er fragte trocken:
„Sie sind wohl Schauspieler?“
Der Gefragte richtete sich achselzuckend auf.
„Der rasirten Maske nach zu schließen? Vorbei, vorbei!“ sagte er mit tragischer Declamation, die alsbald in Ruhmredigkeit umschlug. „Wer hadert mit des Schicksals Mächten? Einst kannte man meinen Namen; ich war gefeiert und gesucht, von der Memel bis zum Rhein und von der Adria bis zur Nordsee. Das Glück war mir günstig, und die Leitung eines ansehnlichen Kunstinstituts lag in meinen Händen. Aber wie ich mich hinaufgeschwungen auf die Sonnenhöhe, ging es jenseits wieder hinab. Meine Ziele waren zu ideal; das undankbare Publicum wollte sich nicht erziehen lassen. Ich war für meine Zeit zu früh geboren. Was nützt das Klagen? Ich zahlte meinen Zoll dem Menschenschicksal. Die mich unterstützen sollten, haben mich beraubt und verlassen; die Intrigue hat sich gegen mich gewandt — aber sie kriegt mich nicht unter — die Musen standen an meiner Wiege, und meine Gaben sind vielseitig. Ich bin Künstler — Künstler im Allgemeinen. Ich spiele Soloscenen — ich beherrsche mehrere Instrumente: die Holzharmonika, die Mundharmonika, die Maultrommel; ich entlocke der Tischplatte sogar musikalische Klänge; ich gebe einem Blatte Papier sechszig verschiedene Formen und ahme auf’s Täuschendste Thierstimmen nach; mein besonderes Fach aber ist die natürliche Magie. Ich habe Bosco, Döbler — mit dem war ich in Hamburg zusammen — Mohnhaupt — den kenne ich von Riga — und Kratky Baschik, dem ich ein Gastspiel in Constantinopel durch meine Connexionen vermittelte, ihre intimsten Geheimnisse abgelauscht. Damals war es noch meine Privatpassion — aber du lieber Himmel! Die Kunst geht nach Brod. Sie erlauben mir, daß ich eine Probe meiner Geschicklichkeit gebe?“
Und ohne die Erlaubniß erst abzuwarten, hatte er sich schon der Photographien auf dem Tischchen bemächtigt.
„Wir haben jetzt keine Zeit,“ wendete Hilda ein und bemühte sich die Ablehnung so wenig unfreundlich wie möglich erscheinen zu lassen. Mimi aber bat Tantchen, doch noch ein wenig zu warten:
„Ich sehe dergleichen für mein Leben gern.“
Ein Blick, eine Kopfneigung des Taschenspielers dankte der Fürsprecherin. Er mischte bereits die Blätter wie ein gewöhnliches Spiel Karten.
„Prestigiateur, gnädiges Fräulein, nichts als Prestigiateur, kein Hexenmeister,“ plauderte er dabei. „Schnelligkeit ist ja die Hauptsache beim Metier. Darf ich Sie bitten, sich eine der Karten zu merken? Aber den schönsten jungen Herrn, damit mir die Sache nicht zu schwer wird! — Und Sie, mein gnädiges Fräulein — ebenfalls eine — ja? Mein Herr — ich will Sie nicht zwingen. Eins, zwei, drei — wupp!“
Er schlug den Fächer zusammen, blies auf das Paket, schnippte darauf, legte es auf das Tischchen zurück, netzte die Finger an den Lippen und streckte, wie wenn er ein unangenehmes Gefühl auf dem Rücken beseitigen wolle, die Arme so weit aus, daß ein paar zerknitterte Manschetten zum Vorschein kamen.
„Un, deux, trois! Allez, changez, passez!“ rief er, mit den Händen durch die Luft fahrend. „Haben Sie sie fliegen gesehen? Nicht? Doch! Hier, in Ihren Rock sind sie hereingeflattert, mein Herr. Sie erlauben. Ah, sehen Sie, hier in der Westentasche! Mein schönes Fräulein, ist es diese Karte? Ah, ich sehe, es ist die rechte. — Aber, mein Herr, Sie müssen mir schon noch einmal erlauben. Richtig, hier! Gnädiges Fräulein – haben Sie diese im Gedächtniß?“
Es war eine ganz merkwürdige Betonung, mit der er diese letzte Frage stellte. Auch sein Antlitz hatte — ungesehen von Meinhard, der hinter ihm stand, und Mimi, die erröthend noch immer auf die in ihre Hände gelegte Photographie starrte — einen ganz veränderten Ausdruck angenommen. Blinzelnd hing sein von den niederhängenden Lidern verkleinertes Auge an Hilda’s Antlitz und zuckte triumphirend, als es die plötzliche Verwandlung in ihren Zügen wahrnahm.
Vorerst nur gleichgültig, hatte ihr Blick der Aufforderung Folge geleistet, fast widerwillig; jetzt hing er erschrocken an der ihr zugekehrten Seite des Kärtchens. Eine Bewegung ging durch ihren [4] Körper, doch ließ der schlaue und bei all seiner Schwerfälligkeit doch gewandte Mann ihre Ueberraschung nicht zu Worte kommen.
„Sie erkennen die Photographie nicht? Sollte es eine falsche Karte sein?“ fragte er wie verwundert und setzte dann rasch entschlossen hinzu: „Fort also! Allez, changez, passez! — Ach, ja natürlich, es war ein stärkerer Magnet da. Sie selbst haben sie angezogen. Es ist aber nicht schön, daß das gnädige Fräulein sie im Aermel verstecken, um mich in Verlegenheit zu bringen.“
Mit zwei Fingern holte er scheinbar das Blatt an ihrem Handgelenke hervor. Geschickt verbarg er ihre beim Anblick der Photographie sich steigernde Verwirrung vor Meinhard, dessen Aufmerksamkeit er abzulenken wußte.
„Mein Herr, Sie werden sich überzeugt haben, daß Ihre Uhr noch vorhanden ist.“
Er sagte es höflich, aber mit einer gewissen impertinenten Ironie.
Mimi drehte noch immer ihr Kärtchen zwischen den Fingern.
„Aber das ist doch wunderbar!“ äußerte sie.
„Ich leiste noch Wunderbareres, mein Fräulein,“ brüstete sich der Künstler. „Ich begnüge mich nicht mit dem Escamotiren; ich bin Magnetiseur; ich errathe Gedanken; ich citire Geister; ich bringe die Abwesenden zum Sprechen. Wenn mir eine kleine Probe gestattet ist — —“
„Wir werden das ja bei Ihrer Vorstellung sehen,“ wollte Meinhard vorbeugen, aber Mimi erhob bittend die kleinen Hände.
„Ach, nur ein klein wenig!“
“Es bedarf gar keiner Vorbereitungen — bitte! Ich habe zum Beispiel einen Bekannten in Amerika, wollen wir den anrufen? — Hollah, Bill! How do You do? Immer aufrecht? Wie geht es Deiner Frau?“ Er ließ die beiden letzten Sätze in die trichterförmig vor den Mund gelegten Hände fallen und neigte, wie um besser zu hören, den Kopf zur Seite, wodurch aber das Gesicht sich so weit abwendete, daß es sich jeder Beobachtung seines kleinen Publicums entzog. Aus großer Tiefe schien eine gänzlich veränderte Stimme zu antworten:
„Was weiß ich — ich, bin nicht mehr in Amerika.“
Bei dem ersten Tone schrak Hilda von Neuem zusammen; doch bekämpfte sie die heftige Unruhe. Das Zwiegespräch nahm mittlerweile seinen Fortgang.
„Ist’s möglich, Bill? Also nicht mehr jenseits des großen Teiches? Wo denn sonst?“
„Das hörst Du doch; hier.“
„Du meinst doch nicht hier im Hause?“
„Natürlich, im Keller.“
„So komm doch herauf!“
„Daß ich ein Narr wäre; man hält mich ja versteckt.“
„Aber Andere werden Dich finden, so gut wie ich Dich fand.“
„Du wirst schweigen und mich nicht verrathen.“
„Das hängt von Umständen ab.“
„Komm wieder, wenn ich ausgeschlafen habe! Ich bin müde. Gute Nacht!“
„Gute Nacht! — — Die Reise scheint ihn angestrengt zu haben. Aber ich darf nichts weiter mittheilen. Sie hörten, meine Herrschaften, er verlangt Discretion. Wir wollen ihn in Ruhe lassen, den armen Jungen — bis zu meiner Vorstellung.“
Auf den letzten Worten, mit denen er sich zurück an die Gesellschaft wandte, lag wieder ein eigenthümlicher Nachdruck, und Hilda’s fragender Blick begegnete einer noch durchdringenderen Frage in seinen Augen, die sich aber blitzschnell wieder abwendeten. Es war eine Art Abschiedsverbeugung, die er inscenirte, während ihm Mimi lebhaft Beifall klatschte.
„Wir kommen jedenfalls — nicht wahr, Tantchen?“ versprach sie dem sich langsam der Thür Nähernden, der murmelnd die Versicherung gab, er werde selbst die Ehre haben, das Programm zu überreichen, sobald der Tag erst festgestellt sei, und unter einer nochmaligen tiefen Verbeugung verschwand, als Hilda sich aufrichtete und ihm stockend und hastig die Weisung gab, im Flure zu verweilen, bis er von ihr Nachricht hätte.
„Soll ich Dir vielleicht Dein Geldtäschchen bringen?“ fragte Mimi, welche die Absicht der Tante zu errathen meinte.
Eine Handbewegung lehnte ab.
„Was ist Ihnen, Hilda?“ nahm Meinhard, schärfer beobachtend, das Wort.
„O nichts — nichts — wohl nur eine Sinnestäuschung.“
„Ein gewöhnliches Kunststück der Bauchrednerei.“
„Sie zerstören Einem, doch immer alle Illusionen, Onkel,“ schmollte Mimi. „Sagen Sie mir, wie mochte er nur wissen, daß ich mir gerade die Photographie Onkel Edwin’s gedacht hatte?“
Unterdeß hatte Hilda das Gemach verlassen. Sobald sie das anstoßende Schlafzimmer betreten und die Thür hinter sich geschlossen hatte, zog sie die Klingelschnur und sandte das Mädchen mit dem Auftrage weg, ihr den Taschenspieler hierher zu bescheiden.
Was hatte diese Mahnung, die von einem ihr völlig Unbekannten ausging, zu bedeuten? Sie hatte sich gewiß nicht getäuscht, als sie in dem ihr zuerst vorgehaltenen Bildnisse die Züge des im Hause wie todt Betrachteten erkannte. Unter jenen Photographien befand sich diejenige ihres zweiten Bruders nicht; sie konnte auch nicht darunter gerathen sein; denn alle seine Bilder waren ja vernichtet oder weggeschlossen worden; es durfte keines dem Bruder Franz unter die Augen kommen, seit dieser den Unwürdigen aus der Familie, sogar aus seinem Gedächtnisse ausgeschieden. Woher kam nur das Bild?
[21] Hatte bei dem unsicheren Dämmerlichte, beim raschen Wechsel der Blätter, das sonst so scharfsichtige Auge Hilda getrogen? Aber woher die Aehnlichkeit von Wilhelm’s Stimme mit jener so unheimlich aus den Brettern des Fußbodens herauftönenden? Hilda war von dem Laute betroffen worden, als antworte in der That ihr Bruder unter den Parketen herauf, auf denen sie stand. Wohl war ihr das Kunststück des Bauchredens nicht fremd, aber sollte es wirklich nur Zufall gewesen sein, daß diese forcirte Stimme jener anderen glich, die ihr noch so deutlich im Ohre klang, ohne daß der Täuschende sie je zuvor gehört? Und fanden sich denn ebenso leicht Erklärungen für den befremdlichen Sinn der Worte? „Bill“ hatte der Mann den Fernen angerufen, Amerika genannt, auf die Gefahr seiner Rückkehr nach Europa hingewiesen. Und das alles sollte wirklich nur ein harmloses Zusammentreffen von Umständen sein, nicht eine beabsichtigte Nachahmung der Stimme, eine bedeutungsvolle Mahnung, ein wohlvorbereitetes Spiel zu ganz bestimmtem Zwecke? Und welcher war dieser Zweck?
Darüber sollte der Mann selbst Auskunft geben. Es blieb ja immerhin möglich, daß hier der Hinweis auf eine alte Bekanntschaft als wirksame Unterstützung einer Bettelei benutzt wurde, aber vielleicht hatte dieser Mensch den Exilirten doch in neuerer Zeit erst gesehen und konnte Nachricht geben über ihn. Aber nein, vielleicht zerrann schließlich doch noch alles in Nebel – vielleicht war alles nur ein Traumbild, wie es, von einem Worte, einem Laute, irgend einem Anblick hervorgezaubert, in des Menschen Innern plötzlich auftaucht, in der Dichter-, in der Künstlerseele sogar greifbare Gestalt annimmt und doch vorüberzieht und verweht – ein Hauch, ein Nichts.
„Aber, Tantchen, wo bleibst Du denn so lange? Der Wagen ist schon vorgefahren, und Du verplauderst Dich in einem Kaffeestündchen mit Bußbuß.“
Mimi’s Stimme weckte die in tiefes Sinnen Versunkene. Ihre Stirn lehnte an der Fensterscheibe, und ihre Hand kraute in dem Pelze des schnurrenden Kätzchens, das sich zu ihr auf’s Fensterbrett geschmeichelt hatte.
Es mußte eine geraume Weile verstrichen sein, während sie auf den Mann mit den geheimnißvollen Andeutungen gewartet hatte; denn Dunkelheit hüllte bereits ringsum alles immer tiefer und tiefer ein. Aber wo war er geblieben, der unheimliche Eindringling?
Eben kam Liese fast athemlos herein.
„Ich weiß nicht, wo der Mensch hingekommen ist,“ berichtete sie. „Im Vorhause ist er nicht; in der Küche hat ihn Niemand gesehen und draußen auch nicht. Der Martin ist freilich erst vorgefahren, aber Fritz hätte doch besser aufpassen können. Er stand vor der Thür und machte noch schnell die Tannenbäumchen fest. Dort sei nichts vorbeigekommen, sagt er. Aber wie ein Geist kann doch Niemand bei lebendigem Leibe verschwinden.“
„Ausgenommen ein Zauberer,“ fiel ihr Mimi in’s Wort.
„O, auch die lassen eine Wegzehrung nicht im Stiche,“ parirte die praktisch denkende Liese den Schlag.
„Es giebt doch auch stolze Zauberer,“ widersprach Mimi lachend. „Wer weiß, ob er sich nicht durch die Zumuthung beleidigt fühlte, sich in der Küche wie ein Handwerksbursche ein Almosen zu holen. Ich lasse mir nun einmal meine gute Meinung nicht nehmen.“
Hilda that keinen Einspruch; sie ließ es auch geschehen, daß ihr das Mädchen Hut und Handschuhe reichte und Mimi ihr den weichen Herbstmantel um die Schultern legte. Die Frage, wie dieses Verschwinden zu deuten, beschäftigte sie noch, als ihr Meinhard, der sie am Kutschenschlage erwartet, in den Wagen half.
„Vielleicht hat Mimi Recht,“ dachte sie, erleichtert aufathmend. „Dann aber hatte es ja auch keinen Zweck, und es war doch alles nur eine Täuschung meiner Sinne.“
Die Nacht war schon hereingebrochen; ihre Schatten schienen das Schloß zu verschlingen, während der Wagen in das Dunkel hinaus rollte. Dunkel herrschte auch in seinem Innern; denn von den Laternen drang kein so ausgiebiger Strahl herein, um etwas genauer erkennen zu lassen. Wie der nachdenkliche Ausdruck in Hilda’s Zügen, entging auch ihr Schweigen der Aufmerksamkeit ihrer beiden Gefährten. Mimi führte das Wort für alle Drei. Zunächst war es noch der Taschenspieler und sein gespensterhaftes Auftreten, worüber sie sich vollends aussprechen mußte. Die Bemerkung Meinhard’s, daß es in der Weise solch verkommener und zuweilen halb verrückter Genies liege, ihrem Erscheinen etwas Geheimnißvolles zu geben und sich, vielleicht mehr noch ihrer Eitelkeit, als dem zu erhoffenden Nutzen zuliebe, womöglich immer mit einem Theatercoup in Scene zu setzen, gefiel ihr schließlich doch noch besser, als die ebenfalls aufgestellte Vermuthung, diese vagabondirenden Subjecte hätten oft allerlei Gründe, ein Haus auszuspioniren.
„Ach, Gruselmacher giebt’s nicht!“ meinte sie. „Diese Taschenspielerei ist nicht gefährlich. Und geschickt ist er gewiß sehr – sehr! [22] Wie er es nur angefangen haben mag, daß ihn nicht einmal die Hunde meldeten? Hektor ist sonst gerade nicht liebenswürdig gegen Unbekannte.“
„Solche Leute haben allerlei Mittel; das gehört zum Métier, erhöht aber nicht gerade ihre Vertrauenswürdigkeit.“
„Du lieber Gott, sagen Sie nur Papa nichts!“ bat die Kleine mit plötzlichem Schrecken. „Er würde von Einschleichen sprechen, über die Unordnung und Aussichtslosigkeit schelten. Ein Donnerwetter ginge los über Fritz, über Tantchen und Alle. Wenn Papa heftig wird, schont er nichts, so gut er sonst ist.“
„Er wird jetzt gar nicht Zeit haben, zu schelten,“ tröstete Meinhard. „Und wenn er übler Laune sein sollte, wird es nur ein gutes Wort von Mama bedürfen.“
„Das wäre noch schlimmer,“ fiel die Kleine beinahe mit der von ihr selbst gefürchteten Heftigkeit ein. „Tantchen wird doch nicht einer Fürbitte bedürfen von einer – einer Fremden – die erst in ein Haus kommt, in welchem Tantchen geboren ist und, so lange sie lebt –“
Hier unterbrach Hilda den stockenden und dann wieder sprudelnden Redestrom.
„Mimi, Du vergißt, von wem Du sprichst,“ sagte sie tadelnd. „Solche Aeußerungen klingen wie die Anklage gegen mich, Dich schlecht erzogen zu haben; sie wären zudem noch ein Grund für Deinen Vater, zu bedauern, daß er im Schmerze um den Verlust Deiner Mutter die Pflicht vernachlässigte, Dir für sie einen Ersatz zu suchen, ehe Du der leitenden Hand entwachsen warst.“
„Aber warst denn Du nicht für mich die sorgsamste Mutter?“ erwiderte die Zurechtgewiesene. „Ich brauche keine andere, und ich verlange keine andere.“
Das kam aber mit solchem Ungestüm heraus, daß es kaum noch den Charakter der Zärtlichkeit trug und Hilda keineswegs ganz Unrecht hatte, wenn sie kopfschüttelnd sagte:
„Du verlangst keine – das ist möglich, aber brauchen – das ist eine andere Frage, die nicht Du zu beantworten hast. Es scheint doch bisher an der rechten Strenge gefehlt zu haben.“
Da dieser Selbstvorwurf von der beschämt, gekränkt und wohl auch ein wenig trotzig in ihre Ecke sich drückenden Kleinen keinen Widerspruch erfuhr, so nahm Meinhard die Lanze auf.
„Sie beurtheilen eine ganz natürliche Regung, wie ich glaube, zu hart, Fräulein Hilda,“ begann er und fuhr, ohne sich von dem leisen, aber nachdrücklichen „Nicht wahr!“ Mimi’s unterbrechen zu lassen, im warmen Tone der Ueberzeugung fort: „Fast seit ihrer Geburt war sie in Ihrer Obhut; Sie nahmen der kränklichen Mutter von allem Anfange an die Mühe ab und traten nach deren Tod ganz an ihre Stelle. Sie pflegten und erzogen das Kind; Sie haben sich ihm ganz hingegeben und es so möglich gemacht, daß es die Heimath gar nicht zu verlassen brauchte und in der Nähe des Vaters bleiben konnte, der diese Erheiterung in seinem Gemüthszustande gar schwer vermißt hätte. Sie haben sich eine edle und bewundernswerthe Aufgabe gestellt, sich dieselbe zum ausschließlichen Lebenszwecke gemacht und derselben Alles zum Opfer gebracht.“
„Ah bah!“ fiel ihm hier die Gepriesene in einem Tone, der leicht sein und keine Rührung aufkommen lassen sollte, in’s Wort. „Welche Tirade! Was habe ich denn für Opfer gebracht? Ich habe noch nie etwas davon gemerkt.“
Einen Moment blieb er stumm; dann sagte er gedämpfter:
„Das ist kein Grund, Alles als selbstverständlich von Ihnen hinzunehmen, und ich begreife recht wohl, daß soviel Liebe und Hingebung tiefe Dankbarkeit erweckt, welche sich zu einem exclusiven, jede Theilung ablehnenden Gefühle entwickeln kann.“
Das Schweigen, in welches Mimi versunken gewesen, hatte nun lange genug gewährt. Sie nahm sich aus der schon ungeduldig mit angehörten Beweisführung, was ihr eben taugte, um daran anzuknüpfen.
„Ja, und wenn ich noch wüßte, weshalb ich theilen soll? Hat denn die neue Mama mir irgend ein Opfer gebracht? Vielleicht, daß sie Papa geheirathet hat? O, das ist gar kein besonderes Verdienst; Papa ist noch ein ganz hübscher Mann; nicht mehr jung freilich, aber man merkt ihm die vierzig Jahre gar nicht an. Nicht ein graues Härchen hat er, und wie er reitet und Schlittschuhe läuft! Sie hat ihn auch nicht meinetwegen geheirathet, so wenig wie Papa sie aus diesem Grunde nahm. O, gewiß nicht! Soviel kann ich auch schon beurtheilen – dazu brauche ich nur meine gesunden Augen. Im Anfange, als wir nach Teplitz kamen, hatte es wirklich den Anschein, als ob Papa mich zur Gesellschafterin brauche, um sich nicht gar zu sehr zu langweilen. Da verkehrte auch Fräulein Albertine hin und wieder mit mir, während Papa schlief oder sich im Bade befand; in den letzten Wochen aber war es, als ob ich für die Beiden gar nicht mehr vorhanden wäre, und Papas Arm nahm nun wieder an Geschmeidigkeit zu. Es[WS 2] wurde aber auch recht fleißig geübt.“
„Was sprichst Du wieder für tolles Zeug!“
„Nur was ich gesehen habe,“ wehrte sie sich gegen den Verweis. „Ich konnte doch nicht jedesmal die Augen schließen, wenn ich auf den Spaziergängen im Walde hinter ihnen drein kam und sie mich ganz und gar vergessen hatten. O, ich schämte mich ohnedem genug vor Herrn Edwin und hätte dann lieber gewünscht, er würde mich nicht begleiten, obwohl ich mich ohne seine Gesellschaft recht verlassen gefühlt hätte. Ich mußte wirklich noch froh sein, daß er sich meiner annahm.“
Die Folgen einer sehr langsam heilenden Muskelzerrung, die er sich bei einem Sturze mit dem Pferde geholt, fortzubaden, war Herr von Reinach schon zeitig im Frühjahre nach Teplitz gegangen, um es nach sechs Wochen als Bräutigam zu verlassen. Frau Rohrwek, die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ in Schönau, wo er seine Wohnung genommen, war Wittwe und hatte zwei Kinder aus verschiedenen Ehen. Aus der oberflächlichen Bekanntschaft des Sohnes Edwin mit den neuen Miethsleuten entspann sich bald ein näherer Umgang zwischen den Familien; dem Vater schien der Verkehr der beiden Mädchen erwünscht, doch allmählich entzog er seinem Töchterchen die Gefährtin immer mehr. Der Zwang, den ihm die Gegenwart eines Dritten auferlegte, mochte ihn beengen, und er wußte es Albertinens Stiefbruder Dank, daß er an der Seite „des Kindes“ blieb und es anderwärts beschäftigte.
Den Abschluß dieser so leicht und arglos angesponnenen Beziehungen bildete dann Ende August jene Heirath, welche der langjährigen Wittwerschaft Franz von Reinach’s ein Ende machte, dem Gute Waltershofen wieder eine Herrin und dem sechszehnjährigen Kinde eine Stiefmutter gab. Die Nachricht von der bevorstehenden Aenderung der Dinge hatte Mimi nicht ganz ahnungslos getroffen; denn die vorwitzigen jungen Augen hatten schon zu scharf beobachtet. Von einem Ausbruche kindlicher Eifersucht, wie ihn Hilda befürchtet hatte, war keine Rede, und ein Ungestüm, zu dem die Kleine sonst sehr neigte und wie er eben jetzt zum Ausbruche gekommen, hatte sich damals nirgends gezeigt, aber das kam auch wohl daher, weil Mimi gar nicht daran dachte, daß ihr Verhältniß zu Hilda davon berührt werden könnte. War sie ja doch darin eingelebt von Kindheit auf. Es war so naturgemäß, so felsenfest, daß sie ein Rütteln daran gar nicht für möglich hielt und die bloße Andeutung, auch wenn sie von Hilda ausging, wie eine tiefe Kränkung empfand.
Daher der stürmische Protest, daher nach dessen Zurückweisung das schmollende Schweigen, unter dem aber das hieran nicht gewöhnte Zünglein am meisten litt. Jetzt revanchirte es sich; denn von jenem Aufenthalte in dem böhmischen Bade auf die Hochzeit selbst übergehend, reihte Mimi allerlei Bemerkungen über die neue Ehe ihres Vaters bunt an einander, wie sie dies in den letzten Wochen nicht müde geworden war zu thun, vielleicht eben deshalb, weil sie in ihren eigenen Gedanken eine gewisse Uebereinstimmung mit denen der Tante zu entdecken meinte.
Was hätte denn auch Tantchens Fernbleiben von der Trauung für eine andere Bedeutung gehabt? Der Katarrh war doch sicher nur ein Vorwand; das Haus wäre wegen der paar Tage Abwesenheit gewiß auch nicht zu Grunde gegangen, und das Einbringen des Grummets hätte schon der Oberknecht allein besorgen können. Mimi hatte mit dem Vater allein zur Hochzeit reisen und bei der Heimreise einer bekannten benachbarten Familie anvertraut werden müssen.
Das war für der Kleinen Logik ausschlaggebend gewesen. Sie fühlte sich der Unterstützung einer ihr im Stillen Verbündeten sicher; die Stiefmutter erschien ihr, wenn auch gerade nicht als ein Eindringling, so doch als ein gewissermaßen Fremdes in der Hausgenossenschaft, an das man sich aber gewöhnen könne, wenn es sich nicht unbequem mache. Und nun mit einem Male mußte sie Worte hören, die viel zu ernst klangen, als daß sie sich
Anmerkungen (Wikisource)
[23] noch der Zuversicht, ihre Gesinnung werde getheilt, hingeben konnte. Sie war betroffen, dann bäumte sich aber doch etwas in ihr auf gegen ein stilles ergebungsvolles Hinnehmen der Lehre, die ihr wie eine Ungerechtigkeit vorkam. Sie wollte dagegen plänkeln, und plauderte, je länger sich jetzt Hilda stumm verhielt – was doch offenbar ein Zeichen fortwährender Mißbilligung war – immer lebhafter, um sich selbst glauben zu machen, daß die Ungnade nur leicht zu nehmen sei, bis endlich das Rasseln der Räder auf dem Pflaster der Stadt diesen Anstrengungen ein Ziel setzte.
Aber auch nachdem das Geräusch beim Einbiegen in die nach dem Bahnhof abzweigende Allee ein Ende genommen, fand sich ihre Beredsamkeit nicht wieder ein. Die Strecke war übrigens nur noch kurz, und als der Wagen hielt, hörte man schon das Gebimmel der elektrischen Klingel, welche die Abfahrt des Zuges von der letzten Station signalisirte. Der durch den Taschenspieler verursachte Aufenthalt hatte doch beinahe zu einer Verspätung geführt, und die Damen mußten sich beeilen, auf den Perron zu gelangen.
Der Stationschef grüßte sie mit besonderer Ehrerbietung und gab auf Meinhard’s Frage die Versicherung, daß immerhin noch fünf bis sechs Minuten bis zur Ankunft des Zuges vergehen würden. Fast unwillkürlich nahm Hilda Meinhard’s Arm, um sich von ihm durch die drängenden Menschen zu einem ruhigen Plätzchen führen zu lassen. Manchen Gruß hatte er dabei zu erwidern, der nicht nur der hervorragenden Stellung in der kleinen Stadt, sondern auch der persönlichen Beliebtheit des angesehenen Mannes galt; dennoch wurde seine Aufmerksamkeit nicht so ganz abgezogen, daß ihm der ungewöhnliche Ernst seiner Begleiterin und ihre Blässe entgangen wäre, die freilich einem weniger theilnehmenden Auge in dem Scheine der spärlichen Laternen kaum aufgefallen sein dürfte. Er benutzte das Alleinsein mit ihr; denn Mimi war ein wenig abseits damit beschäftigt, Fritz die beiden großen Bouquets abzunehmen, mit denen er den Damen gefolgt war.
„Was ist Ihnen?“ wiederholte Meinhard seine schon früher gestellte Frage. „Hat Sie Mimi’s Geplauder verstimmt, und ist Ihnen, indem Sie das Kind auf Theilung der Pflichten verwiesen, plötzlich auch der Gedanke an die Theilung Ihrer Rechte erschreckend nahe getreten?“
Hilda schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf.
„Mimi’s Herz wird mir ja immer bleiben,“ entgegnete sie überzeugt. Sie hatte vielleicht eine Zustimmung erwartet, statt derselben aber ging der Freund nach einer kurzen Pause in seinen Nachforschungen weiter.
„Dennoch ist etwas vorgefallen, was Ihr schönes Gleichgewicht stört,“ sagte er mit der Bestimmtheit eines Menschen, der aus der jahrelangen Beobachtung eines Anderen und aus dem liebevollen Eingehen in dessen Wesen beinahe jeden seiner Gedanken zu errathen gelernt hat. „Ist am Ende wieder ein Brief aus Amerika gekommen?“
„Was bringt Sie gerade darauf?“ fragte sie überrascht.
„Es sind eben schon wieder mehrere Monate verstrichen, seit jene Frau an Ihr gutes Herz appellirte. Die Perioden waren sonst nicht so lang gestreckt und pflegten sich sogar in einer gewissen Regelmäßigkeit zu verkürzen, genau der Willfährigkeit entsprechend, mit der Sie Ihre Sparbüchse, allen Abmahnungen entgegen, in dieses Danaidenfaß leeren. Es wäre auch zu verwunderlich, wenn die Ausdauer der Begehrenden eher ermüden sollte, als die Geduld der Spenderin.“
„Sagen Sie: das Mitleid.“
„Es dünkt mich sehr übel angebracht, dieses Mitleid, und es wird ohne Scham mißbraucht, um Sie gewissenlos auszusaugen.“
„Davor bin ich ja durch doppelte Vorsorge hinreichend geschützt; Franz und Sie behandeln mich ja ohnedem wie ein unmündiges Wesen, und ich glaube, ich müßte vor Gericht klagbar werden, um nur wieder das Dispositionsrecht über mein Eigenthum zu erlangen.“
„O, es würde dessen bei mir nicht bedürfen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen entzogen haben –“
„O, nicht diese Empfindlichkeit, Meinhard! Sind Sie denn nicht mein Freund?“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit leisem Drucke fassend, und sah dabei so voll Herzlichkeit zu ihm auf, daß auch ein weit tieferer Groll unter diesem Strahl hingeschmolzen wäre. „Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir, und Sie schneiden auch sonst meine Erörterungen nicht mit der Barschheit meines Bruders ab, doch eben darum sollten Sie auch ein wenig Nachsicht mit meinen Empfindungen haben. Mein Mitleid gilt ja nicht Wilhelm, obgleich er mein Bruder ist. Er hat sein Schicksal verdient; er hat Schande über uns gebracht, und nicht einmal die Folgen seines Verbrechens haben ihn zur Umkehr geführt. Unmännlich, thatlos und ohne Energie ist er geblieben. Für ihn habe ich keine Regung des Mitgefühls; ihm wäre es gleich, wenn sich Franz vollends für ihn zu Grunde gerichtet hätte und Waltershofen, das ohnehin so schwer zu erhalten gewesen, ganz für uns verloren gegangen wäre. Er hat nie eine Rücksicht gegen uns gezeigt – seine Liebenswürdigkeit war nur Schwäche. Aber Derjenigen kann ich meine Theilnahme nicht entziehen, die am Schwersten darunter leidet.“
„Und die Ihnen jene impertinenten Briefe schreibt, in denen aus einander gesetzt wird, daß eine Frau von Reinach das Recht nicht nur auf die Anerkennung, sondern auch auf die Unterstützung der Familie habe, die ihr beides rücksichtsloser Weise verweigere.“
„Sie kämpft für ihr Kind,“ sagte Hilda und sah mit ernstem Nachdenken zu Boden.
„In der kecken Weise der einstigen Soubrette vom Theater.“
„Was auch ihre Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist sie einmal Wilhelm’s Frau und die Mutter seines Kindes. Ich kann nicht ohne Mitleid an die Beiden denken, wenn ich mir vorstelle, wie dürftig, wie elend sie sind, vielleicht nahe am Verhungern, trotz des unablässigen Kampfes und der Arbeit, mit welcher diese Frau eine Existenz möglich zu machen sucht, die ihres Mannes Leichtsinn und Arbeitsscheu immer wieder in Frage stellt.“
„Ihr gutes Herz dichtet Zaubermärchen. Unsere Berichte –“
„Ich vertraue meinem Gefühle mehr als allen Berichten. Nehmen Sie mir den Glauben nicht!“
„Und das Seelenbedürfniß, sich immer für andere zu opfern.“
„Auch das kann Glück sein.“
Sie sagte das so innig und voll so tiefer Ueberzeugung, daß Meinhard bewegt auf sie niedersah.
„Das Glück der Märtyrer,“ sagte er leise, „und die werden heilig gesprochen.“
„Ach, darnach trage ich kein Verlangen,“ entgegnete sie lächelnd. Sie hob freundlich ihren Blick zu ihm auf; doch es lag nicht in ihrem Wesen sich rühren zu lassen, und auch jetzt wurde sie durch die feucht blickenden Augen ihres Freundes nicht gerührt. Wohl aber regte sich das Vertrauen in die alte treue Freundschaft, der Mittheilungsdrang, und entschlossen begann sie: „Wissen Sie denn –“
Wie zur Strafe für ihr früheres Zögern blieb es ihr aber jetzt versagt, zu vollenden. Die Fortsetzung wurde unbarmherzig von dem Gellen des „ersten Läutens“ verschlungen.
Unwillkürlich wandte Hilda den Kopf gegen den einfahrenden Zug und trat einen Schritt vor, wie alle Andern, die hier harrten. Den Augenblick benützte auch Mimi, um der Spannung ein Ende zu machen, die sich deutlich genug – wie sie meinte – in der Achtlosigkeit kundgegeben, mit der sie behandelt und von der Unterhaltung ausgeschlossen worden.
Sie schlang die Arme um Hilda.
„O Tantchen, bist Du noch böse?“ flüsterte sie mit gepreßter Stimme. „Bitte, bitte, sei wieder gut! Ich habe ja doch nur Dich lieb, aber ich will so freundlich wie nur möglich gegen die neue Mama sein. Gewiß!“
„Das setze ich voraus,“ tröstete die durch den Ueberfall Ueberraschte das dem Weinen nahe Kind. „Ich wußte es, und Deinen Papa wird es freuen.“
„Und Du bist nicht mehr böse? Ach, Du kannst ja gar nicht böse sein.“ Und in raschem Umschwunge, die zurückgedrängten Thränen noch im Auge, lächelte Mimi und küßte das Tantchen mit nochmaliger stürmischer Umarmung.
Sie sahen aus wie zwei im Alter wenig verschiedene Schwestern, die sich trennen sollten. Niemand außer Meinhard hatte den kleinen Zwischenfall beachtet; Abschiedsscenen spielten sich ja mehrere ab auf dem Perron.
Der Zug hielt; die Thüren öffneten sich, und in dem Gewirre der nach den Coupés Drängenden und der Aussteigenden war bei der schwachen Beleuchtung einen Moment lang kaum Jemand zu erkennen. Mimi hatte sich am ersten orientirt.
„Ah, da sind sie! da sind sie!“ rief sie. „Hab’ ich Dir’s nicht gesagt, daß er mitkommt? Nein, wie drollig! Er sucht uns [24] offenbar und sieht uns nicht. Da, da! Ach, und die Aurora ist auch dabei.“
„Aurora? Wer ist denn das?“
„Weißt Du denn das nicht? Die – – O Papa, Papa!“
Sie hatte sich nicht vergeblich auf die Fußspitzen erhoben und ihr schlankes Figürchen, das ohnedem Hilda um ein weniges überragte, so lang gestreckt als möglich. Jetzt lag sie ihrem Vater an der Brust und stieß ihm von rückwärts mit dem Strauß, der für die „neue Mama“ bestimmt war, den Hut über die Augen.
Darnach kam freilich auch diese an die Reihe, und der Strauß an seine Bestimmung. Was aber der Kleinen diesmal an Zärtlichkeit, trotz aller guten Vorsätze, doch gebrechen wollte, ersetzte die junge Frau durch ihr Entgegenkommen. Sie zog Mimi liebreich an ihr Herz, und es war sogar etwas wie Rührung in ihren schönen regelmäßigen Zügen, als sie einen langen Kuß auf die Stirn des Wesens drückte, dem sie Mutter zu sein versprochen.
„So ist es recht. Ihr müßt Freundinnen werden!“ meinte Mimi’s Vater, der wohlgefällig die Gruppe betrachtete, indem er sich den Jägerhut über dem gebräunten energischen Gesichte wieder zurecht schob.
„Das sind wir schon. Wir wollen aber mehr werden – Schwestern! Nicht wahr?“ sagte die junge Frau, sich abermals zu Mimi herab neigend, und hatte sich mit dem einzigen Worte in deren Herzen mehr Platz erobert, als das verwöhnte Kind für möglich gehalten. Nur von einer andern Mutter wollte es nichts wissen – eine Schwester aber –
„Gut, gut,“ meinte Herr von Reinach mit etwas rauhem Humor. „Der erste Trieb ist vorbei – jetzt aber vertagt Eure Herzensergießungen! Du kennst ja Hilda noch gar nicht, liebe Albertine. Erlaube! Ah, das ist brav, daß Du auch mitgekommen bist, Bruno! Das ist erst die rechte Heimath, wenn sie uns aus den alten Gesichtern grüßt. Bin doch froh, daß ich wieder daheim bin. Albertinchen, Statthaltereirath Meinhard, Respectsperson, Oberster des Amtsbezirks, Minister des Innern in spe und mein treuer Jugendfreund.“
„Ach welche Rücksichtslosigkeit! Kein Anstand, keine Achtung!“ unterbrach hier eine Stimme die Reihe der Vorstellungen. Die dicke Dame, welche sich so beklagte, schoß vernichtende Blicke um sich, während sie die kleine Gruppe, an welche sie herantrat, zur Rache aufzurufen willens schien.
Der junge schlanke Elegant, auf dessen Arm sie sich schwerfällig stützte, erklärte lachend:
„Mama beging die Unvorsichtigkeit sich einigen Kofferträgern in den Weg zu stellen, und wäre in der That beinahe über den Haufen gerannt worden.“
„Ueber den Haufen – über den Haufen,“ wiederholte sie mit tadelndem Gemurmel das anstößige Wort. Ihr durch den Eifer stark geröthetes Antlitz verklärte sich aber plötzlich und mit einem überraschenden Uebergang, wie durch den Verwandlungsapparat bei Nebelbildern, zu dem einschmeichelndsten Lächeln, als sie sich Hilda gegenübersah.
Eine Ahnung hatte dieser schon gesagt, wen sie vor sich habe, ehe ihr Bruder noch Zeit fand, seine Schwiegermutter mit ihr bekannt zu machen. Vielleicht hatte Mimi’s Ausruf und eine dadurch hervorgerufene Ideenverbindung diese Erkennung erleichtert.
Die Besitzerin des Hauses „Zur Aurora“ neigte sich mütterlich wohlwollend zu den sie freundlich Begrüßenden.
„Ach, wie lieb!“ sagte sie mit Gefühl. „Also auch an mich haben Sie gedacht, Fräulein Hilda? Sie sind zu aufmerksam! Wirklich, zu freundlich! Das schöne Bouquet für mich! Wie soll ich Ihnen danken? Sieh doch nur, Edwin, wie liebenswürdig! Diese prachtvollen Blumen so spät im Herbst! Mein Sohn, Edwin von Tonner. Mein erster Mann war ein von Tonner, wie Sie vielleicht gehört haben. Edwin, Fräulein Hilda erlaubt Dir gewiß, ihr die Hand zu küssen. Wir sind ja nun eine Familie.“
Zu gutmüthig, um Jemand absichtlich eine Enttäuschung zu bereiten, überließ Hilda den eigentlich gleichfalls für die junge Schwägerin bestimmten Strauß deren Mutter, wie sie auch den verordneten Handkuß hinnahm, obwohl sie sich von dieser Begegnung im Grunde wenig angemuthet fühlte. Vielleicht hätte sie unter anderen Umständen mehr das Komische als das Befremdliche der Situation herausgefunden, im Momente aber fehlte ihr der Humor; denn noch wirkten die in der Unterredung mit dem Freunde angeregten Gedanken in ihr nach, und überdies quälte sie der plötzlich auftauchende Gedanke, daß für die Aufnahme dieser unerwarteten Gäste gar keine Vorbereitungen getroffen waren.
Sie kannte ihres Bruders Ungeduld in solchen Dingen, und diese machte sich auch wirklich schnell genug fühlbar. Einstweilen ertheilte Herr von Reinach seinem Bedienten, Fritz, einige Befehle. Dieser hatte sich beeilt, das Handgepäck aus dem Coupé zu räumen, und stand nun mit dem abgenommenen Hut in der einen und einem Handkörbchen in der anderen Hand da. Unter dem festgebundenen Deckel des Korbes zwängte sich der Kopf eines Hündchens hervor, das nahe daran war, sich bei seinen ungestümen Befreiungsversuchen selbst zu erwürgen.
„Nur einen Wagen, sagt mir Fritz? Wie konntest Du doch daran denken, Hilda, nur einen Wagen für uns alle herzuschicken?“ zog Herr von Reinach seine Schwester zur Verantwortung. „Was nutzt der Korbwagen? Die zweiten Pferde hätten vor die Halb-Chaise gespannt werden sollen; für die Bagage konnte ein Bauerngespann kommen.“
„Wenn wir nur früher gewußt hätten –“
Aber Entschuldungen waren dem an’s Befehlen gewöhnten Gutsherrn ein Gräuel.
„Früher, früher! Wann denn? Wir trafen uns unterwegs – das hatten wir verabredet, um einige Tage noch gemeinsam zu verleben, aber ich habe die großen Städte jetzt für eine Weile satt, und war froh, als sich die Schwiegermama entschloß mitzukommen. Das alles wurde gestern Morgen erst abgemacht, und ich schrieb auf der Stelle; den Brief hast Du doch erhalten? Die Depesche heut auch? Da es der Brief noch halb im Zweifel ließ – –“
„Das Telegramm wohl, aber nicht den Brief.“
Damit war jedoch Oel in’s Feuer gegossen. Der Unmuth Reinach’s wandte sich nun gegen die Postverwaltung, das Communicationswesen, die Verwaltung überhaupt und schließlich gegen alle Einrichtungen des gesammten Staatswesens; nicht einmal ein freundlicher Beschwichtigungsversuch der jungen Frau wollte recht einschlagen. Erst Meinhard gelang es zuletzt, den Unwirschen leidlich zur Ruhe zu bringen.
Er hatte, während sich der Freund seinem Unmuthe hingab, Rath geschafft, wenigstens für das nächste Bedürfniß in dem „arg zerrütteten Staatswesen“.
Von den Passagieren des mittlerweile wieder weitergefahrenen Zuges war nur ein einziger dem harrenden Hôtelomnibus der „Krone“ zugefallen. Durch eine höfliche Einladung hatte Meinhard dessen Uebersiedelung in jenen des „Goldenen Adlers“ bewirkt; der kam ja doch auch an der „Krone“ vorüber, und ein anderes Mittel als diese Fusionirung der beiden concurrirenden Großmächte stand eben nicht zu Gebot, da sich Miethwagen an der dem Städtchen so nahen Bahnstation nur auf Bestellung einzufinden pflegten. Das einspännige Fuhrwerk bot zwar keine übermäßige Bequemlichkeit, aber es war ein Auskunftsmittel, und Mimi gab sofort ihre Bereitwilligkeit zu erkennen, von demselben Gebrauch zu machen, natürlich unter dem Schutze Edwin’s, mit dem sie unterdessen die heiterste Begrüßung gewechselt.
„Ich habe schon eine Ahnung davon gehabt, daß Sie mitkommen,“ hatte sie ihm in aller Eile anvertraut.
„Wirklich? Sie erwarteten mich? Darf ich hoffen, mit Ungeduld?“
„Davon habe ich nichts gespürt.“
Aber das freundliche Lächeln, mit dem sie seinen feurigen Blick erwiderte, benahm selbst dem grausamen Beisatze: „Nur mit Hunger, weil wir heute so spät zum Abendessen kommen,“ seinen Stachel. Sie nahm es denn auch nicht sonderlich huldvoll auf, als Frau Rohrwek mit einem ziemlich bestimmt lautenden: „Nein, nein, das Töchterchen gehört zu uns,“ die Entscheidung in entgegengesetztem Sinne traf. „Man darf Vater und Kind die Freude des Wiedersehens nicht verkümmern,“ fügte sie hinzu.
So war es selbstverständlich Hilda, welche auf die Gesellschaft des jungen Mannes angewiesen blieb, der ihr auf einen Wink seiner Mutter zuvorkommend den Arm bot. Beide blieben allein; denn Meinhard war nicht mit eingestiegen; er hatte es vorgezogen, die so unvorhergesehen vergrößerte Familie an diesem Abende discret sich selbst zu überlassen, und Hilda war kaum dazu gekommen, ihm noch „gute Nacht!“ zu sagen und die Hand aus dem Wagen zu reichen.
Es beschäftigte sie auch so vielerlei, daß sie kaum die Hälfte [26] von dem hörte, was ihr Begleiter mit geläufiger Zunge erzählte; nur dort, wo eine Antwort unerläßlich war, gab sie dieselbe kurz und zerstreut. So viel Mühe er sich auch nahm, die Zeit der Fahrt angenehm auszufüllen – ihr war noch nie eine solche langweiliger erschienen als die gegenwärtige, und sie war froh, als endlich die einfachen Linien des zwar nicht großen, aber doch recht stattlichen Schloßbaues hellerleuchtet aus der Finsterniß auftauchten.
„Allerdings – recht praktisch – nichts fehlt – auch die weißgekleideten Ehrenjungfrauen nicht,“ stimmte sie den scherzhaften Bemerkungen ihres Begleiters zu, indem sie dieselben fast wörtlich wiederholte und dabei an ganz andere Dinge dachte:
„Die Gastzimmer und dann der Tisch – zwei Gedecke mehr, und ob auch die Susanne –“
Der Wagen hielt an. Eiligst huschte Hilda voran in’s Haus, während ihr Bruder mit Frau und Schwiegermutter noch unter der grünen Triumphpforte stand und beim bunten Scheine der in dem Fichtenreisig angebrachten Lämpchen die Glückwünsche von seinen Leuten entgegennahm.
Da krachte plötzlich ein Schuß durch die Nacht und darauf noch ein zweiter. Frau Rohrwek, welche mit großer Genugthuung und herablassendem Kopfnicken die Anreden mit angehört, stieß einen Schrei aus und klammerte sich an den Altknecht, der ihr zunächst stand.
„Ein Attentat, ein Attentat!“ kreischte sie auf.
Sie achtete nicht auf seine beschwichtigenden Worte, es sei ja nur das gnädige Fräulein gewesen; da brauche man nicht zu erschrecken. Aber zu gleicher Zeit fast ließ sich Mimi’s Stimme vernehmen mit einem schallenden:
„Hurrah!“
„Weißt Du, Papa,“ setzte sie dann erläuternd hinzu, „Tantchen wollte von Böllern nichts wissen – da mußt Du schon mit meiner kleinen Jagdflinte vorlieb nehmen. Eine Hochzeit muß doch angeschossen werden! Hurrah!“
„Teufelsmädel!“ meinte der Vater schmunzelnd und wehrte den Hunden, die winselnd vor Aufregung an ihm hinaufsprangen. Die junge Frau äußerte ihre Besorgniß über die Gefahr.
„Es ist keine Gefahr dabei, soll ich wieder laden?“ lachte Mimi.
„Ich sterbe,“ ächzte Frau Rohrwek. „Ein entsetzlicher kleiner Kobold.“
Der Kobold aber lachte über die gelungene Verherrlichung des Einzuges.