Textdaten
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Autor: Levin Schücking
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Titel: Der gefangene Dichter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6–9, S. 73–76, 89–92, 101–104, 113–116
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[73]
Der gefangene Dichter.
Von Levin Schücking.


I.

Einer der großartigsten Residenzbaue des vorigen Jahrhunderts ist der, welcher den Großherzogen von Hessen und bei Rhein zum Aufenthalte dient. Wäre er so vollendet, wie Landgraf Ernst Ludwig, der fromme, thätige, väterlich sorgende Fürst ihn auszuführen beabsichtigte, so würde er an Pracht und Umfang wetteifern mit der größten aller Residenzen, welche das an solchen Schöpfungen so fruchtbare achtzehnte Jahrhundert errichtete, mit dem ungeheuern Sommerhause der neapolitanischen Bourbons zu Caserta. Leider aber sind Monsieur Rouge de la Fosse’s, des Architekten, Pläne nur zum vierten Theile ausgeführt, und nur das Modell im Museum zu Darmstadt giebt jetzt ein Bild dessen, was das Ganze werden sollte nach der Idee seiner Gründer. Aber ist der große Bau von Ernst Ludwig’s Nachfolgern nicht vollendet, so ist er von ihrer Liebe für Kunst und Wissenschaft im Innern durch die geistigen Schätze, welche nach und nach darin gehäuft wurden, desto reicher ausgestattet. Schon die Regierungsperiode des Landgrafen Ludwig IX. legte den Grund zu diesen Schätzen und zwar in Folge des regen Eifers, der für jedes Gebiet geistigen Strebens und humaner Bildung in der großen und edlen Seele der Landgräfin, der schönen und vielgepriesenen Caroline lebte. Sie auch hat die Schloßschöpfung des Vorfahren mit sinnigem Geschmack ergänzt, indem sie jenen Park hinzufügte, der sich auf der Nordseite der Residenz ausdehnt, und jetzt mit seinen Anlagen, seinen schönen Baumgruppen, seinem kleinen See das Publicum auf die kiesbestreuten Pfade lockt.

In einer der regelmäßigen und reinlichen Straßen der großherzoglichen Hauptstadt, welche diesem „Herrengarten“ nahe liegen, sieht ein einfaches zweistöckiges Haus, wenn wir nicht irren, mit dem Buchstaben E. und der Nummer 90. Dies Haus wird als eine Merkwürdigkeit den Fremden gezeigt; das heißt, wohlverstanden, denjenigen Fremden, welche darnach fragen sollten, und deren sind freilich gerade nicht allzuviel; denn wer in unserer vielbeschäftigten Zeit hat so viel Muße übrig, um sich der Betrachtung alter Häuser hinzugeben, und seine Theilnahme haften zu lassen an Mauern und Wänden, die höchstens wohl „Ohren“, aber leider keinen Mund besitzen, womit sie erzählen könnten, was sie einst Alles vernommen und erlauscht haben! Wäre das Letztere der Fall, dann freilich würde unser Nr. 90 E. manches tiefbedeutsame Wort, manche weittragende Idee, manchen hinreißenden Ausbruch einer dichterischen Inspiration uns überliefern können, die wohl werth, der Vergessenheit entrissen zu werden. Denn in diesem Hause wohnte einst Johann Heinrich Merk, und unter seinem Dache kehrten die „schönen Geister“ einer Periode ein, über welcher ein so schöner Geist der Humanität und des von neuen und großen Gedanken befruchteten dichterischen Schaffens und Strebens schwebte.

Es war an einem warmen, klaren und einen heißen Tag kündenden Morgen im Sommer des Jahres 1772, als aus diesem Hause des Herrn Kriegszahlmeisters Merk ein junger Mann heraustrat, der mit leichtem elastischen Schritt die drei oder vier Stufen vor der Hausthüre niederstieg, und sich dann jenen erwähnten nahegelegenen Anlagen des „Herrengartens“ zuwandte. Da sein Weg eine Strecke weit sich im Schatten einer Häuserreihe hielt, so schien er den Schutz seines kleinen dreieckigen Hutes, mit der schmalen Goldborte umher, für überflüssig zu halten; er trug ihn in den über den Rücken gelegten Armen. Das unbedeckte Haupt bot sich mithin frei der Beobachtung dar, und es konnte in der That nichts geben, was einer aufmerksamen Beobachtung würdiger gewesen, als eben dieses wunderbar schöne Jünglingshaupt. Seine strahlenden braunen Augen, seine kräftig geformte, in der Mitte etwas erhobene Nase, mit den stark ausgebildeten Flügeln, dem Zeichen der Race, des Muths und des Uebermuths; der regelmäßig gezeichnete Mund mit dem hohen Incarnat der Lippen, und das männlich stark ausgebildete Kinn – alles das bildete etwas, wie einen Normalkopf, und erinnerte an plastische Kunstschöpfung. Das schönste an diesem Kopfe war aber unstreitig die Stirn, welche mit der der Ludovisischen Juno an Regelmäßigkeit der Contouren und an sprechendem Ausdruck wetteifern konnte. Sie trat, obwohl sie nicht vorgewölbt war, sondern eher etwas hinter die senkrechte Linie zurückwich, doch um so mehr hervor, als der junge Mann das sorglich gepuderte Haar straff zurückgestrichen und hinter dem Nacken in einen stattlichen Zopf zusammengebunden trug.

Der Zopf war aber nicht das Einzige, was der Fremde von dem charakteristischen Costüme von Anno 1772 an sich aufwies. Er war im Gegentheil ganz nach Mode des Tages und zwar mit Sorgfalt gekleidet; in weißer Pattenweste, im Rock von dunkelgrünem leichten Sommerzeuge, in kurzen Beinkleidern von schwarzem Halbsammet und schwarzseidenen Strümpfen; den Degen, welcher damals zur Toilette eines solchen Cavaliers gehörte, hatte er jedoch fortgelassen.

Mit raschen, festen, fast eiligen Schritten ging er dem „Herrengarten“ zu. Aber in eigenthümlicher Weise veränderte sich sein Gang, wir möchten sagen, sein ganzes Wesen, als er im Bereiche des einsamen, um diese Stunde von Niemandem besuchten Gartens war. Seine Schritte wurden plötzlich langsam, seine Art, sich zu bewegen, bekam etwas Unstätes – es drückte sich etwas wie ein zielloses Schweifen darin aus; er schlenderte bald an der rechten [74] Seite des breiten gewundenen Pfades, bald war er zur Linken hinübergeschwankt, und eben so träumerisch irrend schweiften seine Blicke umher; bald ruhten sie auf einer Blumencorbeille, bald auf einer Gruppe von Bäumen, und als er endlich an dem kleinen See angekommen, auf welchem sich ein paar Schwäne bewegten, blieb er stehen, und schien die Blicke nicht von ihnen losreißen zu können, als ob er seine Freude daran habe, wie die schönen, mit einer so poetischen Mission unter den übrigen Geschöpfen bevorzugten Thiere – der nämlich, sich von allen Dichtern aller Zeitalter besingen zu lassen – an nichts Anderes dachten, als die Hälse in’s Wasser zu tauchen, und die Köpfe in den Schlamm zu stecken.

Als er endlich genug zu haben schien an diesem Schauspiel und sich abwandte, um weiter zu gehen, erblickte er in einiger Entfernung einen jungen Gärtner oder Gartengehülfen, der neben einem der Blumenbeete stand, und seine auffallend stattliche, kräftige Gestalt müßig gaffend auf die Schaufel lehnte – so daß ihm der Fremde gerade in derselben Weise zum Schauspiel gedient zu haben schien, wie diesem die beiden Schwäne.

Dem Fremden mochte die Entdeckung, so beobachtet worden zu sein, wo er sich ganz unbelauscht gewähnt, ein unbehagliches Gefühl erregen. Er ging jetzt rasch mit demselben straff elastischen Schritt, den er gehabt, als er sich noch in der Stadt befunden, weiter. Der Weg, den er verfolgte, und der sich schlangenartig zwischen den großen Rasenflächen umherwarf, führte ihn gegen sein Erwarten mit einer plötzlichen Wendung ganz in die Nähe des Gärtners.

Es war, wie gesagt, ein großer, kräftig gebauter Bursch mit einem echt deutschen Blondkopf, hübsch, frisch, von der Sonne gebräunt und dabei höchst kecken, unternehmenden Blicks.

Mit einem spöttischen Lächeln folgte er den Bewegungen des Fremden, und sah ihm mit demselben spöttischen Lächeln in’s Gesicht, während der junge Mann durch seinen Weg fast in gerader Richtung auf ihn zugeführt wurde.

Den jungen Cavalier schien dies höchlichst zu verdrießen, und um den Burschen in seine Schranken zurückweisen, blieb er neben ihm stehen, und sagte mit ziemlich befehlendem Tone:

„Schneide Er mir doch ein Bouquet aus den Blumen dort!“

Der Gärtnerbursch rührte sich nicht; auf seine Schaufel gestützt bleibend, antwortete er:

„Hier wird nichts abgeschnitten!“

„Und weshalb nicht?“

„Weil’s verboten ist für Fremde.“

„Ich bezahl’s ihm!“

„Für Fremde geht’s nicht!“

„Ich bin Seiner Herrschaft nicht fremd!“

„Ist Er ein Herr vom Hofe?“

„Vom Hofe? Nun ja, vom Hofe Apoll’s, guter Freund!“

Der Gärtner schüttelte den Kopf. Der Fremde aber schien sich auf seinen Strauß zu capriciren. Er wollte nicht abziehen ohne ihn. Der Bursche sollte nicht mit doppeltem Spott ihm nachschauen.

„Geb’ Er das Bouquet nur immer her. Ein gutes Trinkgeld soll Ihm werden,“ fuhr er immer in demselben befehlenden Tone fort.

„Was will Er mit dem Strauß?“ versetzte der Gärtnerbursche. „Er kommt damit gar nicht zum Garten hinaus; an den Ausgängen wird vigilirt, von den Aufsehern, den Schildwachen – die werden Ihn anhalten, wenn Er mit Blumen daher kommt.“

„Thut nichts – ich werde den Aufsehern ein Stück Geld in die Hand drücken.“

„Ist hierorts nicht Mode, das Geldindiehanddrücken!“ antwortete der Gärtner lächelnd. „Und noch einmal, was will Er denn mit dem Strauß, daß Er sich’s so viel will kosten lassen?“

„Was geht’s Ihn an?“

„Nun, ich meinte nur –“ versetzte der Bursch, sich jetzt abwendend und seine Schaufel ergreifend, um die Erde zwischen den Blumen damit aufzulockern.

Der junge Herr zog seine Börse hervor und nahm ein paar Silberstücke heraus.

„Das erhält Er für den Strauß,“ sagte er.

Der Gärtner hielt in der kaum begonnenen Arbeit inne und blickte den Fremden verwundert an. Eine solche Hartnäckigkeit und zwar, wie es doch allen Anschein hatte, blos um die Befriedigung eines launenhaften Wunsches zu erreichen[WS 1], mochte ihm etwas Neues sein. Er kannte den Eigensinn einer Poetenphantasie nicht.

„Geld thut’s allein nicht,“ antwortete er dann; „wenigstens gehören auch gute Worte dazu. Was will Er mit dem Strauß?“

„Muß ich denn, durchaus etwas damit wollen?“

„Weil Er sich’s so viel will kosten lassen, ja!“

„Gut denn – ich will ihn meinem Schatz schenken.“

„Das ist etwas Anderes!“ sagte der Bursche, indem er sein krummes Gartenmesser hervorzog.

„Hat Er je von der Blumensprache gehört?“

„Müßt ich doch nicht Gärtner sein, hätt’ ich nicht wohl davon gehört; aber ich verstehe mich nicht darauf. Bin noch nicht lang’ in dem Geschäft!“

„Nun, seh Er, die Levkoien da, die Er mir schneidet, die bedeuten: „heut komm ich!“ und die dunkle Nelke – geb’ er mir die dunkelrothe Nelke hinein, die bedeutet: „um sieben Uhr, wenn der Abend purpurn niederdunkelt!““

„Das ist hübsch,“ sagte der Gärtner. „Und dieser Goldlack, bedeutet der auch etwas? Soll ich ihn hinzugeben?“

„Freilich – „ich bin Dir treu wie Gold“ bedeutet er – und „bleib’ Du mir auch im Stillen hold“ sagt die Aurikel; so, schneide Er von beiden ab.“

„In der That, die Blumensprache gefällt mir, ich danke Ihm für den Unterricht; will mir’s merken:

Ich bin Dir treu wie Gold,
Bleib’ Du mir auch im Stillen hold –“

recitirte, wie um sich’s einzuprägen, der Gärtnerbursche.

„Und dann,“ fuhr er fort:

„Wenn der Abend purpurn niederdunkelt –“

„Aber da fehlt der Reim darauf; müßt’ so etwas sein, wie munkelt – funkelt –“

„Richtig,“ fiel der junge Fremde ein, „funkelt – etwa:

Dem Sterne gleich Dein schönes Auge funkelt!
Der Gedanke zwar ist wenig neu,
Doch Anlage hat Er zur Poeterei! – –

„Am Ende finden wir noch, daß wir Brüder im Apoll sind!“

„Apoll, was besagt das?“ fragte der Bursche, indem er sich aufrichtete, die geschnittenen Blumen ordnete und einen kleinen Knäuel Bast aus der Brusttasche hervorzog, um den Strauß zu binden.

„Nun will Er gar noch Unterricht in der Mythologie, nachdem er die Blumensprache bereits gelernt. Das nächste Mal, mein Freund! heut’ sage ich ihm nur, daß Brüder im Apollo nicht immer so viel heißt, wie gute Brüder!“

Der Gärtner überreichte seinen Strauß.

„Ich danke Ihm,“ sagte der junge Herr. „Da nehm’ Er sein Trinkgeld. Adieu!“

„Adieu,“ versetzte der Gärtner, und während der Andere sich zum Gehen wandte, rief er ihm lachend nach: „Und viel Vergnügen auf den Abend, Herr Bruder!“




II.

Der Fremde verschwand hinter den nächsten Gebüschpartien. Der Gärtnerbursche nahm seine Arbeit vor, aber nach wenigen Minuten warf er seine Schaufel über die Achsel, als ob ihn das Geschäft, das er begonnen, langweile, und den Dessauer Marsch pfeifend ging er gemächlich geraden Weges, ohne sich reglementmäßig den Windungen der Pfade zu fügen, über dem Rasen davon. Er suchte den dem Schlosse zunächst liegenden Theil der Anlagen auf und näherte sich hier einem hübschen kleinen Hause, das unter einer Gruppe hoher Pappeln, von dichtem Gebüsch umgeben, gar idyllisch dalag. Es war weiß beworfen, an der Süd- und Westseite von Reben umsponnen; zur Rechten und Linken der niedern Thür zeigten sich Staffelbänke, die eine Fülle von Blumen in Töpfen trugen. Da das Gebäude obendrein nicht gar weit von dem großen eisernen Gitterthore entfernt lag, welches den Haupteingang in die Anlagen bildete, so war unschwer in dem freundlichen Häuschen die Wohnung des Obergärtners zu erkennen.

Als der Gärtnerbursche das Haus erreicht hatte, lehnte er seine Schaufel an die Mauer desselben, zog seine leichte graue Leinenjacke glatt, nahm sodann den Strohhut ab, um sich das Haar aus der Stirn zu streichen und zu ordnen, und nachdem er [75] endlich einen Blick an sich selber herabgeworfen, wie um den ganzen Zustand seiner äußeren Erscheinung zu mustern, begann er, den Blicken eine andere Richtung zu geben. Er spähte nämlich mit einer gewissen Unruhe durch die offene Hausthüre[WS 2] in das Innere des Häuschens; er ging darauf zum nächsten Fenster, – sodann zum zweiten und endlich zu einem dritten; aber überall stieß sein suchendes Auge auf einen neidischen Vorhang von rothgewürfeltem Calico, der hinter den Scheiben hing und jeden Einblick in die inneren Räume des idyllischen Hauses unmöglich machte. Mißvergnügt wandte sich der Bursche jetzt der Hausthüre zu – er setzte zögernd den Fuß auf die Schwelle – aber im nächsten Augenblicke zog er ihn wieder zurück, begann auf’s Neue den alten Dessauer zu pfeifen und, mit auffallend erhellten Zügen ging er von dannen, der Rückseite des Hauses zu.

Nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück, eine Leiter von ansehnlicher Länge auf der Schulter tragend. Er wandte sich damit nach der einen Giebelwand des Häuschens, lehnte die Leiter daran und stieg nun empor, bis auf die obersten Staffeln. Hier bog er vorsichtig, etwas scheu, wie es schien, den Kopf so zur Seite, daß er in das halb geöffnete Fenster, welches oben im Giebel angebracht war, blicken konnte. Eine Weile spähte er ungestört hinein; plötzlich aber, mit einer Bewegung so hastig, daß er beinahe das Gleichgewicht darüber verloren hätte, wandte er sich ab, stieg eine Staffel tiefer und begann mit wunderbarer Hast und grenzenlosem Eifer Rebenblätter abzupflücken.

Das Fenster oben hatte sich unterdeß auch zur anderen Hälfte geöffnet und ein ganz allerliebster feiner, schwarzäugiger Mädchenkopf blickte heraus.

„Aber Wilhelm, um Gotteswillen, was macht Er? Ist Er toll? Schämt Er sich denn nicht?“ sagte das junge Mädchen zornig.

„Schämen? Ei, weshalb denn, liebreizende Jungfer Minette?“

„Daß Er so keck und unartig ist, in meine Kammer hineinzuspioniren – und dazu hat Er am hellen Tage die Leiter an die Wand gestellt, damit’s Jedermann sieht, der Augen hat!“

„Weiß denn Jedermann, wo Ihre Kammer ist, Jungfer Minette?“ fragte der Bursch.

„Er ist abscheulich!“

„Levkoie!“

„Nun, macht Er bald, daß Er da fortkommt?“

„Goldlack!“

„Wilhelm, ich rufe den Vater, wenn Er nicht geht.“

„Aurikel!“

„Ich glaube, Er ist übergeschnappt!“

„Das bin ich freilich, und zwar aus Liebe zu einer so ungebildeten Person, die nicht einmal die Blumensprache versteht! Das war Alles Blumensprache, Minette!“

„Meinethalben spreche Er mit den Blumen, aber hier hat Er nichts zu schaffen!“

„Allerdings! ich habe alle Hände voll zu thun. Ich muß die Weinblätter abpflücken, damit die Sonne die jungen Trauben bescheinen kann; es ist die höchste Zeit, daß die Arbeit geschieht!“

Und nach diesen Worten gab Wilhelm sich auf’s Neue eifrig seiner Beschäftigung hin.

Minettens Zorn über ihn mußte nicht von der gefährlichsten Art sein. Sie blieb mit dem Oberkörper in dem Giebelfenster liegen und sah ihm aus ihren schwarzen Schelmen-Augen lächelnd zu.

Nach einer Weile blickte Wilhelm blinzelnd zu ihr auf. „Jungfer Minette,“ sagte er, „wie wird’s am Sonntag? Hat Sie’s dem Vater gesagt?“

Minette schüttelte den Kopf.

„Sie will’s nicht?“

„Was nützt’s? Er leidet’s nicht, daß ich mit Ihm zum Tanze geh’. Der verlaufene Schwab’, der Wilhelm Rath, ist ein Obenaus und Nirgendsan, sagt er.“

„Ich danke Ihr, Minette.“

„Mir?“

„Nun ja, weil Sie’s so hübsch boshaft nachspricht. Und ich hätt’ Ihr doch ein hübsches seidenes Band geschenkt, wenn Sie am Sonntag mit mir nach Bessungen hinaus zum Tanz gegangen wäre! Ich habe Geld, Minette.“

Wilhelm Rath klimperte mit den erhaltenen Silberstücken in der Tasche.

„So mach’ Er sich ein Vergnügen damit; geh’ Er heut’ Abend in den Birngarten Kegel schieben; es wird eine silberne Uhr ausgesetzt.“

Wilhelm schüttelte mißvergnügt den Kopf.

„Geh’ Er nur immer hin,“ fuhr Minette fort, „Er thut mir einen Gefallen damit.“

„Wenn ich Kegeln geh’?“

„Nun ja; es fällt den Leuten auf, daß Er alleweile die Abende hier umherlungert. Er geht nirgendwo hin. Er bringt mich in’s Gerede.“

„Was schadet’s, allerholdseligste Jungfer Minette? Bin ich denn kein anständiger Freier für die Jungfer? Bin guter ordentlicher Leute Kind. Mein Geschäft, die Gärtnerei, versteh’ ich auch. Daß ich bin durchgebrannt von den Soldaten fort und über die Grenze von unserm guten Schwabenländle – nun, das kann mir nicht schaden, bei keinem Menschen nicht. Wen die Werber gefaßt haben, der ist übel daran, absonderlich bei unserm Karl Herzog; und wer sich nicht aus dem Staube macht, sobald er Weg und Steg sieht, der ist ein Narr. Ich hab’s deshalb kein Hehl, daß ich das abscheuliche Ding, den Schießprügel, weggeworfen habe. Ihr Vater weiß es auch, Jungfer Minette; er hat mich doch zum Gehülfen angenommen und ich denk’, er nimmt mich noch zu etwas Besserem an.“

„Was Er sich einbildet!“ entgegnete Jungfer Minette spöttisch, und eine Handvoll Blätter von den Reben, die bis zu ihrem Fenster hinaufgeklettert waren, abreißend, um sie dem jungen Manne auf den Kopf zu werfen.

Wilhelm ergriff eine der lang niederhängenden Loden und führte damit einen Schlag nach dem jungen Mädchen.

Dieses sprang kichernd zurück und verschwand hinter dem Fenster.

Wilhelm schaute eine Weile in die Höhe, mit seiner Rebe bewaffnet, wie um den Schlag zu wiederholen, sobald sie sich auf’s Neue erblicken lasse. Aber Minette erschien nicht.

„Minette!“ begann er leise zu rufen.

Keine Antwort.

„Allersüßeste Jungfer Minette!“

Der schwarze Lockenkopf ließ sich bemerken, wie er vorsichtig um die Kante der Fenstereinfassung schaute.

„Will Er den Rebenzweig fallen lassen,“ kicherte sie, „sonst …“ und dabei streckte sie ihren hübschen runden Arm, den der offene Aermel des Morgenjäckchens vom Ellenbogen an unbedeckt ließ, über Wilhelms Haupt mit einem vollen Glase Wasser aus und drohte, dies über ihn niederzugießen. „Will Er sich jetzt auf’s Bitten legen?“

„Thu’ ich etwas Anderes, als mich auf’s Bitten legen bei der Jungfer Minette?“ entgegnete er, sich rasch zur Seite wendend, um dem drohenden Gusse auszuweichen. „Wenn’s nur hälfe bei der hoffährtigen Jungfer Minette. Sie ist gar zu stolz auf ihr verwettert hübsches Lärvchen und ihres Vaters große eiserne Geldkiste.“

„Geldkiste? Welche Geldkiste?“ versetzte Minette, indem sie das Glas neben sich auf die Fensterbank setzte.

„Nun, die große Geldkiste, die der Vater in der Hinterstube hat, die er Niemanden betreten läßt und immer so sorgfältig verschließt.“

Minettens Züge wurden plötzlich ernst. Sie schüttelte ihren hübschen rosigen Kopf und sagte:

„Einfältig Gerede! Kümmere Er sich nicht darum.“

„Nun, was hat’s denn sonst zu bedeuten, wenn’s nicht wahr wäre, was die Leute sagen, der Gärtner habe einen grausam reichen Onkel in Westindien beerbt und das Geld sei in einer großen eisernen Kiste gekommen und die habe der Gärtner in seiner Hinterstube fest in die Wand mauern lassen?“

„Davon ist keine Sylbe wahr, Wilhelm. Wenn Er deshalb nach mir freit, so lasse Er’s nur ja bleiben!“

„Es ist aber doch wahr, daß Niemand je von dem Gärtner in die Hinterstube gelassen ist; daß er nie einen Schritt aus dem Hause setzt, ohne vorher nachgesehen zu haben, ob auch die Thüre fest verschlossen; daß die Fenster mit dichten Vorhängen sorgfältig verschlossen sind, so daß Niemand vermag, einen Blick hineinzuwerfen – was bedeutet denn das Alles?“

[76] „Frag’ Er den Vater!“ entgegnete Minette, ernst lächelnd.

„Ich werde mich hüten. Wer ihn fragt, den wirft er zur Thüre hinaus. Also muß doch etwas ganz Absonderliches in der Stube sein. Etwas Lebendes ist’s nicht, denn dann müßte man bemerken, daß Speise und Trank hineingebracht würde –“

„Vielleicht geschieht’s des Nachts, wenn Alles schläft,“ warf Minette spöttisch ein.

Wilhelm schüttelte den Kopf.

„Dann müßt’ ich’s hören,“ sagte er; „denn ich, Jungfer Minette, damit Sie’s nur weiß, ich schlafe mein Lebstage nicht.“

„Bei Tage nicht, das glaub’ ich.“

„Auch in der Nacht nicht, weil ich an meinen allerholdseligsten und allergrausamsten Schatz denke.“

Minette griff wieder zum Wasserglase und streckte es lachend über Wilhelms Kopf aus. Dieser bog zur Seite aus, aber der Guß kam nicht.

„Nachts,“ fuhr der Gärtnerbursche dann fort, „bleibt’s im ganzen Hause still. Also ein Mensch kann’s nicht sein, der in der Hinterstube versteckt ist. Eine rare Pflanze, welche der Gärtner erzöge, auch nicht, die müßte Licht und frische Luft haben. Was ist’s nun? Der Gärtner wird doch Niemanden todtgeschlagen und darin versteckt haben? Es ist freilich nicht mit ihm zu spaßen, er kann zornig genug werden, wenn ihm etwas in die Quere kommt!“

„Wie mag Er nur so abscheuliches Zeug reden,“ versetzte Minette, die Farbe leicht wechselnd; „pfui, Wilhelm!“

„Aber es muß doch seinen Grund haben,“ fuhr der Gärtnerbursche fort.

„Den hat’s auch, seinen guten Grund, daß der Vater Niemanden in die Stube läßt. Aber es hat sich auch keiner darum zu kümmern – Er auch nicht, versteht Er, Wilhelm! laß Er’s sich gesagt sein oder mit unserer Freundschaft ist’s ein für alle Mal aus, daß Er’s weiß. Laß Er die Leute reden, wenn’s ihnen Vergnügen macht, thörichtes Zeug zu schwätzen!“

Und damit zog sich Minette vom Fenster zurück.

Wilhelm blickte eine Weile hinauf, um zu sehen, ob sie nicht wieder erscheine.

„Sie hat’s quer genommen, daß ich endlich einmal davon begonnen habe,“ sagte er dann halblaut für sich. „Und so klug bin ich, als wie zuvor. Curios ist’s bei alle dem. Neulich Abends kommt der Lehrbub’, der Matthes, gelaufen und sagt, er habe in der Dämmerung die weiße Frau über den Schloßplatz her in den Garten schreiten sehen verschleiert, langsam sei sie daher gegangen und auf des Gärtners Wohnung zu – die Thüre sei wie von selbst vor ihr aufgesprungen – drinnen sei sie verschwunden … hat der Bube gelogen oder die Wahrheit gesprochen? Ja, ja, seltsam ist’s, die Geschichte mit der Hinterstube; wie oft hab’ ich mich auf die Lauer gelegt, aber wahrzunehmen ist nichts. Nun freilich, wenn etwas wahrzunehmen ist, wird’s der Herr Gärtner schon vorher wissen, und dann heißt’s: Wilhelm, die Bäume hinten im Küchengarten müssen heute beschnitten werden, und Du, Matthes, lauf’ nach Kranichstein, dem Herrn Wildmeister sollst Du Quittenreiser bringen – damit sind die Aufpasser beseitigt!“




III.

Kehren wir jetzt zu dem jungen Manne mit dem Strauße zurück. Er hatte sich in einen der abgelegensten Theile der Anlagen begeben und dort auf eine Gartenbank niedergeworfen. Hier hatte er lange gesessen, das Haupt auf die Lehne der Bank zurückgelegt und so in die dunkle Bläue des Himmels starrend. Sein Auge hatte dabei einen eigenthümlichen schwärmerischen Glanz angenommen; auf seiner schönen Stirn lag etwas wie ein Weben unendlich beglückender hochfliegender Gedanken. Dann stand er auf und sagte halblaut für sich:

„Genug geträumt in der freien schönen Gotteswelt! Wir müssen jetzt zu Merk zurückkehren, der von seinem Kriegszahlamt nun wieder daheim sein wird. Wollen hören, wie Johann Heinrich Reinhard der Jüngere[1] über all die Sachen denkt, die uns durch den Kopf gegangen, und welche Bosheiten er uns und allen seinen lieben Mitchristen an den Kopf werfen wird!“

Mit raschen Schritten suchte er dann den Ausgang auf und zwar den Hauptausgang nach dem Schloßplatze hin, in dessen Nähe die Wohnung des Gärtners lag. Ein paar hundert Schritt von demselben entfernt blieb er plötzlich stehen.

„Aber mein Strauß!“ sagte er, indem er das große Bouquet, welches Wilhelm ihm vor einer Weile hatte schneiden müssen, betrachtete und sein Gesicht darin barg, um den Duft in langen Zügen einzusaugen. „Schöner Strauß, Du bist Contrebande! Am Thore werden wir auf eine Wache oder einen Aufseher stoßen, die Dich confisciren und am Ende den Frevler, der Dich trägt, dazu! Soll ich ihn fortwerfen? Es wäre Schade darum; aber, sieh da, taucht nicht da ein allerliebstes Mädchenantlitz vor uns auf? – bringen wir ihr die Kinder Florens zum Angebinde!“

[89] Das Mädchenantlitz, welches der junge Mann in diesem Augenblicke vor sich erscheinen sah, war kein anderes, als das Minettens. Minette erschien nämlich, nachdem sie das von ihrem Kammerfenster aus gepflogene Gespräch abgebrochen hatte, unten in der Hausflur; sie war im Begriff, in den Garten zu gehen, aber da sie den fremden jungen Mann sich nahen sah, wartete sie, bis er vorübergegangen.

Der Fremde ging aber nicht vorüber. Im Gegentheil, er kam geraden Weges auf das Gärtnerhaus zugeschritten, trat über die Schwelle in die offene Hausflur und überreichte Minetten sein Bouquet mit den Worten:

„Nehmen Sie diesen Strauß von mir an, schönes Kind – wollen Sie ihn nicht von mir, als einem Unbekannten, annehmen, nun, so denken Sie, der Garten sende Ihnen seine schönsten Blumen zum Morgengruß.“

„Mein Herr, ich weiß nicht …“ stotterte Minette, bis unter die Haarwurzeln erröthend, und streckte nur sehr zögernd die Hand nach dem Geschenke aus.

„Wollen Sie mich mit einem Korbe betrüben?“

„Sie sind sehr galant, mein Herr – – aber in der That, wenn der Vater die abgepflückten Blumen sieht …“

„So gibt es eine Untersuchung? O, seien Sie darüber ruhig. Es hat ihn keine unberufene Hand geraubt; der junge Gärtner selbst hat ihn geschnitten und so sinnig und hübsch geordnet.“

„Wer, der Wilhelm?“ entgegnete Minette und griff nun unbedenklich nach dem Strauße.

„Ja, der Wilhelm wird es gewesen sein,“ antwortete lächelnd der Fremde; „Sträuße, die der Wilhelm bindet, scheinen sich freundlicher Aufnahme bei Ihnen zu erfreuen, – ist’s nicht so?“

Minette erröthete auf’s Neue und, um es zu verbergen, neigte sie ihr hübsches Gesicht über die Blumen.

„Ich danke Ihnen, mein Herr!“ sagte sie dann, indem sie einen zierlichen Knix machte.

Der junge Mann blieb stehen, trotz dieser verständlichen Andeutung, daß man ihn verabschiede. Die seltene Anmuth des hübschen jungen Mädchens schien ihn zu fesseln.

„Wollen Sie mich so gehen lassen, Demoiselle,“ hub er an, „ohne mir Ihre allerliebsten Fingerspitzen zum Küssen zu reichen?“

Sie schüttelte kokett den Kopf.

„Ich muß nun an meine Arbeit, Herr,“ versetzte sie, sich von ihm abwendend.

D« Fremde ergriff sie am Arme.

„Der Wilhelm sieht’s nicht!“ sagte er in neckendem Tone.

Sie entzog sich ihm mit einer raschen gewandten Bewegung, nickte ihm lächelnd zu und wollte eben der Treppe im Hintergrunde der Hausflur zueilen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und erschrocken ausrief:

„O, mein Herr, gehen Sie doch! Gehen Sie!“

„Was ist Ihnen, weshalb wechseln Sie erschrocken die Farbe? Sehen Sie den Wilhelm drohend da hinten auftauchen?“

„Sie haben noch gut scherzen,“ rief sie halblaut aus, ängstliche Blicke zur offenen Thüre hinaus werfend, „machen Sie um Gotteswillen, daß Sie fortkommen; fort – nein, nicht in den Garten, das ist zu spät, man sieht Sie – rasch hierhin, die Treppe hinauf – warten Sie oben!“

Und damit schob das junge Mädchen den Fremden, der willenlos ihrer Hast nachgab und nicht begriff, was sie so mit Angst erfüllte, die Treppe hinauf.

„Warten Sie, bis ich Sie herunterhole,“ rief sie ihm noch einmal halblaut nach und dann hörte er sie unten eine Thüre öffnen und davon gehen.

Er sah sich oben in einem schmalen Corridor, auf den die Treppe führte. Am Ende dieses Corridors befand sich eine Thüre, welche halb geöffnet stand und den Einblick in eine Kammer freiließ; im Hintergrunde der Kammer war ein offenes Fenster. Der junge Mann schritt den kleinen Corridor hinab und blickte neugierig in die Thüre; es war ein freundliches, nett und zierlich gehaltenes Giebelzimmerchen; Minettens Bett, mit weißer Spreitdecke überzogen, stand zur Rechten, links ein Tisch mit ihrem kleinen, einfachen Toiletten-Apparat. Der Fremde sah sich lächelnd in dieser friedlichen jungfräulichen Umgebung um, dann ging er bis an das offene Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen.

Als er nun sich durch das Fenster vorbog, begegnete er höchst unerwartet einem anderen Blicke, der verwundert ihm entgegenschaute.

Dieser verwunderte Blick schoß aus den, die höchste Ueberraschung ausdrückenden, weit aufgerissenen Augen Wilhelms, des Gärtnergehülfen, der gerade unter dem Fenster auf seiner Leiter stand, noch immer mit dem Abpflücken unnützer Rebenblätter beschäftigt.

„Ah! Er! Er da?!“ rief Wilhelm aus, und mit dem zitternden Tone höchsten Zornes setzte er hinzu: „Was zum Teufel hat Er da zu schaffen?“

Der Fremde wollte antworten, aber der Gärtnergehülfe hörte [90] schon nicht mehr auf ihn; er stieg, er sprang vielmehr die Staffeln blitzschnell hinab und verschwand um die Hausecke.

Wilhelm war außer sich; ein fremder junger Mensch schaute aus Minettens Kammer heraus; er mußte sich augenblicklich Aufklärung darüber verschaffen, was er sich dabei zu denken habe, und deshalb stürmte er fort, in’s Haus hinein.

Als er in die Thüre trat, erschien eben Minette aus dem Wohnzimmer links und wollte eilig über die Flur, die Treppe nach oben zu, um den Fremden, den sie dort hinaufgeschickt hatte, herunterzuholen und fortzuschaffen.

Aber Wilhelm ergriff sie am Arme.

„Minette!“ sagte er, „Jungfer Minette!“

„Nun, was ist’s?“

Er antwortete nicht, er schien vor Zorn die Sprache verloren zu haben – er deutete todtenbleich auf den großen schönen Strauß, den Minette in den Gürtel gesteckt hatte.

„Was ist’s?“ sagte sie noch einmal, bebend in die eine fürchterliche Leidenschaft spiegelnden Züge Wilhelms blickend.

„Was bedeutet der Strauß?!“ flüsterte er jetzt mit vor Wuth halb erstickter Stimme, „von wem hat Sie den Strauß?“

„Den Strauß? Den hat mir eben ein Fremder gegeben!“

„Ein Fremder! ja, ein Fremder! o, ich weiß, wie fremd er Ihr ist – Sie Abscheuliche, – o, Alles, Alles weiß ich – weiß, was der Strauß bedeutet, was die dunkelrothe Nelke heißt – und ich Esel, ich mußte selbst den Strauß schneiden, darum war dieser Fremde so eigensinnig versessen darauf, daß ich den Strauß bände, damit er und Sie über mich spotten und mich verhöhnen könnten – und darum wollte Sie mich durchaus für den Abend in’s Wirthshaus senden – sieht Sie, daß ich Alles weiß, Sie Schlange, Sie Lügnerin, Sie …“

„Wilhelm – nein, wahrhaftig, Wilhelm, Er ist rein toll geworden!“

„Nun, zum Tollwerden ist’s freilich! So belogen und betrogen zu werden!“

„Wer hat Ihn betrogen?“

„Sie!“

„Mit dem Strauß? Ist’s denn nicht Alles heller Wahnsinn, was Er spricht?“

„Sie leugnet’s noch! Sie leugnet wohl noch gar, daß Sie den Fremden oben in Ihrer Kammer verborgen hat? O, Sie Falsche, Hinterlistige, Gottlose ... aber warte Sie nur, das soll der Vater erfahren, mit eigenen Augen soll er’s sehen, wie Sie’s treibt!“

Und damit stürzte der Mensch, der sich in eifersüchtiger Wuth selbst nicht mehr kannte, zum Hause wieder hinaus, um im Garten nach dem Vater des Mädchens zu suchen.

Minette, welche sich bis jetzt von all’ den Vorwürfen, die so plötzlich über sie ausgeschüttet wurden, nicht hatte die Geistesgegenwart rauben lassen, da sie sich ihrer vollständigen Unschuld bewußt war, begann nun dennoch, diese Geistesgegenwart zu verlieren. Den Vater fürchtete sie. Er war ein strenger, zorniger Mann. Er war leider – wir müssen es zur Steuer der Wahrheit gestehen – ein stiller Verehrer des landesüblichen Traubensaftes. Während diese Neigung Meister Allgeyer’s Cerebralthätigkeit eben nicht zu höherer Intelligenz verfeinert hatte, waren dadurch die cholerischen Theile seines Temperaments, die biliösen Elemente seines Organismus, in einer Weise verstärkt und ausgebildet, daß er außerordentlich stürmischen Zornanfällen ausgesetzt war, wobei er das vollständige Abbild jenes Dänen wurde, von dem es im Hamlet heißt:

You can not speak of reason with the Dane,
And loose your words!

denn alle Worte der Vernunft waren in solchen Augenblicken an Meister Allgeyer vollständig verloren, ja rein verschwendet.

Minette bekam deshalb einen tödtlichen Schrecken bei der Drohung Wilhelms, ihren Vater herbeirufen und sie vor ihm anklagen zu wollen … mochte sie so unschuldig an Allem dem, was Wilhelm ihr vorwarf, sein, wie sie wollte, – wenn er den Vater zuerst erreichte und ihm mit seinen tollen Geschwätz den Kopf erhitzte, nachher war sie verloren. Deshalb sprang sie Wilhelm nach, strebte, ihn am Arme zurückzuhalten, versuchte, ihn zum Bleiben, zum ruhigen Anhören zu bewegen, gab ihm alle möglichen guten Worte und gelangte, während er fortfuhr, seine eifersüchtigen Anklagen hervorzusprudeln, immer weiter von dem Gärtnerhause fort, in die Gebüsche der Anlagen hinein.

Der junge Mann, den wir oben in Minettens Kammer gelassen haben, war unterdeß, nachdem er sich noch einmal mit seinem lächelnden Fürwitz da umgesehen, zurück und wieder auf den Corridor gegangen, von dem Minette ihn herabholen zu wollen versprochen hatte. Er vernahm den lauten Wortwechsel unten, ohne verstehen zu können, um was es sich handelte. Leise ging er der Treppe näher; aber in diesem Augenblicke entfernte sich der eifrige Stimmenwechsel und verlor sich dann außer dem Hause in den Garten hinein.

Der Fremde schritt nun behutsam die Treppe hinunter. Die größte Stille herrschte im ganzen Hause. Unbehütet lag es da, die Hausthüre offen, offen auch die Thüre rechts, in welche Minette vorhin eingetreten war, nachdem sie den Fremden so eilig und erschrocken die Treppe hinaufgesandt hatte.




IV.

Der Fremde schien entweder eine sehr neugierige oder eine sehr beobachtungssüchtige Natur. Jedenfalls fehlte es ihm nicht an einer gewissen Dosis von unbefangener Keckheit, denn mit dieser trat er, statt das Häuschen, in welchem er doch im Grunde ganz und gar nichts zu suchen hatte, jetzt zu verlassen, in die offene Thüre rechts. Sie führte in das Putz- und Visitenzimmer Meister Allgeyer’s; es war sehr blank und rein gescheuert, die Stühle und Tische standen in der schönsten Ordnung da, der Thüre gegenüber blähte sich breit der Luxus eines schönen Sopha’s aus Kirschbaumholz und auf der Commode unter dem Spiegel standen auf weißer gehäkelter Decke allerlei altfränkische Nippsachen, kleine Schäferfiguren in sächsischem Porzellan, ein Topf mit Potpourri und das unvermeidliche Kaffeegeschirr mit rothgeblümten Schalen. Die Wände waren geweißt, aber statt der fehlenden Tapeten hatten allerlei illuminirte schöne Kupferstiche, auf denen Paul und Virginie in den zärtlichsten Situationen ihres rührenden Lebenlaufes oder der alte Fritz in den hervorragendsten Momenten seiner Heldenlaufbahn dargestellt waren, die Kosten der Ausschmückung übernommen.

So unterschied sich denn der Raum in nichts von anderen Stübchen gleicher Bestimmung in jener guten bescheidenen Zeit; es war nichts da, was verdiente, die Blicke so lange zu fesseln, als der Fremde sich in diesem Raume aufhielt. Und von dem Stübchen wurden seine Blicke auch in der That nicht gefesselt; sie flogen durch dasselbe hindurch in einen zweiten dahinter liegenden Raum, in welchen er hineinschaute und an dessen Ende sich ihm ein Anblick darbot, der ihn anzog. In der Ecke dieser Hinterstube nämlich war eine dunkle Vertiefung angebracht, welche von dem jungen Manne im ersten Augenblicke für ein hohes Kamin gehalten wurde, dann aber, bei näherem Hinsehen sich als Eingang in eine tiefliegende Räumlichkeit darstellte, zu groß freilich, um etwa als Eingang in gewöhnliche Kellerräume zu dienen. Darauf zuschreitend sah der junge Fremde, daß eine Treppe von vielleicht zehn Stufen hier ziemlich steil hinabführte, und zwar in einen Gang, der unter der Erde fortlief. Der Eingang über der Treppe war gewölbt aus rohen Tuffsteinen, die kunstreich so gelegt schienen, daß sie hie und da kleine Lücken ließen, durch welche Licht eindrang. Auf dem bituminösen Gestein der Wände wucherten Schlingpflanzen. Unten war der Gang mit glänzend reingehaltenen Fließen ausgelegt, die schwarze und rothe Carreaux bildeten.

„Der Herr Gärtnermeister scheint sich hier ein unterirdisches Tusculum angelegt zu haben,“ sagte unser junger Freund, indem er die Stiegen hinabschritt und aufmerksam die ganze Einrichtung und die Structur der Wände betrachtete. Nachdem er etwa zehn Schritte in dem dämmernden Raume vorwärts gemacht, gelangte er an eine Wendung und, um diese einbiegend, sah er sich in ein Stück des Ganges versetzt, das durch zahlreichere und größere Oeffnungen im Gestein der Decke noch besser erhellt war. Die herabhängenden Schlingpflanzen zeigten sich hier noch reicher geordnet, und mit ihrem hellen, schwach gefärbten Grün, das wegen Mangel an freier Luft nicht zur völligen Entwickelung gediehen war, bildeten sie ein Relief für kleine weiße Büsten, die auf den vorspringenden Ecken der Tuffsteine, wie auf natürlichen Consolen standen.

[91] Ueberrascht schritt der Fremde weiter in diese merkwürdige anmuthende kleine Unterwelt. Er musterte die Büsten und sah, daß sie berühmte Philosophen und Dichter der Vorzeit darstellten: Homer, Virgil, Sokrates, Plato, Sophokles, Aristophanes. Als er weiter schritt, kamen auch Voltaire, Rousseau, Pope und Gibbon zum Vorschein.

Der Fremde wandelte immer tiefer in den Grottengang hinein, mit einer gewissen Behutsamkeit sachte auftretend, als ob er scheu einer merkwürdigen Entwickelung dieser mysteriösen Anlage entgegenschreite. Noch einmal kam eine Wendung, und dieser folgend, hatte der junge Mann nun plötzlich einen Anblick, der in der That nicht überraschender, fesselnder, unerwarteter sein konnte. Durch eine schmale Bogenwölbung sah er in ein rundes Gemach, dessen Decke etwas höher aufgewölbt war, wie der Gang. In der Mitte dieser Wölbung hing eine Ampel nieder, während unten ein farbiger, aus Aloefasern geflochtener, sogenannter indianischer Teppich den Boden bedeckte. Rings an den Wänden umher lief eine zierlich aus rohem, noch mit seiner Rinde bedeckten Holze verfertigte Bank, während die Wände darüber, so wie im Gange, Schlingpflanzen und Büsten, nur zahlreicher und größer, trugen. Im Hintergrunde der kleinen Rotunde aber war eine Nische, eine Art kleiner Absis, wie in einer byzantinischen Kirche, angebracht, und in dieser stand über zwei Stufen erhöht ein mit einem grünen Tuche bedeckter Tisch, der um so mehr an einen Altar erinnerte, als ein einfaches Kreuz aus schwarzem Ebenholz sich darüber erhob, während mehrere Bücher darauf lagen.

Auf der Bank zur Rechten dieses Altars saß eine hohe weißgekleidete Frauengestalt.

Als der Fremde in dem Raume erschien, hob sie wie erschrocken das Haupt, während zugleich ein offenes Buch von ihrem Schooße auf den Boden niederglitt.

Der junge Mann stand wie angewurzelt. Er starrte mit großen Augen in ein unbeschreiblich edles, von blonden Locken umwalltes Gesicht mit feingeschnittenen Zügen, in denen sich die ausgebildetste Intelligenz aussprach, während der volle weiche Mund das Gepräge vollendeter Herzensgüte trug. Der Teint schien mehr bleich als frisch, falls dies nicht die Wirkung des Lichtes war, welches nur gedämpft und gebrochen durch die in der Decke gelassenen Lücken eindringen konnte.

Ein leises „Ah – wer ist’s?! was wollen Sie?!“ tönte jetzt dem Fremden entgegen, mit einer Stimme, in welcher er den Ausdruck eines gewissen Unwillens über sein Erscheinen nicht verkennen konnte.

„Verzeihung,“ versetzte er deshalb ziemlich schüchtern, „ich konnte nicht denken, daß ich mich störend in eine vielleicht geflissentlich gesuchte Einsamkeit dränge, als ich diesen seltsamen Gang betrat.“

„Wer hat Sie hereingelassen?“ fuhr die Dame mit einer Stimme fort, welche zeigte, daß ihr Unwille sich nicht gemildert hatte.

„Niemand; der Zufall hat mich geführt, ein glücklicher Zufall!“ versetzte er mit einer Ruhe, welche jetzt seine volle Zuversicht zurückgekehrt zeigte.

„Sie haben sehr unrecht, ihn glücklich zu nennen, mein Herr, am wenigsten wird er glücklich für die sein, welche den Befehl von mir haben, hier jede Störung von mir fern zu halten.“

Der junge Mann ließ sich durch diese strengen Worte nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit antwortete er:

„Kann ich es denn einen unglücklichen Zufall nennen, der mir ein bezauberndes Bild, wie aus der Phantasie eines Dichters geboren, traumhaft schön und dennoch kein Traum, vor Augen stellt? Die Dichter sind selten so glücklich, daß ihnen die Wirklichkeit so holde Erscheinungen, so phantastisch, ja märchenhaft umrahmt, enthüllt. Sie sind leider nur zu sehr darauf angewiesen, mühsam und arbeitsvoll aus sich selbst Alles das zu schöpfen, womit Andere erfreut und erhoben werden. Darum verzeihen Sie mir und treiben Sie mich nicht sofort von hinnen, holde Gottheit dieser Grotte, bevor mir noch vergönnt wurde, Sie zu verehren!“

Bei diesen Worten trat der Fremde näher, ließ sich auf ein Knie nieder und, wie um einer solchen Huldigung das Auffallende oder gar Komödiantenhafte welches darin erblickt werden konnte, wieder zu nehmen, hob er das niedergefallene Buch vom Boden auf, um es der Dame zu überreichen.

„Sind Sie ein Dichter?“ fragte diese mit milderem Tone, indem sie das Buch annahm.

„Ob ich es bin? Ich weiß es nicht, aber ich träume es.“

„Das ist gefährlich.“

„Weshalb?“ fragte der Fremde.

„Weil es zu träumen gar oft auf Abwege führt.“

„Abwege führen oft zu holden Zielen, wie ich eben erfahre!“

„Wissen Sie denn, an welches Ziel Ihr heutiger Abweg Sie geführt hat? Vielleicht an ein sehr schlimmes, wenn ich Ihren Vorwitz strafte!“

„Eine Strafe würde nur dazu dienen, mir das Bild, welches ich vor mir habe, für immer noch unauslöschlicher in die Seele zu prägen. Wie man Kinder straft, blos damit sie eines denkwürdigen Ereignisses sich in ihrem Alter besinnen!“

Die Dame lächelte,

„Wollen Sie mich bestrafen?“ fuhr der Fremde, noch immer knieend, fort.

„Nein,“ antwortete sie, „erheben Sie sich.“

Der junge Mann stand auf.

„Gehen Sie jetzt! Und ich vertraue Ihnen bei Ihrer Ehre, daß Sie weder über diesen Ort, noch über diese Begegnung gegen irgend Jemanden indiscret sind.“

„Sind wir nicht immer darauf angewiesen, das Schönste, Herrlichste, was in unser Leben tritt, ängstlich vor der Welt Augen zu verschließen? Verlassen Sie sich darauf, ich werde diese Stunde eifersüchtig und behutsam vor jedem Sterblichen geheim halten.“

Können Dichter schweigen?“ fragte die Dame.

„Gewiß! Es lehrt sie die Stunde der Inspiration, wo die Trunkenheiten des Schaffens über uns kommen und uns Dinge begehen lassen, auf welche wir um Vieles, ja, um Alles in der Welt nicht das Auge eines Sterblichen blicken lassen möchten!“

„Haben Sie oft solche Trunkenheits-Anfälle? Sie reden davon, daß man sich vor Ihnen beinahe fürchten sollte!“

Der Fremde lächelte.

„Seien Sie ruhig, edle Frau, diese Trunkenheit ist höchstens die eines Kindes, welches entzückt die hellen Himmelslichter über seinem Haupte anjubelt und gleich darauf in Wehmuth versinkt, daß seine Arme nicht bis dahinauf langen, um sie sich herunter zu holen. Die Dichter sind eben so. Sie schwanken zwischen dem Rausch eines unendlichen Lebensmuthes, wo der Muth nicht allein für dieses Leben, sondern auch für alles andere Leben, für das des Jenseits, des Himmels und der Unterwelt ausreicht; wo er Alles umfassen, in Alles jubelnd sich stürzen zu können wähnt und die Welt umarmt, wie ein anvertrautes Weib, das sich von ihm lieben lassen muß: und dem grenzenlosen Jammer, daß die Sterne so hoch sind, die Wolken unsere Schritte für ein sonnenhohes Wandeln nicht tragen, die Welt nichts als ein durch und durch falsches, treuloses Wesen ist … das ist unser Loos, edle Frau, und in diesem Hin- und Herfluthen unserer Gefühle würden wir untergehen, wenn wir nicht auf unserm Lebensgange einen freundlich rettenden Genius finden, der uns hilft uns wiederfinden, wenn wir uns verloren haben, der uns zuruft, wie der Herr dem Petrus, als er auf dem See Genezareth wandelte und im Begriff war, in den Wogen zu versinken!“

Die Dame blickte den jungen Mann, während er so redete, mit Zügen an, in welchen sich ebensoviel Ueberraschung als Theilnahme spiegelte, während ihr Auge so mild und gütig auf ihm ruhte, daß er fortfuhr:

„Hätte ich heute einen solchen Genius gefunden, eine Hand, die sich mir böte – o, ich wollte sie verehren gleich der einer Heiligen, wie wollte ich sie an mein Herz drücken, diese Hand, an meine Lippen …“

Er knieete dabei noch einmal vor der Dame nieder, und indem er ihre Hand ergriff, versuchte er sie mit leidenschaftlicher Bewegung an seine Lippen zu führen.

Aber sie entzog ihm rasch diese Hand und sagte mit ernstem, zurückweisendem Tone:

„Gemach, gemach, mein Herr Dichter, lassen Sie sich von Ihrer Phantasie nicht zu Thorheiten fortreißen. Eines Genius, der auf die zu hoch gehenden Wogen das Oel der Besonnenheit ausgieße, scheinen Sie allerdings zu bedürfen. Aber lassen Sie die Hoffnung fahren, vom Baume des Lebens, um dessen goldene Früchte Sie bisher, wie ein Kind um den Weihnachtsbaum, geschwärmt zu haben scheinen, auch einen schönen Genius im weißen Kleide und mit rosafarbenen Schwingen pflücken zu wollen, wie ihn die Kinder ja auch oben auf ihren Weihnachtsbäumen finden. [92] Der Genius, der einem Dichter hilft, ruht in seiner eigenen Brust – da müssen Sie ihn suchen. Die Wirklichkeit hat einen anderen noch nie geboten. Wohl Ihnen, wenn Sie ihn finden. Streben Sie ja danach. Denken Sie an das Schicksal Tasso’s, der ihn nicht suchte, oder besser, ihn nicht zu finden wußte, weil er ihn ebenfalls in den Reihen der Sterblichen suchte, und zu sich herabbeschwören zu können glaubte durch die Beschwörungsformeln der Leidenschaft.“

Der junge Mann schwieg; er schien verstummt vor so viel überlegener Geisteshöhe. Auch wohl ein wenig beschämt!

„Tasso hat doch den Genius gefunden,“ antwortete er nach einer Weile – „in Leonoren von Ferrara.“

„In seiner Fürstin,“ antwortete die Dame stolz, „– daß er in ihr den eigens für ihn gesandten Genius erblickte, war schon der Anfang jenes Wahnsinns, in den er verfiel, weil er in seinem Innern nicht das Maß, die Haltung und die Harmonie fand, die ihn gerettet hätten.“

Und damit erhob sie sich.

„Sie gehen – gehen, zürnend über meine Kühnheit?!“

„Bleiben Sie hier eine Weile zurück,“ erwiderte sie, ohne seine Frage zu beantworten. „Verlassen Sie diese Grotte nicht mit mir zugleich!“

„Und ich sehe Sie nie wieder, um mir Verzeihung zu erwerben?“

Ihre schöne, schlanke Gestalt war im Begriff, aus der Grotte zu verschwinden; da wandte sie sich zurück und sagte, mit demselben mehr strengen als milden Tone, den sie während der letzten Augenblicke der Unterredung wieder angenommen hatte:

„Lassen Sie sich den Nachmittag im Schlosse bei der Gräfin von Schwartzenau melden, mein Herr Doctor Goethe!“

„Sie kennen mich?!“ rief der junge Mann überrascht.

Sie war verschwunden, ohne zu antworten.

Der Fremde – oder, da sein Incognito jetzt von der weißen Dame der Grotte beseitigt ist, Goethe blickte ihr mit begeisterungsvollem Auge nach.

„Wer ist diese Frau? Dieser Inbegriff von Schönheit und Geist?“ rief er aus. „Sie ist voll Hoheit, wie eine Fürstin, wie eine Herrscherin, der nicht die Macht, sondern die Seelenschönheit und die angeborene Grazie die Menschen unterwirft – wer kann es sein, wer anders, als die Fürstin selbst, als Caroline, die bewunderte Landgräfin? Woher sie mich kannte? Liest sie die Namen der Menschen auf ihrer Stirn geschrieben, oder hat sie mich so genau sich schildern lassen, daß sie danach mich erkannte?“

Und die Arme über der Brust verschlingend, schritt er eine Weile, stumm, in Sinnen versinkend, in der kleinen Grotte auf und nieder.

Er mochte auf diese Weise, träumend und sinnend in dem mährchenhaften Raume, in welchem er sich befand, länger verweilt haben, als er selbst es glaubte. Endlich schickte er sich an, denselben zu verlassen. Er warf noch einen Blick umher, wie um sich das Bild der Grotte einzuprägen, und dann trat auch er durch die kleine Bogenwölbung in den Gang. Bald war er am Ende desselben. Die Flügelthüre auf der Hohe der emporführenden Stiegen stand nicht mehr offen. Als er sie erreicht hatte und die Hand auf’s Schloß legte, fand er sie verschlossen. Er klopfte an, erst leise, dann lauter – aber vergebens. Niemand schien ihn zu vernehmen, Niemand draußen zu sein. Er rüttelte, er pochte endlich aus Leibeskräften an die Thüre. Alles war umsonst – das Gärtnerhaus schien wie ausgestorben; nicht das leiseste Geräusch ließ sich vernehmen, viel weniger der Fußtritt eines nahenden Befreiers.

„Ich bin ein gefangener Mann, wie mein Götz im Thurm von Heilbronn,“ sagte er endlich; „ist’s ein Zufall, oder bin ich’s zur Strafe? Jedenfalls muß ich mich fügen!“

Und langsam, resignirt, schritt er den Weg, den er gekommen, zurück, wieder in die Grottenrotunde hinein.

„Da ist ja auch er, von dem sie sprach,“ sagte er, hier vor einer der Büsten stehen bleibend, die die Wände der unterirdischen Halle schmückten. „Armer Tasso!“

Und nachdem er eine Weile in die Züge des glücklichen Sängers geblickt hatte, warf er sich plötzlich, wie in einem Anfall von Leidenschaft, vor der Stelle, wo die hohe Frau gesessen hatte, auf die Kniee nieder, stützte die Arme auf die Bank und die Stirn auf seine Hand und rief aus:

„Soll ich Dich lieben, Fürstin, wie Tasso Leonoren? O, ich könnte es, heiß, verzehrend, wie er .... Aber still, Herz, dämpfe deinen Schlag! Verwirr’ dich nicht in die trügerischen Irrwindungen eines unabsehbaren Labyrinths, an dessen Ende das Verderben lauert. Bist du nicht gewarnt? Bin ich nicht für den bloßen Gedanken an solche Liebe schon jetzt ein armer Gefangener? O, wie fühle ich mit Dir, Torquato! Armer Torquato!“

Und er erhob sich, trat wieder vor die Büste des Dichters hin, aber während er auf sie schaute, verrieth sein Auge, daß er viel weniger den Gegenstand vor ihm anblickte, als mit einer Reihe innerer Bilder oder Gedanken beschäftigt war, in welche er immer mehr sich zu verlieren schien. Sein Auge flammte höher auf, seine Wange röthete sich. Er murmelte einzelne Worte vor sich hin. Er wandelte wieder auf und ab. Er warf sich auf die Bank nieder, und stützte das Kinn auf die Hand, den Arm auf das übergeschlagene Knie. Lange saß er so in Sinnen völlig verloren da. Dann erhob er sich wieder, nahm eines der Bücher von dem kleinen Altar in der Nische, warf es wieder hin, nahm ein zweites, ein drittes – dies hatte weiße Blätter am Ende, und schien zu sein, was er suchte; aus einem Etui in seiner Brusttasche nahm er einen Bleistift, und begann nun auf die weißen Blätter hastig zu schreiben.




V.

Einen eigentümlichen und für die Zeit in hohem Grade charakteristischen Contrast bildete das Herrscherpaar, welches in jenen Tagen über die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und die durch eine Erbtochter von Hanau erworbenen Hanau-Lichtenbergschen Landestheile gebot. Nie hat es eine friedlichere Ehe gegeben, wie zwischen dem Landgrafen Ludwig IX. und der Landgräfin Caroline; denn nie hat ein Mann den Beruf der Frau, mit ihm das Scepter zu führen, mit größerer Klarheit eingesehen, mit größerer Bereitwilligkeit anerkannt. Dadurch, daß er seinem Volke eine solche Landesmutter zuführte und sie dann, ohne ihr irgend die Hände zu binden, landesmütterlich schalten und walten ließ, ist Ludwig IX. der Wohlthäter seines Landes geworden. Er selbst fühlte sich nicht geschaffen für das unruhig bewegte, in ungeregelten Kreisen sich durcheinander wirrende Treiben der großen Welt, des Hof- und Staatslebens; er war eine ausgebildete Einsiedlernatur, welche in der Einsamkeit, die sie frühe gesucht, immer mehr und mehr sich beschränkt hatte auf das Einzige, wodurch sie lebendig angeregt, freudig bewegt wurde – das Waffenhandwerk. Das Militair war Ludwigs IX. Steckenpferd, mehr, wie es je Friedrich Wilhelms I. oder irgend eines andern Fürsten Steckenpferd gewesen ist. Um beiden Neigungen, der einsiedlerischen und der militairischen, zugleich zu fröhnen, hatte er sich in seinen Landen einen stillen Winkel ausgesucht, in welchem er sicher sein konnte, von Niemandem, den er nicht wollte, gestört zu werden. Dieser Ort hieß Pirmasens.

[101] Als Ludwig IX. zum ersten Male in diese öde, sandige Region kam, wo eine Gruppe von vierzehn Häusern das armselige Abbild eines Fleckens darstellte, fühlte seine Vorliebe für die Einsamkeit sich so sympathetisch von diesem Erdenwinkel angesprochen, daß er beschloß, hier „Hütten zu bauen.“ Er schuf sich hier Räume zum Wohnen für sich und sein Grenadierregiment.

Ob es ihn erfreute, daß auch andere Leute ihm hierher folgten, daß der Ort, der so unvermuthet zu der Ehre kam, eine Residenz zu sein, sich nach und nach vergrößerte, bis er statt 14 an 750 Häuser zählte, das wissen wir nicht. Jedenfalls blieb ihm seine Militair-Colonie für immer an’s Herz gewachsen, und nur selten besuchte er die Hauptstadt des Landes, wo die Landgräfin residirte, wo sie mit treuem Eifer über seine Interessen und das Wohl der Unterthanen wachte. Er selbst huldigte in Pirmasens zur Musik der Trommel, die berauschend auf ihn wirkte, in der er selbst Virtuose war, seiner einzigen Liebhaberei.

Ein Reisender jener Zeit, der dahin verschlagen wurde, gab ein lebhaftes Bild dieser militairischen Welt:

„Hier in Pirmasens,“ sagt er, „bin ich in eine ganz neue Schöpfung versetzt, unter eine zahlreiche Colonie von Soldaten und Bürgern, die kein Reisender auf einem so öden und undankbaren Boden suchen würde. Alles um mich her wimmelt von Uniformen, blinkt von Gewehren und tönt von kriegerischer Musik. Hier, wo ehemals nichts als Wald und Sandwüste war, wo ein einsames Jagdhaus blos zum Aufenthalte einiger Förster diente, und die ganze Gegend umher von Niemandem als einigen Räuberhorden besucht wurde, da legte der regierende Fürst von Hessen-Darmstadt mancherlei Wohnungen an, pflanzte Einwohner darein, versetzte den Kern seiner Kriegsvölker dahin und erkor sich den Ort, der sechzehn deutsche Meilen von seinem größeren Lande und seiner eigentlichen Residenz liegt, zu seinem Aufenthalte. Der Ort ist von mittlerer Größe, hat einige gut gebaute Häuser, aber keine vorzüglichen Straßen; der Landgraf wohnt in einem wohlgebauten Hause, das man weder ein Schloß noch ein Palais nennen kann, und das, genau genommen, nur aus einem Geschoß bestand. Nahe bei demselben, nur etwas höher, liegt das Exercierhaus. Hierin nun exercirt der Fürst täglich sein ansehnliches Grenadier-Regiment, das aus 2400 Mann bestehen soll. Schönere und wohlgeübtere Leute wird man schwerlich beisammen sehen. Allerlei Volk von mancherlei Zungen und Nationen trifft man unter ihnen an, die nun freilich auf die Länge nicht so zusammen bleiben würden, wenn sie nicht immer in die Stadt eingesperrt wären und Tag und Nacht von umherreitenden Husaren beobachtet würden. – So eben komm ich aus dem Exercierhause, von der eigentlichen Wachparade, ganz[WS 3] parfümirt von den Fett- und Oeldünsten der Schuhe, des Lederwerks, der eingeschmierten Haare und von dem allgemeinen Tabakrauchen der Soldaten vor dem Anfang der Parade. Wie ich eintrat, kam mir ein Qualm und Dampf entgegen, der so lange meine Sinne betäubte und mich kaum die Gegenstände unterscheiden ließ, bis meine Augen und Nase sich endlich an die mancherlei Dämpfe und, widrigen Ausflüsse einigermaßen gewöhnt hatten. Wer Liebhaber von wohlgeübten, aufgeputzten und schön gewachsenen Soldaten ist, wird für alle die widrigen Ausflüsse hinlänglich entschädigt.

„So wie das Regiment aufmarschirt und seine Fronte durch das ganze Haus ausdehnt, erblickt man von einem Flügel zum andern eine sehr gerade Linie, in welcher man sogar von der Spitze des Fußes bis an die Spitze des aufgesetzten Bajonnets kaum eine vorwärts- oder rückwärtsgehende Krümmung wahrnimmt. Durch alle Glieder erscheint diese pünktliche Richtung, und sie wird weder durch die häufigen Handgriffe, noch durch die vielfältigen Körperbewegungen verschoben. Die Schwenkungen und Manövers geschehen mit einer außerordentlichen Schnelligkeit und Pünktlichkeit, man glaubt, eine Maschine zu sehen, die durch Räder und Triebwerk bewegt und regiert wird. Man soll sogar öfters das ganze Regiment im Finstern exercirt und in den verschiedenen Tempo’s keinen einzigen Fehler bemerkt haben. Auf den 20. August, als dem Namensfest des Landgrafen, ist jährlich Hauptrevue, und dann wimmelt es in Pirmasens von auswärtigen Officieren und andern Fremden, die theils aus Frankreich, Zweibrücken, der Unterpfalz, Hessen und andern Ländern hierher reisen. Den Landgrafen habe ich auch dabei in aller Thätigkeit gesehen. Mit spähendem Blicke befand er sich bald auf dem rechten, bald auf dem linken Flügel, bald vor dem Centrum, bald in den hintern Gliedern, Alles war geschäftig an ihm und er scheint mit Leib und Seele Soldat zu sein. Doch läßt er hierbei keinen fremden Zuschauer aus dem Auge; es wurde sogleich bei Anfang der Parade ein Officier an mich geschickt, der sich nach meinem Namen erkundigen sollte, und nach einiger Zeit hatte ich die Ehre, den Herrn Landgrafen selbst zu sprechen, wobei er sich in den höflichsten und gefälligsten Ausdrücken mit mir unterhielt. In seinem Hause und in seinen Appartements erblickt man wenig Pracht. Man glaubt, bei einem campirenden Generale im Felde zu sein: überall leuchtet die Lieblingsneigung des Fürsten hervor.“

Aber nicht immer war der Landgraf in Pirmasens mit seinen [102] Soldaten beschäftigt. Zuweilen trieb ihn das Bedürfniß der Einsamkeit in die Ferne; er reiste fort und Niemand wußte, wo er war; monatelang war der Fürst wie verschollen.

Den auffallendsten Gegensatz nun zu diesem eigenthümlichen Charakter eines Fürsten des achtzehnten Jahrhunderts bildete die Landgräfin Caroline aus dem Hause Pfalz-Birkenfeld. In der Hauptstadt ihres Landes weilend, theilte sie ihre Zeit zwischen den Regentensorgen, deren Last sie zu großem Theile ihrem Gemahle abgenommen, und jenem Gedankenleben, jenem ernsten Streben nach vollendeter Geistesbildung, welche ihr ein tiefes Seelenbedürfniß waren. Sie versammelte um sich, was die Residenz an aufgeklärten und gelehrten Männern besaß. Mit Begeisterung folgte sie der frischen, Großes verheißenden Entwickelung der jungen Literatur jener Tage. Die ersten Gesänge des Messias, die damals erschienen waren, rissen sie zur Bewunderung hin. Sie sammelte emsig die Oden und Elegien Klopstock’s, so wie sie einzeln in den Journalen erschienen; ja, sie veranstaltete im Jahre 1771 die erste Ausgabe derselben in 34 Exemplaren, welche sie an die ihr nahestehenden Verehrer des Dichters vertheilte. Es bildete sich so eine geistige Atmosphäre um Caroline von Hessen, in welcher stets mannichfach anregende Erscheinungen in buntem Wechsel auftauchten, um wieder neuen zu weichen, in welcher nacheinander alle schöpferische Genien der Epoche erschienen. Durch Merk’s Vermittelung stand die Fürstin in geistigem Verkehre mit Herder, der sie „die große Landgräfin“ nannte, und mit Wieland, der nur einen Augenblick Herr des Schicksals zu sein wünschte, um Caroline von Hessen zur Königin von Europa erheben zu können.




In jenen Tagen wurde an den Thoren einer Residenz noch genaue Controlle geführt; der „Passagier-Zettul“ wurde jeden Morgen regelmäßig den Durchlauchtigen Herrschaften zu Händen gebracht und wenn die Landgräfin am Morgen unter dem Verzeichniß der am gestrigen Tage durch das Frankfurter Thor Einpassirten den Namen:
Dr. Juris Wolfgang Goethe, logirt in des Kriegszahlmeister Merk’s –“

(nämlich Haus) gelesen hatte, so war das Räthsel gelöst, wie sie den jungen Mann, von dessen Dichten und Trachten in ihrem Kreise so viel die Rede gewesen, erkannt hatte.

Der Landgraf war seit einiger Zeit in seiner Hauptstadt anwesend. Er beabsichtigte, sich von hier aus nach Ems zu begeben, das er jährlich besuchte. Bei der Tafel war er heute sehr liebenswürdig, und nach Tische lud er seine Gemahlin ein, mit ihm nach dem Lustschloß Kranichstein zu fahren. Er war heiter gestimmt und erklärte auch seiner Gemahlin den Grund dieser Heiterkeit – man hatte einen trefflichen Burschen, ein wahres Pracht-Exemplar von einem stattlichen Grenadier, an sein Regiment abgeliefert. Die Landgräfin nahm an solchen kleinen Freuden ihres Herrn keinen Theil. Die Art und Weise, wie man sich in jener Zeit Rekruten zu verschaffen wußte, war ihr ein Gräuel; aber sie konnte nichts daran ändern und so begnügte sie sich damit, keinen Theil daran zu nehmen und sich nicht darum zu kümmern. Trotzdem aber wurde ihre Aufmerksamkeit in hohem Grade rege, als der Landgraf hinzusetzte:

„Haben’s dem Allgeyer zu verdanken! Der hat ihn eingestellt; Ew. Liebden vermelden ihm wohl, wenn Sie ihn sehen, unsere Gnad’ und Zufriedenheit?“

„Dem Allgeyer?!“ rief die Landgräfin, überrascht aufblickend, aus.

„Dem Hofgärtner Allgeyer – so ist es!“

„Der hat den Rekruten eingeliefert?“

„Ja; der Bursche hat sich ungebührlich in seinem Hause betragen, mit der Minette, dem hübschen Ding, geliebelt, ist dabei unnütz geworden – was weiß ich – kurz, da er nicht hiesig, sondern ein Fremder ist, hat ihn der Allgeyer beim Kragen gefaßt und die Wache holen lassen, und nun ist er Rekrut!“

Der Landgraf klopfte vergnügt auf den Deckel seiner goldenen Tabatiere und nahm eine mächtige Prise. Dann setzte er hinzu:

„Haben wir die Ehre, von Ew. Liebden nach Kranichstein begleitet zu werden?“

„Mein Gott,“ fiel die Landgräfin ängstlich ein, „wie heißt der Mensch?“

„Wer, der Rekrut?“

„Wie heißt er?“

„Ist mir unbewußt,“ versetzte der Landgraf. „Das gehört in die Muster-Rolle.“

„Und es ist ein auffallend schöner, stattlicher Mensch?“

„So besagt der Rapport. Werden selben morgen gleich in Augenschein nehmen.“

„Es ist ein Fremder – er hat Unfug in Allgeyer’s Hause angestellt, mit Minetten geliebelt? – in der That, das läßt ja keinen Zweifel übrig,“ sagte die Landgräfin für sich und sehr erschrocken; „der Hofgärtner wird ihn in meiner Grotte gefunden, vielleicht für einen Liebhaber Minettens gehalten haben; es ist zu Streit und Hader zwischen ihm und dem bösen Alten gekommen, der um so zorniger geworden sein wird, weil er ein schlechtes Gewissen hatte … kein Zweifel, dieser stattliche neue Rekrut ist Goethe, – er muß so grausam dafür büßen, daß Allgeyer und die Dirne ihre Wächterpflicht vergaßen! – Oder hätte er in der That dem hübschen Lärvchen des Gärtnermädchens nachgestellt? … diese Herrn Poeten sind freilich unberechenbar in solchen Dingen; aber dem sei, wie es wolle, es ist eine schreckliche Geschichte, die einen Nachhall in ganz Deutschland haben wird, wenn es mir nicht gelingt, ihn noch heute aus den Händen meines Mannes zu befreien!“

Dies war die Gedankenreihe, welche augenblicklich in der edlen Fürstin aufstieg und wobei ihr die Sorge, daß es unmöglich sein würde, die Freilassung des Rekruten von ihrem Gemahle zu erlangen, centnerschwer auf’s Herz fiel. Auch machte diese Angst es ihr unmöglich, lange über die klügste und zweckmäßigste Weise nachzudenken, wie sie Ludwig den IX. dazu bewegen könne, das Unerhörte zu thun und einmal einen Rekruten frei zu geben, den er bereits in seinem „zweierlei Tuche“ stecken hatte. Sie platzte augenblicklich mit dem Ausrufe heraus:

„Wissen Ew. Liebden, wer der Rekrut ist? Das ist der junge Goethe, des kaiserlichen Raths Dr. Goethe in Frankfurt Sohn, und wenn Ew. Liebden sich nicht ärgerlichen Zerwürfnissen mit der freien Reichsstadt aussetzen wollen, möchte ich unmaßgeblich gerathen haben, denselben augenblicklich wieder auf freien Fuß zu stellen!“

„Goethe?“ sagte der Landgraf. „Nun, was verschlägt’s? Daß solch’ ein mißrathenes Söhnlein noch zu der Ehre kommt, hessischer Grenadier zu werden, kann ja dem Herrn kaiserlichen Rathe, denk’ ich, nur eine Freude sein!“

„Aber Ew. Liebden, das ist kein mißrathener Sohn – es ist ein ganz hervorragendes und wegen seiner mancherlei Versuche in der Dichtkunst bereits viel gepriesenes Talent.“

„In der Dichtkunst?“ fragte der Landgraf sehr kühl.

„Er hat eine vortreffliche Tragödie von Ritter Götzen von Berlichingen mit der eisernen Hand geschrieben!“

Der Landgraf schüttelte den Kopf.

„Ich will nichts gegen diese Leute sagen, denn Ew. Liebden sind nun einmal ihre großgünstige Gönnerin. Aber so viel ich von ihnen weiß, sind es unsichere Cantonisten allzumal und einige Jahre Militairdienst werden dem jungen Musjeh Goethe nichts schaden!“

„Ew. Liebden,“ fuhr die Landgräfin fort, „wenn meine Bitten irgend etwas bei Ihnen vermögen, so lassen sie diesen jungen Mann frei!“

Der Landgraf zog seine Stirn in Falten.

„Woher wissen Sie denn so sicher, wer der Rekrut ist?“ fragte er.

„Ich habe den jungen Mann, der von auffallend schöner Statur ist, heute Morgen im Hause des Allgeyer’s gesehen, als ich meinen Spaziergang durch die Anlagen machte.“

„Und kennen ihn?“

„Weil er mir genau von seinen Freunden beschrieben wurde und der Nachtzettel seinen Namen hat.“

„Nun,“ versetzte der Landgraf, „um Ihres Interesses für denselben willen, und weil er wohl mit der Feder umzugehen weiß, könnten wir ihn ja als Unterofficier einstellen, sobald er das Exercitium kennt, und nachhero vielleicht gar zum Feldweibel befördern – dann kann er doch wohl zufrieden sein?“

„Mein theurer Gemahl, halten Sie mir zu Gnaden, daß ich so ungestüm bin, aber ohne daß Ew. Liebden mir die Freiheit des jungen Mannes gewähren, werde ich nicht aufhören, Sie zu bestürmen.“

[103] „Es ist gegen meine Grundsätze, Madame!“ versetzte der Landgraf kalt.

„Ew. Liebden werden in’s Auge fassen, daß hier ein ganz besonderer Fall vorliegt, der, als Sie die allgemeinen Grundsätze Ihres Handelns fixirten, unmöglich vorgesehen sein konnte. Ein junger Mann, den bereits ganz Deutschland kennt wegen seines seltenen Ingeniums und seiner bewundernswürdigen geistigen Gaben, kann nicht dazu verdammt sein, in einer niedrigen Lebens- und Thätigkeitssphäre sein besseres Selbst ersticken zu lassen. Es wäre ein himmelschreiendes Unrecht, eine Barbarei!“

Des Landgrafen Stirne erhellte sich nicht bei den Worten der immer wärmer und eifriger werdenden Fürstin. Diese sah, daß ihre Beredsamkeit hier nicht zum Ziele kommen werde; sie legte deshalb die Hand auf die Schulter ihres Gemahls und, indem sie ihm voll Innigkeit in die Augen sah, sagte sie:

„Ludwig! Quäle ich Sie viel mit Bitten? Habe ich je mit Ihnen gestritten über Ihre Weise, zu handeln und zu denken? Und nicht dies eine Mal wollen Sie mir nachgeben, nicht dies eine Mal mir eine Bitte erfüllen?“

Sie sagte das mit einer so schmelzenden Stimme, daß er sie an sich zog und überwunden antwortete:

„Du bist mein gutes Weib, Caroline, und Du sollst mit mir zufrieden sein. Wollen diesen Musjeh Goethe kommen lassen und –“

„Ihm die Freiheit ankündigen?“

Der Landgraf nickte lächelnd.

„Und dann,“ versetzte, er, „nach Befund der Sachen eine Entscheidung fällen.“

Damit wandte sich der Landgraf zur Klingel und gab sodann den Befehl, durch eine der diensthabenden Ordonnanzen den am Morgen neu eingestellten Rekruten herbeiholen und ihm vorführen zu lassen.

Die Landgräfin wandte sich zum Gehen. Um vieles in der Welt hätte sie nicht bleiben mögen, bis Goethe vor ihr erschienen wäre in der bunten Grenadier-Montur. Eine unüberwindliche Scham wäre über sie gekommen bei diesem Anblick.

„Werden Sie selbst mir Nachricht bringen, welches Ihre Entschließung gewesen, Ew. Liebden?“ sagte sie nur noch mit weiblicher Klugheit, um dem Landgrafen schwerer zu machen, ihren Willen nicht zu erfüllen, wenn er es persönlich ihr mittheilen mußte.

Er nickte gewährend.

„Werden damit in Dero Gemächern aufwarten,“ sagte er, und Caroline verschwand aus dem Saale.

Lebhaft bewegt schritt sie durch den Gang, der in ihre Wohnzimmer führte; als sie in diesen angekommen war, trat gleich darauf die Hofdame, Gräfin von Schwarzenau, ein und meldete, daß Minette, die Tochter des Hofgärtners Allgeyer, flehentlichst um Gehör bei Ihrer Durchlaucht bitte.

„Eben recht! laß sie eintreten,“ versetzte die Landgräfin.




VI.

Minette trat ein mit geschwollenen Augen, mit verweintem Gesicht, mit allen Zeichen eines Schmerzes, der an Verzweiflung grenzte. Aber es schien, daß dieser Anblick die Landgräfin durchaus nicht mild gegen Minette stimmte.

„Minette,“ sagte sie mit zornig strafendem Tone, „was muß ich erleben an Euch! Ich habe Dich und Deinen Vater mit Wohlthaten überhäuft; Ihr wißt, wie viel mir daran gelegen ist, daß Niemand auf Erden etwas von der Existenz meiner Grotte ahnt, damit ich wenigstens einen Fleck auf Erden habe, wohin man mir nicht folgt, wo ich mich sicher weiß vor den Menschen und ihren tausend egoistischen Anliegen, wo ich mir selber leben kann; Ihr wißt das – und so hütet Ihr mir das Geheimniß? Du läßt alle Thüren offen stehen und …“

„Ach, liebe, gnädigste Durchlaucht,“ unterbrach hier Minette, die ihr Schluchzen nicht mehr zurückhalten konnte, mit vom Weinen unterdrückter Stimme; „es war abscheulich von mir, ja, ich weiß es und will auch gern alle Strafen, die Sie mir auferlegen, dafür leiden, aber es ist ja noch ein viel größeres Unglück geschehen, der Vater hat die Wache holen lassen und nun haben die Soldaten …“

„Ich weiß, ich weiß,“ fiel die Landgräfin ein; „er ist zum Rekruten gepreßt, worden …“

„Und wenn Durchlaucht ihn nun nicht wieder frei machen,“ schluchzte Minette krampfhaft, „so ist es mein Tod, so spring’ ich in den großen Wog!“[2]

„Um Gotteswillen, welche frevlen Redensarten sind das, thörichtes Geschöpf!“

„Ja, ich thu’ es, ich thu’ es ganz gewiß, Gott steh’ mir bei, gnädigste Durchlaucht! O, ich bitte, ich flehe Sie an, Durchlaucht, reden Sie mit dem gnädigsten Herrn.“

Um dabei warf sich das verzweifelnde Mädchen vor der Fürstin nieder und umklammerte mit leidenschaftlicher Heftigkeit ihre Kniee.

„Ich muß gestehen,“ sagte die Landgräfin Caroline, „Deine Reue ist so lebhaft, daß sie mit Deiner Schuld versöhnen kann; stehe auf und fasse Dich, erzähle mir, wie das ganze Unglück gekommen ist … er hat sich Freiheiten gegen Dich erlaubt, Dir zudringlich den Hof gemacht –“

„Ach, zudringlich gewiß nicht, gnädigste Durchlaucht, ganz gewiß nicht, nur in Züchten und Ehren; er war nur so thöricht eifersüchtig.“

„Eifersüchtig? wie und auf wen konnte er denn eifersüchtig sein? Du redest ja, als wenn dies eine längere Liebschaft zwischen Euch wäre?“

„Das war es ja auch,“ versetzte Minette kleinmüthig; „wir wollten uns zu nächste Ostern, wenn’s nur der Vater zugegeben hätte, heirathen!“

„Heirathen? – Dich einfältige Person wollte er heirathen? Der Doctor Goethe Dich?!“

„Der Doctor – wer?“ fragte Minette verwundert.

„Nun, der junge Goethe, den man unter die Soldaten gesteckt hat.“

„Aber, gnädigste Durchlaucht, ich rede ja von keinem Doctor, sondern von meinem Wilhelm!“

„Wilhelm? Dem Wilhelm?“ rief die Landgräfin aus.

„Dem Wilhelm, dem Gärtnergehülfen!“

„Das ist etwas Anderes!“

Die Landgräfin lachte laut auf, ebenso sehr aus Freude über diese plötzliche Entdeckung, daß all’ ihre Sorge um das Schicksal des jungen Dichters eitel gewesen, als über das Komische des Mißverständnisses.

„Also Dein Wilhelm ist es, den man zum Rekruten gemacht hat?“ hub sie wieder an.

„Kein Anderer!“

„Nun, dann ist ja“ … „Alles gut,“ wollte sie ausrufen, aber sie besann sich, daß die Sache für Minette darum keineswegs gut stand, und so sagte sie nur: „Aber so erkläre mir, wie ist denn Alles zugegangen?“

„Nun sehen Sie, gnädigste Durchlaucht,“ erzählte Minette, „wie ich Sie diesen Morgen auf unser Haus zukommend erblickte, da war just ein fremder Herr da, der stand auf der Hausflur und schwätzte allerlei daher und wollte nicht weichen, und als ich plötzlich zwischen den Gebüschen Durchlaucht daher kommen sah; da war es zu spät, ihn fortzusenden, denn er wäre Ihnen begegnet; ich weiß doch, daß Sie nicht gesehen werden wollen, wenn Sie zu uns kommen, um in die Grotte zu gehen, und deshalb sandte ich den Fremden, um ihn nur rasch bei Seite zu schaffen, die Treppe hinauf, und dann lief ich, Durchlaucht die Grottenthüre aufzuschließen.“

„Ja, ich erinnere mich, Du warst in großer Aufregung und Eile, und liefst wie der Sturmwind davon, nachdem Du endlich die Thüre mir aufgeschlossen hattest, was gar lange währte.“

„In meinem Schreck hatte ich den unrechten Schlüssel ergriffen, und wußte dann den rechten gar nicht zu finden. Als ich zuletzt glücklich die Grottenthür aufgesperrt hatte und Durchlaucht eben hineingingen, eilte ich, nach oben zu kommen, um nun den fremden Herrn fortzusenden, der ganz allein oben im Hause war und sich da unnütz umhertreiben mochte – aber auf dem Flur angekommen – wen sehe ich da zur Hausthüre hereinstürzen? Den Wilhelm, und der Mensch ist ganz außer sich, er faßt mich am Arm und überschüttet mich mit Vorwürfen, mit Scheltworten –“

„Was hattest Du ihm denn zu Leide gethan?“ unterbracht hier die Landgräfin das junge Mädchen.

„Ach, auch nicht das Allermindeste, aber eifersüchtig war der tolle Mensch, eifersüchtig auf den fremden Herrn, der fürwitzig oben [104] im Hause herumgelungert war, und das hatte der Wilhelm unterdeß gesehen, und dann führte er allerlei Redensarten von einem Strauß, den der Fremde mir geschenkt, und endlich, da eilte er gar davon, um mich beim Vater zu verklagen. Einen Todesschrecken bekam ich nun, denn der Vater, wissen Euer Durchlaucht, ist so heftig und zornig, und wenn es über ihn kommt, da hört und sieht er nicht. So lief ich hinter dem Wilhelm drein, um ihn zurückzuhalten und zu besänftigen – aber das Unglück will, daß, wie wir kaum hundert Schritte vom Hause sind, der Vater vom Küchengarten her mit dem Matthes, dem Jungen, angeschritten kommt, und plötzlich vor uns steht. Da hat’s eine schöne Bescheerung gegeben. Der Vater wußt’ ja noch nichts davon, daß wir uns das Wort gegeben, der Wilhelm und ich, und wie er nun Alles hört, was der Wilhelm in seinem blinden Eifer hervorsprudelt, ganz rabiat ist er da geworden, der Vater, und:

„„Ei, du schlechter, abscheulicher Bube, du Landstreicher du,“ hat er geschrieen, „ist das der Dank, daß ich dich zu mir genommen habe, als du nicht wußtest, wo aus noch ein, du Ausreißer, daß du mir der losen Dirne den Kopf verrückst, und mit solchem Scandal daher kommst, und daß ihr euch balgt, wie die Narren, – ein sauberes Früchtlein ist’s schon, aber für dich sind solche Früchtlein doch noch nicht gewachsen, Cumpan;“ und damit hat er den Wilhelm gefaßt, der Vater, und ihn nach der Wache gezerrt, und der Matthes hat laufen müssen, den Posten herbeizuholen, und weil der Wilhelm daheim ist Soldat gewesen und ist davon gelaufen von den Schwäbischen weg, haben sie ihn gleich angenommen auf des Vaters Wort, und so hat er mit den Soldaten gehen müssen, und da hat nichts geholfen, und nun ist’s mein Tod, gnädigste Frau Landgräfin, wenn der Wilhelm verloren ist, und nicht wieder frei wird!“

Die Landgräfin blickte jetzt sehr ernst auf das vor Schmerz ganz fassungslose Mädchen und sagte dann voll tiefer Theilnahme:

„Das ist schlimm, sehr schlimm, Minette; wie sollte der Wilhelm wieder frei werden? Der Landgraf wird ihn nicht herausgeben, einen so stattlichen Burschen …“

„Aber um Gottes Willen, gnädigste Durchlaucht …“

Die Landgräfin schüttelte den Kopf.

„Was soll ich Dir einen eitlen Trost oder Versprechungen geben, die ich nicht erfüllen kann? Ich darf mit einer solchen Bitte dem Herrn gar nicht kommen!“

Minetten’s Verzweiflung stieg auf’s Höchste; sie versuchte Alles, um der Landgräfin Herz zu erschüttern, aber diese konnte beim besten Willen ihr keine Beruhigung geben. Einen fremden Ausreißer, einen Burschen, stattlich, wie den Gärtnergehülfen, den sein eigener Brodherr abgeliefert hatte, weil er sich unnütz gemacht – den gab der Landgraf nicht frei um eines verliebten jungen Mädchens willen! Um so weniger, als ja auch Meister Allgeyer von dieser Liebschaft gar nichts wissen wollte. Und doch strengte die Landgräfin sich mit allen Kräften ihres Geistes an, um etwas zu entdecken, womit man den unglücklichen jungen Mann, den sie kannte, dem sie gewogen war, aus seiner verzweifelten Lage befreien und Minetten’s Kummer enden könne; und so sagte sie endlich:

„Ein einziges Mittel möchte es geben, armes Geschöpf, aber Du wirst es nicht ausführen können –“

„O sprechen Sie, liebste, gnädigste Durchlaucht, ich thue Alles, Alles, was nur menschenmöglich ist – ich würde dem lieben Herrgott seine Sonne vom Himmel herunterbitten, wenn’s etwas hülfe!“

„Sieh,“ sagte die Landgräfin, „ich glaubte, es sei der junge Goethe aus Frankfurt, den man unter die Grenadiere gesteckt habe; das ist ein berühmter Dichter und aus einem angesehenen Hause in der Reichsstadt; über den habe ich mit dem Herrn eben noch geredet, und der Landgraf ist so gütig gewesen, mir zu versprechen, daß er ihn frei geben wollte. Er wollte ihn sofort sich vorführen lassen, mit ihm sprechen und sodann ihm seine Freiheit ankündigen. Wenn man nun dem zuvorkäme, daß der Rekrut nicht gleich vor den Landgrafen geführt würde; wenn Du Dich unterdeß aufmachtest, und den Doctor Goethe aufsuchtest – Du wirst ihn beim Kriegszahlmeister Merk finden; wenn Du ihn bewögest, ihn, der ja das ganze Unheil eigentlich angestiftet hat, es dadurch wieder gut zu machen, daß er bei dem Offizier du jour sich als Stellvertreter für den Wilhelm meldete …“

„Würde der ihn annehmen statt des Wilhelm?“

„Das steht in seinem Belieben und Schwierigkeiten würde er keine machen, wenn ich ihn mit einigen Zeilen schriftlich darum ersuchte.“

„O Sie gütigste Durchlaucht!“ rief Minette frohlockend aus.

„Dann,“ fuhr die Landgräfin fort, „hätten wir gewonnen Spiel; der Doctor Goethe würde dann als Rekrut dem Landgrafen vorgeführt, und der Landgraf würde ihn entlassen – das hat er mir versprochen!“

[113] Minette jubelte über dies Auskunftsmittel der Landgräfin.

„Frohlocke nicht zu früh, thörichtes Kind,“ sagte diese; „weißt Du denn, ob der junge Goethe sich dazu bereitwillig finden läßt, in die Rekrutenjacke zu fahren?“

„Wenn er ein Paar Menschen dadurch glücklich machen, wenn er mir dadurch das Leben retten kann!“

„Es ist viel verlangt, Minette!“

„Ei, was wär’s denn – kann er jungen Mädchen mit Sträußen nachlaufen und mit ihnen schön thun, so mag er dann auch sehn, was er angerichtet hat und es wieder gut machen.“

„Du willst’s versuchen?“ sagte die Fürstin.

„Ob ich’s will! O, er muß, er muß!“

Caroline zog die Klingel.

„Dann will ich, das ist jetzt das Nöthigste, Dir Zeit zu verschaffen suchen, daß Du’s ausführen kannst; ich will verhindern, daß der Wilhelm dem Landgrafen vorgeführt werde.“

Ein Kammerdiener war aus dem Vorzimmer eingetreten.

„Louis,“ rief sie diesem entgegen, „ist des gnädigsten Herrn Carosse vorgefahren?“

„Zu Befehl, Durchlaucht, der gnädigste Herr wollen nach Kranichstein hinaus.“

„So laß augenblicklich hinübermelden, ich würde den Herrn begleiten; rufe mir die Gräfin Schwarzenau her und sende mir die Kammerfrau mit meinem Shawl – aber rasch, hörst Du!“

Der Kammerdiener eilte davon, die Befehlt der Landgräfin zu vollziehen; diese trat an ihren Schreibtisch, schrieb schnell einige Zeilen auf ein Blatt Papier nieder und reichte es Minette.

„Da, das für den Officier du Jour – und nun fort!“

Minette küßte der Landgräfin die Hand und flog mehr als sie ging, um aus dem Schlosse zu kommen und den Dr. Goethe aufzusuchen.

Die Landgräfin aber war im nächsten Augenblick für den Ausflug fertig und begab sich, gefolgt von ihren Hofdamen, in die Gemächer des Landgrafen hinüber. Da dieser seine Gemahlin nicht warten lassen konnte, so wurde sofort die Spazierfahrt angetreten; der Rekrut aber, der, von einem Corporal begleitet und bewacht, eben auf dem Wege zum Schlosse war, wurde bei seiner Ankunft vom dienstthuenden Flügeladjutanten heimgeschickt, bis der Landgraf ihn etwa später vorfordern lasse, nachdem die Herrschaften zurückgekehrt.




VII.

Ein paar Stunden waren verflossen und der Abend begann heranzukommen, als die vierspännige Carosse mit dem landgräflichen Paare von dem Lustschlosse Kranichstein her wieder durch die Stadt rollte und bald darauf im Schloßhofe hielt. Der Landgraf half seiner Gemahlin aus dem Wagen steigen und bot ihr den Arm, um sie in ihre Gemächer zu führen. Auf der Spazierfahrt hatte sie klug die Gelegenheit benutzt, das Gespräch nochmals auf den Dichter zu bringen und ihrem Herrn den Inhalt des Trauerspiels: „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand,“ welches Merk ihr im Manuscripte hatte vorlesen müssen, mitgetheilt. Die Geschichte von dem mannhaften und derben alten Ritter hatte dem gnädigen Herrn recht gut gefallen.

„Seien Sie ganz ruhig über Ihren Dichter,“ hatte er lächelnd gesagt; „wollen ihn in Gottes Namen derartige Elaborationen und curiose Historien zur Ergötzung müßiger Leute weiter ausfindig machen lassen – könnten ihn ohnehin in unsern Militaircorps schlecht verwenden; solche Art Leute sind niemals gute Soldaten. Haben schon zum Oefteren unsern hellen Aerger an denen studirten Gesellen gehabt, wie sie so von den Universitäten den Werbern in die Hände laufen. Wollen ihn deshalb immerhin im Dienst der Musen lassen, wo weniger Subordination und reglementmäßige Pünktlichkeit gefordert wird!“

Nachdem sich dann oben im Schlosse der Landgraf von seiner Gemahlin in gnädiger Stimmung beurlaubt hatte, schritt Caroline ihren Gemächern zu. Als sie hier angekommen war, ließ sie den Kammerdiener kommen und erkundigte sich, ob Minette nicht da sei und Audienz verlange. Die Tochter des Gärtners war nicht erschienen.

„Und war nicht während unserer Abwesenheit ein Dr. Goethe aus Frankfurt im Schloß, um sich bei der Gräfin Schwarzenau zu melden, Louis?“ fragte die Landgräfin weiter.

Louis hatte ihn nicht gesehen; er ging, um sich näher zu erkundigen, und kam mit der Nachricht, daß kein solcher Herr erschienen sei, zurück.

„Nun dann,“ sagte die Landgräfin erfreut, „dann hat Minette ihn in der That vermocht, die Rolle des Rekruten zu spielen! Wie mich dieser Edelmuth freut! Welch’ schönes Zeugniß für seinen Charakter! Ich hab’ es nicht geglaubt – desto mehr rührt es mich! Aber wie nachlässig von der Minette, daß sie nicht da ist, es mir zu melden! Sie wird eben heute den Kopf verloren haben, das arme Geschöpf.“

[114] Die Landgräfin harrte nun auf die Erscheinung ihres Gemahls, der ihr versprochen, ihr persönlich anzukündigen, daß der Dichter in Freiheit gesetzt sei; aber statt seiner trat nach einer Weile der Kammerdiener wieder ein und meldete Minette an, die gleich hinter ihm mit allen Zeichen der Verzweiflung in das Gemach stürzte.

„O, gnädigste Durchlaucht, welches Unglück!“ rief Minette aus, „der Herr Goethe ist fort, ist in der ganzen Stadt nicht zu finden. Im Merk’schen Hause wußten sie nichts von ihm, seit dem Morgen sei er verschwunden – Niemand hatte eine Ahnung, wo er geblieben sein könne. Ich bin gerannt und bin gelaufen, wie toll, nach allen Thoren, um zu hören, ob er die Stadt verlassen habe, aber nirgends war eine Sylbe Auskunft über ihn zu erhalten; in den Anlagen war er nicht, in den Wirthshäusern nicht – o, mein Gott, ich bin so erschöpft, daß ich umsinke, und nun ist Alles wieder so schlimm, wie es war!“

Und dabei brach das arme Mädchen in ein ganz entsetzliches Schluchzen aus.

„Er ist verschwunden, seit dem Morgen, sagst Du?“ fiel die Landgräfin ein.

„Seit dem Morgen hatten Merk’s nichts von ihm gesehen noch gehört!“

„Und an den Thoren ist er nicht als abgereist gemeldet?“

„Und nirgends, gar nirgends ist er – –“

„Minette,“ rief die Landgräfin aus, „welcher Gedanke kommt mir da! – Das wäre ja schrecklich! Sag’ mir, wer hat die Thüre zu meiner Grotte gesperrt, als ich sie verlassen hatte?“

„Der Vater; als der Wilhelm von den Soldaten fortgeführt war, da ist er in’s Haus gegangen und da wird er gesehen haben, wie ich die Thüren hatte offen stehen lassen, und wird sie zugeschlagen haben – ja, ich erinnere mich, ich habe es oben in meiner Kammer gehört, wo ich hinaufgestürzt war, um mich vor seinem Zorne zu schützen; daß er die Grottenthüre offen finden mußte, das fehlte just noch, um ihn außer sich zu bringen! Dann ging er fort, in’s Wirthshaus!“

„Das ist eine schöne Geschichte!“ fuhr die Landgräfin fort. „Dein Vater hat die Thüren geschlossen, weil er weiß, daß ich einen Hauptschlüssel habe, mit dem ich die Grotte verlassen kann, und daß ich die Thüren immer geschlossen haben will, auch wenn ich in meiner kleinen Klause bin. Du hattest heute die Thüre hinter mir offen gelassen, Du Unglückskind, und die Folge davon war, daß der junge Goethe sich in die Grotte verirrte; ich verließ sie, indem ich ihm befahl, eine Weile zurückzubleiben; als ich heraustrat, stand die Thüre noch offen, aber Niemand war da, dem ich befehlen konnte, sie offen zu lassen, damit der junge Mann hinaus könne. Wahrscheinlich waret Ihr Alle gerade in dem Augenblicke mit Eurer stürmischen Familienscene in den Anlagen beschäftigt. So verließ ich Euer Haus, nicht anders denkend, als daß der junge Mann nach wenigen Augenblicken es eben so machen würde. Nun ist er aber seit dem Morgen nicht wieder gesehen worden – es ist also klar, daß er so lange in der Grotte geblieben ist und die Zeit verträumt hat, bis Dein Vater gekommen, ist und ihm den Ausgang versperrt hat. Der arme Mensch! Seit diesem Morgen gefangen! Gehen wir sofort hin, um ihm seinen Kerker zu öffnen. Folg’ mir, Minette!“

Die Landgräfin nahm rasch ihren Shawl, der noch neben ihr auf einem Tabouret lag, hüllte sich darein, bevor noch Minette Zeit gefunden, ihr zu helfen, und verließ dann auf demselben Wege, den sie vor kaum einer Viertelstunde gekommen war, das Schloß wieder, um sich eilig in den Park und in das Haus des Hofgärtners zu begeben.

Während die Fürstin leichten und elastischen Schrittes dahin eilt, wollen wir uns nach dem unglücklichen jungen Soldaten umsehen. –

„Gnädigster Herr,“ meldete der dienstthuende Flügeladjutant, als der Landgraf auf der Rückkehr von seiner Spazierfahrt in das Vorzimmer zu seinen Appartements trat. „Der Präsident Moser warten im Audienzsaal auf Ew. Durchlaucht; und hier ist auch der Rekrut, den heute der Hofgärtner Allgeyer eingestellt hat und den Durchlaucht vorzuführen befahlen.“

Er wies dabei auf den Gärtnergehülfen, der als ehemaliger Soldat in der stracksten militairischen Haltung dastand, aber innerlich nicht wenig von Sorge erfüllt war, zu welchem Ende er hierher beschieden und wozu der Landgraf ihn vor sein gestrenges Antlitz berufen.

„Der Moser ist da?“ entgegnete der Landgraf weiterschreitend, „dann haben wir keine Zeit für den Rekruten!“ Da aber zugleich sein Auge den Gärtnergehülfen streifte, hielt er den Schritt an und sagte:

„Hübscher Bursch das! Schad’ um ihn! Gute Haltung! Könnte Flügelmann im zweiten Glied werden. Hält sich, als wüßte er mit dem Gewehre umzugehen!“

„Zu Befehl, ja, Durchlaucht,“ fiel der Gärtnergehülfe hier ein, als ob in diesen Worten des Landgrafen eine Frage an ihn enthalten.

„Versteht Er wohl etwas vom Exerciren?“

„Zu Befehl, Durchlaucht!“

„Wie viel Schritt macht der Grenadier in der Minute beim Parademarsch?“

„Fünfundsechszig, zu Befehl.“

„Und Tempos beim Präsentiren?“

„Zu Befehl, fünf.“

„Sieh, sieh! Das ist sehr löblich von Ihm, daß Er sich solide Kenntnisse in allen Fächern angeeignet hat. Man sollte glauben, er müßte gern beim Militair bleiben! Gefällt Ihm die Trommel nicht besser, als der Apollo’s Leierkasten?“

„Die Trommel gefällt mir schon, gnädigster Herr, doch nicht das Hinterdreinmarschiren!“

Der Landgraf lachte.

„Da schlägt ihn der Poet in den Nacken!“ sagte er. „Geht lieber lustwandeln, müßig! Nun, ’s ist sein Metier! Sag’ Er mal, hat Er heute schon gedichtet? Reime geschmiedet?“

Der Rekrut antwortete nicht im ersten Augenblick auf diese überraschende Frage; dann aber fiel ihm das Gespräch von diesem Morgen mit dem Fremden ein und etwas erröthend versetzte er rasch:

„Zu Befehl, Durchlaucht.“

„Was hat Er zusammengereimt? – Sag’ Er’s ’mal her!“

„Auf: dunkelt, funkelt!“

„Ist das Alles?“

„Zu Befehl, Durchlaucht.“

„Es ist wenig genug, wenn das Sein ganzes Tagewerk ist. Unsereins hat’s schlimmer! Hör’ Er, wenn Er ’mal an Seinem, freilich nicht gar sauern Geschäft die Lust verliert und denkt auf einen guten praktischen Lebensberuf, der ehrenvoll ist und seinen Mann nährt, so laß Er sich bei mir melden; es soll immer ein Platz in meiner Leibcompagnie für Ihn da sein. Aber zwingen will ich Ihn nicht dazu. Versuch Er’s immerhin erst, ob Ihm die Poeterei Rosen bringt. Unterdeß leb’ Er wohl – bin pressirt – Er ist entlassen und frei – kann gehen und Reime machen, wo Er will – der Landgräfin dankt Er’s – Adieu!“

Der Landgraf nickte Wilhelm zu, schritt an ihm vorüber und war hinter der nächsten Thür verschwunden.

Wilhelm war begreiflicher Weise außer sich vor freudigem Erstaunen über diese Wendung, welche das Gespräch genommen. Er glaubte, seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen, bis der Flügeladjutant ihm sagte:

„Ich gratulire Ihm! Er hat’s doch verstanden? Der gnädigste Herr gibt ihn frei. Komm’ Er, ich will’s dem Corporal sagen, der Ihn hergebracht hat!“

Der Gärtnergehülfe fühlte seine Wimper naß werden aus Freude und Dankbarkeit für den Landgrafen, dem er gerührt zu Füßen gestürzt wäre, wenn nicht längst schon der Fürst das Vorzimmer verlassen gehabt hätte. Halb wie im Rausch folgte nun Wilhelm dem Adjutanten, der mit ihm die Stiegen hinunterschritt und dem harrenden Corporal die Entschließung des gnädigsten Herrn ankündigte. Wilhelm hatte nur den Unterofficier noch zu begleiten, um seine Montur wieder abzulegen und seine Kleider zurückzunehmen. Das war schnell bewerkstelligt und keine Viertelstunde vergangen, als der junge Mann schon in seiner Gärtnerjacke dem Eingange zum Parke zustürmte, um Minette sein Glück zu verkünden – seine eifersüchtige Wuth hatte er im Freudenrausche bereits ganz vergessen; Minette hatte ihm ja auch während der Scene am Morgen, welche zu einer so tragischen Katastrophe für ihn geführt, oft genug betheuert, daß sie ganz unschuldig sei, und während seiner Gefangenschaft heute hatte Wilhelm hinreichend Muße gehabt, sich dieser Betheuerungen zu erinnern und darüber mit Ruhe nachzudenken.

Als er am Eingange des Parkes ankam, sah er zu seiner [115] Ueberraschung Minette und die Landgräfin, fast eben so eilig, wie er, vom Schlosse her desselben Weges kommen.

Minette erblickte ihn und stieß einen Schrei der freudigsten Ueberraschung aus.

„Der Wilhelm, der Wilhelm, da ist er!“

Die Fürstin blieb stehen und winkte ihn heran. Mit raschen Worten erzählte er sein Glück. Minette war außer sich vor Freude und vor Verwunderung darüber. Die Landgräfin ließ sich genau die Unterredung berichten, die Wilhelm mit dem Landgrafen gehabt. Lächelnd hörte sie zu, ohne ein Wort zu sagen.

„O, nun ist Alles, Alles gut!“ rief Minette ein Mal über das andere aus und hing sich an Wilhelms Arm, ohne die Nähe der Fürstin zu beachten.

Die Landgräfin eilte weiter. Nach wenig Schritten standen sie vor dem Gärtnerhause. Allgeyer saß auf einem Stuhle neben der Thüre; er sprang auf und ging der Landgräfin entgegen, während er halb verwunderten, halb zornigen Blicks auf die beiden jungen Leute starrte.

„Da bring’ ich Ihm Seinen Gehülfen wieder, Allgeyer,“ sagte die Landgräfin. „Die Minette ist des Wilhelm Braut, daß Er’s nur weiß. Sag’ Er nichts dawider oder ich bin seine gnädige Fürstin nicht mehr, böser, pflichtvergessener Mensch, der Er ist! – Wie kann er sich so von seinem Zorne hinreißen lassen, Seinen Gehülfen, der ein anstelliger, redlicher Mensch ist, unter die Soldaten schicken – seine Tochter unglücklich machen – hat Er denn gar kein Herz und kein Gewissen, Er böser Mensch?“

„Aber, Durchlaucht,“ stotterte Allgeyer, niedergedonnert von diesen Worten der sonst so gnädigen Fürstin.

„Nun, sei er nur still! Wie hat Er meine Grotte gehütet? Ich werde Jemand anderes damit betrauen müssen – soll ich Ihn fortsenden und den Wilhelm als Hofgärtner anstellen? Nehme Er sich in Acht, daß es nicht dazu kommt!“

Ueber Meister Allgeyers gewöhnlich hochgeröthetes Angesicht legte sich eine bronzefarbige, gar nicht näher zu beschreibende Blässe.

Er wollte antworten, aber die Fürstin winkte ihm zu schweigen, indem sie fortfuhr:

„Keine Entschuldigungen! Willigt Er darein, daß Minette den Wilhelm nimmt, so will ich Ihm diesmal verzeihen.“

Allgeyer verbeugte sich stumm und erleichtert aufathmend.

„Dann vorwärts und schließe Er eilig die Thüre zur Grotte auf.“

Das Letztere war bald geschehen. Die Fürstin winkte Allgeyer und Wilhelm, zurückzubleiben, Minetten, ihr zu folgen, und so stieg sie die Treppe in den Grottengang nieder, schritt rasch und mit jugendlicher Elasticität durch den letzteren hindurch und als sie in die kleine Rotunde am Ende desselben trat, rief sie bewegt aus:

„Mein Gott! Da sind Sie in der That!“

Goethe hatte sich von der Bank erhoben und schritt ihr entgegen, gemessen ruhig, sie groß und schweigend anblickend.

„Sie Aermster,“ fuhr die Landgräfin fort, „Sie waren einen ganzen Tag lang hier eingeschlossen!“

„Einen ganzen Tag?“ sagte der Dichter gleichmüthig und zerstreut.

„Nun freilich, seit diesem Morgen: sehen Sie denn nicht, daß das Licht aus diesem Raume zu weichen beginnt?“

Goethe fuhr mit der Hand über die Stirn.

„In der That,“ sagte er, „es will Abend werden.“

„Ohne Speise und Trank, wie in Ugolino’s Thurm, waren Sie eingeschlossen und Sie, Sie haben es am Ende gar nicht bemerkt?“ rief die Landgräfin verwundert aus.

„O doch, doch; ich erinnere mich, daß Niemand mich zu stören kam.“

Die Landgräfin lachte.

„In der That,“ sagte sie, „Sie nehmen das Ungemach, in welches Sie durch meine Schuld geriethen, so liebenswürdig auf, wie es nur irgend möglich ist. Doch ist es nichts desto weniger meine Schuld – ich wäre Ihre Mörderin, wenn Sie verhungert wären!“

„Wie Sie sehen, ich bin es nicht,“ antwortete Goethe, immer mit demselben Tone von eigenthümlicher Milde und gesammelter Ruhe.

„Sie sind es nicht, Gott lob, aber kommen Sie jetzt rasch aus diesem Gefängniß heraus – suchen Sie Ihren Gastfreund auf, und lassen Sie sich von ihm erquicken; es wird die höchste Noth sein,“ fuhr die Landgräfin in ihrer Lebhaftigkeit fort, welche einen so großen Contrast bildete mit dem seltsam einsylbigen, halb scheuen, halb wie gedankenvoll zerstreuten Wesen Goethe’s.

Da der junge Dichter am Morgen ein so ganz anderes Benehmen an den Tag gelegt, mit so viel Feuer und Lebhaftigkeit gesprochen und ihr gehuldigt hatte, so blickte die Landgräfin jetzt ihn forschend an; sprach aus dieser kühlen Ruhe Gereiztheit und Entrüstung über die fatale Gefangenschaft, in welche er gerathen? – war die Gleichgültigkeit, welche er zur Schau trug, nur eine erheuchelte? Jedenfalls hielt sie sich für verpflichtet, ihn durch irgend ein redendes Zeichen ihrer Huld zu entschädigen, und da die Gesellschaft jetzt die Grotte verlassen hatte und in der Hinterstube im Gärtnerhause angekommen war; wandte sich die Landgräfin, die voraus geschritten, zurück, und Goethe die Hand reichend, sagte sie:

„Hier sind Sie, Gott lob, der Freiheit wieder gegeben, mein junger Freund, und nun sagen Sie mir, was soll ich thun, damit der Gedanke an diesen Tag nicht von nun an stets Bitterkeit und Verstimmung in Ihnen hervorrufe? Es würde mich innig freuen, könnte ich Ihnen einen Wunsch gewähren, einen bleibenden Beweis meiner Theilnahme verleihen – oder nur ein Andenken mitgeben aus dem kleinen unterirdischen Reich, welches ich mir hier habe schaffen und bis heute auch vor jedem unberufenen Auge habe hüten lassen, um ein unnahbares Asyl zu besitzen, wo ich, ungestört von der Welt, nur mir selbst und meinen Gedanken leben kann! In der That, ein kleines Schmerzensgeld bin ich Ihnen schuldig!“

„Schuldig? Sie mir, durchlauchtigste Fürstin?“ fiel jetzt Goethe auf’s Lebhafteste ein – „o wüßten Sie, was ich diesem Tage, was ich Ihnen verdanke – denn wahrlich:

Was auch in meinem Liede wiederklingt,
Ich bin nur Einer, Einer Alles schuldig.
Es schwebt kein geistig unbestimmtes Bild
Vor meiner Stirne, das der Seele bald
Sich überglänzend nahte, bald entzöge.
Mit meinen Augen hab’ ich es geseh’n,
Das Urbild jeder Tugend, jeder Schöne –
Was ich nach ihm gebildet, das wird bleiben!“

Goethe verbeugte sich, während er diese Verse sprach, tief vor der Fürstin, die leicht erröthend fragte:

„Sind diese Verse die Frucht Ihrer unfreiwilligen Muße?“

„Sie und noch mehrere,“ antwortete er – „ich habe sie in dies Buch niedergeschrieben und – da meine gnädigste Fürstin mir einen Beweis Ihrer Huld lassen will, – so darf ich um das Geschenk dieses Buches bitten, damit ich vollende, was ich darin begonnen.“

Bei diesen Worten überreichte er der Landgräfin das Buch, welches er aus den in der Rotunde liegenden genommen, nachdem er es da geöffnet, wo die am Ende hineingebundenen weißen Blätter anfingen.

Caroline von Hessen warf einen Blick darauf. Sie las:

Torquato Tasso. Ein Schauspiel.“

Dann ließ sie ihr Auge über die nächsten Blätter gleiten, worauf in flüchtigster Schrift der Plan eines Dramas skizzirt, der Inhalt einzelner Scenen angedeutet, Bruchstücke des Dialogs hingeworfen waren. Endlich reichte sie dem Dichter das Buch zurück.

„Ich sehe,“ sagte sie, „die Muse hat Ihnen heute mehr gegeben, als ich je zu geben vermöchte. Aus Einer, die glaubt, gewähren zu können, werde ich zu einer Bittenden. Wenn Ihr Werk vollendet ist, so bringen Sie es mir, Sie selbst – darum bitte ich.“

Zugleich streckte sie ihm lebhaft ihre Hand entgegen, die er gerührt an seine Lippen führte.

„Und nun,“ fuhr sie mild lächelnd fort, „ängstige und kümmere sich noch Jemand um einen Dichter! Während unser Eins voll Mitleid und Sorge um sein Schicksal ist, hat er alle Noth der Erde und die Welt um sich vergessen und lächelnden Blicks, mit heiterer Stirn verkehrt er mit den Göttern und Heroen!“ –

„Dein Wilhelm aber,“ wandte sie sich dann weiter schreitend in demselben scherzenden Tone an Minette, „braucht auf diesen Herrn nie wieder eifersüchtig zu werden. Sein Herz gehört von nun an einer Andern, die, wenn sie auch längst todt ist, ihn ewig fesselt und abhält, je wieder seine Huldigungen sogleich beim ersten Anblick anderen Frauen entgegenzutragen! Sein Herz gehört Leonoren von Este … ist’s nicht so, mein Herr Doctor?“

[116] Der Dichter nahm mit einer Verbeugung die kleine in den Scherz gekleidete Zurechtweisung hin.

Die Landgräfin hatte die Schwelle der Gärtnerwohnung erreicht und wollte sie eben verlassen, als sie noch einmal den Schritt anhielt und, Goethe anblickend, sagte:

„Meine stille Grotte, deren Hüter bisher Minette und ihr Vater waren, und die außer diesen nur von meiner guten Schwarzenau gekannt wurde, ist nun nicht mehr ein Geheimniß für die übrige Welt …“

„O fürchten Sie nichts,“ versetzte Goethe, „was einem Dichter vertraut ist, das ruht auf einem tiefen, stillen Grunde, so sicher, wie auf dem Schooß des Meeres. Höchstens wird er seine Geheimnisse dem Liede anvertrauen, und da sind sie gerade am sichersten, weil die Welt des Dichters Lieder für gedichtet hält, nicht für gelebt. Ihr Geheimniß wird heilig und unverletzt bleiben, hohe Frau!“

Und Goethe hat Wort gehalten. Die Grotte selbst ist der edeln Landgräfin heimlicher Versteck, die stille Klause geblieben, wo sie ihren Träumen und ihren Gedanken lebte.

Als Caroline von Hessen, die ihrem Volke durch einen vorzeitigen Tod zu frühe entrissen wurde, ihr Ende herannahen fühlte, am letzten Tage ihres Lebens, schrieb sie ihrem Gemahle: „Noch einen Wunsch habe ich, den letzten auf der Welt. Lassen Sie mich mitten in der großen Baumgruppe des englischen Gartens beerdigen. Man wird dort eine Grotte finden, die außer mir nur wenigen vertrautesten Dienern bekannt ist. In ihr ist die Stelle, wo ich ruhen will, und die ich größtentheils mit eigener Hand zugerichtet, mit einigen Steinen bezeichnet. Hier an der Stelle, wohin ich mich vor dem Geräusche des Hofes flüchtete, wo sich meine Seele mit Gott unterhielt, dem ich bald von meinem Leben, das ich mit Ihnen, mein Gemahl, theilte, Rechenschaft geben soll, hier, wo ich so oft Sie und meine Kinder dem Herrn befahl, hier, wo der Allmächtige alle meine Wünsche erhörte, hier will ich auch ruhen!“ –

Die Landgräfin wurde nach ihrem Wunsche in ihrer Grotte bestattet. Noch heute erhebt sich über derselben, von hochwipfeligen Bäumen und dichtem Gebüsch beschattet, das kleine Denkmal, gekrönt von einer Urne aus weißem Marmor, welches Friedrich der Große, der königliche Freund der edlen Frau, ihr errichten ließ. Die Inschrift des Denkmals lautet: Femina sexu, ingenio vir!




  1. Merk’s Schriftstellername.
  2. Ein Teich in der Nähe der Stadt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: errreichen
  2. Vorlage: Hauthüre
  3. Vorlage: gan