Textdaten
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Autor: Fr. Richter
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Titel: Der einäugige Riese
Untertitel:
aus: Lithauische Märchen I, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 87–89
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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Der einäugige Riese.

Eines Tages landete ein Schiff an einer Insel. Der Herr des Schiffes begab sich, froh eine lange und mühselige Seereise überstanden zu haben, mit seinen Leuten an das Land. Um Essen zu kochen, wurde ein Herd von Steinen errichtet. Als die Aufschichtung der Steine soweit vorgeschritten war, sah man sich nach einem grossen, glatten Steine um, welcher die Herdplatte bilden sollte. Endlich fanden einige der Suchenden am Fusse eines Berges einen Stein, welcher zu dem gewünschten Zwecke sehr geeignet schien. Schnell riefen sie ihre Gefährten herbei, und alle schickten sich an, den Stein aufzuheben. Als dies glücklich geschehen war, sahen die Schiffer zu ihrem Erstaunen, dass der grosse, glatte Stein eine weite Oeffnung verdeckt hatte, welche jetzt sichtbar wurde. Schnell legten sie die Platte beiseite und stiegen, da breite Stufen die Oeffnung hinabführten, in die Höhlung des Berges hinunter. Bald wurden sie inne, dass sie sich in der Wohnung eines Riesen befanden. Dieselbe erwies sich als so gross, dass man vom Boden derselben nur mit Mühe bis hinauf zur Wölbung sehen konnte. In derselben befand sich eine Oeffnung, so dass durch sie das Tageslicht einfallen, der Rauch des Herdfeuers aber abziehen konnte.

Als sich der Schiffsherr und dessen Leute noch die Riesenwohnung besahen, erdröhnte plötzlich der Boden. Wenige Augenblicke darauf betrat ein Riese, so hoch wie ein Turm, die Steinstufen und stieg, nachdem er den Eingang wieder mit der Steinplatte verschlossen hatte, durch die Oeffnung hinab in den Berg. Darauf schichtete der Riese auf dem Herd einen ganzen Wald von Bäumen auf und entzündete dieselben. Bei dem Schein des Feuers sahen die Schiffer zu ihrem Entsetzen, dass das Ungetüm nur ein Auge hatte: das Auge aber stand mitten auf der Stirn. Voll Entsetzen suchten einige von den Schiffern zu entfliehen und eilten dem verschlossenen Eingange zu. Jetzt aber [88] erblickte sie der Riese, erfasste einen von ihnen und verzehrte den Zerdrückten wie einen kleinen Bissen. Die andern scheuchte er wieder in das Innere seiner Wohnung zurück.

Darauf schürte er das Feuer an, dass es lichterloh aufflammte. Die Riesenwohnung erdröhnte von dem Geprassel der Flammen und eine Feuerlohe, vermischt mit Dampf und Asche, stieg durch die Oeffnung im Gewölbe zum Himmel empor. Sodann begann der Riese seine Schafe zu melken, welche sich in einem Nebengelass in der Höhle befanden. Alsdann setzte er einen gewaltigen Kessel an das Feuer, um darin die Milch aufzukochen. Der Kessel war so gross wie ein Teich, und der Löffel wie eine Wanne, worin man Kinder badet. Kaum hatte die Milch aufgekocht, so trank sie der Riese, und als der Kessel leer war, legte er sich auf sein Lager von Moos und schlief bald darauf ein. Es währte nicht lange, so schlief er so tief und schnarchte so laut, dass der ganze Berg erzitterte.

Als die entsetzten Schiffer sahen, dass der Riese in Schlaf gesunken war, kehrte ihnen der Mut zurück. Der Schiffsherr entwarf sofort einen Plan zu ihrer Rettung. Er hatte eine grosse, eiserne Stange, den Bratspiess des Riesen, bemerkt. Schnell liess er die Spitze dieser Stange im Feuer des Herdes rotglühend machen, darauf stiess er sie mit Hilfe seiner Leute dem Ungetüm in das Auge. Das glühende Eisen zischte laut auf. Ein dicker Blutstrahl schoss aus dem Auge des Riesen hervor. Die niederfallenden Tropfen sengten wie glühendes Wasser, also dass die Schiffer sich eilig zu bergen suchten. Voll Wut sprang der Riese auf und brüllte vor Schmerz so laut, dass der ganze Berg einen Riss bekam: er erfasste das Eisen und warf den glühenden Bratspiess mit solcher Gewalt gegen die Wand des Berges, dass er dieselbe so leicht durchbohrte, als durchschiesse man mit einem Pfeile eine Scheibe von Papier. Dann tappte er mit den Händen die Wände und den Boden entlang, um die Missethäter zu fangen, die Schiffer und ihr Herr aber hatten sich im Schafstalle geborgen und entgingen so dem Riesen glücklich.

Da geriet dieser in eine furchtbare Wut; er ergriff das brennende Holz vom Herde und schleuderte es überall hin, um seine Feinde zu verbrennen. Aber statt dessen fing das Moos seines Lagers an zu brennen und bald füllte sich seine Wohnung mit so dichtem Rauch und Qualm, dass der Riese genötigt wurde, dieselbe zu verlassen. Er setzte sich vor dem Eingang derselben nieder und fühlte immer von Zeit zu Zeit darüber hin, dass ihm die Missethäter nicht entgingen. Aber der Schiffsherr ersann einen neuen Plan zur Rettung: er band einen jeden seiner Leute je unter einem Schafe fest, er selbst aber klammerte sich unter dem Leithammel an und entkam so, als die Schafe die Ställe verliessen, glücklich mit allen seinen Leuten dem wilden Riesen.

Als alle wieder auf dem Schiffe waren, konnte sich der Schiffsherr nicht enthalten, dem Riesen höhnende Worte zuzurufen. Dieser ergriff einen gewaltigen Felsblock und warf damit nach der Richtung hin, woher die Stimme gekommen war. Er traf auch so glücklich, dass der Felsblock den hintern Teil des Schiffes zerschmetterte und einige Mann [89] der Besatzung erschlug. Nur mit Mühe gelang es dem Schiffer, sich mit dem Rest der Mannschaft auf dem schwer beschädigten Schiff zu retten.