Der alte wandernde Spielmann

Textdaten
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Autor: Ludwig Storch
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Titel: Der alte wandernde Spielmann
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 2, S. 13–15, 24–26
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[13]
Der alte wandernde Spielmann.
Von Ludwig Storch.

Der regierende Herzog von Coburg-Gotha[WS 1] nimmt bekanntlich eine ehrenvolle Stelle unter den Tondichtern der Gegenwart ein. Eine brillante Oper um die andere geht aus seiner musikalischen Schöpfungskraft hervor; seine Hofkapelle und sein Hoftheater sind reich an tüchtigen Talenten. Es ist natürlich, daß musikalische Capacitäten aller Art in den Wintermonaten nach Gotha, in der übrigen Zeit nach Coburg strömen, wo eben Kapelle und Theater wirken, und entweder vom Herzog eingeladen, oder sich ihm offerirend ihr Licht vor ihm und dem Publicum leuchten lassen, oder wenigstens den Versuch dazu machen.

Es fehlt in den beiden Residenzen zur angegebenen Zeit selten an tüchtigen herzugewanderten musikalischen Kräften; denn die Musik, namentlich der Gesang liebt es ja, auf die Wanderschaft zu gehen. Die Virtuosen gleichen den Zugvögeln, nur daß sie nicht so naiv und harmlos sind wie diese, und sich gern von einem fürstlichen Liebhaber einfangen lassen.

Schwerlich nimmt irgend ein Glied dieses wandernden Virtuosenthums, das jährlich in den beiden thüringischen Städten einkehrt, Kenntniß von einem eingebornen musikalischen Genie, das auch vom Virtuosenwandertrieb beseelt, demselben in ganz anderer Weise als sie und in sehr origineller genügt. Und doch wäre dieser Mann, jetzt ein dreiundsiebzigjähriger Greis, werth, daß sie ihn beachteten und ehrten, ja sie könnten sogar noch viel, sehr viel von ihm lernen, was ihnen in Bezug auf ihre Kunst zum Nutzen und – wenn sie wirkliche echte Talente sind – zur künstlerischen Erhebung dienen könnte. Denn der alte wandernde Spielmann ist ein Träger jenes regenbogenfarbigen warmen Lichtstrahls, der harmonisch tönend aus dem Feuerrohr des Prometheus hervorzuckte, er ist ein echter musikalischer Genius, und die von ihm geschaffnen Tonstücke haben Millionen zartfühlender Seelen entzückt; sein Name ging weit über die Grenzen Deutschlands hinaus; er war ein in der ganzen civilisirten Welt gefeierter.

Es sind Jahre her, ich weiß nicht wie viel, als die auf dem Hoftheater in Gotha mit großem Beifall aufgetretene bekannte Sängerin S. mich aufsuchte. Ich machte einige Ausflüge mit ihr in die reizende Gebirgslandschaft. Auf einem derselben sah ich einen Mann mit einem kleinen Papierpäckchen unter dem Arme in ärmlicher Kleidung auf der Straße vor dem Wagen in derselben Richtung gehen. Ich erkannte ihn von weitem von hinten. Sie ist ja nicht zu verkennen, die eigenthümliche Gestalt, und ich glaube, im südwestlichen Thüringen kennt sie jedes Kind eine Viertelstunde weit von allen Seiten. Ich würde sie an ihrem Schatten erkennen; denn sie ist mir zum unentbehrlichen Bestandtheil der vaterländischen Gegend geworden, gleichsam zur nothwendigen Staffage der Landschaft. Und gewiß mir nicht allein. Mehr oder minder mag es allen thüringischen Landsleuten jener Gegend so ergehen. Diese Gestalt ist uns Allen eine liebe Gewohnheit, eine autotypische Erscheinung, wie Berg und Fels, Kirchthurm und Wirthshaus.

Ich flüsterte meinem Gaste schnell zu: „Sehen Sie sich den Mann, der vor uns geht, recht an. Er verdient Ihre Aufmerksamkeit im höchsten Grade.“

Wir holten ihn schnell ein; ich ließ halten. Das alte, liebe gutmüthige Gesicht mit den feinen scharfgeschnittenen Zügen, mit den blauen, träumerischen Augen lächelte uns einen freundlichen Gruß zu. Ein etwas gebückter Mann von mittler Größe, salop gekleidet, wie immer, mit einem schönen Kopfe, ausdrucksvollen Zügen, hoher gewölbter Stirn, von weichen blonden Locken umflogen. Er redete mich mit weicher sonorer Stimme an. Ich bot ihm einen Platz im Wagen an; er schlug ihn aus, er wollte sich im nächsten Dorfe verweilen. Das Papierpäckchen belehrte mich, was er dort zu verrichten hatte. Doch versprach er mich auf dem Heimwege zu besuchen.

Als wir weiter fuhren, fragte meine Dame: „Wer ist dieser Mann? Sein Habitus, namentlich sein Kopf und seine Züge haben mir imponirt. Das ist kein gewöhnlicher Mensch, und gerade seine ärmliche Kleidung bestätigt meine Vermuthung.“

„Meinen Sie?“ versetzte ich lachend. „Nun, er ist ein wandernder Musikalienhändler. In dem Päckchen trägt er neue Noten, geschriebene, gedruckte. Er besucht den Pfarrer, den Schullehrer, den Schulzen, vielleicht auch noch andere Dorfhonoratioren. Die kaufen ihm etwas ab. Er ist überall gern gesehen. Die Hausfrau behält ihn zum Frühstück, zum Mittagsbrod, der Hausherr trinkt ihm freundlich zu. Dann geht er weiter, schlicht, genügsam, heiter. In den Gasthöfen wird ihm die Zeche klein gemacht; oft gibt ihm der Wirth statt der Rechnung die Hand und wünscht ihm glückliche Reise und gute Geschäfte. So wandert er durch das Land.“

[14] „Und das wäre Alles?“

„Vielleicht ist er auch noch etwas mehr.“

„Wie heißt er?“

„Wozu ein Name? Ich werde Ihnen den alten, wunderlichen Kauz vorführen. Kaufen Sie ihm etwas ab. Dann mag er sich Ihnen selbst nennen. Ich glaube, er wird Ihnen gefallen, und Sie werden mir die Bekanntschaft Dank wissen.“

„Fast glaube ich, das ist kein gewöhnlicher Mann. Ich sehe es an seinen Augen, an seiner Stirn, an seiner ganzen Erscheinung. Er erinnert mich an Beethoven.“

Von dieser Bemerkung frappirt, brach ich das Gespräch ab.

Zwei Tage später trat gegen Abend der alte Musikalienhändler bei mir ein. Er pflegte mich oft zu besuchen; er wußte, wie lieb ich ihn hatte. Und auch er war mir gewogen. Ich stellte ihm einen Becher Wein auf den aufgeklappten Flügel im Nebenzimmer. Bald saß er vor dem Instrument und ließ die Finger leise über die Tasten hingleiten. Es klang herüber wie flüchtige Geistergrüße. In diesem Augenblick trat unsere Primadonna herein. Sie pflegte jeden Abend zu kommen. Ich winkte ihr zu und deutete auf den Spielmann im Nebenzimmer, den die Dämmerung eben sanft einschleierte. Sie nickte wie im Einverständniß und als wisse sie wirklich schon, wer er sei. Still und horchend saß sie auf dem Sopha. Aus dem dunkler werdenden Zimmer säuselten die Töne zu uns heraus. O Ohnmacht der menschlichen Sprache, wenn sie das tiefste, süßeste, heiligste Seelengeheimniß enthüllen soll! Dazu sind ja eben nur die Töne da; wozu brauchten wir sie, wenn die Sprachlaute es vermöchten? Hier wurde ein solches Geheimniß ausgesprochen. Das vermag nur ein musikalischer Genius. Die Andern hämmern, klimpern, lärmen, rasen auf den Tasten herum, daß Einem die Ohren gellen. Sie können kein Geheimniß aussprechen, denn sie wissen keins. Aber nur eine tiefe Seele versteht die wahre Sprache. Die Andern sitzen dabei und hören – Noten abspielen.

Meine Dame verstand den Mann da drin im dämmerigen Zimmer, und seine flüsternde Sprache drang ihr in die Seele. Ich sah im letzten Tagschein ein paar Thränen in ihren Augen schimmern. Ihre Brust hob sich mächtig, und doch hörte man sie nicht athmen. Der Spielmann verlor sich immer tiefer in seine wunderbaren träumerischen Phantasien. Die Nacht hüllte uns mehr und mehr ein. Niemand regte sich; man hörte nur die leisen, sehnsüchtigen, fröhlichen, neckischen, wunderbaren Töne. Sie klangen wie sich ein Dichter die Flügelschläge kleiner Engel vorstellen mag.

So war wohl eine Stunde vergangen (wir hatten das Zeitmaß verloren), als der Spielmann nach Licht rief. Es wurde zuerst in unser Zimmer gebracht. Der Virtuos kam heraus, sah die fremde Dame scheu an und schien von ihrer Anwesenheit wenig erbaut. Meine Frau bat ihn weiter zu spielen; er versetzte verdrießlich: „Ja, für Sie! Die andre Dame darf es nicht hören.“

Nun spielte er mehr mit Kunst. Doch war das Meiste hinreißend schön. Plötzlich stand er auf, nahm den Hut und verließ uns mit kurzem Gruße.

„Mein Gott!“ rief die Primadonna, „ich erwache wie von einem Rausche. Nie hab’ ich zartere, reinere Seelentöne vernommen. Dieser Mann ist ein großer lyrischer Tondichter. Aber wer ist der wunderliche Herr, der an meine Ohren das seltsame Begehren stellte, nicht zu hören? Sie sind mir seinen Namen noch schuldig.“

Johann Ludwig Böhner ist sein Name, gewöhnlich vom französischen Titel seiner im Stich erschienenen zahlreichen Compositionen „Louis Böhner“ genannt.“

„Louis Böhner, der originelle, melodienreiche Tonschöpfer! Den wir Alle noch kennen, die jemals Musik getrieben!“ rief die Dame überrascht. „Aber wie ist mir denn, hab’ ich nicht sagen hören oder gelesen, er sei geisteskrank?“

„Daß er von Paradoxien, Bizarrerien und Futilitäten, zuweilen auch von fixen Ideen nicht frei ist, leidet keinen Zweifel, und Sie haben eben mit seiner göttlichen Tonmalerei auch davon eine Probe erhalten; ob er wirklich jemals im schlimmsten Sinne geisteskrank war, weiß ich nicht, wir haben eben kein anderes Wort für seine Abnormitäten.“

Die entzückte Sängerin erinnerte sich einer journalistischen Mittheilung von dem (vor 25–30 Jahren) so viel genannten Wit von Dörring über Louis Böhner, nach welcher dieser im Königsschlosse zu Kopenhagen eine seltsame, allerdings von Geistesverwirrung zeugende Scene mit einer königlich dänischen Prinzessin gespielt haben sollte. Auch behauptete sie, man habe ihr von gut unterrichteter Seite versichert, Böhner sei das Original zum Kapellmeister Kreisler in E. Th. A. Hoffmanns Kater Murr. Beide hätten zusammen in Bamberg gelebt und seien als musikalische Genie’s viel miteinander umgegangen. Ebenso versicherte sie, K. M. v. Weber habe das Motiv des Freischütz von Böhner entlehnt, und die beliebte Arie: „Wir winden dir den Jungfernkranz“ sei Böhner’s Erfindung.

Ich konnte über keins dieser Dinge Auskunft geben. Doch hatte ich die letztere Behauptung schon einige Male von Musikkundigen aussprechen hören. Mir war die Sache auf folgende Weise erzählt worden. Ein Böhnersches Concert enthalte allerdings eine Stelle, welche mit dem Thema des Freischütz nahe verwandt sei. Von einer eigentlichen Entlehnung dürfe man aber doch nicht reden. Was den genannten Brautjungfernchor betreffe, so habe Weber während seines Aufenthaltes beim Prinzen Friedrich (dem spätern letzten Herzoge) von Gotha auf einer Dorfkirmeß in dem erfurtischen Dorfe Alach einen Tanz spielen hören, den er für eine alte Volksmelodie gehalten, der aber eine Composition von dem in der Nähe Alachs, in dem gothaischen Dorfe Töttelstedt gebornen und aufgewachsenen L. Böhner gewesen sei. Und diesen Tanz habe Weber zu seinem berühmten Chor benutzt.

Meine Gesangskünstlerin bat mich angelegentlich, ihr den wunderlichen Tonkünstler zuzuführen. Meine Bemühungen, ihren Wunsch zu erfüllen, waren vergebliche, da man nie wissen kann, wo Böhner, der sich fast immer auf der Wanderschaft befindet, eben verweilt, beziehentlich wohnt. Er kam nicht wieder, und die Dame mußte abreisen, ohne seine nähere Bekanntschaft gemacht zu haben. Sie nahm mir aber das Versprechen ab, ihr über sein Leben und künstlerisches Wirken Aufschlüsse zu verschaffen. Ich wandte mich deshalb später an ihn, und er machte mir biographisch-aphoristische Mittheilungen, die ich heute, nach langen Jahren, auf Antrieb unseres gemeinschaftlichen Landsmannes und Freundes Ernst Keil, dem aus dem von Böhner ebenfalls oft besuchten Vaterhause eine warme Pietät für den wandernden Spielmann geblieben ist, zuerst für die Oeffentlichkeit benutze. Herr Keil ist nämlich von Böhner, den er im vaterländischen Gebirge traf, ersucht worden, in der Gartenlaube den „albernen Gerüchten, die über sein Leben und Thun im Umlauf seien“, zu widersprechen.[1]

[15] Jene pikante Veröffentlichung Wit von Dörring’s über die vorgeblich drastische Rencontre unseres Componisten mit der Prinzessin von Dänemark erklärte Böhner für eine unverschämte Erfindung und Bambocciade des berüchtigten zweideutigen Demagogen. Was seine Originalschaft zu E. T. A. Hoffmanns Johannes Kreisler betrifft, so gab er an: während seines fünfjährigen Aufenthaltes in Nürnberg (1810–1815) öfter und periodenweise in Bamberg zugebracht und mit Hoffmann, dem genialen und lebenslustigen Kunstgenossen, der von 1808 bis 1813 in der alten fränkischen Bischofsstadt lebte, frohe Tage genossen zu haben. Sie hätten da viel tolles Zeug zusammen getrieben und sich des Lebens auf ihre Weise gefreut. Nun ist bekannt genug, wie Hoffmann sich des Lebens zu freuen liebte, und es ist in Thüringen auch kein Geheimniß, daß Böhner die Lebenskunst ebenso genial auszuführen verstand, wie die musikalische. Hoffmann, elf Jahre älter als Böhner, nannte diesen Sohn und wird ihm wohl guten Unterricht und väterliche Anleitung gegeben haben. Böhner fing zu jener Zeit an seine Capriolen zu machen, die die Linie des gesunden Menschenverstandes bald übersprangen, und so ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß sein phantastisches Lebensbild später von Hoffmann zu dem tollen Kapellmeister benutzt wurde.

In Bamberg versicherte man mich, E. T. A. Hoffmann habe allerdings bei der Schöpfung des Kapellmeisters Kreisler Böhnern vor Augen gehabt. Hoffmann schrieb den Kater Murr auf der Altenburg in einem der alten Thürmchen der Festungsmauer, das zu einem Zimmer eingerichtet ist. Zur Abwechslung warf er die Scenen, die er eben erfunden und beschrieben oder beschreiben wollte, mit Bleistift an die weiße Wand. Das waren denn die herrlichsten Karikaturen, geniale Schöpfungen seines übersprudelnden tollen Humors. Zuletzt waren alle Wände voll, lauter „Kreisleriana“. Und in diesen kecken Bildern soll Kreisler stets Böhners Züge getragen haben.

Das Machtgebot eines Schlaukopfs, deren die Welt leider mehr hat, als ihr zuträglich ist, hat diese Bilder als „dummes Zeug“ mit Tünche überziehen lassen. Ohne diese Barbarei würde das Mauerthürmchen höchst wahrscheinlich der Wallfahrtsort vieler genialer Menschen und ein Anziehungspunkt der schönen Altenburg mehr geworden sein.

In Bezug auf die angebliche Benutzung seiner Ideen durch K. M. von Weber im Freischütz antwortete Böhner ausweichend: es fänden sich wohl dergleichen Reminiscenzen in der berühmten Oper; das könne aber den schöpferischsten Geistern begegnen und sei weiter kein Plagiat. So wenig wie er selbst sich mit fremden Federn schmücke, eben so wenig könne er glauben, daß es ein so berühmter Componist, wie Weber, thue. Diese Aeußerung zeugt wenigstens von Böhner’s nobler Gesinnung, die er mir auch sonst in aller Weise bethätigte.

Johann Ludwig Böhner, geb. den 8. Januar 1787 zu Töttelstedt, einem großen gothaischen Dorfe zwischen Gotha, Erfurt und Langensalza, Sohn des dortigen Organisten, spätern Cantors, der aus Dietharg, einem der ältesten und schönsten unserer Walddörfer gebürtig war (daraus erklärt Böhner seine poetische Vorliebe für das Gebirg), erlernte schon als Knabe unter den Augen des Vaters gleichsam spielend Musik. Die große prächtige Orgel seines Geburtsortes spielte er bald mit Lust und Geschick, außerdem Klavier und Violine; auch sang er Sopran, und bildete sein hohes musikalisches Talent rasch und frühzeitig aus. Ohne Unterricht im Harmonie- und Instrumentalsatz gehabt zu haben, componirte er vom 10. bis zum 14. Lebensjahre mehrere Kirchenstücke und Schiller’s Lied an die Freude, jeden Vers besonders, mit Recitativen, Arien, Chören etc. als Hymnus. Diese seine ersten Versuche wurden in der Umgegend hie und da aufgeführt und fanden Beifall. Sein Vater besaß die Werke von Händel, Bach, Telemann, Graun, Bando, Haydn, Mozart und Beethoven, und diese wurden, da er sie fleißig spielte, Böhner's eigentliche Lehrer.

Vom 13. Jahre an besuchte Böhner das Gymnasium zu Erfurt, wo er oft Gelegenheit hatte, den großen Orgelspieler Joh. Christian Kittel, den letzten Schüler Seb. Bach’s, zu hören, und von dessen Schüler J. M. G. Fischer in Harmonie- und Fugensatz, so wie vom Organisten Kluge im Klavierspiel und Generalbaß Unterricht erhielt. Des kunstreichen Concertmeisters Fischer Concerte mit Dahlberg’s Kapelle regten ihn ungemein an. Böhner zeichnete sich hier als Orgelspieler und Sopransänger schon so aus, daß er davon Veranlassung nahm, sich ganz der Musik zu widmen. Darauf nahm er, 18 Jahre alt, seinen Aufenthalt in Gotha, wo Louis Spohr, nur drei Jahre älter als er, eben herzoglicher Concertmeister geworden war (1805). Bis 1808 Privatlehrer, hörte er Spohr oft in den Hofconcerten, ebenso Dussek[WS 2], Ebert, Himmel, wurde vom Erstern begünstigt und aufgemuntert und gab selbst unter dessen Direction ein Concert mit freier Phantasie bei Hofe.

Eine Aussicht, sich in Jena besser zu stehen, zog ihn 1808 dorthin, wo er anderthalb glückliche Jahre verlebte. Er gab hier viel Unterricht, componirte einige seiner ausgezeichnetern Werke, namentlich das Pianofortconcert in E, wozu ihm die liebenswürdige Louise Marezoll das Papier liniirte, und das er mit dem größten Beifall öffentlich vortrug.

Interessant ist, daß er im Hause des Buchhändlers Frommann der Lehrer jener durch Goethe’s „Wahlverwandtschaften“ unsterblich gewordenen Minna Herzlieb, Frommann’s Pflegetochter, der Ottilie in dem genannten Romane, wurde, zu der sich der alternde Zeus so wunderbar poetisch hingezogen fühlte, und von der er, die er als Kind schon geliebt, mit dem ganzen Zauber einer tiefen Frauenseele wieder geliebt wurde. Böhner kam so recht mitten in diesen Roman hinein, er lernte Goethe bei Frommann kennen und sah ihn auch in den Cirkeln einer in Jena lebenden reichen Engländerin, Frau Hemburg, wo er spielte und sich des Dichterfürsten Beifall erwarb. Hätte damals Goethe Böhner’s Originalität in ihrer tiefsten und eigenthümlichsten Bedeutung und in ihrer musikalisch-lyrischen Beziehung zu Minna näher kennen gelernt, ich bin überzeugt, unser Spielmann würde eine Stelle in jenem hohen Meisterwerke der tragischen Dichtkunst gefunden haben, wie der Lehrer und der Architekt.

Von Jena aus dem Herzog August von Gotha nachdrücklich empfohlen, erhielt Böhner von diesem das Reisegeld zu einer Kunstreise. Seine Absicht war, zu seiner weiteren Ausbildung nach Wien zu gehen. Bevor er diese Reise antrat, componirte er im elterlichen Hause zu Töttelstedt mehrere größere Werke, darunter die Ouvertüre in C zu seiner Oper „der Dreiherrnstein“ und das Pianoforteconcert in C, opus 10.

Weder er noch sonst Jemand dachte daran, daß sein Reisepaß nach Oesterreich mit dem Visa des österreichischen Gesandten in Dresden versehen sein müßte. Er ging über Suhl, Meiningen, Hildburghausen und Coburg, gab in allen diesen Städten Concerte und fand warme Unterstützung und Verehrung seines Genius, dessen Fittich sich damals in voller Kraft und Schönheit entfaltete. In Nürnberg rief seine öffentliche Production einen wahren Enthusiasmus und die ehrenvollste Anerkennung wach. Durch Franken und Bayern kam er bis nach Linz, wo er wegen ungenügender Reiselegitimation umkehren mußte. Ueber Regensburg gelangte er nach Nürnberg zurück und zwar mit gänzlich erschöpfter Casse. Da zeigte sich's, wie viel wahre Freunde sich der geniale junge Tonkünstler und Virtuos in der geistesregen kunstsinnigen Stadt erworben hatte. Von allen Seiten gewährte man ihm Hülfe und drang in ihn zu bleiben. Vorzüglich waren es der ebenso geniale wie liebenswürdige Guhr, der, fast ein Jahr jünger als Böhner, schon seit drei Jahren Musikdirector in Nürnberg war, dann ein Herr von Harsdorf und der Stadtgerichtsarzt Dr. Karl Prau, die sich um Böhner verdient machten. Und so blieb er denn in der reichen Handelsstadt und lebte ganze fünf Jahre in Dr. Prau’s Hause sorgenfrei und in glücklicher Muße. In dieser Zeit hat er seine vorzüglichsten Werke geschaffen, so auch die Oper „der Dreiherrnstein“, die allerdings kein dramatisches Leben, aber an Fülle lyrischer Schönheit nicht ihres Gleichen hat.

[24] In Nürnberg und den Nachbarstädten, wo Böhner überall mit rauschendem Beifall Concerte gab, geehrt und geliebt, zeigten sich doch in dieser Zeit die ersten Spuren von seiner Krankheit. (Seiner Bekanntschaft mit E. T. A. Hoffmann ist bereits gedacht.) Und in dieser Krankheit ist der Grund zu suchen, daß Böhner niemals eine feste, seinem Talent und seinen Kenntnissen entsprechende Stellung gefunden und sich den eignen Heerd zu gründen nicht vermocht hat.

Im Jahr 1815 unternahm Böhner eine zweite Kunstreise über Stuttgart, Karlsruhe, Straßburg, Kolmar, Basel, Aarau, Zürich bis Bern. Es wollte ihm aber nirgend glücken, woran die unruhigen Kriegszeiten die meiste Schuld haben mochten. Besser gelang es ihm im Heimathlande Thüringen, wo er in Hofconcerten mit großem Erfolg spielte, dann in Leipzig, wo er nicht nur stark besuchte Concerte gab, sondern bei den dortigen vornehmsten Musikalienhandlungen [25] mit dem Verkauf seiner Compositionen auch gute Geschäfte machte. Ein Jahr später sehen wir ihn auf einer neuen Kunstreise in Frankfurt a. M., Darmstadt, Mannheim und Heidelberg als vielbewunderten Virtuosen auf Orgel und Flügel in einträglichen Concerten auftreten, so daß er sich fast ein Jahr in den genannten Rheinstädten aufhielt, doch periodisch gestört von der unheimlichen Heimsuchung seines bösen Dämons. Ebenso in Kassel, wohin er 1817 ging, wo Guhr unterdessen (1813) Musikdirector des Hoftheaters geworden war. Im freundschaftlichen Umgange mit dem edlen Kunst- und Altersgenossen scheint Böhner’s Geist wieder erstarkt zu sein; denn 1818 konnte er, mit guten Empfehlungen, namentlich von Frankfurt aus, versehen, nach Hamburg gehen, wo er sich über ein halbes Jahr aufhielt.

Sein Name war nun ein in ganz Europa von allen musikalischen Capacitäten gefeierter, und er wurde in der reichen Handelsstadt mit Auszeichnung aufgenommen. Besonders machten sich die Logen, an die er empfohlen war, um ihn verdient. Der brasilianische Minister und Gesandte, von Carno, nahm ihn gastfreundlich auf, und sein Concert auf der herrlichen Orgel der Katharinenkirche brachte ihm Gold und Beifall in Menge ein.

Schier noch glänzender war seine Aufnahme in Oldenburg, besonders am großherzoglichen Hofe, und die liebenswürdigen Prinzessinnen gaben ihm Thema’s zum Phantasiren. Die Damen der höhern Gesellschaft schwärmten für ihn, namentlich ein Paar Französinnen, die ein Haus machten, wo er öfter spielte. Auch scheint hier die Liebe zuerst sein Herz gerührt zu haben, doch hat er darüber in seinen autobiographischen Notizen nur die kurze trockne Bemerkung gemacht: „Ein gebildetes Frauenzimmer, N. aus B., machte sich in Oldenburg besonders um meine Wenigkeit verdient.“ Mit den beiden Fürstenau, Vater und Sohn, die zu derselben Zeit in Oldenburg wohnten und bliesen, verlebte er schöne Tage.

Seine Weiterreise führte ihn über Emden und Leer an die Ufer der Nordsee, dann zurück und über Hamburg und Lübeck auf der Ostsee nach Kopenhagen, wo er im Mai 1819 eintraf. Durch Kuhlau, der ihn mit offnen Armen aufnahm, bei Hofe vorgestellt, wurde er bald von der musikalisch hochgebildeten Prinzessin und einer Hofdame sehr favoritisirt und spielte oft in ihren Apartements im Lustschlosse Friedrichsburg. Hier nun soll die von Wit v. Dörring erzählte extravagante Scene vorgefallen sein, die Böhner als Erfindung des nordischen Demagogen bezeichnet.

Böhner’s viermonatlicher Aufenthalt in der dänischen Königsstadt ist der Silberblick seines Lebens. Als Löwe von der hohen Aristokratie gehätschelt, mit Geld reichlich versehen, in einem angenehmen Herzensverhältniß, eine prächtige Wohnung mit Flügel im großen Hotel de Lyon inne habend, mit fröhlichen Freunden Ausflüge in der Insel Seeland machend, bedurfte es nichts weiter, als das Glück so lange als möglich festzuhalten. Und auch dazu wurde ihm die Hand geboten, ja aufgedrungen. Er sollte in Kopenhagen bleiben, vor der Hand als Musiklehrer der vornehmen Welt, bis sich eine feste Anstellung für ihn fände. Alle einflußreichen Personen interessirten sich für ihn und wollten behülflich sein – das böse Gespenst, das sich in ihm festgesetzt, die Klarheit seines Geistes trübend, seine Gedanken verwirrend und ihn zu Excentricitäten treibend, verhinderte Alles, verdarb ihm seine ganze Lebenszukunft. Es riß ihn aus schönen Verhältnissen, trieb ihn fort von der Stätte seines Glücks. Er scheint gegen Ende des Sommers heftiger von der Krankheit befallen worden zu sein, als je. Wie der unglückliche Hölderin, mit dem Böhner überhaupt Aehnlichkeit hat, eilte er fort, von Dobberan, wo er die Bekanntschaft der Catalani machte, zu Fuß Tag und Nacht laufend, wie ein von Furien gejagter Orestes. Auf dem Wege nach Hamburg verirrte er sich Nachts im Walde und gerieth in einen Sumpf, wo er fast das Leben eingebüßt hätte. In gleicher Weise rannte er, ein armer unglücklicher Geisteskranker, über Hannover, Osterode und Sondershausen bis nach Gotha. Sein mit Kleidern, Manuskripten und andern werthvollen Effecten und Geld reich ausgestatteter Koffer ging ihm verloren. Er wollte ihn in Kopenhagen nach Hamburg zur Post gegeben haben; er sollte auch abgegangen sein – Böhner hat ihn nie wieder gesehen. Ein anderer ebenfalls (besonders durch die Manuscripte) werthvoller Koffer, den er in Nürnberg gelassen, ging ihm ebenfalls verloren aus gleichem Grunde. Auch sonstige schwere Verluste hat ihm seine Krankheit zugefügt, und er ist, weil er kein wachsames Auge auf sein Eigenthum haben konnte, um Alles gekommen, was er erworben, und um Vieles, was sein reicher Geist geschaffen.

In Gotha erregte seine Ankunft unter so traurigen Umständen Aufsehen. Der Herzog August nahm sich sogleich seiner wieder an, und brachte ihn in der angesehenen Familie eines Kunstgenossen unter. Doch man konnte nicht mit ihm fertig werden, und der Tod seines fürstlichen Gönners (22. Mai 1822) machte allen fernern Maßnahmen zu Böhner’s Bestem ein Ende. Schon vorher hatte ihn sein Geburtsort als Heimathstätte aufgenommen, und dort wohnt er nun seit fast vierzig Jahren, wenn man einen solchen Aufenthalt überhaupt wohnen nennen kann, in armseligen, beklagenswerthen Verhältnissen. Seit jener Zeit hat er seine Wanderungen im südlichen und westlichen Thüringen mit kleinem Musikalienhandel begonnen und setzt sie bis heute rüstig und wohlgemuth fort. Es ist ihm in dieser langen Zeit kümmerlich genug gegangen. Vor fünfundzwanzig Jahren schrieb er mir: „Ich muß ziemlich beschränkt und dürftig leben, Hunger und Kälte in elender Wohnung bei Armen ertragen und alle geistigen und körperlichen Genüsse entbehren.“

Es ist von den Leuten seiner Umgebung, welche mit den Mitteln und der Stellung die Pflicht hatten, für die sorgenfreie Existenz eines so bedeutenden Genius und eines so edlen und guten Menschen wie Böhner zu sorgen, nicht recht, daß sie ihn in solchem Elende haben schmachten lassen. Einen der reichbegabtesten Tonsetzer und Virtuosen ließ man, dürftig bekleidet, in Kälte und Regen im Lande herumlaufen, um sich durch den Verkauf einiger von ihm componirten Tänze vor dem Hungertode zu schützen. Und der Mann war geisteskrank. Es hat lange gedauert, eh’ er von der Krankheit befreit wurde. Aber die stete Bewegung in der freien Luft, besonders des Gebirgs, wo er jedes Jahr Monate lang verweilt, die Unregelmäßigkeit und Frugalität seiner Lebensweise haben ihn von seinem Dämon befreit, und er ist jetzt als fast 73jähriger Greis gesund und kräftig. Ja, wenn irgend ein Mann befähigt ist, seinen hundertjährigen Geburtstag selbst zu feiern, so ist’s Louis Böhner.

Zum Schluß dieser Skizze mögen ein paar Erlebnisse, die ich mit ihm hatte, den eigenthümlichen Charakter seiner Krankheit andeuten.

Im Sommer 1822 hielt ich mich einige Tage im Hause des Justizamtmanns Knauer in Ichtershausen (zwischen Erfurt und Arnstadt) auf. Eines Abends wurde der Hausvater hinausgerufen. Mit getrübter Miene kehrte er in’s Zimmer zurück, und seine Worte: „Ach Gott, der arme Böhner ist draußen!“ zogen mich mit den Andern ebenfalls auf den Vorsaal. In bejammernswerther armseliger Kleidung, bot er in einem kleinen Henkelkorbe einige geschriebene Tänze zum Verkauf aus. Das Geld nahm er mit Hast, die Einladung, sich im Familienzimmer zu erfrischen, schlug er mit scheuem Wesen aus und entfernte sich eiligst.

Nach ohngefähr zehn Minuten vernahmen wir seltsame Klagetöne auf dem Vorsaal. Hinausgeeilt, sahen wir Böhner mit verzweiflungsvollen Gebehrden diese Töne ausstoßen. Er habe das Geld verloren, sein Feind habe ihn gejagt, er sei immer hinter ihm, der Schreckliche. Er meinte den Teufel, dessen von seiner irrenden Phantasie erzeugtes Phantom ihn zuweilen verfolgte und ängstigte. – Das Geld fand sich auf dem Treppenpfeiler, wohin er es gelegt und vergessen hatte. Sichtlich getröstet, ging er wieder. Das Phantom war verschwunden.

Ein russischer Hofherr, Graf Engelhardt, der mit der zweiten Gemahlin des Herzogs Ernst I. von Coburg-Gotha nach Gotha gekommen war und viel Geld ausgab, ließ seiner Tochter von Böhner musikalischen Unterricht geben und zahlte ihm für jede Stunde einen Ducaten baar aus. Sobald Böhner Geld hatte, wurde er übermüthig, wie er denn überhaupt nicht mit Geld umzugehen verstand. Mit jedem Ducaten Mehreinnahme schwoll ihm der Kamm stärker. Man erzählte allerlei drollige Geschichten seines wachsenden Uebermuths. So hatte er in dem ersten Gasthofe der Stadt, dem Mohren, eines Abends die ganze Reihe Zimmer der Bel-Etage, die nur gewichtige Fremde zu bewohnen pflegen, gemiethet und jedes Zimmer reich erleuchten lassen. Nun war er in der ganzen Zimmerflucht mit dem Ausdrucke stolzen Selbstbewußtseins spazieren gegangen, hatte gut gespeist und sich dann am Flügel niedergelassen, um zu phantasiren, und nur einen Wunsch hatte er gegen die zuhörende Dienerschaft laut werden lassen, daß eine gleichgestimmte musikalische Freundin mit ihm vierhändig seine Sonaten spielen möchte. Der Wunsch mußte freilich unerfüllt [26] bleiben. Er schlief prächtig, und als er am andern Morgen mit den russischen Ducaten seine Zeche berichtigt, ging er stolz wie ein Spanier davon.

In dieser Periode kam er einst zu mir, setzte sich mit Prätension, schaute sich im Zimmer um und sagte zu mir: „Es ist eine Schande für Ihre Verehrer, daß Sie so schlecht wohnen. Diese alten schmutzigen Tapeten ekeln mich an. Ich werde Ihnen das Zimmer neu tapeziren lassen und zwar mit den kostbarsten Tapeten, die aufzutreiben sind. Diesen Bettel reiß’ ich nächstens selbst von den Wänden herab.“

„Diese Erlaubniß geb’ ich Ihnen gern,“ versetzte ich lachend; „nur sorgen Sie erst für die neue Wandbekleidung.“

„Gut. Ich halte Sie beim Wort. Und daß ein Schriftsteller, wie Sie, keine Equipage halten kann, hat mich längst bekümmert. Ich denke, Sie werden ferner mit mir fahren.“

„Haben Sie denn Equipage?“

„Noch nicht, aber ich werde sie mir nächstens anschaffen.“ –

Die Ducaten hielten sich keinen Tag in seiner Tasche; sie flogen wie Spatzen fort. Böhner hatte sich allerlei unnützen Kram angeschafft. Ich sah einen Siegelring mit einem geschnittenen Steine an seinem Finger, Busennadel etc. Aber ein sehr nothwendiges Requisit der Lebensordnung hatte er zu kaufen vergessen – Taschentücher. In Ermangelung dieses Artikels hatte er hinter dem Rücken der am Flügel spielenden jungen Gräfin eine banausische Naivetät begangen, die, von der feinen Dame im Spiegel vor ihr bemerkt, seine augenblickliche etwas stürmische Entlassung von Seiten des Grafen zur Folge hatte.

Nach einiger Zeit kam er wieder mit dem alten timiden Gesichtsausdruck zu mir.

„Wie steht’s mit den neuen Tapeten, lieber Böhner?“ rief ich ihm entgegen.

„Hol’s der Henker! die alten müssen noch hängen bleiben.“

„Und die Equipage?“

„Wir müssen Beide noch zu Fuße laufen.“ –

So kurz auch seine Glücks- und Glanzperiode war, so sehr sie von seiner Krankheit getrübt wurde, so ist dagegen sein späteres kümmerliches Leben nicht ohne Licht- und Freudentage gewesen. Er hat überall Freunde im schönen thüringischen Vaterlande, und alle musikalischen Künstler und Dilettanten verehren und behandeln ihn mit Pietät. Hie und da wird noch ein Concert oder eine musikalische Unterhaltung für ihn arrangirt. Und so wandert er von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, ein milder freundlicher Greis, überall gekannt und gern gesehen, und der Lebensabend ist ihm wenigstens kein ganz unfreundlicher.





  1. Nicht im Gebirge, sondern in Arnstadt war es, wo ich im Laufe des letzten Sommers Böhner antraf. Dreißig Jahre waren verflossen, daß ich ihn nicht gesehen, und doch erkannte ich den freundlichen Greis sofort wieder. Damals – ich meine vor dreißig Jahren – mochte er wohl auf seiner Durchreise durch L., meine Geburtsstadt, erfahren haben, daß mein Vater einen neuen ganz vortrefflichen Flügel gekauft hatte; genug, eines Sonntags in der Abenddämmerung – es war im Hochsommer – trat plötzlich ein fremder Mann in unser Zimmer, wo die ganze Familie versammelt war, und bat freundlich, das Instrument proben zu dürfen. Mein Vater mußte den Fremden wohl kennen, denn dieser hatte seine Bitte noch nicht ganz ausgesprochen, als er erfreut seine Hand nahm und ihn selbst zum Flügel führte, auf dessen Sitz sich der Angekommene sofort niederließ. Ich erinnere mich der Scene noch, als ob sie gestern erlebt wäre. Der Vater winkte uns still vom Instrument weg, das wir neugierig umstanden, und alsbald klangen die Töne des Spielenden durch das Zimmer. Wie horchten wir hoch auf! So viele vortreffliche Musiker auch in unserm Hause verkehrten – dieser Zauber von Musik war uns neu. Ein wunderbar süßes Gemisch von weichen, innigen und doch zugleich auch neckischen und jauchzenden Melodien, wie wir so verlockend und rührend noch nie gehört, umrauschte uns und versetzte uns mit jeder Minute in eine heiligere Stimmung. Andächtig wie in der Kirche lauschten wir dieser neuen Religion der Töne. Der Künstler sah und hörte nichts als sein Spiel und blickte nur dann und wann träumend nach Oben. Mein guter Vater war wie verklärt. Das wunderbare Spiel mochte hinaus auf die Straße gedrungen sein, bald füllte sich das Zimmer mit Nachbarn und Freunden, und als dieses nicht mehr zureichte, auch die Hausflur, und als auch diese gefüllt war, der Platz an den Fenstern auf der Straße, die bald bis auf die Mitte gefüllt war. Alles horchte still und mit gehaltnem Athem, und nur dann und wann hörte man’s flüstern: der Böhner ist’s – Louis Böhner! So mochte er eine halbe Stunde gespielt haben, als er sich umsah und die Versammlung erblickte. Ich sah, wie sich die Stirnfalte rollte, mit einem schrillen Accord schloß er plötzlich seine Phantasien, stand auf, nahm Hut und Stock und indem er meinem Vater noch flüchtig die Hand drückte, drängte er sich schnell und ohne auf dessen Einladung zu hören, durch die gedrängte Menge, die ihm ehrfurchtsvoll Platz machte. Eiligen Schrittes und ohne weiter von der Menge Notiz zu nehmen, wanderte er durch die Straßen zum Thore hinaus, nach seiner vier Stunden entfernten Heimath Gotha zu.
    Seitdem sind dreißig Jahre verflossen, und der arme Böhner wandert noch immer und wird wohl wandern, bis er einst einkehrt in das kleine stille Haus, in dem er für immer ausruhen darf von seines Lebens Mühen. Möge sein Lebensabend ein freundlicher werden! Und deshalb, wenn Ihr auf [15] einem Thüringer Bahnhof oder in einem der Hotels der kleinen Städte den freundlichen Greis noch trefft, wenn er Euch anredet mit dem kleinen Päckchen unterm Arm und den bittenden Worten: „Lieber Herr – ein neues Musikstück von Louis Böhner,“ da wäre es doch recht hübsch, wenn Ihr dem alten Herrn recht viel abkauftet und ihm so die Sorgen der alten Tage etwas abnähmet, die wohl nun bald zu Ende gehen. Er hat so Vielen eine Freude gemacht – vergeltet’s jetzt noch dem wandernden Greis, der Euren Dank wohl verdient.
    E. Keil.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) (Quelle: Wikipedia)
  2. Jan Ladislav Dusík (Johann Ludwig Dussek, Johann Ladislaus Dussek, Jean Louis Dussek), böhmischer Pianist und Komponist (1760–1812) (Quelle: Wikipedia)