Der Zwölfte
Der Zwölfte.
Am 16. September 1809, Morgens neun Uhr, versammelte sich auf der Citadelle von Wesel eine Militair-Commission, bestehend aus dem Bataillonschef Grand und fünf andern Officieren, niedergesetzt von dem Commandanten der Festung, General Lameine, berühmt als Führer einer der „höllischen Colonnen“, welche einst die Vendée verwüsteten, um auf Befehl des Kaisers Napoleon über zwölf Officiere zu richten, die den kühnen Major von Schill auf seinem kecken Zuge gegen den französischen Tyrannen begleitet hatten und unglücklicher Weise in Kriegsgefangenschaft gerathen waren.
Nur elf dieser Officiere konnten dem Militairgericht vorgeführt werden, es waren: Leopold Jahn aus Massow in Pommern, Ferdinand Schmidt aus Berlin, Ferdinand Galle aus Berlin, Carl und Albert von Wedell aus Braunsfort in Pommern, Adolf Keller aus Straßburg in Ostpreußen, Constantin von Gabain aus Geldern, Ernst Friedrich von Flemming aus Rheinberg, Friedrich Felgentreu aus Berlin, Carl von Kessenbrink aus Krien in Pommern, Friedrich von Trachenberg aus Rathenow. Der Zwölfte, Leopold Heinrich von Wedell, fehlte, er lag schwer verwundet in Montmedy und hatte nicht nach Wesel abgeführt werden können.
Um neun Uhr trat die Militair-Commission zusammen, und um 11 Uhr waren eilf preußische Officiere, von denen Keiner noch dreißig Jahr alt war, zum Tode verurtheilt wegen Verletzung des ersten Artikels des Gesetzes vom 29. Nivose des sechsten Jahres der französischen Republik.
Napoleon gesellte doppelten Hohn zur Tyrannei, denn er ließ die preußischen Officiere, die im ehrlichen Kampfe gegen die Uebermacht gefangen waren, verurtheilen auf Grund eines französischen Gesetzes, welches keiner der Jünglinge kannte. Und wie lautete dieses Gesetz? Es lautete wörtlich: „Gewaltsame Diebstähle auf offener Landstraße, sowie Einbruch in bewohnte Häuser durch äußere Gewalt oder Leiterersteigungen werden mit dem Tode bestraft.“
Als Diebe und Straßenräuber ließ der französische Kaiser die hochherzigen Jünglinge, die für das Vaterland ausgezogen, zum Tode verurtheilen, weil sich ihr Anführer, der Major von Schill, natürlich überall, wohin er gekommen war, der feindlichen Cassen bemächtigt hatte, wie der Kriegsgebrauch ist. Das war napoleonische Gerechtigkeit; o, es ist eine gute und vorsichtige Gerechtigkeit, die kaiserlich französische, sie hatte auch schon in der Nacht vor dem Tage, an welchem die Militair-Commission zusammentrat, drei große Gräber graben lassen für die preußischen Officiere!
Nun, die Gräber waren fertig – umsonst konnte man sich die Mühe doch nicht gegeben haben? O, nein! Um 11 Uhr wurde nicht nur das Todesurtheil gesprochen, sondern auch die sofortige Execution verfügt. Die Behörden des französischen Tyrannen waren nicht ohne Besorgniß, denn eine dumpfe Gährung gab sich unter der gut preußisch gesinnten Einwohnerschaft kund, die Thore wurden schon am frühen Morgen gesperrt und die Wachtposten überall verdoppelt. Zu ohnmächtigem Groll mit den Zähnen knirschend schlichen die Einwohner durch die Straßen, und selbst die französischen Soldaten der Besatzung murrten laut über dieses blutige Tyrannenstück ihnes sonst vergötterten Kaisers. Bei einem portugiesischen Bataillon, das aus seiner Heimath hierhergeschleppt worden war, gab sich der Unwille so stark kund, daß der Commandant es auf der Esplanade antreten und bis zum Schluß der Execution unter’m Gewehr stehen ließ.
Um 1 Uhr Mittags führte man die Elf zum Tode; die zur Execution bestimmten Truppen hatten einen Leiterwagen mitgebracht, die jungen Officiere aber erklärten, daß sie als Preußen gewohnt seien, dem Tode entgegen zu gehen, und sie würden das auch heute thun! Da band man Zwei und Zwei zusammen mit Stricken an den Armen, und dann begann der Trauerzug.
Voran ein Commando Cavallerie mit schußfertigem Carabiner, dann eine Compagnie Grenadiere, darauf die Elf, umgeben von den zur Execution bestimmten Kanonieren, den Beschluß machte eine Voltigeur-Compagnie. So führte man sie hinaus, die Jünglinge, unter Trommelschlag, über die Esplanade zum Berliner Thore hinaus und von da nach dem Fürstenberge, denn die Lippe hatte den nächsten Weg zum Exercirplatze, wo die Gräber aufgeworfen waren, überschwemmt. Da die Thore geschlossen waren, so konnte keiner der Einwohner von Wesel den Trauerzug geleiten und die Einsamkeit draußen stach mächtig ab gegen die gedrängte Menschenmenge in den Straßen. Die Wälle waren dicht mit Menschen besetzt, aber die Hinrichtungsstätte war ihren Augen durch ein Gebüsch verdeckt.
In dieser Einsamkeit zogen die Schergen der fremden Tyrannei des Weges dahin mit ihren Opfern; die wenigen Menschen aber, die ihnen auf der Landstraße begegneten, die folgten dem traurigen Zuge, denn die Officiere riefen ihnen zu: „Geht mit uns und seht, wie Preußen sterben, damit Ihr’s den Landsleuten erzählen könnt!“
Kalt und ruhig, mit männlicher Fassung marschirten die Elf auf in den weiten Halbkreis, den die französische Besatzung auf dem Richtplatze, nahe an der Düsseldorfer Landstraße, bildete.
Dumpf und hohl klang das französische Commando über die offenen Gräber. Man wollte den Opfern des Tyrannen die Augen [306] verbinden, wie’s Brauch ist beim Erschießen, aus einem Munde aber weigerten sich die Elf. Sie wollten, wie’s preußischen Soldaten ziemt, mit offenen Augen dem Tode entgegen gehen.
Sechsundsechzig französische Kanoniere traten an zur Execution, die Elf umarmten sich mit dem einen Arm, den sie frei hatten, dann stellten sie sich in eine Reihe, entblößten Brust und Hals und riefen den Franzosen zu, die preußischen Herzen nicht zu fehlen.
„Fürchtet nichts,“ lautete die Antwort, „die französischen Kanoniere zielen gut!“
„Fürchten?“ riefen die Elf, „wir Preußen fürchten keine französischen Kugeln!“
Die Kanoniere nahmen die Gewehre auf, und Friedrich von Flemming, der am äußersten linken Flügel stand, machte sich nach Verabredung fertig, selbst das Zeichen zu geben. Als die Franzosen im Anschlage lagen, warf er seine Mütze in die Höhe und riefen alle mit schallender Stimme: „Es lebe der König! Preußen hoch!“
Die Salve krachte, und zum Tode getroffen sanken die an einander Gebundenen lautlos nieder; nur Albert von Wedell, der achtzehnjährige Jüngling, richtete sich noch einmal auf unter den blutenden Leichen, seine rechte Seite war von den Kugeln zerrissen, aber mit starker Stimme rief er: „Könnt Ihr nicht besser treffen, Franzosen? hierher, hier sitzt das preußische Herz!“
Eine zweite Section trat vor und lud die Gewehre; welche Minuten voll bangem Entsetzen! Einige hofften, die Franzosen würden dem muthigen Jüngling das Leben lassen, viele der Feinde selbst hätten’s sicher gern gethan, aber der kaiserliche Blutbefehl lautete bestimmt, und wer hätte es gewagt, dem Befehl des Kaisers entgegen zu handeln? Ein Tyrann herrscht nur über Sclaven, Sclaven aber gehorchen blind, bis sie meutern!
„Feuer!“ commandirte Albert von Wedell, und das barmherzige Blei bettete ihn sanft neben seine Waffenbrüder!
In die offenen Gräber warf man die Leichen der Elf, französische Soldaten schaufelten sie zu, und Weseler Bürger bezeichneten in der Nacht nach der Execution die Stätte, wo die edlen Opfer fremder Tyrannei zum ewigen Schlaf gebettet waren in vaterländischer Erde.
Das waren die Schüsse zu Wesel am Glacis, mit deren Krachen der fremde Imperator am 10. September den deutschen Zorn zu schrecken gedachte. Es kam aber anders; der Knall jener Schüsse weckte den Zorn auf, wo er bis dahin noch geschlummert. Wie der schöne Morgenstern der Befreiung war der Schill aufgegangen am deutschen Himmel, er ging unter in dem Pulverdampf am Glacis zu Wesel, aber der Morgenstern geht unter, wenn der Morgen kommt, den er verkündet hat, der Morgen des Befreiungstages!
An einem Novembertage des Jahres 1809 herrschte zu Cherbourg, der starken französischen Seefestung, welche, das britische Portsmouth gegenüber bedräuend, am Canale thront, eine ganz ungewöhnliche Thätigkeit, denn die Sprengarbeiten an dem Riesenbassin, welches Napoleon im Jahre zuvor auszusprengen befohlen hatte, waren beendet, und es galt nun, die Steintrümmer so schleunig als möglich zu entfernen, damit der großartigste Schutzhafen für französische Schiffe alsbald vollendet werde. In Tausenden von Karren wurden Erde und Steingeröll über die Equerdreville- und Couplets-Hügel im Rücken des Homet-Forts abgeführt; schwere Arbeit, aber noch schwerere Arbeit wird leicht durch Lust und guten Willen! doch hier hört man keinen ermunternden Gesang, hier tönt kein erfrischendes Wort, hier arbeitet Niemand mit Lust und gutem Willen. Tiefe Stille herrscht, man hört nur das Kreischen der Räder, das Schnaufen der schwer arbeitenden Männer und den zornigen Zuruf der strengen Aufseher. Doch man hört noch ein Geräusch, ein Geräusch, bei dem selbst feste Männerherzen beben, man hört das Klirren der Ketten; denn die hier arbeiten, alle sind in Ketten geschmiedet, sie müssen arbeiten in Ketten – Gott erbarme sich!
Halb nackt, denn die Kleidung vom gröbsten Segeltuch reicht kaum aus, die Blöße zu bedecken, ziehen die Unglücklichen, die immer zu Zwei an eine Kette geschmiedet sind, in stummer Wuth oder schon in thierischer Gleichgültigkeit, die wenigsten in männlicher Fassung, mit keuchendem Odem den Karren bergauf.
Schwere Arbeit in Ketten! aber drüben donnert das ewige Meer und sein erfrischender Hauch weht auch um die Stirn des Galeerensträflings, die Sonne leuchtet und ihre Strahlen vergolden nicht nur den Knopf des Kirchthurms, sondern auch das Elend des Bagno-Gefangenen. Der Galeerensträfling, er ist bei schwerster Arbeit glücklicher als der Gefangene in der Tiefe des Thurmes, zu dem kein Sonnenstrahl dringt und kein Hauch von frischer Luft, der nichts hört als das Klirren seiner Ketten, für den die Stimme seines Kerkermeisters Musik geworden ist. Galeerensclave du, mit dem blauen Auge und dem jugendlichen Antlitz, was du auch verbrochen haben magst, wer da Gewalt über dich hat, er hätte schlimmer mit dir verfahren können: er schmiedete dich an die Kette, aber er hat dir das Licht gelassen, er bedeckte dich mit Lumpen, aber er hat dir die Luft gelassen – das ist der Galeerentrost!
Der jugendliche Sclave richtete sein Haupt stolz auf, der Schweiß rann ihm von der bleichen Stirn; ein Gleiches that der an eine Kette mit ihm geschmiedete Bärtige; Beide standen straff und fest, militairisch die Haltung, und stummer Groll loderte aus ihren Blicken. Der jugendliche Galeerensclave da mit den zornigen Augen und dem wehmüthigen Munde, das ist der „Zwölfte“; die Elf andern liegen vor dem Glacis zu Wesel im kühlen Grabe, der Zwölfte zieht in Ketten zu Cherbourg an der Karre, ein Galeerensclave des französischen Tyrannen!
Die Schüsse zu Wesel am Glacis hatten nicht den erwarteten Erfolg gehabt, es waren nicht Droh- und Schreckschüsse für Preußen und Deutschland geworden; sie hatten vielmehr, vom Echo durch ganz Deutschland getragen, eine so allgemeine Erbitterung und so bedenkliche Aufregung erzeugt, daß der fremde Despot es nicht wagte, auch den Zwölften noch nachträglich erschießen zu lassen. Er machte den preußischen Officier zum Galeerensclaven, er begnadigte ihn nach Cherbourg zu Kette und Karre! Bonapartische Großmuth!
So wurde Leopold Heinrich von Wedell, der Sohn einer alten neumärkischen Familie, die sich seit Jahrhunderten in alle Reiche des Nordens verbreitet hat, Galeerensträfling, weil er als ein Held gefochten und gefangen worden nach männlichem Widerstande. Der große Kaiser wagte den Zwölften nicht erschießen zu lassen, darum an die Kette mit ihm!
Leopold Heinrich von Wedell, Lieutenant im Regiment des Prinzen Louis, schlug sich heldenmüthig in Preußens dunkelsten Stunden bei Auerstädt 1806. Er erhielt eine Kugel in den Unterleib, ritt aber auf dem Pferde seines gebliebenen Majors, die Wunde im Leib, den Gram um das Vaterland im Herzen, von Auerstädt bis nach Magdeburg, um nur nicht in französische Gefangenschaft zu fallen. Schwer erkrankt und in Todesnoth vernahm er hier nach einiger Zeit das Gerücht, Magdeburg wolle capituliren; sofort machte er sich auf, denn er wollte keinen Theil haben an der brennenden Schmach, die damit dem preußischen Namen angethan wurde. Der Schwerverwundete, begleitet von seinem ältern Bruder, schleppte sich fort; er folgte dem Corps Blücher’s nach, aber auch das ging verloren durch die Capitulation von Lübeck, noch bevor er’s zu erreichen vermochte. Der Lieutenant von Wedell rettete sich nach Dänemark, ließ sich in Kopenhagen heilen und gelangte mit seinem Bruder zur See nach Königsberg, wo ihn sein König sofort bei dem Garde-Reserve-Bataillon wieder anstellte. Den vergifteten Tilsiter Frieden aber vermochte der feurige junge Mann nicht zu ertragen, von grimmigem Franzosenhaß bewegt, nahm er im Jahre 1808, als jede Aussicht auf einen nahen Krieg geschwunden war, den Abschied und schloß sich jenen treuen Patrioten und kühnen Männern an, welche sich bemüheten, einen Aufstand in den Landen zwischen Weser und Elbe zu organisiren und durch denselben das Spottkönigreich Hieronymi von Westphalen umzuwerfen. Es ist bekannt, welchen traurigen Ausgang diese Schilderhebung unter Dörnberg nahm. Flüchtig irrte der Lieutenant von Wedell durch die Lande, von Versteck zu Versteck folgten ihm die Häscher des Spottkönigs „Kehrum“, wie die Westphalen seinen verdammten französischen Namen „Jerome“ auszusprechen beliebten: da, im Frühjahr 1809, sah Wedell plötzlich den Säbel blitzen in Schill’s Faust, er vernahm die muthigen Klänge der Trompeten vom ruhmreichen zweiten Brandenburgischen Husaren-Regiment, die den französischen Kaiser, den Unterdrücker [307] aller Völker, furchtlos herausforderten zum Kampfe! Leopold Heinrich von Wedell wurde ein Officier Schill’s. Aber schon in dem ersten Gefecht, bei Dodendorf unweit Magdeburg, wo Schill die französisch-westphälischen Truppen trotz ihrer Uebermacht sprengte und in die Flucht jagte, hatte Wedell das Unglück gefangen zu werden. Er hatte sich verzweifelt gewehrt, er blutete schon aus mehreren Wunden, aber erst eine Kugel, welche er in die linke Hüfte erhielt, streckte ihn nieder und gab ihn in die Hände seiner Feinde, welche den Schwerverwundeten über Magdeburg und Kassel nach Montmedy schleppten. Im Gefängniß zu Kassel sah er seinen treuen Freund, den Obersten Emmerich, der drei Tage nachher auf Napoleons Befehl erschossen wurde. Im Gefängniß zu Montmedy sah er seine elf Cameraden, die elf Andern, die zu Wesel erschossen wurden; ihn, den Zwölften, schickte der große Zwingherr nach Cherbourg an die Karre!
Er ward vielfach bevorzugt in Cherbourg, der tapfere Wedell, an sich selbst erfuhr er des französischen Kaisers höllische Großmuth im reichsten Maße, denn er wurde nach seiner Ankunft im Bagno nicht gebrandmarkt, ihm wurden weder die zwei, noch die drei verhängnißvollen Buchstaben[1] auf die Schulter gebrannt.
Freilich erhalten nur Räuber und Mörder diese entehrende Brandmarke, aber der große Kaiser, der die Elf zu Wesel wegen Straßenraub hinrichten ließ, der konnte ja auch den Zwölften zu Cherbourg wegen Straßenraub brandmarken lassen! Wer hätte ihn daran hindern können? Reine Großmuth, daß es nicht geschah, bonapartische Großmuth!
Nicht allein befand sich Wedell unter den französischen Mördern, Giftmischern und Spitzbuben; o nein, er fand dort zahlreiche deutsche Gesellschaft, brave Soldaten und patriotische Ehrenmänner genug, die dort an Kette und Karre zogen! So Mancher, der damals spurlos verschwand aus dem deutschen Vaterland, den Weib und Kind und Freunde nimmermehr wiedersahen, er wäre zu jener Zeit in Cherbourg nicht vergebens gesucht worden, 1813 freilich moderten seine Gebeine schon längst in den großen allgemeinen Begräbnißgruben hinter dem Fort Roucoulles.
Einen von den deutschen Landsleuten gab man dem Lieutenant von Wedell zum Genossen an der Kette, man schmiedete ihn zusammen mit einem Kriegs- und Unglücksgefährten, mit einem gefangenen Schill’schen Unterofficier. Das ist der Bärtige, der so parademäßig straff neben dem bleichen Jüngling an der Karre steht. Die bonapartische Großmuth gab ihm einen Genossen im Leiden!
Wenn die Galerensclaven am Morgen zur Arbeit mußten, dann wurden sie auf dem Wege zum Kaiser-Bassin durch die Hafenstraße „getrieben“ von ihren Aufsehern. Die getriebene Heerde zog regelmäßig auf der einen Seite der Hafenstraße hinaus und kehrte auf der andern zurück. Auf dem Rückwege war die Aufsicht der Treiber lässiger, man vergönnte den Getriebenen, die von der Arbeit meist völlig erschöpft waren, einige Nachsicht, man ließ sie so langsam gehen, als sie mochten, überzeugt, daß sie sich wenigstens so viel beeilen würden, um die karge Abend-Ration im Bagno noch zu empfangen; an eine Flucht dachte Niemand, eine solche war, wenn auch nicht unmöglich, so doch völlig nutzlos, da die Wiederergreifung unvermeidlich.
Seit einiger Zeit schon waren Wedell und sein Unglücksgefährte, der Schill’sche Unterofficier, immer die Letzten beim Heimzuge in die Stadt; waren sie die Erschöpftesten? Benutzten sie diese Minuten ungestörten Beisammenseins, um vom Vaterlande und ihren Lieben in der Heimath zu reden? oder hatten sie einen andern Grund?
In der Hafenstraße zu Cherbourg, gerade an der Ecke der Seilergasse, steht ein alterthümlich stattliches Haus mit vorspringendem Erker im ersten Gestock und einer Wetterfahne darauf. In diesem Hause wohnte ein alter Herr, Namens de Lachétardie, ein höherer Beamter der Hafenverwaltung von Cherbourg, mit seiner Familie, welche aus einer schon verwittweten Tochter mit mehrern Kindern bestand.
An einem der Fenster zu ebener Erde in dem alterthümlichen Hause blieb das letzte Paar der Galeerensträflinge regelmäßig stehen beim Heimzuge und ruhete dort einige Augenblicke. Anfänglich mochte das Niemandem auffallen, nach und nach aber wurde es doch bemerkt; zuerst durch die Kinder des Hauses, welche sich vor dem bleichen Gesicht fürchteten, mit welchem der junge Galeerensträfling jeden Abend durch das Fenster hereinstierte in das große Gemach, in dem sie ihre Spiele trieben. Nach und nach gewöhnten sich die kleinen Mädchen an das bleiche Gesicht Wedell’s sowohl wie an das bärtige seines Begleiters. Bald warteten sie auf „ihre“ Galeerensclaven, wurden unmuthig, wenn diese zu lange auf sich warten ließen; und sie öffneten endlich das Fenster, um kurz und gut mit ihnen zu plauderten. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter der kleinen Mädchen bald Kunde von der Freundschaft erhielt, welche ihre Töchter mit zwei Galeerensträflingen geschlossen; der guten Dame war die Sache bedenklich, sie examinirte gar scharf und erfuhr, daß der bleiche Mann Henri heiße, der spreche niemals ein Wort mit ihnen, sondern blicke nur nach dem großen alten Bilde an der Wand mit seinen schönen, traurigen blauen Augen und gehe dann seufzend weiter; der Andere aber mit dem großen Rothbart heiße Frédéric, der sei lange so traurig nicht wie sein Gefährte, der spreche mit ihnen ein Wenig, nenne sie „mamselles“, was sehr komisch klinge, und esse alle Butterbröde und alle Aepfel, die sie ihm gegeben.
So lauteten die Mittheilungen der Kinder.
Die Mutter beschloß noch am selben Tage die Sträflinge zu erwarten und sie zu beobachten, denn trotz der scheinbaren Unverfänglichkeit war die gute Frau nicht ganz ohne Sorge; konnten die Gesellen nicht die Gelegenheit zu einem Diebstahl auskundschaften wollen?
Und an demselben Abend zogen die Unglücklichen wie gewöhnlich in langer Reihe an den Fenstern vorüber, hinter welchem die Kinder standen; endlich kam das letzte Paar, der Schill’sche Lieutenant und sein Unterofficier. Wedell nickte den Kindern traurig, aber freundlich zu, lehnte sich an den Sims und schaute auf ein ziemlich großes Oelbild in ovalem Goldrahmen, welches an der Seitenwand hing und eine Dame in ganz alterthümlicher Tracht und seltsamem Kopfputz darstellte. Es war eine Verwandte der Familie, gegen Ende des 17. Jahrhunderts gemalt und in der Tracht jener Zeit, übrigens sichtlich ein werthvolles Bild von der Hand eines Meisters.
Die kleinen Mädchen reichten ihrem bärtigen Freunde Frédéric ihre Butterbrödchen, dieser stammelte sein: „merci, petite mamselle!“ und nickte gutmüthig zu allen Fragen, welche die Kinder reichlich an ihn richteten, weil er offenbar keine derselben verstand. Die Mutter, die sich anfänglich in dem Hintergrunde gehalten und sofort erkannt hatte, daß die Beiden keine Verbrecher, sondern unglückliche fremde Kriegsgefangene waren, trat jetzt hervor und fragte, sich an Wedell wendend, dessen jugendliche Erscheinung sie gerührt haben mochte: „Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?“
Der Lieutenant, aufgeschreckt aus der Betrachtung des Bildes, verneigte sich leicht vor der plötzlich hervortretenden Dame und zog sich mit einem leisen: „pardon, Madame!“ zurück, indem er mit seinem Genossen sofort weiter schritt.
Betroffen stand die Dame, denn die Art, wie der Galeerensträfling seine Entschuldigung machte, seine Verneigung, sein rasches Zurückziehen endlich gaben ihr die Ueberzeugung, daß dieser junge Mann die beste Erziehung genossen haben müsse; sie war von dem Augenblick an in ihrem milden Herzen fest entschlossen, die traurige Lage desselben nach Kräften zu erleichtern.
Am andern Abend harrten Mutter und Töchter in gleicher Spannung beinahe ihrer Freunde an der Kette, dieselben erschienen auch und wie gewöhnlich zuletzt, gingen aber an dem Fenster vorüber, wobei Wedell nach der andern Seite der Straße blickte, während Frédéric nicht umhin konnte, seinen kleinen Freundinnen wehmüthig zuzunicken. Wir lassen dahingestellt sein, wieviel von der Wehmuth des braven Schill’schen Unterofficiers auf die Butterbröde kam, welche die „petites mamselles“ für ihn bereit hielten. Die kleinen Französinnen waren übrigens auch keineswegs gesonnen, sich in ihrem Verkehr mit den Fremden ohne Weiteres stören zu lassen, sie schalten und weinten und waren höchst unartig gegen ihre Mama, indem sie, nicht ohne Grund, behaupteten, daß deren Erscheinung allein ihre Freunde gestern gestört, heute aber verhindert habe, an das Fenster zu treten und sich mit ihnen zu unterhalten. Madame Noirot hatte Mühe, die Ungezogenen zu beruhigen, sie vertröstete dieselben auf den folgenden Abend.
Am folgenden Abend aber gingen die beiden Schill’schen nicht [308] wie gewöhnlich zuletzt, sondern mitten im Zuge, sie hielten nicht an bei dem Fenster und wurden von den Kindern eigentlich erst entdeckt, als sie schon vorüber waren. Ein Mal konnte das Zufall sein, als aber auch in den nächsten Tagen die Beiden niemals, wie sonst immer, die Letzten waren, da erkannte die Dame, daß die Männer sich geflissentlich zurückhielten, und war nun zweifelhaft, ob sie überhaupt ein Recht habe, diese Zurückhaltung zu übersehen und sich fürder um die Fremden zu bekümmern. Vielleicht wäre die Geschichte damit zu Ende gewesen, doch hatte das bleiche, kummervolle Gesicht Wedell’s und sein edler Anstand zu tiefen Eindruck auf die gutherzige Frau gemacht, und überdem mahnten sie die Kinder täglich an „Henri“ und „Frédéric“; interessirte sich die Mutter mehr für den Ersteren, so war den Kindern der Letztere ganz entschieden interessanter. Frau Noirot sprach mit ihrem Vater, Herrn de Lachétardie; der alte Employé war lange nicht so zartfühlend wie seine Tochter, er lachte sie ganz tüchtig aus und wollte nichts von den beiden seltsamen Schützlingen seiner Tochter und seiner Enkelinnen wissen. Glücklicher Weise besann sich die etwas beschämte Frau noch zuletzt darauf, daß der jüngere Kettenträger mit starren, traurigen Blicken das Bild der Urgroßtante betrachtet habe; glücklicher Weise besann sie sich darauf, denn die meisten Frauen pflegen das Wichtigste ganz praktisch zuerst zu erzählen, oder es ganz zu vergessen! Diese Mittheilung machte einen tieferen Eindruck auf den alten Employé des Hafens, als seine Tochter erwartet haben konnte, und am folgenden Abend stand er versteckt hinter seinen Enkelinnen am Fenster und ließ sich die beiden Schillianer zeigen, die im Zuge mit gesenkten Häuptern müde dahinschlichen, aber bei dem alten Hause doch die Blicke erhoben und, als sie die Dame nicht bemerkten, die Kinder freundlich grüßten. Die kleinen Aeffchen klatschten vergnügt in die Hände, und Florine, die keckere, ältere Schwester, warf ihrem bärtigen Freunde Frédéric sehr eifrig Kußfinger zu. Ein eigenthümlich Geschlecht diese Französinnen, als Kinder schon auf „la belle passion“ ganz leidlich eingerichtet!
Am andern Tage begab sich Herr de Lachétardie zu einem der Arsenalofficiere, unter welchem die Sträflinge des Bagno standen; dem erzählte er den Vorgang, und die sehr befreundeten alten Herren beschlossen, sich sofort die beiden Schill’schen vorführen zu lassen und sie zu befragen. Als dieselben eintraten, sagte der Arsenalofficier zu Wedell: „Hier ist Herr de Lachétardie, einer der Hauptsecretaire der Hafenverwaltung, welcher einige Fragen an Sie zu richten wünscht!“
Verwundert schauten die Preußen auf, denn schon diese höfliche Anrede von Seiten eines französischen Officiers war etwas so Außerordentliches in ihrer Lage, daß sie es kaum zu begreifen vermochten. Wenn man im groben Leinenhemd des Sträflings die Karre schiebt, dann spürt man nichts von der berühmten französischen Höflichkeit.
„Meine Freunde,“ begann Herr de Lachétardie sehr freundlich, „ich bewohne ein Haus an der Ecke der Hafenstraße und Seilergasse, an welchem Sie täglich vorüberkommen, wenn Sie zu Ihrer Arbeit geführt werden und von derselben zurückkehren. Sie pflegten eine Zeitlang bei der Rückkehr vor diesem Hause zu verweilen, aufmerksam ein Bild, das Portrait einer Dame zu betrachten, das dort an einer Seitenwand hängt, und mit den Kindern am Fenster, meinen Enkelinnen, zu plaudern; seit mehreren Tagen schon thun Sie das nicht mehr. Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, ob Sie ein besonderes Interesse für das Bild haben und warum Sie nicht mehr mit den Kindern plaudern? Die erste Frage wünschte ich für meine Person gern beantwortet, zu der zweiten haben mich meine Enkelinnen genöthigt, welche durchaus die Abendunterhaltungen am Fenster fortsetzen wollen.“
Herr de Lachétardie sprach mit einer gewissen Verlegenheit, in welcher er sogar scherzhaft zu werden versuchte, denn er vermochte den Ton nicht zu finden, Galeerensträflingen gegenüber, die er nach den Mittheilungen seiner Familie für anständige Menschen hielt.
„Mein Herr,“ antwortete Wedell in gutem Französisch und tief gerührt, denn den tapfern Officier, der sich seit seiner Gefangenschaft als Verbrecher behandelt sah, rührte es wirklich tief, daß ein Franzose zu ihm trat, dessen Worte Theilnahme und menschliches Fühlen verriethen, „mein Herr, haben Sie Dank dafür, daß Sie einem Unglücklichen nicht zürnen, der, ein Bild betrachtend, einige Augenblicke sein entsetzliches Schicksal vergaß und der Heimath gedachte, an die ihn jenes liebe Frauenbild erinnerte. Für die Freundlichkeit Ihrer lieben Enkeltöchter wird Ihnen mein Leidensgenosse danken, der den Verlust schwer und nur aus Liebe zu mir getragen hat, weil ich der Ansicht war, es schicke sich nicht für Sträflinge, eine Dame durch unsere Dreistigkeit zu stören!“
„Sie waren sehr im Irrthum, mein Herr!“ begann der alte Beamte nach einer kurzen Pause, während welcher er die Beiden scharf gemustert hatte; er nannte Wedell auch schon „monsieur“, denn er wußte sehr bestimmt, daß er keinem Verbrecher gegenüber stand. „Sie waren sehr im Irrthum, denn alle diese Damen da, die Mutter wie die Töchter, interessirten sich auf’s Lebhafteste für Sie, und meine Tochter hat so schmerzlich empfunden, daß sie einem Unglücklichen seine einzige Freude vielleicht gestört hat. Dürfen Sie mir sagen, welchen Antheil Sie an dem Portrait der Dame nehmen? Sind Sie vielleicht Künstler? Das Bild ist von Poinsonnet, dem geschickten Hofmaler des Herzog-Regenten von Orleans, wenn auch, wie man mir sagt, eine Jugendarbeit. Poinsonnet ist hier zu Cherbourg geboren, seine Familie war mit der meinigen verwandt.“
„Ich bin kein Künstler,“ entgegnete Wedell, „ich glaube kaum, daß ich so viel von der Malerei verstehe, um ein gutes Bild von einem schlechten unterscheiden zu können; ich bin Soldat, mein Herr, preußischer Soldat, ein unglücklicher Officier vom Corps des Major von Schill; ich wurde mit andern Cameraden kriegsgefangen, meine elf Cameraden hat Ihr Kaiser vor etlichen Wochen erschießen lassen, mich, den Zwölften – ich weiß nicht wodurch ich solche Großmuth verdient habe – hat er zu Kette und Karre begnadigt und mich hierher gesendet!“
Die Art und Weise, in welcher Wedell das sagte, war nicht zornig, aber sie verrieth die tiefste Empörung und verfehlte ihres Eindrucks auf die beiden guten alten Herren nicht.
„Pauvre jeune homme!“ flüsterte der Arsenalofficier.
Herr de Lachétardie wischte sich die Augen mit einem riesenhaften, gelbseidenen Taschentuche, welches fast betäubend stark nach Moschus roch; er fragte nicht weiter.
[334] „Doch reden wir von dem Bilde der hübschen Frau, mein Herr,“ fuhr Wedell voll männlicher Fassung fort. „Das Bild erinnerte mich an meine Heimath, mein Vaterland, an schöne Tage, welche ich in Berlin verlebt habe. Dort wohnte ich bei der Großtante eines meiner lieben Cameraden, die Ihr Kaiser jüngst zu Wesel füsiliren ließ; die alte Dame war die Wittwe eines reichen Seidenhändlers, bewohnte ein schönes Haus in der Friedrichsstraße, und in ihrem Wohnzimmer hing ein Bild in ovalem Goldrahmen, welches entweder das Original Ihres Bildes ist, mein Herr, oder eine Copie desselben, jedenfalls stellt es ganz dieselbe Dame dar, ich kann mich darüber nicht täuschen! Jetzt werden Sie begreifen, warum der Galeerensträfling auf das offene Fenster Ihres Hauses schaute und sehnsüchtig nach dem Bilde blickte, das ihn an vergangene schöne Tage erinnerte!“
„Dürfen Sie mir den Namen der Wittwe in Berlin sagen, welcher jenes Bild gehörte, mein Herr?“ fragte der alte Employé, der mit jedem Wort, welches er aus Wedell’s Munde vernahm, artiger und höflicher wurde.
„Ich habe keinen Grund, ein Geheimniß aus dem Namen der guten Madame Gabain zu machen!“ erwiderte Wedell.
„Gabain?“ rief de Lachétardie sichtlich auf’s Höchste überrascht, „Gabain, höre ich recht, Gabain? Wissen Sie, mein Herr, daß meine Urgroßmutter eine Gabain war, die ganz allein von ihrer ganzen Familie im Lande geblieben, während alle übrigen Glieder derselben nach Holland und Brandenburg auswanderten einige Jahre nach der Revocation des Nanteser Edictes. Die Gabain waren Hugenotten, mein Herr; wir de Lachétardie sind auch von der Religion; sehen Sie, mein Herr, Sie haben in Berlin weder die Copie noch das Original meines Bildes gesehen; das, was Sie zu Berlin sahen, ist sicherlich das Portrait meiner eigenen Urgroßmutter. Das Bild aber, das in meinem Hause hängt, ist das Portrait meiner Urgroßtante, der Mademoiselle Esther Marie Gabain, welche sich mit ihren Eltern und Verwandten nach Brandenburg flüchtete, aber ihrer an meinen Urgroßvater, den Commandeur Franz Anton Nogaret de Lachétardie, verheiratheten Schwester ihr Bild hier ließ, während sie das Bild meiner Großmutter mit in die Verbannung nahm. Also giebt es noch Gabain’s in Preußen? hier habe ich lange den Namen nicht mehr vernommen – wissen Sie nichts weiter von der Familie, mein Herr?“
„Wenig, mein Herr,“ erwiderte Wedell, „außer der alten trefflichen Dame, die, wie ich wohl weiß, zu der sogenannten französischen Colonie gehört, kannte ich nur meinen theuern Waffenbruder, den Lieutenant von Gabain, der unter den Elfen zu Wesel war, doch erinnere ich mich, daß in Berlin noch eine berühmte Seidenhandlung unter dem Namen Gabain besteht!“
Nur wenige Worte wechselte der Employé noch mit den Preußen, oder vielmehr mit Wedell, denn der tapfere Unterofficier Friedrich Kühns, ehemals beim leichten Bataillon von Schill, bediente sich in allen Fällen des preußischen Säbels besser, als der französischen Sprache. Die beiden Schillianer wurden zurückgeführt, und de Lachétardie blieb allein mit dem Arsenalofficier.
Von diesem Tage an wurden Wedell und sein Gefährte von allen Aufsehern mit auffallender Nachsicht behandelt, sie erhielten von unbekannter Hand bessere und reichlichere Nahrung, auch für ihre Bekleidung wurde gesorgt. Jetzt waren sie stets das letzte Paar bei der Rückkehr vom Bassin, und niemals verfehlten sie von nun ab, an dem alterthümlichen Eckhause stehen zu bleiben. Wedell wechselte freundliche Worte mit Herrn de Lachétardie und Madame Noirot; der Unterofficier Kühns plauderte mit den kleinen Damen Florine und Dorine, genoß Butterbrödchen und Bonbons in fabelhafter Anzahl und vervollkommnete sich, wie er selbstgefällig bemerkte, täglich mehr in der französischen Sprache.
Der alte Employé aber that mehr für den hartgeprüften, jungen Mann, er hatte sich mit den Gabain’s zu Berlin in Verbindung gesetzt, durch sie hatte er der Familie von Wedell Nachricht über Heinrich Leopold gegeben, und von da ab fehlte es nicht [335] an gewichtigen Verwendungen für ihn, Napoleon aber hielt den Zwölften fest und gab ihn nicht frei. Unter der Hand erlangte de Lachétardie aber doch, daß der unglückliche Officier, nachdem er etwa acht Monate an die Kette geschmiedet gewesen und Steine gekarrt hatte, von der Kette und der Karre befreit und mit Schreiberei im Bureau des Bagno beschäftigt, auch als Dolmetscher zwischen den französischen Officieren und den zahlreichen deutschen Kriegsgefangenen gebraucht wurde. Aehnliche Vergünstigungen wurden auch seinem Gefährten, dem Unterofficier Kühns, zu Theil. Von dieser Zeit an durften die beiden Preußen auch von Zeit zu Zeit das Haus des Herrn de Lachétardie besuchen und dort einige Stunden verweilen. Es versteht sich von selbst, daß sie dort nicht wie Sträflinge behandelt wurden.
Gewiß erkannte Wedell mit dankbarer Rührung die Mühe an, die sich der ehrliche Lachétardie gab, um ihm sein schweres Loos zu erleichtern, und gewiß würden Viele, die an der Stelle Wedell’s solche Theilnahme gefunden, wenn auch nicht befriedigt, sich doch dadurch getröstet gefühlt haben; die Meisten würden auch den süßern Trost nicht verschmäht haben, den die Augen der schmucken Madame Noirot oft recht ausdrucksvoll verhießen, mit dem Wedell aber wollte es nicht also ausgehen! Er wurde von Tage zu Tage trüber und zorniger in seiner Seele, ja, es kamen Stunden, in denen er sich der Schwäche anklagte, daß er die Erleichterungen seiner Lage angenommen; er verurtheilte sich hart darum, und wirklich, dem Galeerensträfling, der im zerrissenen Linnen an die Kette geschmiedet Steine karrte und hungerte, dem war leichter im Gemüth gewesen, als dem, der warm gekleidet und genährt am Schreibtisch des Gefängnißwärters Dienste thun und so gewissermaßen doch den Helfer der bonapartischen Schergen gegen seine preußischen und deutschen Landsleute machen mußte. Die geistigen Leiden des jungen Officiers waren jetzt größer, als ehedem die leiblichen!
Im Jahre 1810 erfuhr Wedell, daß sein älterer Bruder Carl, sein Spielkamerad von Halle, sein Schulgenosse von Kloster-Bergen bei Magdeburg, der mit ihm gewesen auf Reisen und im Schlachtgetümmel, der ihn treu begleitet von Magdeburg nach Kopenhagen und von dort zur See nach Memel; kurz, daß sein Bruder Carl, der Hauptmann im Leib-Grenadier-Bataillon war, der preußischen Gesandtschaft in Paris attachirt worden sei. Der unglückliche Galeerensträfling wußte, daß jetzt das Aeußerste geschehen werde, um seine Befreiung zu erwirken.
Er kannte die gewaltige Energie und Geschicklichkeit seines Bruders, er durfte hoffen und er hoffte in peinlichster Spannung!
Carl von Wedell war 1806 Adjutant seines Vaters, des Generals von Wedell, der früher in Halle an der Saale, wo seine Söhne geboren wurden, bei dem berühmten Regimente des alten Dessauers (Anhalt-Dessau, später von Thadden, 1806 von Renouard) stand. General von Wedell setzte sich bei Auerstädt an die Spitze dieses alten berühmten Regiments; zum letzten Male als Marsch schmetterten die schrillen Töne des Marsches von Cassano, den der alte Schnurrbart von Dessau „unseres lieben Herrgotts Dragonermarsch“ nannte, den aber die Welt als den „Dessauer Marsch“ kennt, zur Attaque, siegreich drang das Regiment vor, der General von Wedell wurde erschossen, sein Sohn und Adjutant blessirt, aber das glorreiche Regiment des alten Dessauers zog auch vom Auerstädter Schlachtfelde mit Ehren ab; es marschirte in guter Ordnung nach Magdeburg und brachte auch dahin die von ihm gemachten französischen Gefangenen, unter denen sich 18 Officiere befanden. Ein solcher Zug thut wohl neben dem ekeln Wust von Schwäche, Feigheit, Verrath und Erbärmlichkeit in jenen Tagen. Wie Carl von Wedell mit seinem schwerverwundeten Bruder von Magdeburg über Kopenhagen nach Preußen kam, ist bereits erwähnt. Er wurde dem General von Benningsen beigegeben, zeichnete sich sehr aus, erhielt neben preußischen und russischen Orden die Erlaubniß, einer Campagne gegen die Türken beiwohnen zu dürfen.[2]
Dieser Wedell war jetzt in Paris, in einflußreicher Stellung, und sein Bruder auf der Galeere hoffte von Tag zu Tag mit größter Spannung, aber er hoffte vergebens. Carl von Wedell verließ Paris im Jahre 1811, ohne seines Bruders Freilassung erwirkt zu haben. Er hatte es nicht an Bemühungen fehlen lassen, er hatte alle Mittel erschöpft, die sich mit der Ehre vertrugen; zuletzt hatte der Unglückliche aus dem Bagno selbst noch eine Bittschrift eingesendet, in welcher er den französischen Gewalthaber geradezu bat, ihn doch, wie seine Cameraden, wie die andern Elf, erschießen zu lassen. Es war Alles umsonst gewesen.
Napoleon hielt den Zwölften fest.
Als Carl von Wedell Paris verlassen hatte, fiel sein Bruder Heinrich Leopold in eine tiefe Schwermuth, jedoch nur für kurze Zeit, dann raffte er sich auf und trug sein schweres Schicksal mit Ernst, ja, mit einer Würde, die ihn zu einer geachteten Person im Bagno machte. Er hatte die Sträflingsjacke geadelt!
Uebrigens hatte der Bruder seiner nicht vergessen in der Heimath, er setzte dort Alles in Bewegung für den Gefangenen, und Napoleon staunte nicht wenig, als plötzlich sogar vom kaiserlich russischen Hofe Verwendungen für den „Zwölften“ eingingen; doch beharrte er mit dem rücksichtslosen Eigensinn seines Wesens darauf, jede Bitte abzuschlagen, bis er endlich im Jahre 1812, als König Friedrich Wilhelm III. abermals eine neue Verwendung für den unglücklichen Officier eintreten ließ, in dessen Entlassung willigte, weil er damals sich dem Könige gefällig erzeigen wollte, welchen er zum Bundesgenossen gegen Rußland wünschte.
So wurde der „Zwölfte“ frei und er kehrte heim in sein Vaterland, krank und arm, denn sein Vermögen war völlig geopfert und er selbst fast ein Fremdling geworden in der Heimath. Aber er war frei und kehrte heim! das war genug für ihn, sein Auge leuchtete und fest drückte er die Hand auf das pochende Herz. Einen herzlichen Abschied nahm er von dem alten Herrn de Lachétardie und dessen Familie, Madame Noirot selbst war in sehr weicher Stimmung, und ihre Töchter Florine und Dorine schluchzten laut, denn auch ihr Freund, der bärtige Unterofficier Friedrich Kühns, war in gleicher Weise frei geworden und hatte Erlaubniß erhalten, seinen Offizier zu geleiten.
So kamen diese beiden Schill’schen heim; sie zogen durch Frankreich und hörten, wie die Mütter jammerten und die Väter fluchten in den Hütten über den Welteroberer, der ihnen einen Sohn nach dem andern vom Herzen riß und ihre lieben Kinder achtlos in den Tod jagte, um sich einen hohen Kriegsruhm, seinen Brüdern, Vettern und Genossen aber Königskronen, Fürstenthümer und Herrschaften zu gewinnen; sie zogen über den Rhein, die beiden Schill’schen, sie hörten die liebe deutsche Muttersprache wieder klingen und sie sahen von ferne die Wälle von Wesel, wo die Elf verscharrt wurden, das französische Blei im Leibe; da preßte der Zwölfte die Hand auf’s Herz, und seine Augen sprüheten Feuer. Und da sie nun weiter in’s deutsche Land hineinkamen, die zwei alten Schillianer, da wollte ihnen ganz seltsam zu Muth werden, denn sie erkannten bald, daß ein heimlich Rüsten ging von Haus zu Haus, von Hof zu Hof, ein fein geistig und leiblich Bereiten zum großen Kampfe! Da wurden denen, so von der Karre und aus dem Bagno kamen, die Herzen weit, und sie mußten lächeln über die Blindheit des armen Spottkönigs von Westphalen und seiner Janitscharen, daß die so gar nichts sahen von alledem, was sich um sie gestaltete, obwohl ihr böses Gewissen sie fort und fort mit schlimmen Ahnungen erfüllte und sie wohl das Gefühl eines herannahenden Sturmes hatten.
Endlich erreichte Leopold Heinrich von Wedell die preußische Grenze; an seiner Vaterstadt zog er vorüber, denn das alte Halle hatte westphälisch werden müssen, und die fünf spitzen blauen Thürme mußten an officiellen Feiertagen des Spottkönigs Hieronymi Banner tragen.
So sah Wedell seine Heimath wieder, sein König aber ernannte ihn zum Premier-Lieutenant bei der Garde-Normal-Uhlanen-Escadron!
Es versteht sich wohl von selbst, daß der Premier-Lieutenant von Wedell zunächst das Gabain’sche Haus in Berlin aufsuchte, durch dessen französische Verwandte in Cherbourg ihm so viel Liebes zu Theil geworden, denen er endlich auch eigentlich seine Freiheit verdankte, denn ohne den wackern Herrn de Lachétardie würde es ihm kaum möglich geworden sein, die Nachricht von seinem Aufenthalte in Cherbourg nach Deutschland kommen zu lassen und seinen Bruder zu benachrichtigen, denn seine Familie hatte ihn [336] bereits für todt gehalten. Mit tiefer Rührung sah man Wedell zu Berlin oft das Bild betrachten, welches durch die Aehnlichkeit mit dem in Cherbourg so bedeutungsvoll für ihn geworden war.
Die Stunde hatte geschlagen, der Tag des Zorns und der Vergeltung war da, auf den eisigen Feldern Rußlands lag das ungeheure Heer des Welteroberers. Er flog voraus, der Gewaltige, der Fürsten und Völker niedertrat. Er flog voraus, auf flüchtigem Schlitten das nackte Leben rettend. Als er aber nach Paris glücklich entkommen war, da ließ er wie zum Hohn für die Mütter und Vater der Tausende, die in Rußlands Schnee begraben lagen, der empörten Welt verkünden, daß „Seine Majestät der Kaiser sich niemals wohler befunden hätten!“ Ein dumpfer Schrei der Entrüstung erklang selbst in Frankreich bei diesem giftigen Hohn, und aus Deutschland antwortete gellend der Kampfruf. Hinter dem flüchtigen Kaiserschlitten her aber stob und schnob, hastete sich und keuchte angstvoll allerlei gespenstisch Zeug, schauderhaft und abenteuerlich anzuschauen, mit mangelnden Gliedmaßen, kaum noch Menschen ähnlich – das waren die Trümmer der großen Armee!
Wie der Donnerruf der Posaunen zum Weltgericht schmetterte nun der preußische Kriegsruf über die Lande zwischen Weichsel, Oder und Elbe; fluchend oder betend, je nachdem, riß der Bauer wie der Edelmann, der Bürger wie der Gelehrte, das Schwert des Vaters oder die Büchse von der Wand; zur Fahne! zur Fahne! wie rief die Trommel so laut!
Es braucht wohl kaum der Versicherung, daß der „Zwölfte“ nicht fehlte, wo so viel Tausende kamen auf des Königs Ruf. Mit erhobenem Haupte und leuchtendem Antlitz schritt Leopold Heinrich von Wedell daher in jenen Tagen, die Hand lag ihm wie fest geschmiedet am Säbelgriff, und wenn er die Gedanken abwendete von König und Vaterland in jenen Stunden hoher und heiliger Begeisterung, dann flüsterte seine Lippe leise: „revanche pour Cherbourg“
In den ersten Märztagen schon meldete sich der Lieutenant von Wedell und bat um Erlaubniß, ein Freicorps anwerben zu dürfen; er machte sich anheischig, die Marschälle und Generale des fremden Tyrannen auf ihrer Flucht nach Frankreich aufzuheben. Warum ließ man dem alten Schillianer nicht die Zügel schießen damals? Mancher Marschall hätte dann als Geisel dienen mögen für bessere Männer.
Als Rittmeister und Chef der neuerrichteten Garde-Kosaken-Escadron focht Wedell bei Lützen und Bautzen, oder vielmehr bei Groß-Görschen und Wurschen, wie diese beiden Schlachten eigentlich heißen; er that seine Pflicht als guter Officier, aber sein Ehrentag, der große Ehrentag seines Lebens, kam noch. Das war der 26. Mai 1813, Wedell’s neunundzwanzigster Geburtstag – der herrliche Sieges- und Ehrentag der preußischen Cavallerie, der Tag von Haynau, wo Obrist Dolffs, der kühne Reiter, wie das Soldatenlied von ihm klingt, in den Tod ging für seinen König und das liebe Vaterland, aber zweitausend Franzosen vorausschickte, um ihm Quartier zu machen. An diesem Tage fuhr Heinrich von Wedell wie der Blitz in die Feinde, und die preußische Garde-Kosaken-Escadron wie der Donner hinter ihm her; da war kein französisches Viereck, welches dem „Zwölften“ und seinen Reitern vermocht hätte Widerstand zu leisten. Für den Tag von Haynau erhielt Wedell das eiserne Kreuz. Das war der Anfang. Von Haynau ging’s nach Leipzig, und auch nach der dreitägigen Riesenschlacht, da kannte er keine Ruhe, da schmetterte hell seine Trompete hinter dem flüchtigen Imperator her, er folgte seiner blutigen Fährte und hetzte ihn bis zum Rheine, der Wedell und seine Reiter in rastloser Verfolgung.
Das war das Ende vom Anfang.
[350] Ueber den Rhein nach Paris; nach Paris zog der Wedell mit seinen Reitern, er half die blutige Bahn zwei Mal hauen und zog zwei Mal mit Orden und Ehren geschmückt in die Hauptstadt des großen Tyrannen ein, der ihn fünf Jahr zuvor nach Cherbourg geschickt hatte, der ihn als Sträfling an die Karre schmieden ließ.
O ja, es giebt doch eine Vergeltung auf Erden!
Dem Major von Wedell war es eine ernste Pflicht in Frankreich, sich sofort in Cherbourg und andern Städten selbst umzuthun, oder doch durch seine Cameraden nachforschen zu lassen nach deutschen Kriegsgefangenen, die der gestürzte und verbannte französische Kaiser in der grausenhaften Ueberhebung seiner Tyrannennatur zur Galeere verurtheilt hatte. So wurden noch Hunderte von deutschen Landsleuten frei durch den „Zwölften“ und nicht ohne Mühe, denn die durch ihre Niederlagen erbitterten Franzosen versteckten die Gefangenen und hielten sie fest, als wollten sie dieselben behalten zur Erinnerung an den gefallenen Zwingherrn.
Zu Cherbourg suchte Wedell vergebens nach Herrn de Lachétardie, seinem alten Freund, er konnte nur sein Grab besuchen, denn seines Wohlthäters Tochter, Madame Noirot, war mit ihren Kindern nach dem Süden gezogen. Wedell mußte sich die Freude des Wiedersehens versagen. Er stand lange nachdenklich vor dem alterthümlichen Hause in der Hafenstraße, in dem jetzt andere Leute wohnten, und ihm wurde das Auge naß bei der Erinnerung. Der bärtige Wachtmeister aber hinter ihm, der weinte wie ein Kind, daß er Florine und Dorine nicht fand, seine beiden kleinen artigen Freundinnen. An Ruhm und Ehren reich kehrte der Major von Wedell heim aus Frankreich. Zu Wesel besuchte der „Zwölfte“ das Grab der „Elf“. Bürger von Wesel hatten es durch kleine eingepflanzte Büsche bezeichnet, damit die Stätte nicht in Vergessenheit gerathe.
Auf Sanct Helena gefangen saß Napoleon – der „Zwölfte“ verließ mit leichtem Herzen das Grab der Opfer. Er hatte im Siege die Schmach vergessen, es war keine Spur von Rachegefühl mehr in seiner Seele. Im Frieden gründete sich der ehemalige Sträfling von Cherbourg sein Haus. Die edle, milde Gräfin Charlotte Pückler wurde, zehn Jahre nach dem zweiten Einzuge in Paris, seine Gemahlin. Der Obrist von Wedell wurde General und galt für einen der vorzüglichsten Truppenführer der königlichen Armee. Seit 1846 lag der General von Wedell mit seiner Division in Bromberg, als 1848 der polnische Aufstand ausbrach. Da zeigte der 63jährige General, daß all das Feuer und die rastlose Energie des jugendlichen Schill’schen Officiers noch lebendig waren in ihm. Sein Federbusch wurde der Schrecken der polnischen Insurgenten, seine Erscheinung der Trost und die Zuversicht der deutschen Landsleute, und endlich war er es, der die letzten Reste des polnischen Heeres bei Bardo anseinander sprengte und so die deutsche Bevölkerung des Großherzogthums von der brutalen Unterdrückung der Polen befreite. Die Dankbarkeit der deutschen Bewohner Posens sendete 1851 den Befreier, den rastlosen General von Wedell, als Abgeordneten für Bromberg in die erste Kammer. Da hat sich der tapfere General nicht wohl befunden, er hat seine Pflicht gethan, so gut er’s vermochte, aber der ehemalige Officier von Schill und der Gefangene von Cherbourg, der Mann der Thaten, nicht der Worte, war doch herzlich froh, als im folgenden Jahre schon sein Mandat erlosch. Gleich darauf wurde er Generaladjutant Sr. Majestät des Königs und Gouverneur der Bundesfestung Luxemburg, 1855 aber General der Cavallerie.
Da saß nun der „Zwölfte“ hoch oben auf dem grotesken Felsenhorste von Luxemburg, mit hellem Auge schaute er hernieder in die Lande der Belgier und der Niederländer, deren Könige ihn mit ihren höchsten Orden decorirten, aber er schaute auch in die französischen Landschaften hinüber, über welche abermals ein Bonaparte gebot, ein dritter Napoleon herrschte mit eiserner Gewalt und glatten Redensarten, ein Herrscher, den die Fürsten Europas bewunderten, weil er gegen die Bewegung der Völker zwar auch kein anderes Mittel wußte, als die brutale Kartätsche und das dumme Bajonnet, die freche Polizei und die gemeine Spionage, aber diese traurigen Mittel mit Glück angewendet hatte.
Wedell schaute ernst hinüber, er wußte, daß es nur ein wirksames Mittel giebt, die Revolution zu bekämpfen und den Völkern das Heil zu bringen. Wer die Revolution nicht geistig zu bestreiten und aus ihrem Gegentheil heraus zu besiegen vermag, der arbeitet mit Kartätschen und Bajonnet nur für die Revolution.
Im Jahre 1855 war es, da hielten einige prachtvolle und glänzend bespannte Hofequipagen des Kaisers Napoleon III. zu Paris vor dem Hotel Mirabeau in der Friedensgasse und, geleitet von kaiserlichen Ceremonienmeistern und Kammerherrn in Gala, sah man einen greisen Herrn in der preußischen Generalsuniform, von seinen Adjutanten und andern Officieren gefolgt, die Treppen herniedersteigen. Der greise Herr war der Generaladjutant des Königs von Preußen, Gouverneur von Luxemburg, General von Wedell, welcher in außerordentlicher Mission seines Souverains in Paris eingetroffen war und jetzt von den höchsten Hofbeamten des gekrönten Bonaparte in feierlichem Aufzuge zur Audienz in das Schloß der Tuilerien geleitet werden sollte.
Es war Wedell, es war der „Zwölfte“, den der Bonaparte, der dritte Napoleon, mit den höchsten Ehrenbezeigungen zu seinem Hoflager geleiten ließ!
O ja, es giebt doch eine Vergeltung, auch auf Erden!
Die schimmernden Karossen donnerten über das Pflaster von Paris, mit unbewegtem Antlitz saß Wedell dem kaiserlichen Ceremonienmeister gegenüber, nur auf den Platz, auf welchem der Obelisk von Luxor steht, machte er den preußischen Officier, der ihn begleitete, durch eine Handbewegung aufmerksam.
„Der Platz Ludwig’s XV.,“ sagte Feuillet de Conches, der kaiserliche Ceremonienmeister, erklärend.
Wedell verneigte sich leicht, er kannte den Platz gut genug, den Platz, der erst nach Ludwig XV. hieß, der dann das Schaffot Ludwigs XVI. trug und Revolutions-Platz genannt wurde. Eintrachts-Platz wurde er später getauft, aber Wedell hatte hier in Parade gestanden 1814, Preußen, Oesterreichs, Baiern, Würtemberger, Russen, die ganze siegende Eintracht der deutschen und europäischen Rache gegen Napoleon’s Zwingherrschaft – und nun saß doch wieder ein Bonaparte in jenem Tuilerienschloß?
Halt! Trommelwirbel, Spiel, der französische Marsch, die kaiserliche Schloßwache steht unter dem Gewehr und macht die Honneurs vor dem „Zwölften“, der langsam die Stufen zum Pavillon Marsan hinaufsteigt. Die Hundert-Garden, die in großer Gala an den Thüren schildern, sie salutiren vor dem alten Schill’schen Manne, der vielleicht an Cherbourg und die Karre denkt.
Während der General von Wedell Audienz hat in dem großen [351] Salon hinter der Dianen-Gallerie, hat auch ein altes, kleines Männchen mit dünnem, weißem Haar, das mit dem General von Luxemburg gekommen ist, eine Audienz und zwar bei einer Dame.
Das alte, kleine Männchen hatte seinen General in allem Glanz davonrollen sehen und wollte eben in seine Wohnung zurückkehren, als ein Hausdiener zu ihm trat und ihn um einige Augenblicke bat, denn eine Dame wolle ihn sprechen. Der kleine Alte sah den übereleganten Gasthofsdiener mit einer halb verlegenen, halb lächelnden Miene an, als wollte er sagen: „Sie befinden sich sicherlich in einem schweren Irrthum, mein geputzter junger Herr; sehen Sie mich doch an und Sie werden selbst begreifen, daß ich es nicht sein kann, den eine Dame zu sprechen wünscht!“
Der Kellner aber fuhr statt aller Antwort mit der Hand durch die genialen Locken, lächelte spöttisch, öffnete eine Thür und rief mit lauter Stimme: „Der Herr, welchen Madame befohlen hat!“ dann ließ er den Kleinen eintreten und schloß die Thür hinter ihm. Der Alte stand in einem sehr eleganten Zimmer, eine in braune Seide gekleidete, ziemlich wohlbeleibte Dame, die ihn sehr freundlich aus ihren hübschen dunkeln Augen ansah, kam ihm entgegen. Der Alte im blauen Rock, der mancherlei Bänder im Knopfloch trug, verneigte sich höchst geschmeichelt, denn die Dame gefiel ihm sehr, obwohl sie schon in reifem Alter war und sicher über fünfzig Jahre zählte. Die Dame nöthigte den kleinen Alten höflich, Platz zu nehmen und ein Glas Liqueur mit ihr zu trinken. endlich begann sie das eigentliche Gespräch mit der Frage: „Sie gehören zum Gefolge des Herrn preußischen Generals, mein Herr, der mir die Ehre erzeigt hat, in meinem Gasthofe abzusteigen?“
„Allerdings zu seinem Gefolge, Madame,“ entgegnete der Alte in ziemlich gewagtem Französisch; „ich bin kein Diener Sr. Excellenz, königlicher Beamter, Madame, Steuerofficier außer Dienst, aber ich wohne im Hause Sr. Excellenz, denn wir sind alte Kriegskameraden!“ Der kleine, vom Alter gekrümmte Mann richtete sich bei den letzten Worten stolz auf und fuhr, da die schmucke Dame ihm verbindlich zulächelte, mit großem Selbstbewußtsein fort: „Seine Excellenz hat mich eingeladen, sie nach Paris zu begleiten, wissen Sie, Madame, nur der Erinnerung wegen; ich bin nämlich mit Sr. Excellenz schon drei Mal nach Frankreich gekommen, und da meinten sie, daß es doch hübsch wäre, wenn wir auch das vierte Mal zusammengingen.“
„Sie kennen also den Herrn General schon lange, mein Herr?“ fragte die Dame.
„Seit Anno 1809,“ entgegnete der Alte nachdenklich und wiegte das weiße Köpfchen, „ja, ja, Anno 1809; Du lieber Gott, wer hätte das gedacht, als wir damals Beide Gefangene in Cherbourg waren!“
„In Cherbourg?“ rief jetzt die Dame, „wirklich, in Cherbourg? so ist er’s, ich habe mich nicht geirrt! War der Herr General von Wedell 1809 Gefangener in Cherbourg, mein Herr?“
Die Dame verrieth eine große Aufregung.
„Se. Excellenz und ich,“ erwiderte der Alte, der sich nicht vergaß, „wir waren in jenem Jahre zu Cherbourg als Gefangene an eine Karre geschmiedet; an der Karre haben wir unsere Bekanntschaft gemacht, Madame; der Bonaparte hat uns selbst zusammengeschmiedet, Se. Excellenz und mich, das hat gehalten. Er verstand sich auf’s Schmieden, der Bonaparte.“
Der Alte plauderte so eine ganze Weile fort, ohne darauf zu achten, daß sich die Dame zurückgelehnt hatte und ihn mit scharfen Blicken aufmerksam musterte. Plötzlich traten der französischen Dame ein paar kleine Thränen in die Augen, die sie indessen mit den Wimpern zerdrückte; sie richtete sich hastig auf, faßte die Hand des kleinen Alten und rief lebhaft: „Sie sind ein Ungeheuer, Frédéric, Sie verdienen gar nicht, daß ich mich Ihrer erinnere, denn Sie haben Ihre kleine Freundin von Cherbourg ganz vergessen!“
Erschreckt durch die französische Lebhaftigkeit war der gute alte Friedrich Kühns, der ehemalige Schill’sche Unterofficier, aufgestanden, die Dame aber zog ihn mit einem kräftigen Ruck wieder nieder zu sich und fuhr hastig fort: „Ja, ja, Sie sind ein Ungeheuer, Frédéric, Sie sind mir nicht treu geblieben, obwohl Sie uns das so oft geschworen haben, mir und meiner Schwester, dieser armen Dorine; ja, ich bin Florine, Monsieur Frédéric, die kleine Florine Noirot aus dem alten Hause in der Hafenstraße zu Cherbourg – o! wie viele Bonbons habe ich Ihnen gegeben! Großvater Lachétardie hielt mich für eine Gefräßige darum, aber ich ließ es mir ruhig gefallen, um nur Ihnen recht viele Bonbons geben zu können, und nun haben Sie mich undankbar vergessen! O! auf diese Ueberraschung war ich gar nicht vorbereitet; als ich vorgestern den Namen des Herrn Generals nennen hörte, da klang mir der so bekannt; ich suchte gestern unter den Papieren meiner armen Mutter und des Großvaters, bis ich den Namen fand; richtig, er war es, aber es konnte mehrere des Namens geben; sollte das mein Jugendfreund Henri aus Cherbourg sein? das mußt du wissen, dachte ich, ich ließ Sie rufen, ei! ich hatte keine Ahnung, daß ich einen zweiten alten Freund finden würde! Henri und Frédéric – von 1809 bis 1855 – Cherbourg und Paris; o! wenn meine arme Mama noch lebte, wie würde die sich freuen! und diese arme Dorine und der liebe kleine Großpapa Lachétardie!“
Einen Augenblick verzog Dame Florine wehmüthig den Mund und schwieg, gleich darauf aber lachte sie wieder und plauderte so unaufhaltsam und so in einem Gusse weiter, daß der brave Herr Friedrich Kühns gar nicht die Möglichkeit fand, auch nur ein einziges armes, kleines Wörtchen einzuschieben, obwohl ihm seine Jugendfreundin von Cherbourg zum zwanzigsten Male wenigstens befahl: „Ei, so reden Sie doch, Frédéric, sprechen Sie, sagen Sie mir, ob Sie mich ganz verändert finden, ob Sie auch nicht ein Zug mehr an das kleine Mädchen von 1809 erinnert!“
Als der kleine Alte die Unmöglichkeit erkannte, sich durch Worte verständlich zu machen, begann er mit großem Eifer zu nicken und streichelte dazu höchst zärtlich die derbe, sehr fleischige Hand, welche ihm seine Jugendfreundin überlassen. Er war sehr erfreut, daß er auf diese Weise wenigstens einigermaßen vermochte, seine Gefühle an den Tag zu legen.
Nach und nach erst kam einigermaßen Ordnung in das Gespräch; das heißt, Madame nahm immer noch den Löwenantheil für sich, aber sie ließ doch hier und da ein Wort über den General zu, während sie dem Herrn Kühns in höchster Ausführlichkeit den Tod ihres armen Großvaters, den Tod ihrer armen Mutter, den Tod ihrer armen Schwester Dorine, den Tod ihres armen Mannes schilderte, denn „arm“ waren, echt französisch, in den Augen der wohlbeleibten, lebenslustigen Frau Alle, welche das Unglück gehabt hatten zu sterben, mochten sie auch, wie der alte Herr de Lachétardie, das höchste Alter erreicht haben. So feierten Dame Florine und Herr Friedrich Kühns das Fest des Wiedersehens mit etlichen Thränen, mehreren Gläsern Liqueur und einer eigentlich ganz unbilligen Menge von Worten. Als der General von Wedell zurückkam von der kaiserlichen Audienz, stattete ihm Kühns sofort Rapport ab über dieses Wiederfinden, und der General eilte sofort in höchster Freude, das Kind seiner Wohlthäter, seiner Retter zu begrüßen.
Die Leute, die Dienerschaft wie die Gäste, im Hotel Mirabeau haben sich in jenen Tagen nicht wenig den Kopf darüber zerbrochen, was wohl der Gesandte des Königs von Preußen so lange und so oft mit „Madame“ zu besprechen haben könne!
Das französische Kaiserthum hatte in jenen Januartagen 1855 den General von Wedell mit Zuvorkommenheiten überhäuft; der Greis aber fragte sich, als er heimkehrte in sein Gouvernement nach Luxemburg, ob die Ehre, die ihm die Bonapartes angethan, als sie ihn nach Cherbourg an die Karre schickten, nicht doch noch größer gewesen, als die, welche sie ihm zu Paris in den Tuilerien erwiesen!
Das war der Gedanke, der den „Zwölften“ beschäftigte bei der Heimkehr! Zu Luxemburg feierte General von Wedell am 15. April 1856 sein sechszigjähriges Dienstjubiläum, und nicht nur die preußische Besatzung der Bundesfestung beging dieses Fest mit ihrem General, sondern auch die Bevölkerung der Stadt feierte es mit, eine Bevölkerung, die sonst den preußischen Gouverneurs eben nicht besonders freundlich gesinnt zu sein pflegt. Der alte Wedell aber, der hatte es doch verstanden, mit den Leuten da fertig zu werden, und so erklärte die Bürgerschaft feierlich: „Unser Militär-Gouverneur hat, seit er dieses hohe Amt bekleidet, nicht versucht, sich gefürchtet zu machen, er zog es vor, sich verehren zu lassen. Große und Kleine, Arme wie Reiche, lieben und verehren ihn!“
Die Orden und Ehrenzeichen aller Souveraine schmückten den allen Schillianer von Cherbourg, und im Jahre 1858 erhielt er [352] auch die höchste Auszeichnung im Königreich Preußen, den hohen Orden vom Schwarzen Adler. Erst am 1. Juli 1860 nach 64jährigem treuem Dienste trat Leopold Heinrich von Wedell in den Ruhestand, und er war auch da noch eine frische männlich kräftige Erscheinung, so würdig und gewinnend auch im äußern Auftreten, daß häufig Fremde, die ihm begegneten, stehen blieben und achtungsvoll den Hut vor ihm zogen.
Die letzten Lebenstage des greisen Kriegers waren nicht ungetrübt, er mußte noch seine geliebte Gemahlin begraben und seinen König, an dem er mit wahrer Begeisterung gehangen; er eilte nach Berlin, um ihn zur Gruft zu geleiten. Noch bei der großen Fahnenweihe König Wilhelm’s und bei dem Krönungsfeste sah man den ältestdienenden preußischen Soldaten in ungebrochener Rüstigkeit. Zwei Tage darauf war er todt: am 22. Januar 1861 ein halbes Jahrhundert nach den elf Cameraden, starb der „Zwölfte!“
- ↑ T. F., d. i. Travaux Forcés, Zwangsarbeit. GAL., d. i. Galérien, Galeerensträfling.
- ↑ Carl von Wedell war bei der Schlacht an der Katzbach im Generalstabe Blücher’s, später war er preußischer Bevollmächtigter im russischen Hauptquartier, nach dem Kriege Chef des Generalstabs des Garde-Corps und vielfach zu diplomatischen Sendungen gebraucht. Im Jahre 1840 nahm er als Generallieutenant den Abschied, und der in vielfacher Beziehung höchst ausgezeichnete Mann lebte noch fast zwanzig Jahre lang in stiller Zurückgezogenheit auf seinem Rittergut Ludwigsdorf bei Oels in Schlesien; er starb erst am 29. October 1858.