Der Wille zum Stil/1
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THEO VAN DOESBURG
„DER WILLE ZUM STIL“1
(NEUGESTALTUNG VON LEBEN, KUNST UND TECHNIK)
Neben dem Problem der wirtschaftlichen und ökonomischen Neugestaltung Europas nimmt das Kunstproblem eine wichtige Stelle ein. Inwieweit diese beiden Probleme miteinander innerlich verknüpft sind, kommt hier nicht in Frage; nur eins wissen wir, daß sowohl die Lösung des ökonomischen Problems wie die des Kunstproblems außerhalb individueller Einstellung liegt, und das ist ein Gewinn. Es bedeutet nämlich, daß die Vorherrschaft des Individuums (das renaissancistische Lebensgefühl) gebrochen ist.
Sowohl für das Gebiet der Politik wie auch für das der Kunst können nur kollektivistische Lösungen entscheidend sein.
1 Vortrag gehalten in Jena, Weimar und Berlin.
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Sehen wir das Gesamtbild unseres heutigen Lebens nur mit unseren Augen an, so können wir die Folgerung ziehen, daß dieses Gebilde einen chaotischen Charakter trägt, und es kann uns nicht wundern, daß diejenigen, welche sich in diesem scheinbaren Chaos unwohl fühlen, der Welt entfliehen oder sich in geistigen Abstraktionen verlieren wollen. Doch jedenfalls muß es uns klar sein, daß diese Flucht vor der Wirklichkeit ein ebenso großer Irrtum ist wie jene Anlehnung an den reinsten Materialismus. Weder die Flucht in das Mittelalter, noch der von verschiedenen Kunsthistorikern empfohlene Wiederaufbau des Olympos kann und die Lösung bringen. Unsere Zeit hat eine andere Mission zu erfüllen als die des Mittelalters und des Hellenismus. Um die Aufgabe unserer Zeit richtig zu verstehen, ist es notwendig, daß wir nicht nur mit unseren Augen, sondern vielmehr mit unseren innerlichen Sinnesorganen die Lebensstruktur erfassen. Haben wir einmal die Synthese des Lebens aus der Tiefe unseres Wesens gewonnen und als Inhalt von Kultur und Kunst anerkannt, so wird es uns nicht schwer fallen an Hand von Dokumenten, die uns die Tradition liefert, der Lösung des Problems näher zu kommen. Nicht wir allein ringen um die Lösung des Kunstproblems, sondern viele Generationen haben darum gerungen. Die Bestätigung hierfür finden wir in allen bedeutenden Werken der Tradition. Mögen diese Kunstäußerungen für unsere optischen Empfindungen auch noch so verschieden sein, für unsere innerlichen Sinneswerkzeuge erscheint jede menschliche Schöpfung nur als die Oberfläche eines sich in unserem Wesen abspielenden Kampfes.
Und worin besteht nun eigentlich dieser Kampf, der sich nicht nur in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion abspielt, sondern der sich auch in unserem täglichen Leben als Kampf um geistigmaterielle Existenz zeigt.
Jedes Kunstwerk, vergangen oder gegenwärtig, gibt darauf eine Antwort.
Dieser Kampf, welcher in der Struktur des Lebens gegründet ist, ist ein Kampf zweier polarer Kräfte. Nennen wir sie Natur und Geist, oder das weibliche und männliche
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Prinzip, das Negative und Positive, das Statische und Dynamische, das Horizontale und das Vertikale — es sind die unveränderlichen Elemente, auf denen der Widerspruch unseres Lebens beruht, und welche sich in der Veränderlichkeit zeigen. Die Aufhebung dieses Kampfes, der Ausgleich dieser Extreme, die Aufhebung der Polarität ist Inhalt des Lebens, ist elementarer Gegenstand der Kunst. In diesem Ausgleich, welcher sich in der Kunst als Harmonie oder vitale Ruhe kund gibt, liegt das Kriterium für die wesentliche Bedeutung jedes Kunstwerks. Nicht zwar für das Kunstwerk als Sonderausdruck, sondern für die Kunst als Gesamtausdruck eines Volkes, für einen Stil. Jedes Kulturvolk hat sich mit diesen grundlegenden Wahrheiten, die weit über das Persönliche hinausgehen, auseinander gesetzt. Die Physiognomie jeder Kunstperiode zeigt am deutlichsten, inwieweit es den Menschen gelungen ist, einen Ausdruck zu schaffen, einen Stil, ein Gleichgewicht zwischen obengenannten Gegensätzen. Bei einem Volk überwiegt das natürliche Element, die Spontanität bei einem anderen überwiegt das geistige Element, die Kontemplation nur selten ist durch Beherrschung dieser Zweiheit das Gleichgewicht da.
Zwecks einer näheren Erklärung habe ich mich einer einfachen, schematischen Zeichnung bedient. In dieser Zeichnung habe ich die verschiedenen Kunstperioden von den Ägyptern bis heute synthetisch dargestellt.
Wie ich in meinem Vortrag „Classique, Baroque, Moderne“ weitläufig auseinander gesetzt habe, setze ich an Stelle von Entstehung, Blüte und Verfall eine durchgehende Evolution. Diese durchgehende Evolution in Leben und Kunst ist eine geistige, aber sie verwirklicht sich in Raum und Zeit als Entstehung, Blüte und Verfall.
Hieraus kann man die Folgerung ziehen, daß jeder Aufwuchs die Keime eines Verfalls enthält, aber das jeder Verfall wieder die Möglichkeit für eine neue Entstehung bietet.
Nirgends und nie gibt es ein Ende.
Immer geht es weiter.
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Das ganze Evolutionssystem beruht auf zunehmender geistiger Vertiefung, welche die Umwertung aller Werte verursacht.
In dieser kurzen Auseinandersetzung habe ich das grundlegende meiner Kunstanschauung zusammengefaßt. Ich komme jetzt auf meine schematische Darstellung zurück, folgendes ergibt sich:
Mit den zwei wagerechten Linien seien die Polarität Natur (oben), -Geist (unten), das „Äußerste Eine“ und das „Äußerste Andere“ dargestellt. Aus der allmählichen Ausgleichung dieser zwei Kräfte ergibt sich das Dreieck, welches die kulturellen Entwicklungenstypen von der Zeit der Ägypter bis zur Neuzeit umfaßt. Die Buchstaben bedeuten also — von rechts nach links — E = Ägypter, G = Griechen, R = Romanen, M = Mittelalter, R = Renaissance, B = Barock, B = Biedermeier, IR = Idealismus-Reformation, NG = Neue Gestaltung, die jetzt beginnende Epoche. Die schraffierte mittlere Linie stellt das Mittel dar, die absolute Einheit der „Zweiheit“ Natur-Geist. (Durchgehende Evolution.)
Die stark ausgezogene Kurve im Rahmen des Dreiecks soll nun darstellen, in welchem polaren Verhältnis sich das künstlerisch-kulturelle Leben jeder einzelnen Epoche vollzog.
Bei den Ägyptern ist die Einheit erreicht, in den Äußerungen ihrer Kultur, ihrer Kunst das absolute Mittel gewahrt. Bei den Griechen gilt das gleiche.
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Bei den Romanen gewahren wir eine starke Annäherung an das Natürliche, während in der darauf folgenden Epoche des Mittelalters sich das genaue Gegenteil — Hinneigung zum Geistigen — zeigt.
In der Renaissance zeigt sich wiederum die Annäherung an die Natur, die in der Zeit des Barock nur eine Verstärkung erfährt. In der Reformationsepoche zeigt die Kunst wieder eine stärkere Ausgeglichenheit. Zur Zeit des Idealismus gewahren wir jedoch wieder eine Annäherung an das Geistige — um nun in der Zeit der „Neuen Gestaltung“ auf den Weg der Einheit von Natur und Geist zu gelangen. (Aufhebung der Polarität.)
Wir haben uns nur in das Wesen der nur in ihre Form verschiedenen Philosophien und Religionen zu versenken, um diese Polaritätsgedanken als den Sinn des Lebens zurückzufinden. — Sie sind die symbolische Vorstellung von einer Wahrheit, deren Verwirklichung unsere Aufgabe ist, und vielleicht hat keine Zeit den Kampf von Natur und Geist so bestimmt zum Ausdruck gebracht wie die unserige. Es handelt sich hier nicht um das, was wir in philosophischer Beziehung unter Natur und Geist zu verstehen haben. Es genügt, wenn wir in der Wirklichkeit unsere eigene Existenz zwei einander ergänzende Prinzipien als Inhalt aller unserer Handlungen zurückfinden.
In der Kunst der Vergangenheit waren diese Prinzipien verschleiert, ganz wie in der Natur, wo sie durch mannigfaltige äußerliche Formen verhüllt sind. — Es war nicht nur die Tätigkeit des Künstlers, sondern auch die des Philosophen und Wissenschaftlers, hinter diesen Formen das Wesen des Seins zu entdecken und in eine andere, neue Gestalt zu gießen. So erklärt es sich, weshalb die Nachahmung äußerlicher Formen nichts mit Kunst zu tun hat. Jeder Künstler — mag er der Vergangenheit angehören oder nicht — versucht durch sein Ausdrucksmittel über die Natur oder äußerliche Formen hinaus das Gleichgewicht zwischen beiden Extremen herzustellen. In jeder großen Kunst, ob sie individuell oder kollektiv als Stil erscheint, gibt sich dieses Gleichgewicht als Harmonie oder Ruhe kund. (Beispiel: Ägyptische Plastik.)
Diese Ruhe oder Harmonie kann aber nicht ohne Kampf gewonnen werden. Dieser Kampf, der sich durch die
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schöpferische Tätigkeit offenbart, beweist, daß die geistige Potenz die Natur als den anderen Teil ihrer selbst, als ihren Kontrast empfindet. So ist das Verhältnis des Künstlers zu seiner Innen- und Umwelt ein Konstrastverhältnis.
Ich habe es für nötig gehalten, meinen Vortrag mit dieser kurzen metaphysischen Einführung zu beginnen, damit das wahre Verhältnis des Künstlers zur Natur geklärt wird. Der große Unterschied zwischen den Künstlern der Vergangenheit und den Künstlern der Gegenwart besteht eben darin, daß die letzteren sich über dieses Verhältnis vollkommen im klaren sind. Sie stehen als bewußte schöpferische Menschen in der Welt, während die alten Künstler, die Verehrer des Unbewußten, gezwungen waren, sich auf eine intuitive tierische Spontanität zu verlassen. Das Gefühlsmoment überwiegt meistens in ihren Werken und zwar in der Form einer tragischen Gestalt. (Beispiel: Sasatto [Sienesische Schule]: Johannes der Täufer.) Im Tragischen zeigt sich am stärksten das Kampfmoment, das heißt der Wille zur Überwindung der Natur. Das Tragische in der Kunst ist der psychologische Ausdruck des unvollkommenen zerrissenen Menschen, der glaubte, daß die großen Gegensätze, welche er sich primitiv als Diesseits und Jenseits, als Himmel und Erde, als das Gute und Böse dachte, niemals in vollständige Harmonie zu bringen war.
Drückte der unvollkommene Mensch in das Tragische, das schwere Erdische, das äußerste Eine aus, so versuchte er im befreiend Engelhaften das äußerste Andere, das leichte Himmlische auszudrücken. (Beispiel: Fra Angelico: Aufsteigende Engel.) Den Ausgleich zwischen diesen beiden Extremen konnte er nur durch ein Symbol, z. B. durch Christi Himmelfahrt zum Ausdruck bringen. (Beispiel: Grünewald: Christi Himmelfahrt.) Nun erklärt es sich auch, warum bis weit in die Renaissance hinein die christliche Tragödie noch immer Gegenstand der Kunst blieb, obschon durch wissenschaftliche und philosophische Hygiene der Zweifel
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an eine überwiegend seelische und symbolische Lebensauffassung aufgetreten war. Wir müssen uns darüber klar werden, daß in all diesen Kunstwerken der Vergangenheit die Synthese des Lebens vorhanden ist als Gleichnis und niemals als Gestalt.
Gleichnis ist ein indirektes per Analogie vermitteltes Symbol.
Gestalt ist ein direkter, durch das charakteristische Mittel der Kunst erzeugter Ausdruck. (Beispiel: Piet Mondrian: Kompositie 1921.) Der Unterschied zwischen indirekten sekundärem und direkten primärem Ausdruck des Lebensinhalts, zwischen Gleichnis und Gestalt, gibt uns ein klares Bild von der scharfen Differenz zwischen altem und neuem. Alles, was sich zwischen diesen beiden Kunstäußerungen abspielt, wie Romantismus, Impressionismus, Kubismus, Futurismus, Expressionismus, Purismus usw., können wir als Experimentalismus betrachten. (Beispiele von Romantismus bis Purismus: Daumier, Monet, Picasso, Séverini, Kandinsky und Marc, Ozenfant.) Diese Ausdrucksformen, in denen sich das Ringen un einen neuen Ausgleich, um neue Harmonie polarer Lebenselemente am deutlichsten zeigt, waren darum experimentell, weil in ihren die natürlichen Spontanität, obschon in mehr abstrakter Erscheinung, vorherrschte. Hierdurch ist es ihnen auch ganz unmöglich geworden, einen allgemeinen architektonischen, einen organisch konstruktiven Kunstausdruck hervorzubringen. Obschon bei diesen experimentellen Ausdrucksformen das Bedürfnis nach einer Aufhebung des in der Tradition üblichen Gleichnisses vorherrschte, gelang es ihnen nicht, eine universale kollektivistische Ausdrucksform, einen Stil zu erobern. Die Bestätigung hierfür liegt vor allem darin, daß es diesen Kunstäußerungen an allgemeinen Grundprinzipien, an Gestaltungsgesetzen mangelt. Das war aber auch für Kunstäußerungen unmöglich, deren Triebfeder die individualistische Empfindung war. Der allgemeine Gegenstand, den auch diese experimentellen Künste behandelten, war ebenfalls das Tragische, das sich aber in abstrakt lyrischer Erscheinung ausdrückte.
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Diese experimentellen Kunstäußerungen bewegen sich auf Grund einer noch unvollkommenen dualistischen Lebensauffassung zwischen Gefühl und Intellekt. Weder Gefühl allein, noch Intellekt allein können uns die Lösung des Kunstproblems bringen. Der große Wert dieser experimentellen Kunstäußerungen besteht vor allem darin, daß sie die Kraft der reinen Ausdrucksmittel (für die Malerei die Farbe — für die Plastik das Volume — für die Architektur der Raumkörper — für die Musik die reinen Klänge usw.) gefunden haben. Damit haben sie die Dualität zwischen Bildform und Bildinhalt aufgehoben. Für eine klare Einsichtgewinnung in das Kunstproblem, ist es nötig, daß wir an den Kunstwerken der Vergangenheit nachprüfen, wie dieser Lebensinhalt in die künstlerische Komposition übertragen wird. Dieser Lebensinhalt trat nämlich gleichnishaft oder illusionsmäßig-verhüllt in Erscheinung.
Meistens kenntzeichnet sich die Komposition durch eine Dreigliederung der Bildfläche, durch eine Mittelpartie oder Kompositionsachse und eine rechte und linke Hälfte. (Beispiel: Grünewald: Christi am Kreuz.) Am stärksten und am bewußtesten tritt diese Dreigliederung der Bildfläche während der Renaissance auf. (Beispiel: Raffael: Drei Gratien.) Die Achse oder der Mittelpunkt der Komposition hält die beiden Hälften zusammen, wodurch eine gewisse Symmetrie entsteht. Infolgedessen macht das Kunstwerk einen überwiegend statischen Eindruck. Das architektonische Element, das die ganze heutige Kunst beherrscht, setzt hier schon ein. Das Leben jedoch ist nicht nur statisch, sondern auch dynamisch, nicht nur konstruktiv, sondern auch destruktiv; es ist beides in einem. Als Reaktion auf das Statische greift das Barock mit seiner Vorherrschaft des Dynamischen ein. (Beispiel: Michel Angelo: Gott schafft die Erde.) Wenden wir uns von den Kunstäußerungen der Völker ab, bei denen das plastische Element dominiert, und wenden wir unsere Aufmerksamkeit den Völkern zu, bei denen das malerische Element dominiert! So finden wir bei Rembrandt z. B. den Polaritätsgedanken: die kontrastierende Verteilung, von
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Hell und Dunkel. (Beispiel: Rembrandt: Jüdische Braut.) In dem Beispiel, das ich hier gewählt habe, wird die Lebenssynthese durch anschauliche Vorstellung noch stärker ausgedrückt. Im Zusammenhang meines Vertrags bekommt dieses Gemälde Rembrandts die Bedeutung eines übernationalen Gestaltungswillens. Schon in dieser Entwicklungsphase der Malerei werden die sekundären Bildelemente (das Gegenständliche) zu primären Gestaltungselementen, d. h. die farbigen Gegenstände werden der malerischen Komposition untergeordnet. Im Impressionismus wird das Rembrandt-Prinzip zum System. (Beispiel: Manet: Frühstück im Freien.) Das Gegenständliche bekommt eine noch geringere Bedeutung, an Stelle von Lichtkontrasten wie bei Rembrandt ergeben sich Farbkontraste wie bei Manet. Die Betonung der Kontraste wurde immer bestimmter, wie sich das am deutlichsten bei diesem Bild von Manet zeigt, wo eine immer wechselnde Wirkung von hellen und dunklen Farben die gesamte Komposition durchzieht. Aus dem übernationalen Gestaltungswillen späterer Kunstperioden kann auf eine allgemeine künstlerische Gestaltungsnotwendigkeit, die in früheren Perioden unbestimmter auftritt, geschlossen werden. Der Kampf um unmittelbaren Ausdruck setzt bei van Gogh sehr stark ein. (Beispiel: van Gogh: Arlesienne.) Mit brutaler Sicherheit zwingt er sein Kontrasterlebnis in die Bildfläche hinein. In geschlossener, fester Formstruktur versucht er die Zweiheit zu überwinden, das Statische und das Dynamische in Ausgleich zu bringen und den Geist die Materie zu übertragen. Diese Überwindung der Dualität (das Lebensgefühl des zerrissenen, unvollkommenen Menschen der Vergangenheit) war aber nicht möglich ohne Vernichtung der Naturillusion, ohne Durchbrechung der geschlossenen Form, ohne Überwindung von Form überhaupt. Die geschlossene Form wird von nun an für das neue Stilwollen als Hemmung empfunden. Bei den Künstlern nach van Gogh, wie z. B. bei van der Leck und Picasso (Beispiele: a) Bettler und b) Harlekin), wird die Form absichtlich umgestaltet und
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der flächenhaften Komposition untergeordnet. Hierdurch bekommt die immer nur negativ behandelte Bildfläche ihre wahrhafte Bedeutung. Infolge der neuen wissenschaftlichen und technischen Erweiterung des Gesichtskreises tritt in Malerei und Plastik neben dem Raumproblem noch ein anderes wichtiges Problem: das Zeitproblem auf. War in früheren Kunstperioden das Raumproblem durch perspektivisches Formennebeneinander behandelt, so würde das Zeitproblem durch Figurennacheinander einer Erlösung näher gebracht, Exakter Ausdruck, wirklicher Ausgleich zwischen raumlichen und zeitlichen Momenten war nur durch Mekanisierung der Bildfläche möglich. Die Bildflächenmekanisierung wurde schon durch verschiedene Künstler, wie Rousseau und van der Leck, vorbereitet. (Beispiel: a) Brücke und b) Vorbeiziehende Artillerie.)
Auf die überwiegend-horizontale Bildfläche wird das malerische Zeitgefühl durch Betonung des nacheinander durch Wiederholung eines bestimmten Motivs zum Ausdruck gebracht.
Selbstverständlich wird durch diese Betonung des Zeitmoments durch rhythmisches Nacheinander die Betonung des drei dimensionalen Nebeneinander eingebüßt. Trotzdem erscheint hier das Zeitmoment noch naturhaft, nicht kunstmäßig, d. h. nur mit rein malerischen Mitteln rhythmisch gestaltet. Ich habe diese verschiedenen Beispiele nur vorgeführt, um ihnen zu zeigen, daß diese Probleme, nämlich die der Fläche und Farbenbestimmung, von Raum und Zeit und Mekanisierung schon in der vorarchitektonischen Kunst enthalten waren. Ich betrachte das, was wir unter neuer Kunst verstehen, denn auch nicht als etwas ganz plötzlich Neues, sondern als Erfüllung jedes Gestaltungswunsches, der in jedem schöpferischen Menschen bestand. In der Kunst der Vergangenheit waren all diese Gestaltungselemente durch die natürliche Erscheinung verhüllt. Die jüngsten Künstlergenerationen haben sie wieder von neuem entdeckt und operieren mit ihnen unter Verzicht auf alles einer monumentalen Zusammenfassung entgegenstehenden.
(Schluß folgt.)