Textdaten
<<< >>>
Autor: Johann Gottfried Seume
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Wilde
Untertitel:
aus: Neue Thalia. 1792–93. Dritter Band, S. 255–260
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: G. J. Göschen'sche Verlagsbuchhandlung
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[255]
II.
Der Wilde.


Ein Amerikaner, der Europens
Uebertünchte Höflichkeit nicht kannte,
Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,
Von Kultur noch frey im Busen trug,

5
Brachte einst, was seines Bogens Sehne

Fern in Qvebeks übereisten Wäldern
Auf der Jagd erbeutet, zum Verkaufe.
Als er ohne schlaue Rednerkünste,
So wie man ihm bot die Felsenvögel

10
Um ein kleines hingegeben hatte,

Eilt er froh mit dem geringen Lohne
Heim zu seiner tiefverdeckten Horde
In die Arme seiner braunen Gattin.
Aber ferne noch von seiner Hütte

[256]
15
Ueberfiel ihn unter freiem Himmel

Schnell der schrecklichste der Regenstürme.
Aus dem langen rabenschwarzen Haare
Trof der Guß herab auf seinen Gürtel,
Und das grobe Haartuch seines Kleides

20
Klebte rund an seinem hagern Leibe.

Schaurig zitternd unter kaltem Regen
Eilt der gute brave wackre Wilde
In ein Haus, das er von fern erblickte.
Herr, ach laßt mich, bis der Sturm sich leget,

25
Bat er mit der herzlichsten Geberde

Den civilisirten Eigenthümer,
Hier in euerm Hause Obdach finden.
Willst du, mißgestaltes Ungeheuer,
Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm entgegen,

30
Willst du Diebsgesicht mir aus dem Hause;

Und ergriff den schweren Stock im Winkel.
Traurig schritt der ehrliche Hurone
Fort von seiner unwirthbaren Schwelle,
Bis durch Sturm und Guß der späte Abend

35
Ihn in seine friedliche Behausung

Und zu seiner braunen Gattin brachte.
Naß und müde setzt er bey dem Feuer

[257]

Sich zu seinen nakten Kleinen nieder,
Und erzählte von den bunten Städtern

40
Und den Kriegern, die den Donner tragen,

Und dem harten Sinn des Europäers.
Und sie schlossen sich um seine Kniee,
Hiengen aufmerksam an seinem Nacken,
Trockneten die langen schwarzen Haare,

45
Und duchsuchten seine Waidmannstasche,

Bis sie die versprochnen Schätze fanden.
Kurze Zeit darauf war unser Pflanzer
Auf der Jagd im Walde irr’ gegangen.
Ueber Stock und Stein durch Thal und Bäche

50
Stieg er schwer auf manchen jähen Felsen

Um sich umzusehen nach dem Pfade,
Der ihn tief in diese Wildniß brachte.
Doch sein Spähn und Rufen war vergebens;
Nichts vernahm er als das hohle Echo

55
Längs den hohen schwarzen Felsenwänden.

Aengstlich gieng er bis zur zwölften Stunde,
Wo er an dem Fuße eines Berges
Noch ein kleines schwaches Licht erblickte.
Furcht und Freude schlug in seinem Herzen;

60
Er ermannte sich, und nahte leise.
[258]

Wer ist draußen? brach mit Schreckentone
Eine Stimme aus der tiefen Höle,
Und ein Mann trat aus der kleinen Wohnung.
Freund, im Walde hab ich mich verirret;

65
Sprach der feine Europäer schmeichelnd,

Gönnet mir die Nacht hier zuzubringen,
Und zeigt morgen früh, ich werd euch danken,
Nach der Stadt mir die gewissen Wege.
Kommt herein, versetzt der Unbekannte,

70
Wärmt euch, noch ist Feuer in der Hütte!

Und er führt ihn auf das mooß’ge Lager,
Schreitet finster trotzig in den Winkel,
Hohlt den Rest von seinem Abendmahle,
Hummer, Lachs und frischen Bärenschinken,
Um den späten Fremdling zu bewirthen.

75
Mit dem Hunger eines Waidmanns speiste

Festlich wie bey einem Klosterschmauße
Neben seinem Wirth der Europäer,
Fest und ernsthaft schaute der Hurone
Seinem Gaste spähend ins Gesichte,

80
Der mit tiefem Schnitt den Schinken trennte

Und mit Wollust trank vom Honigtranke,
Den in einer großen Muschelschale

[259]

Er ihm wirthlich bey dem Male reichte.
Eine Bärenhaut auf weichem Moose

85
War des Pflanzers gute Lagerstätte,

Und er schlief bis in die hohe Sonne.
Wie der wilden Zone wildster Krieger,
Schrecklich stand mit Köcher, Pfeil und Bogen
Der Hurone jetzt vor seinem Gaste

90
Und erweckte ihn; der Europäer

Griff bestürzt nach seinem Jagdgewehre,
Und der Wilde gab ihm eine Schaale,
Angefüllt mit süßem Morgentranke.
Als er lächelnd seinen Gast gelabet,

95
Bracht er ihn durch manche lange Windung,

Ueber Stock und Stein, durch Thal und Bäche,
Durch den Dickicht auf die rechte Straße.
Höflich dankte fein der Europäer;
Finsterblickend blieb der Wilde stehen,

100
Sahe starr dem Pflanzer ins Gesichte,

Sprach: Herr, habt ihr mich noch nicht gesehen?
Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger,
Und erkannte in dem edlen Manne
Jenen Mann, den er vor wenig Wochen
In dem Sturmwind aus dem Hause jagte,

[260]
105
Stammelte verwirrt Entschuldigungen.

Ruhig ernsthaft sagte der Hurone:
Seht, ihr fremden, klugen, weisen, Leute,
Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen;
Und er schlug sich seitwärts ins Gebüsche.

Seume.