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Titel: Der Welfenschatz
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 282–285
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Welfenschatz.

Im Dezember des Jahres 1650 kamen in die welfischen Lande über den dritten Sohn des Herzogs Georg, des Odysseus im dreißigjährigen Kriege, seltsame Gerüchte: der Fürst war nach Italien gereist; hier sei er stets von Jesuiten umlagert, das Disputiren über Religion nehme kein Ende und es sei wohl gar ein Confessionswechsel zu befürchten. Die Sache war richtig. Herzog Johann Friedrich nahm auf die dringenden Vorstellungen seiner Mutter und seiner Brüder, die ihn „von dem für einen norddeutschen Prinzen nicht anständigen Schritte abzumahnen“ strebten, gar keine Rücksicht, sondern trat wirklich zu Assisi förmlich und feierlich zur katholischen Religion über.

Diese Nachrichten erregten in den welfischen Stammlanden ein gewaltiges Aufsehen. Nach dem Testamente des Herzogs Georg († 1641), des Vaters des Convertiten war es Grundsatz, daß wichtige Aemter nur von Anhängern des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses verwaltet werden sollten. Nach einem Statute der Altstadt Hannover vom Jahre 1588 sollten nur Lutheraner in der Stadt geduldet werden und kein Andersgläubiger auch nur eine Nacht in Hannover zubringen. Selbst noch im Jahre 1798 mußte der zum Auditor bei der Justiz-Kanzlei in Hannover ernannte Graf Ferdinand von der Lippe-Biesterfeld vor Zulassung zu den gewöhnlichen Prüfungen das reformirte Glaubensbekenntniß verlassen und das lutherische annehmen! Hiernach ermesse man den Eindruck, den in den Stammlanden die Nachricht von des Herzogs Uebertritt zum Katholicismus machen mußte. Als Johann Friedrich unmittelbar darauf nach Hause schrieb und für den Fall, daß man ihm freie Ausübung seiner Religion und die früheren Deputatgelder bewilligen würde, seine Heimkehr in Aussicht stellte, kam die Sache zunächst vor die Consistorien, die Helmstädter Theologen und den Ausschuß der Stände. Nach langem Debattiren erfolgte der Bescheid, daß in Folge der frühern Recesse einem Mitgliede der fürstlichen Familie die Ausübung der katholischen Religion im eigenen Lande nicht zugestanden werden könne.

Im Jahre 1665 gelangte Herzog Johann Friedrich in Hannover zur Regierung. Man war mittlerweile im Punkte der Religion milder geworden, und das Privat-Exercitium der katholischen Confession von Seiten des Fürsten ward in keiner Beziehung mehr beanstandet. In das eifrig protestantische Land kam der zum apostolischen Vicar und Bischof von Marocco ernannte Valerio Maccioni, die Schloßkirche wurde für den Hof zur Messe geweiht, italienische Sänger zur Capelle verschrieben, den Capuzinern im Schlosse ein Hospitium eingeräumt - und das Land erlebte nun das Schauspiel des katholischen Gottesdienstes, wovon man anderthalb Jahrhunderte lang keine Spur mehr gesehen, das aber auch den Tod des Herzogs († 1679), also vierzehn Jahre, nicht überdauern sollte.

Dem Herzog Johann Friedrich nun verdankt Hannover die weitberühmte Sammlung von kirchlichen Gefäßen und Reliquien, die gegenwärtig in dem Museum für Kunst und Industrie zu Wien der allgemeinen Bewunderung als Theil des Welfenschatzes zur Schau gestellt ist.

Die Geschichte dieses wirklichen Schatzes von Kunstwerken und Alterthümern ist nicht ohne Interesse. Sie knüpft sich zunächst an Heinrich den Löwen und seine sagenreiche Wallfahrt nach dem gelobten Lande. Heinrich unternahm dieselbe im Anfange des Jahres 1172, gelangte am Charfreitage nach Constantinopel und wurde mit seinem Gefolge von dem griechischen Kaiser Manuel Comnenus auf die ehrenvollste Weise glänzend aufgenommen, der ihm, als Heinrich, von Jerusalem zurückgekehrt, wieder in Byzanz einsprach, viele und köstliche Reliquien der Heiligen und dazu eine Fülle kostbarster Edelsteine zum Geschenk machte.

Nach seiner Rückkehr in Braunschweig begann Heinrich den Bau der neuen Stiftskirche St. Blasius. Die innere Ausstattung war eine glänzende. Heinrich schmückte die Kirche, die er für sich und seine Gemahlin Mathilde zur letzten Ruhestatt erkoren, mit herrlichen (jetzt wieder hergestellten) Wandgemälden und Fensterzierrathen, mit einem prächtigen Fußboden, setzte auf den Altar ein kostbares, von Gold und Edelsteinen strahlendes Kreuz, stellte in das Schiff der Kirche den jetzt auf dem Chor befindlichen siebenarmigen Candelaber, ließ aus den mitgebrachten morgenländischen Stoffen köstliche Meßgewänder anfertigen und vor Allem: er begabte sein Stift mit den unschätzbaren Reliquien, den Geschenken des Kaisers Manuel, die er, soweit dies noch nicht geschehen, in Gold und Silber, Perlen und Edelsteine fassen ließ. Dazu [283] kamen noch die bereits dem ältern Stifte in der Burg verehrten Gaben, besonders die von der ersten Gräfin Gertrud († 1077) herrührenden kostbaren Kreuze und die Stiftungen des Propstes Athelold († 1100). Alle diese Schätze überwies Heinrich der Löwe dem St. Blasiusdome, und hier blieben sie lange Jahrhunderte hindurch zur Erbauung der Gläubigen aufbewahrt, bis der Gang der Ereignisse sie ihrer ursprünglichen Stätte entzog und nach Hannover entführte.

Die Stadt Braunschweig, im allzu sehr gehobenen Gefühl ihrer Bedeutung, wollte dem Herzoge Rudolph August von Wolfenbüttel nur unter den von ihr selbst gestellten Bedingungen huldigen. Es vereinigten sich nun alle regierenden Fürsten des welfischen Hauses zu einem gemeinsamen Unternehmen gegen die Stadt, und dieselbe wurde im Jahre 1671 unterworfen. Herzog Johann Friedrich forderte und erhielt für seine Ansprüche an die Stadt und für seinen Beistand die Reliquien des St. Blasiusstiftes. So kamen diese nach Hannover.

Warum Johann Friedrich gerade diese Entschädigung wählte, läßt sich aus seinem oben erzählten Religionswechsel nur zum Theil erklären. Auch sein Kunstsinn hat Antheil daran gehabt. Er war ein Fürst mit seltenen Gaben des Geistes ausgestattet, der an dem, was Wissenschaften und Künste bieten, den reinsten Gefallen hatte. Bigotterie stand ihm fern. Er war heitern Temperaments, über ein Vierteljahrhundert lang zog er durch fast alle Länder Europa’s, fast überall knüpfte er mit gelehrten Männern Verbindungen an, correspondirte mit gleicher Leichtigkeit in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache, begründete zu Hannover eine ansehnliche Bibliothek und besonders – er berief hierher den größten Gelehrten seines Jahrhunderts: Leibniz.

Seinen Reliquienschatz suchte Johann Friedrich auf den zahlreichen Reisen, namentlich in Italien, nach Kräften zu vermehren. Er bestellte darüber besondere Aufseher, und von einem derselben, dem berühmten Gerhard Molanus, Abt von Loccum, erschien im Jahre 1697 in deutscher Sprache eine eingehende Beschreibung, die auf Veranlassung des Papstes Clemens des Eilften in’s Lateinische übersetzt wurde. Der Papst erhielt für die vaticanische Bibliothek ein Exemplar auf Pergament, ein anderes auf kostbarem Papier für sich; ein drittes Exemplar auf Pergament befindet sich jetzt im Welfen-Museum. Die Gefäße und Reliquien selbst wurden mit höchster Sorgsamkeit verwahrt; sie zu sehen war für den gewöhnlichen Mann mit den größten Schwierigkeiten verbunden, selbst für „Standespersonen“ und Fürsten war der Zutritt zu ihnen eine Vergünstigung, und von Zeit zu Zeit wurde mit ihnen eine genaue Untersuchung vorgenommen, um ihren Bestand protokollarisch zu constatiren. Alles dies sowie mancherlei Sagen von ihrer Kostbarkeit verbreiteten um sie einen geheimnißvollen Nimbus. Man erzählte sich von einzelnen Stücken fast Wunderbares. Es befindet sich unter den Reliquien ein Daumen des heiligen Marcus; nun sollen die Venetianer, denen von dem Körper des Heiligen eben nur dieser Daumen fehlte, hierfür dem Könige Georg dem Ersten nicht weniger als hunderttausend Ducaten geboten haben!

Als im Jahre 1861 König Georg der Fünfte von Hannover das Welfen-Museum gründete, wurde der Reliquienschatz seiner Verborgenheit in den eisenbeschlagenen Schreinen der Schloßkirche endlich entzogen. Der König befahl, denselben im Welfen-Museum aufzustellen, und mit großer Liberalität wurde er nun dem Publicum allgemein zugänglich gemacht. Wir erinnern uns noch lebhaft des Staunens, der Ueberraschung und der Bewunderung aller Kenner, auch der weitgereisten, in der sonst an Sammlungen ziemlich dürftigen Stadt Hannover einen solchen Schatz zu finden, um den das junge Welfen-Museum zu beneiden selbst die größten Anstalten dieser Art vollen Grund hatten. Das größere Publicum staunte wenigstens über das hohe Alter der Gefäße, und wenn auch nicht gerade die Heiligengebeine, so flößten ihm doch die Namen Heinrich’s des Löwen und seiner noch ältern Ahnen eine gewisse Ehrfurcht ein. Dann kam das verhängnißvolle Jahr 1866. Das Eigenthum des Königs Georg ward mit Beschlag belegt. Nach dem bekannten Vertrage wurde es für kurze Zeit, bis zur bald darauf folgenden Sequestration, wieder freigegeben und in dieser kurzen Zwischenzeit der Reliquienschatz nebst der königlichen Münzsammlung und der bis dahin in den Gewölben des Residenzschlosses verborgenen großartigen Silberkammer, deren Werth aus mehrere Millionen geschätzt wird, auf Befehl des Königs Georg mittels Extrazuges nach Wien befördert.

So gingen diese Kostbarkeiten, der Stolz Hannovers, einstweilen, und wer kann sagen: auf wie lange? zum größten Leidwesen aller Hannoveraner in’s Ausland. Sie stehen jetzt im Wiener Museum für Kunst und Industrie – für Hannover nicht einmal der einzige Verlust. Die übrigen Sammlungen des Königs Georg befinden sich in dem nahe gelegenen Herrenhausen, der Benutzung und dem Genusse, wenigstens was die Gemälde und Sculpturen betrifft, so gut wie völlig entzogen. –

Betrachten wir nun die Geräthe, Gefäße und Reliquien selbst, so umfassen dieselben etwa einhundertundvierzig Nummern. Die Reliquien, deren Alter und Echtheit lassen wir unberücksichtigt, die Gefäße dagegen, abgesehen von den Stücken byzantinischen Ursprungs, datiren der Zeit nach etwa vom elften bis zum fünfzehnten Jahrhundert, kennzeichnen also die verschiedenen Entwickelungsphasen des romanischen und gothischen Stils bis auf des letzteren Entartung. Wir wollen sie so viel wie möglich zunächst nach ihrer Form zusammenstellen.

Zuerst erwähnen wir eine Folge von Kreuzen und Crucifixen, elf an der Zahl. An die oberste Stelle setzen wir ein Werk byzantinischer Kunst, ein Reliquienkreuz von massivem Gold, reich ausgeführt in durchbrochener Arbeit, mit Filigran, Sapphiren, Granaten, Topasen und anderen Edelsteinen, sowie mit einer großen Zahl Perlen besetzt. Der Gekreuzigte, auch die Brustbilder der Mutter Maria und des Evangelisten Johannes zu dessen Seiten glänzen in Email, dessen Feuer mit den Edelsteinen wetteifert, welchen es auch seiner Zeit nahezu gleich werth gehalten wurde. Auf der Rückseite bezeichnen vier niellirte Schrifttafeln die hier gefaßten Reliquien des heiligen Petrus, Marcus, Johannis des Täufers und Sebastian. Dieses Kunstwerk von höchstem Alter, wie schon die Figur Christi bekundet, die, bärtig, mit offenen Augen, horizontal gehaltenen Armen und nebeneinander auf das Fußbrett gestellten Beinen sowie mit dem langen Schurze, dem frühesten Typus sehr nahe kommt, ruht auf einem romanischen Säulchen von vergoldetem Silber aus ziemlich jüngerer Zeit (elftem oder schon zwölftem Jahrhundert), dessen Untersatz mit drei phantastischen Löwenköpfen und drei Engeln geschmückt ist. Crucifix und Fuß sind etwas über einen Fuß hoch.

Zwei andere Kreuze sind Weihgeschenke der Gräfin Gertrud von Braunschweig, die wir schon oben erwähnten. Auch diese sind reich mit Filigran, Sapphiren, Amethysten, Carneolen und Perlen geschmückt. Ein viertes, fast zwei Fuß hoch, stammt freilich aus bedeutend späterer Zeit (etwa Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts), zeichnet sich aber durch den verschwenderischen Besatz von Edelsteinen, Perlen und Korallen ganz besonders aus. Die Rückseite desselben enthält unter Bergkrystallen und Hornscheiben verschiedene Reliquien. Aelter ist wiederum das Kreuz, wovon wir unter Nr. 1 eine verkleinerte Abbildung geben. Das Material ist vergoldetes Kupfer; der Zeit nach könnte es noch in das elfte Jahrhundert gehören. Ein großer Krystall in der Mitte bedeckt gleichfalls verschiedene Reliquien. Die übrigen Kreuze, von geringerer (etwa drei bis acht Zoll) Höhe, entstammen dem dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, zeigen ebenfalls zum Theil einen reichen Schmuck von Edelgestein und Email und sind meistens, wie die obigen, zur Aufbewahrung verschiedener Reliquien bestimmt.

Hieran schließt sich eine Reihe von etwa zehn kleineren tragbaren Altären verschiedener Größe, und auch darunter sind wieder Meisterwerke ersten Ranges. Als ältesten möchten wir den von der erwähnten Gräfin Gertrud gestifteten bezeichnen: auf der Oberfläche mit einer Porphyrplatte belegt, die Einfassung filigranirtes Goldblech mit der Widmungsinschaft in Uncialen. Die Vorderseite, von gleichem Metall, zeigt die Figürchen von Christus und sechs Aposteln unter romanischen Arcaden von Email; auf der Rückseite steht mit den sechs anderen Aposteln Maria; die Schmalseiten nehmen fünf Erzengel sowie ein emaillirtes Kreuz und die Figürchen des heiligen Sigismund, Constantins, der heiligen Helena und Adelheid ein. Das Altärchen, etwa einen Fuß lang und acht Zoll breit, hat den Reliquienbehälter an der mit Silberblech überzogenen Unterseite und ist an den Rändern reich mit Perlen und Steinen besetzt.

Ein zweiter Tragaltar kennzeichnet sich durch die griechischen Beischriften als byzantinisches Werk und ist daher wohl von [284] Heinrich dem Löwen aus dem Oriente mitgebracht. Der Figurenschmuck ist getrieben, die schöne Achatplatte ruht in einer silbervergoldeten Einfassung. Der erste Platz gebührt aber unzweifelhaft einem Tragaltare aus dem Ende des zwölften Jahrhunderts, der zufolge einer Inschrift von dem Kölner Eilbertus verfertigt ist. Die Oberseite enthält als Mittelstück eine Miniature auf Pergament, unter einer großen Platte von Bergkrystall: der thronende Christus in der Mandorla, umgeben von den Zeichen der vier Evangelisten. Eingeschlossen wird dies Mittelstück von Emaillen mit den sitzenden Figuren der zwölf Apostel mit Schriftbändern und rechts

Nr. 3. Die Perle des Welfenschatzes.

und links von acht Darstellungen aus dem Leben der Maria und des Erlösers. Die Seiten sind durch Pfeiler in kleine Felder getheilt und enthalten siebenzehn Standbilder von alttestamentlichen Personen; selbst der Boden, mit einer Klappe für die Reliquie, ist durch Email und Gold blumig gemustert. Die Figuren, wird richtig bemerkt, sind von überaus schöner Zeichnung, das Email von großer Leuchtkraft und Gluth der Farben, die zum großen Theil ihre Pracht der sorgfältig ausgeführten Politur verdanken - das ganze Werk überhaupt ein Meisterwerk höchsten Ranges.

Auch von dem schon genannten Propst Athelold ist ein Tragaltärchen als Geschenk vorhanden, die Deckelplatte aus Malachit bestehend. Die übrigen sind der Zeit nach etwas jünger und entweder durch die kunstvolle Arbeit oder ihren reichen Schmuck von mannigfachem Interesse.

Ungemein reichhaltig ist die Reihenfolge der verschiedenen Reliquiarien und Ostensorien in Monstranz-, Kasten- und sonstigen Formen, Gefäße und Geräthe, die den Gegenstand der Verehrung entweder offen, in Krystall- oder Glascylindern oder unter Krystallplatten zeigen oder in einem besonderen Behälter solchergestalt bergen, daß dieser Behälter von der Art der Reliquie schon durch seine Form eine Andeutung giebt. Bei der Menge dieser kostbaren Gefäße und Geräthe im Welfenschatze können wir unmöglich in alle Einzelnheiten beschreibend eingehen, wir müssen uns mit einer ganz oberflächlichen Musterung begnügen.

Ein mit vergoldetem Silber überzogenes Täfelchen mit der Reiterfigur des heiligen Demetrius ist, zufolge der griechischen Inschrift, byzantinische Arbeit. Der berühmte Daumen des heiligen Marcus, dessen wir schon oben gedachten, ist mit einer Reliquie des heiligen Blasius in einem monstranzförmigen Gefäße aus dem vierzehnten Jahrhundert verwahrt. Aehnlich ist das Reliquiar, wovon wir in Nr. 2 eine verkleinerte Abbildung mittheilen – nur daß, statt wie dort ein Krystallcylinder, hier eine kunstreiche Patene das Mittelstück bildet, ein Werk des hochberühmten Bischofs Bernward von Hildesheim. Ungefähr ein Dutzend anderer Behälter aus ungefähr gleicher Zeit zeigen dieselben gothischen Formen in mehr oder minder reicher Entwicklung und sind angeblich mit Reliquien des Täufers Johannes, Sebastian’s, Godehard’s und anderer Heiligen angefüllt. Von zwei Holzbüsten, mit Silberblech überzogen und vergoldet, enthält die eine ein Schädelstück des heiligen Blasius, die andere des heiligen Cosmas. Die erstere ist reich mit Sapphiren, Amethysten, Granaten und anderen Edelsteinen besetzt. Von demselben Heiligen sind auch noch zwei andere Gegenstände vorhanden, nämlich eine kleine mit Perlen geschmückte Statuette und ein großes Horn von Elfenbein, reich mit Ornamenten verziert. Eine ganz besondere Erwähnung verdient dann eine Anzahl von Reliquienbehältern in Form von Armen, größtenteils von außerordentlich schöner und kostbarer Arbeit, aus edlen Metallen und mit Steinen besetzt, mit getriebenen, gravirten und emaillirten Ornamenten und, entsprechend ihrer Form, mit den Armknochen verschiedener Heiligen gefüllt.

Schließlich kommt noch eine ganze Reihe größerer und kleinerer Reliquienkasten, Kapseln und sonstiger Geräthe, ebenfalls entweder durch den Werth des Materials oder durch die Kunstfertigkeit in der Ausführung in ihren mannigfaltigen Formen für den Beschauer im höchste Grade anziehend. Unter diesen verdient der eine Behälter, zweifelhaft das Hauptstück der ganzen Sammlung, noch eine nähere Erläuterung. Zunächst haben wir auf Nr. 3 unserer Abbildungen zu verweisen. Das Hauptwerk hat die Form einer Kuppelkirche, die über einem griechischen Kreuze erbaut auf vier geflügelten Löwen mit Adlerköpfen ruht. Der untere Theil gliedert sich durch romanische Arcaden in zwanzig Nischen, die in Reliefs von Elfenbein die Geburt Christi, die heiligen drei Könige, die Kreuzigung und die drei Frauen am Grabe, außerdem die Standbilder von sechszehn alttestamentlichen Personen mit Schriftbändern enthalten. Die oberen Arcaden an der Kuppel sind mit den Figuren Christi und der zwölf Apostel besetzt. Die Inschriften sind entnommen aus Matthäus 16, 13-16. Der Behälter ist über anderthalb Fuß hoch und hat etwa ein und ein Viertel Fuß im Durchmesser. Das Ganze, über und über mit Email in reichster und geschmackvollster Zeichnung incrustirt, macht durch die Zusammenstellung der satten Schmelzfarben und den Goldglanz des Metalls den Eindruck würdigster Pracht und kann den bedeutendsten Emailwerken, die uns erhalten sind, so dem Schrein der heilige drei Könige in Köln, ebenbürtig an die Seite gestellt werden. An dem South-Kensington-Museum zu London befindet sich ein sehr ähnlicher Reliquienbehälter. Derselbe wurde [285] zu Paris auf der Soltikow’schen Sammlung für sechsunddreißigtausend Thaler angekauft, ist aber, nach der Aussage des Directors Cole, in Bezug auf Reichthum und Erhaltung dem des Welfenschatzes kaum zu vergleichen.

Wenn wir nun noch erwähnen, daß der Welfenschatz auch das überaus prachtvolle Evangeliar Heinrich’s des Löwen, welches von dem Mönche Herimann im Benedictinerkloster Helmershausen an der Diemel ausgeführt wurde und das vor einigen Jahren König Georg aus Prag für zehntausend Thaler erwarb, ferner das Breviar, angeblich vordem ein Geschenk von Kaiser Karl dem Fünften an den König Heinrich den Achten von England, welches durch die Schönheit der Miniaturen wohl einzig in seiner Art ist, sowie zwei Pergamentmanuscripte (Plenarien) enthält, das eine aus dem neunten, das andere aus dem vierzehnten Jahrhundert, beide mit kostbaren Deckeln, die auch Reliquien bergen, aus dem vierzehnten Jahrhundert versehen, so glauben wir damit unsere kurze Uebersicht über den Welfenschatz beschließen zu müssen.

Nr. 2. Reliquiar von Bischof Bernward in Hildesheim.

 

Nr. 1. Kreuz aus dem elften Jahrhundert


Der Welfenschatz – welche Geschichte, welche Erinnerung knüpft sich daran! Auf der Höhe seines Ruhmes von dem Löwen unter den Welfen aus dem geheimnißvollen Orient heimgebracht, der kostbarste Gewinn einer sagenreichen Pilgerfahrt, das Ehrengeschenk des Kaisers von Byzanz, theilweise schon das Erbe in grauester Vorzeit sich verlierender Ahnen – und die jähe Katastrophe des Jahres 1866, der flüchtende König von Hannover und der geflüchtete Welfenschatz – welch' lange Zeit und welcher Wechsel! Jahrhunderte lang suchte der Glaube in den Reliquien Erhebung und Stärkung, bis die Reformation sie des Nimbus entkleidete und sie von den Altären verbannte. Als sie durch Johann Friedrich, den Convertiten, wieder der Vergessenheit entrissen wurden, war dennoch der Glaube an ihre Wunderkraft dahin – sie waren nur seltsame Zeugen längstverflossener Jahrhunderte, nur ein Südländer oder ein Russe mochte sich bei ihrem Anblick noch bekreuzen. Die Gegenwart betrachtet sie blos als Material zum Studium, das sie in dem mächtigen Wetteifer der Nationen für den Fortschritt nach Kräften zu verwerthen sucht; und fürwahr, auch unter diesem Gesichtspunkte sind die Reliquien des Welfenschatzes ein Schatz von der höchsten Bedeutung.