Der Tuifelmaler
Der Tuifelmaler.
Golden liegt die Herbstsonne auf dem See und den fernen Wäldern, die sich wundersam klar im Wasser spiegeln. Und dieses Wasser plätschert an die alten Weiden des Ufers her mit einer Naturmusik, welche die Seele ganz gefangen nimmt.
Jahrzehnte sind vergangen, seit ich als Kind an derselben Stelle saß. Auch damals spielten die Wellen krystallhell um den Strandkies. Sie spielten aber auch um ein Fahrzeug seltsamer Art, das ich in ihnen liegen sah; um ein Fahrzeug, das mir, ob auch nun sein letzter Span längst im See versunken ist, nicht aus der Erinnerung kam.
Von diesem Fahrzeug und seinem Herrn möchte ich etwas erzählen.
Girgel Söllhuber, so hieß der letzte Eigenthümer des Fahrzeugs, hatte eine etwas unklare Vergangenheit. Man erzählte im Dorf, er hätte einmal studieren sollen, aber nichts getaugt. Sicherer ist, daß er’s in seiner Jugend mit verschiedenen Handwerken probierte, ohne es in einem derselben über die Lehrlingsstufe hinauszubringen. Schließlich nahm ihn ein Vetter, der in einem benachbarten Städtchen ein ziemlich blühendes Anstreichergeschäft betrieb, noch einmal zur Probe als Lehrling an. Und dieser Beruf ward die Grundlage – wenn es überhanpt eine solche gab – für Girgels späteres Leben.
Girgels Meister war ein ganz tüchtiger Handwerker; nur die künstlerische Ader fehlte ihm. Die aber besaß der Girgel in reichem Maße. Nun mußte dazunal ein Anstreicher in einem oberbayerischen Landstädtchen auch ein Stück von einem Künstler sein, denn er hatte nicht bloß Hochzeitskästen, Grabkreuze, Balkone und Fensterladen anzustreichen, sondern ebenso Wirthshausschilder und „Marterln“ zu malen. Die letzteren sind jene kleinen Täfelchen, welche das Landvolk zur Erinnerung an bedeutende Ereignisse, namentlich zur Erinnerung an Unglücksfälle
[865][866] aufzustellen liebt; entweder an der Unglücksstätte selbst oder in benachbarten Kapellen und Kirchen.
In solchen „Marterln“ zeigte sich Girgel als Meister. Seine kundige Hand zauberte mit überraschender Aehnlichkeit Holzknechte, die beim Fällen von Bäumen erschlagen wurden, Bauern, die unter den Rädern ihres Wagens einen jähen oder im tiefen Winterschnee einen langsamen Tod gefunden hatten, auf die kleinen Holztafeln. In herzbeweglichen Worten schrieb er dann noch mit recht lesbaren Buchstaben das Ereigniß unter das Bildchen und schloß mit der Bitte an den Wanderer, für das Seelenheil des Verunglückten ein Vaterunser zu beten.
Bei der ausgedehnten Kundschaft seines Meisters hatte Girgel bald nichts anderes mehr zu thun, als „Marterln“ zu malen.
Als der Meister starb und dessen Geschäft von einem Nachfolger angekauft wurde, mit welchem Girgel sich nicht vertrug, machte sich Girgel selbständig. Er siedelte sich in dem Dorfe am See an, wo er zwar kein Anwesen erwarb, aber wenigstens eine Stube, die ihm als Atelier und Schlafstätte diente. Der Ruf, welchen er sich als „Marterl“-Maler im Städtchen erworben hatte, war weit verbreitet, so daß er in den ersten Jahren seiner Selbständigkeit vollauf Beschäftigung fand. Er erhielt für ein „Marterl“ – je nach der Zahlungsfähigkeit des Bestellers – einen Gulden oder mehr, mitunter selbst einen Kronenthaler.
Wenn ich sage, er hatte vollauf Beschäftigung, so muß das richtig verstanden werden. Vollauf Beschäftigung, das hieß für den Girgel drei Tage Arbeit in der Woche und vier Feiertage. Was darüber war, das war ihm schon zu viel. So kam’s denn, daß ihm zuweilen das Geld ausging, trotz all seiner Kunst, und daß er eines schönen Tages von einer Kunstreise hemdärmelig, ohne Rock nach Hause kam, weil er den letzteren in einem ziemlich entlegenen Wirthshaus als Pfand hatte zurücklassen müssen. Gerade damals hatte er aber besonderes Glück. Ein Schiff mit Wallfahrern war im See untergegangen; da bekam der Girgel eine Menge „Marterln“ zu malen und konnte nicht bloß seinen Rock wieder auslösen, sondern erhielt noch ein weiteres Kleidungsstück dazu. Ein reicher Bauer aus dem Unterlande nämlich, dessen Schwiegermutter mit unter den verunglückten Wallfahrern gewesen war, zahlte dem Girgel nicht bloß drei Kronenthaler für das „Marterl“, sondern schenkte ihm außerdem eine neue Lederhose.
Das war die höchste Bezahlung, welche Girgel in seinem Leben für ein Kunstwerk davongetragen. Aber er war mit den Ergebnissen seiner Kunst nicht zufrieden. „Ich bin ein Sonntagskind und muß noch ein großes Glück erwischen!“ Das war seine ständige Redensart. Auf seine Sonntagskindschaft sündigte er, wenn er die Kundschaften warten ließ und, statt die bestellten „Marterln“ zu malen, im benachbarten Brauhause hinter dem Maßkrug saß.
In jener Zeit erwarb er sich den Uebernamen, der ihm bis über seinen Tod hinaus verblieb, den Namen „Tuifelmaler“. Es werden nämlich mitunter „Marterln“ bestellt, auf welchen nicht nur irdische Vorgänge, sondern auch Fegfeuer und Hölle zur Erscheinung kommen sollen. Und darin zeigte nun der Girgel eine ganz besondere Kühnheit der Erfindung und der Ausführung. In eine Wegkapelle bei Ramsau malte er das Paradies, das Fegfeuer und die Hölle auf einer einzigen Tafel: das Paradies himmelblau mit weiß, rosa und lichtgrün; das Fegfeuer aschgrau mit einem Stich ins Schweflichte; die Hölle kohlschwarz, blutroth und feuergelb, mit auserlesenen Teufeleien gefüllt. Ein Erfolg dieses Kunstwerks war, daß auswärtige Kundschaften fast nur mehr nach dem „Tuifelmaler“ frugen, wenn sie etwas von ihm haben wollten.
Jeden Tag, oft aber auch zweimal im Tage, saß der Girgel in der Schenke des Brauhauses. Daselbst war eine Kellnerin, die Liesei, ein braves und hübsches Mädchen mit hellen Augen und fleißigen Händen. Die hätte den Girgel wohl mögen, wenn er weniger im Wirthshaus und fleißiger bei seinen „Marterln“ gesessen hätte. Aber es war nichts zu machen mit dem Menschen. Statt ernster und tüchtiger ward er von Woche zu Woche liederlicher. Er hatte auch den richtigen Kumpan dazu gefunden in der Person des Schratzen-Wastl, eines verkommenen Zimmergesellen, der die wüstesten Lieder singen konnte im Umkreis von sechs Wegstunden.
Der Schratzen-Wastl starb eines jähen Todes. Er fiel, weil er zu viel getrunken hatte, vom Dach des Brauhauses, wo er neue Schindeln aufnageln sollte. Aus der Verlassenschaft des Schratzen-Wastl aber erstand Girgel dessen Einbaum. Der war das schlechteste Schiff am ganzen See, schwarz vor Alter, schief gedreht vom Sturm der Zeit und reichlich durchlöchert.
Girgel aber richtete dieses Fahrzeug seltsam her. Außen an den hochaufstrebenden Bug malte er, wie in die Kapelle bei Ramsau, Himmel, Fegfeuer und Hölle. Dem Himmel hatte er freilich nur ein kleines Fleckchen gelassen, den meisten Raum nahm die Hölle ein. Dieses Fahrzeug ward Girgels Heimwesen; vorn im Schnabel des Kahns richtete er sich eine Moosstreu zurecht und schlief zur Sommerszeit oft Wochen lang nur noch in seinem Schiffe. Wenn er kein Geld mehr hatte, um im Brauhaus zu trinken, und keine Lust, in seiner Werkstatt zu arbeiten, saß er draußen im See und fischte. Fuhr aber einer aus dem Dorfe vorüber und frug etwa spottend: „Girgel, was fangst?“ – dann rief er gleichmüthig: „Ich bin ein Sonntagskind und muß doch noch mein Glück erwischen.“
Die blonde Liesei sah ihm oft nach, wenn er so in den See hinausfuhr, und jedesmal kam ein Seufzer aus ihrem Herzen. Ein seidenes Tuch, das er ihr einst unter Betheuerungen seiner Liebe geschenkt, hatte sie zwar genommen, aber dazu gesagt: „Girgel, ich heb’ Dir’s auf! Tragen thu’ ich’s nicht eher, das Tüchel, als bis Du ein ordentlicher Mensch geworden bist!“
Der Girgel ward jedoch kein ordentlicher Mensch mehr, sondern fuhr fort, nach seinem Glück zu fischen. Einmal fing er auch wirklich etwas ganz Großes und Merkwürdiges. Ob es aber das Glück war, ist doch sehr zweifelhaft. Die Sache ging so zu:
Der Girgel saß eines schönen Tages wieder in seinem wüsten Fahrzeug draußen auf dem See und fischte. Da kam ein Schiff vorüber, drinnen der Gerichtsdiener vom königlichen Landgericht. Wie der den Girgel sah, rief er ihm zu, während er seinen Fährmann anhalten ließ: „Girgel Söllhuber, ich glaub’, ich hab’ was Gutes für Dich!“
„Nur her damit!“ antwortete dieser übermüthig. Und wie der Gerichtsdiener ein Schreiben hervorzog, um es dem Girgel zu geben, reichte dieser das Ruder hin, damit der Gerichtsdiener das Schreiben drauf legen sollte.
[867] „Wann's aber in See fallt,“ sagte der, „ich bin nit schuld!“ und legte das Schreiben auf das Ruder. Girgel jedoch war ungeschickt und warf das Schreiben in den See statt in sein Schiff. Indessen das Papier schwamm, und so hatte er’s sofort wieder herausgefischt. Und als er nun das Gerichtssiegel erbrach, stand in dem Schreiben, daß ein Vetter, der nach Rußland ausgewandert war, dem Girgel Söllhuber achtzehntausend Gulden vermacht habe und daß das Geld auch schon beim Landgericht hinterlegt sei.
Achtzehntausend Gulden waren damals ein großes Vermögen. Der Girgel dachte nichts anderes, als daß er sich nunmehr ein Anwesen kaufen, das Liesei heirathen und ein solider Mensch werden wollte. Wie er aber das Geld in Händen hatte, führte ihn sein Unstern nach München, und man hörte ein halbes Jahr laug in seinem Heimathsdorf nichts mehr von ihm. Das Liesei weinte bitterlich ihre letzten Thränen um den Menschen. Dann nahm sie sich tapfer zusammen und wenn jemand sie nach dem Girgel fragte, gab sie kurz zur Antwort: „Hab’ mir’s lang schon denkt! Er wird halt ganz verkommen sein!“
Ein halbes Jahr darauf erschien der Girgel wieder am See, und zwar sehr stolz. Er kam in einem mit zwei Schimmeln bespannten Wagen, an seiner Seite aber saß eine Dame im Federhut, die er als seine Frau bezeichnete. Er selber war städtisch gekleidet. Es stand ihm herzlich schlecht, allein er fühlte es nicht.
Eine Stunde lang saßen die beiden unter der Linde des Brauhauses und schauten in den See hinaus, das Frauenzimmer faul und gelangweilt, der Girgel trüb und nachdenklich. Ein paar von den Dorfbewohnern kamen zu ihrem Nachmittagstrunk; er begrüßte sie mit prahlerischer Herablassung, dann ließ er wieder einspannen.
Das Liesei ließ sich nicht sehen.
Als das Paar wieder abgefahren war, sagte der alte Braumeister: „Für zwei Jahrl’n langt’s vielleicht; hernach ist er fertig!“
Und er hatte recht. Nach zwei Jahren waren die achtzehntausend Gulden des Girgel dahin und seine „Frau“ desgleichen. Nun erschien er wieder im Seedorfe, schob sein altes Schiff wieder ins Wasser und fing an, wo er vor zwei Jahren aufgehört hatte. Als er zum ersten Male ins Brauhaus kam, brachte ihm der Braumeister ein kleines Paket.
„Vom Liesei!“ sagte er trocken.
Girgel schlug das Papier auseinander und fand ein rothseidenes Tüchelchen, das noch nie getragen war. Schweigend steckte er’s in die Tasche seines zerschlissenen Rockes. Und als er aufstand, sah man, daß er ein altes Männchen geworden war in den zwei Jahren, obwohl er vielleicht erst vierzig zählte.
Der Girgel wollte nun wieder „Marteln“ malen. Aber die Kundschaft hatte sich verlaufen, kaum daß er hie und da ein Grabkreuz anstreichen durfte. Er mußte ein kümmerlicher Tagelöhner werden, dessen man sich auch nur bediente, wenn gerade kein besserer zu haben war. Als der Frühling kam und mit ihm der Fremdenzug nach dem schönen See, fing der Girgel an, sein Brot als Ueberführer zu verdienen. Da fiel doch manchmal eine Kleinigkeit ab.
Indessen nahm auch das ein schlimmes Ende.
Das alte Schiff des Girgel war schon unter seinem Vorgänger recht schlecht gewesen, und der Girgel hatte es nicht jünger gemacht. Es war eine wacklige Ruine geworden, trotz der immer noch sichtbaren schönen Verzierung am Schnabel. Risse klafften darin, breiter als ein Messerrücken; und es half nur wenig, daß Girgel Moos hineinstopfte und Eisenklammern hineinschlug. Als nun eines Tages der Herr Landrichter mit seinem Schreiber herüberkam zur Schiffsvisitation, ward das Fahrzeug des Girgel als das schlechteste am ganzen See befunden und der Landrichter sagte in ernstem Tone: „Girgel, Du thust mir leid! Wenn Du selber in Deinem Schiffe ersaufen willst, kann ich nichts dagegen haben. Aber Fremde darfst Du mir in diesem Schiffe nicht mehr fahren, sonst laß’ ich einen Zimmermann kommen und es zerschlagen.“
Schweigend hörte der Girgel das an; als aber der Landrichter fortgefahren war, nahm er aus seinem dürftigen Werkzeug eine Axt und aus der Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten barg, ein rothseidenes Tuch. Die Axt legte er in sein Schiff; das Tüchlein band er an einen Stecken und steckte denselben als Fähnchen auf den Bug des Fahrzeugs. So sahen ihn ein paar Fischer in den See hinausfahren.
Es war das letzte Mal, daß man ihn überhaupt sah. Viele Mouate später fand man an einem ganz entlegenen Waldufer, wo der Seegrund jach in seine größte Tiefe abstürzt, etliche Reste eines zerschlagenen Schiffes. Sie waren offenbar mit Absicht zerstreut und das Meiste in den See geworfen worden, wo das schwere alte Eichenholz sogleich versunken war. Nur an einem Reste des Schiffsschnabels erkannte man eine verblaßte Malerei; es war das Einzige, was vom Fahrzeug des Tuifelmalers Zeugniß gab.
Neben diesem Wrackstück steckte ein Stab im Uferkies, an dem ein von Wind und Wetter übel zugerichteter Seidenfetzen hing.
Das war der Abschiedsgruß, welchen Girgel der Welt zurückließ. Für seine Heimath blieb er fortan ein Verschollener, ein abgerissener Faden. Ob er, nachdem er sein Schiff zerschlagen, in den See gesprungen oder in die weite Welt gegangen sei – darüber hat man nie wieder Zuverlässiges vernommen. Rach Jahren brachte ein Viehhändler die Kunde, drüben im Oesterreichischen, am Attersee, hause ein berühmter Marterlkünstler, der kennte das Fegfeuer malen wie sonst niemand in der Welt, so daß man meine, es brenne einen schon.
Es ist nicht unmöglich, daß dieser Künstler unser Tuifelmaler war.