Der Thüringerwald
„Für den gefühlvollen Menschen,“ sagt Ludwig Storch in seinem Wanderbuche, „der, nach des Terenz bekanntem Ausspruche, nichts Menschliches sich fremd glaubt, hat unsere Zeit manches Schwüle, Drückende und Verletzende, vielleicht in kleinen Staaten noch mehr, wo die blau verhüllenden, poetisch verklärenden Fernen und die malerischen Perspektiven wegfallen, und die nackte Wirklichkeit grell in die Augen springt. Da übt denn ein so nahes herrliches Gebirge, wie der Thüringerwald, eine wahre Zauberheilkraft auf das verwundete, bedrängte Gemüth, und wenn man oben steht auf den sonnigen Höhen, wenn man die einsamen Gründe mit dem Waldbache durchwandert, fühlt und erlebt man die tiefe Wahrheit von unsers Schiller’s Ausspruch, daß auf den Bergen die Freiheit wohnt. Wenn mich der Unmuth über so Manches, was man nicht näher bezeichnen darf, fast erdrückte, wenn mich Kummer und Gram in tausenderlei Seelenschmerzen, an denen ich vielleicht reicher bin, als mancher Andere, heimsuchten, wenn die Gemeinheit einmal ihren Schmutz nach mir geschleudert, der für ein Dichterherz stets zum giftigen, nie fehlenden Pfeile wird, wenn ich anfing, die Eitelkeiten und Thorheiten der Menschen mit grämlichem Gesichte zu betrachten: dann eilte ich in’s Gebirge; und so oft ich auch mit trüber Seele, ja mit thränendem Auge in die Thalpforte getreten bin, stets trat ich heiter, lächelnd, zufriedenen Herzens wieder heraus.“
Und Storch hat Recht, keins der uns bekannten Gebirge übt [309] eine so wohlthuende, Herz und Gemüth stärkende Macht auf alle Menschen aus, als der Thüringerwald. –
Vom Fichtelgebirge schweift in nordwestlicher Richtung ein kleinerer Gebirgszug ab, recht mitten in das Herz Deutschlands hinein, an zwanzig geographische Meilen lang, östlich an der Saale schmal, dann schnell sich beträchtlich in die Breite ausdehnend, so daß sie über fünf geographische Meilen beträgt, dann allmälig verjüngt zulaufend, immer schmaler, bis er in eine Spitze ausläuft. Es ist dies der Thüringerwald, nicht allzuhoch, wahrhaft idyllisch, hie und da sogar romantisch, reich an entzückenden An- und Aussichten, an Naturmerkwürdigkeiten und historischen Erinnerungen. Nirgend ist das Gebirge unwirtthbar, seine Höhen sind mit Holz freundlich bestanden, ihre Wände mit malerischen Felsen geziert, seine Thäler sind saftig grün, von hellen Bächen durchtanzt; in der ganzen Erscheinung, wie in seinen einzelnen Theilen, ist es eins der schönsten Gebirge Deutschlands, ja in gewisser Beziehung das schönste. Gebahnte Wege führen durch die Thäler auf die Höhen, acht Chausseen steigen über das Joch des Gebirges, fast in allen Thälern hat sich die Menschenwelt angesiedelt, in der südöstlichen Hälfte wohnt sie auch auf den Bergen. Die angedeutete Gestalt des Gebirges gleicht einem großen grünen Blatte; mitten hindurch bis zum Ende zieht sich der Hauptgebirgsrücken als Hauptrippe, von ihm aus laufen rechts und links die Nebengebirgsrücken mit ihren Verzweigungen als Nebenrippen, und die grünen saftigen Thäler sind das grüne weiche Fleisch des Blattes. Ja, ein grünes, freundliches Blatt ist dieser Thüringerwald, entsprossen dem gewaltigen Gebirgsstamme, der seine Aeste und Zweige durch Europa ausbreitet; ein schönes, grünes Blatt ist unser Thüringer Wald, das sich Deutschland zu Schmuck und Zierde an seine treu schlagende Brust gesteckt hat. Aber es ist auch die Gestalt eines Herzes, die dieses Gebirge trägt; ein Herz, durchpulst von grünem Waldleben, voll heimlichsüßer deutscher Träume, voll stiller sentimentaler Poesie, voll Sehnsucht und Hoffnung; ein deutsches Herz ist er, das seine Adern, seine frischen klaren Quellen und Ströme dem Rheine, der Elbe und Weser zuführt. Sie gehen aus von ihm, goldglühend und prächtig, wie die vier Ströme, die von Eden ausgingen. Und auch ein Garten Eden ist der Thüringerwald, baum- und wasserreich, gras- und blumenreich, kühl und anmuthig. Wie das waldige, bergige Arkadien in der Mitte des Peloponnes lag, so liegt der Thüringerwald in der Mitte Deutschlands; er ist das deutsche Arkadien.
Und wie die Wälder und Berge schön und anmuthig, so sind die Menschen dort treu und bieder und es ist ein wahres Wort, was einst der große Karl August von Weimar aussprach, als die Rede auf die verschiedenen Nationalitäten des deutschen Vaterlandes kam, und Jeder die glänzenden Eigenschaften seiner Landsleute pries. „Möglich,“ sagte er, „daß Eure Leute mehr von der Kultur beleckt, daß sie nach einzelnen Richtungen hin durch Zufälligkeiten aller Art weiter vorwärts geschritten, aber einen so kräftigen, schönen Menschenschlag wie meine Thüringer, so treu und ehrlich und bieder und so liederreich und poetisch – den sollt Ihr mir noch suchen im ganzen deutschen Reiche.“
In überraschender Weise finden die Reize des Thüringerwaldes von Jahr zu Jahr immer mehr die verdiente Anerkennung; Hunderte von Fremden zieht er während der schönen Jahreszeit beinahe allwöchentlich mit unwiderstehlichem Zauber hin nach seinen [310] waldigen Höhen und saftigen, rauchenden Thälern. Mancher sucht mit seiner Familie auf längere oder kürzere Zeit in demselben da oder dort ein freundliches Asyl, und findet Erquickung für Körper und Geist in den duftigen Wäldern, und kehrt dann neu gestärkt für die Anstrengungen des Geschäftslebens in die Heimath zurück. Statt daß man früher ein Landhaus in der Nähe der Stadt miethete, zieht man jetzt auf vier bis sechs Wochen mit Kind und Kegel nach dem Thüringerwald, ja viele angesehene Geschäftsleute und Gelehrte aus weiter Ferne haben sich neuerdings dort angekauft, um mit jedem Sommer wiederzukehren. Viele Plätze sind im Laufe der Zeit beliebte Kurorte geworden, ohne vor andern doch eigentlich weiter kein Verdienst zu haben, als den der naturgemäßen Stärkung des Körpers durch eine kräftige Waldluft, frisches, erquickendes Quellwasser und heitern geselligen Verkehr.
Manchem Leser dieser Blätter, der den Thüringerwald bereits besuchte, wird es daher von Interesse sein, ein Bild von demselben zu sehen, auf dem er sich nach seinen gemachten Touren wiederfindet; mancher, dem dies noch nicht vergönnt war, wird gern den malerischen Höhenzug einmal verfolgen und von Sehnsucht nach ihm erfüllt werden, denn kein anderes deutsches Gebirge gewährt ein solch’ weithin sich dehnendes deutliches Bild, als unser Wald, besonders von dem Punkte aus, von dem derselbe in dieser Weise sichtbar ist. Jeder, der auf der thüringer Eisenbahn zwischen Gotha und dem Bahnhofe Fröttstedt (nach Eisenach zu), wenn der Zug den Einschnitt unter dem Leinecanal passirt ist, den Wald in dieser Ausdehnung schaut, ist überrascht und entzückt von seinem Anblick. Die Strecke, die man hier übersieht, dehnt sich von der Gegend von Ilmenau bis hinter Eisenach aus, in einer Entfernung von ungefähr sieben Meilen. Die Schönheit des Gebirgszugs von hier aus gesehen, wird dadurch mit bedingt, daß der König der thüringer Berge, der Inselsberg, beinahe in der Mitte der ganzen Kette liegt, so daß sich der Zug der andern fast symmetrisch von ihm nach beiden Seiten hin in den schönsten Wellenlinien abdacht.
Es kann nicht in unserer Absicht liegen, hier alle die Schönheiten zu schildern, welche das prächtige Gebirge in seinen Höhen und Wäldern verbirgt, wer aber nur einmal auf diesen Waldwegen gewandelt, nur acht Tage lang sich an diesen idyllischen Thälern und grünen Fernsichten gelabt, der wird sich stets und immer wieder zurücksehnen nach diesen Bergen, die eine so unwiderstehliche Macht auf das Gemüth ausüben. Dürfen wir rathen, so möchten wir allen Reisenden vorschlagen, von Eisenach aus bis Ilmenau und Rudolstadt oder auch umgekehrt, das Hauptgebirge, den eigentlichen Thüringerwald, zu durchwandern, es kann ihnen dann keine der reizenden Parthien entgehen. Von dem kahlen „Horseelenberge“ bei Eisenach aus, dem Aufenthalte der Frau Venus und des Ritters Tannhäuser, besteigt man die Wartburg, die Veste der thüringischen Landgrafen, die Burg Luther’s und des Sängerstreites, um durch das schöne Annenthal nach Schloß Wilhelmshöhe, die Ruhla, den hohen Inselsberg, vielleicht seitwärts das Bad Liebenstein, die Luthersbuche, unter der der große Reformator auf seiner gezwungenen Flucht ausruhte, Reinhardtsbrunn, Schnepfenthal, die Schweizerdörfer Taberz, Kaberz und Waltershausen, vielleicht mit einem kleinen Abstecher auch Gotha zu besuchen. Dann weiter nach Elgersburg, nach dem von Goethe so oft besuchten Ilmenau, von dort über die weltberühmte Ruine Paulinzelle nach dem eben so schönen wie hochromantischen Schwarzathale, dem wildesten Theile des thüringer Gebirges bis in’s lachende Saalthal hinein. Wir lassen dabei die vielen hochromantischen Städte, wie Blankenburg, Rudolstadt, Arnstadt etc. eben so unerwähnt, wie die vielen reizenden Gründe, Schlösser, Jagdhäuser und Bergrestaurationen, die sich überall den Blicken darbieten. Eine Reise durch das Hauptgebirge nimmt im Ganzen acht bis zehn Tage in Anspruch.
Wir konnten heute nur eine flüchtige Anregung geben, hoffen aber schon in nächster Zeit einige der schönsten Punkte in Abbildung und ausführlicher Schilderung unsern Lesern vorzuführen.