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Titel: Der Stuhl aus dem Himmel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 175
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[175] Der Stuhl aus dem Himmel. Am 16. September den Jahres 1804 saß ein junges Mädchen in der Nähe des Weilers Saint Gourgon bei Rouen in Frankreich im Schatten eines Gebüschs und strickte; vor ihr weidete eine kleine Schafheerde, deren Hut ihr anvertraut war. Es war ein herrlicher Herbsttag, kein Wölkchen am Himmel, die Sonne schien warm wie im Sommer; die Zeit gegen drei Uhr des Nachmittags. Plötzlich vernimmt Suzan Jacqueminot – so hieß die Hirtin – über sich in der Luft ein pfeifendes Geräusch und als sie erschrocken aufspringt, geschieht dicht hinter ihr ein fürchterlicher Schlag in das Gebüsch, so daß dieses nach allen Seiten hin auseinander fährt, zerbrochene Zweige und abgerissene Blätter verstreut. Und auf dem tief niedergedrückten, elastisch sich wiegenden Astwerk steht aufrecht – ein weißer Stuhl! Entsetzt fällt Suzan auf die Kniee mit bitterlichem Hülfeschreien; Hirten und Ackerleute laufen von den umherliegenden Feldern hinzu, Alle schauen versteinert das Wunder, Alle entblößen andächtig das Haupt und sinken anbetend nieder. Denn darüber kann doch kein Zweifel sein, daß dieser sichtbare Stuhl, den aber Niemand anzugreifen wagt, direct aus dem Himmel herabgefallen ist, aus dem völlig reinen, unumwölkten Himmel, an welchem, so weit der Horizont reicht, nichts Fremdartiges zu entdecken ist. Aber was hat der himmlische Stuhl zu bedeuten und warum ist gerade die Schäferin Suzan Jacqueminot damit begnadet worden? Mit scheuer Ehrfurcht betrachten die Anwesenden bald den Stuhl, bald das Mädchen, welches sie zu großen Dingen berufen wähnen. Mittlerweile sind Einige in das Dorf gelaufen, um dem Herrn Pfarrer die Anzeige zu machen, und schon strömt es heraus; wer Beine hat, kommt hastig, um das Wunder anzustaunen, voran der ehrwürdige Curé mit seinem Meßner. Kopfschüttelnd hört der nicht ganz leichtgläubige Geistliche den Bericht; aber der ist so einfach und überzeugend, daß sich an der Thatsache nicht mäkeln läßt: Der Stuhl ist vom Himmel gefallen! Außer dem Pfarrer und einigen Freigeistern liegt die ganze Gemeinde auf den Knieen. Endlich befiehlt Jener, den Stuhl aus dem Gebüsch zu lösen, jedoch nur die Freigeister sind dazu zu bewegen, ihn anzufassen, was sie übrigens selber nur mit einiger Vorsicht thun. Aber der Stuhl brennt nicht, ist ein guter, reeller Holzstuhl. Mehr noch, der Tischler, welcher ihn aufmerksam betrachtet, sagt: „Er ist von Birkenholz, und verfl– schlechte Arbeit macht man da oben!“ worauf sich dann die Frommen entsetzt bekreuzen. Nunmehr wird der Stuhl in Procession in das Dorf gebracht und einstweilen in der Kirche niedergestellt. Den ganzen Tag wird dieselbe von Andächtigen nicht leer, wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde von dem Wunder in der Umgegend, in zahlreichen Processionen langen die Dörfler des Umkreises an, um mit eigenen Augen das Wunder anzusehen. Der Pfarrer, durchaus nicht wissend, wie er sich benehmen soll, läßt geschehen, was er weder zu hindern, noch auch zu erklären vermag. Am besten befindet sich Suzan dabei, es regnet Geschenke auf sie herab, eine wohlhabende Wittwe nimmt das gottbegnadete, schon auf Erden mit einem Himmelsstuhl bedachte Mädchen an Kindesstatt an und sie erhält einen Heirathsantrag über den anderen. Mit der kann es nicht fehlen! ist die allgemeine Meinung aller Burschen im ganzen Bezirk. So geht es eine Woche fort und die Aufregung über das Wunder, anstatt sich zu legen, wächst immer mehr, in concentrischen Ringen, trotz der Spöttereien der Freigeister, welche freilich ebenfalls keine Erklärung des Räthsels wissen. Aber siehe da – eines Tages war der Himmelsstuhl verschwunden, Niemand wußte, wie, wohin – er war und blieb weg. Erst Jahre nachher, als längst die Sache vergessen war, erfuhr man die nähern Umstände.

Der Pfarrer erhielt nämlich am Abend vor dem Verschwinden des himmlischen Stuhls die Zeitungen und fand darin zu seiner großen Befriedigung folgende Nachricht: „Am 16. September, Vormittags um neun Uhr vierzig Minuten trat der große Naturforscher Herr Gay-Lussac seine zweite Luftfahrt an; er erreichte auf derselben die Höhe von 7016 Meter über der Meeresfläche, höher, als jemals ein Mensch gelangt ist. Bei 7000 Meter wollte er versuchen, in eine noch höhere Luftschicht einzudringen, entledigte sich daher des gesammten Ballastes der Gondel, bis auf die physikalischen Instrumente; zuletzt warf er sogar noch den hölzernen Stuhl, der ihm zum Sitze diente, hinaus. Allein der Ballon wollte sich trotzdem nicht mehr heben, und so kam er um drei Uhr fünfundvierzig Minuten zwischen Rouen und Dieppe zur Erde nieder.“ Als der gute Pfarrer dies gelesen hatte, stellte er sich ein Holzbeil zurecht und begab sich unter dem Schleier der Nacht in die an sein Wohnhaus anstoßende Kirche. Kurz darauf konnte man ein lebhaftes Feuer in seinem Junggesellen-Kamin wahrnehmen. Aber er kannte seine Bauern und erzählte ihnen erst lange nachher vorsichtig die Bewandtniß mit dem Stuhl aus dem Himmel; natürlich sagten die Bauern: „Ja, ja, Herr Pfarrer!“ und glaubten kein Wort davon, um so steifer und fester aber an das Wunder. Und die Schäferin Suzan Jacqueminot hieß, obgleich verheirathet und Mutter von einem halben Dutzend ungewaschener Rangen, bis in ihr spätes Alter weit und breit „Die Jungfrau vom Stuhle.“