Der Stechlin/Einundzwanzigstes Kapitel

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In Mission nach England.
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Einundzwanzigstes Kapitel.


     Woldemar erfuhr am andern Morgen aus Zeitungstelegrammen, daß der sozialdemokratische Kandidat, Feilenhauer Torgelow, im Wahlkreise Rheinsberg-Wutz gesiegt habe. Bald darauf traf auch ein Brief von Lorenzen ein, der zunächst die Telegramme bestätigte und am Schlusse hinzusetzte, daß Dubslav eigentlich herzlich froh über den Ausgang sei. Woldemar war es auch. Er ging davon aus, daß sein Vater wohl das Zeug habe, bei Dressel oder Borchardt mit viel gutem Menschenverstand und noch mehr Eulenspiegelei seine Meinung über allerhand politische Dinge zum besten zu geben; aber im Reichstage fach- und sachgemäß sprechen, das konnt’ er nicht und wollt’ er auch nicht. Woldemar war so durchdrungen davon, daß er über die Vorstellung einer Niederlage, dran er als Sohn des Alten immerhin wie beteiligt war, verhältnismäßig rasch hinwegkam, pries es aber doch, um eben diese Zeit mit einem Kommando nach Ostpreußen hin betraut zu werden, das ihn auf ein paar Wochen von Berlin fernhielt. Kam er dann zurück, so waren Anfragen in dieser Wahlangelegenheit nicht mehr zu befürchten, am wenigsten innerhalb seines Regiments, in dem man sich, von ein paar Intimsten abgesehen, eigentlich schon jetzt über den unliebsamen Zwischenfall ausschwieg.

     Und in Schweigen hüllte man sich auch am Kronprinzen-Ufer, [266] als Woldemar hier am Abend vor seiner Abreise noch einmal vorsprach, um sich bei der gräflichen Familie zu verabschieden. Es wurde nur ganz obenhin von einem abermaligen Siege der Sozialdemokratie gesprochen, ein absichtlich flüchtiges Berühren, das nicht auffiel, weil sich das Gespräch sehr bald um Rex und Czako zu drehen begann, die, seit lange dazu aufgefordert, gerade den Tag vorher ihren ersten Besuch im Barbyschen Hause gemacht und besonders bei dem alten Grafen viel Entgegenkommen gefunden hatten. Auch Melusine hatte sich durch den Besuch der Freunde durchaus zufriedengestellt gesehen, trotzdem ihr nicht entgangen war, was, nach freilich entgegengesetzten Seiten hin, die Schwäche beider ausmachte.

     „Wovon der eine zu wenig hat,“ sagte sie, „davon hat der andre zu viel.“

     „Und wie zeigte sich das, gnädigste Gräfin?“

     „O, ganz unverkennbar. Es traf sich, daß im selben Augenblicke, wo die Herren Platz nahmen, drüben die Glocken der Gnadenkirche geläutet wurden, was denn – man ist bei solchen ersten Besuchen immer dankbar, an irgend was anknüpfen zu können – unser Gespräch sofort aufs Kirchliche hinüberlenkte. Da legitimierten sich dann beide. Hauptmann Czako, weil er ahnen mochte, was sein Freund in nächster Minute sagen würde, gab vorweg deutliche Zeichen von Ungeduld, während Herr von Rex in der That nicht nur von dem ‚Ernst der Zeiten‘ zu sprechen anfing, sondern auch von dem Bau neuer Kirchen einen allgemeinen, uns nahe bevorstehenden Umschwung erwartete. Was mich natürlich erheiterte.“

* * *

Woldemars Kommando nach Ostpreußen war bis auf Anfang November berechnet, und mehr als einmal [267] sprachen im Verlaufe dieser Zeit Rex und Czako bei den Barbys vor. Freilich immer nur einzeln. Verabredungen zu gemeinschaftlichem Besuche waren zwar mehrfach eingeleitet worden, aber jedesmal erfolglos, und erst zwei Tage vor Woldemars Rückkehr fügte es sich, daß sich die beiden Freunde bei den Barbys trafen. Es war ein ganz besonders gelungener Abend, da neben der Baronin Berchtesgaden und Dr. Wrschowitz auch ein alter Malerprofessor (eine neue Bekanntschaft des Hauses) zugegen war, was eine sehr belebte Konversation herbeiführte. Besonders der neben seinen andern Apartheiten auch durch langes weißes Haar und große Leuchte-Augen ausgezeichnete Professor, hatte, – gestützt auf einen unentwegten Peter Cornelius-Enthusiasmus, – alles hinzureißen gewußt. „Ich bin glücklich, noch die Tage dieses großen und einzig dastehenden Künstlers gesehen zu haben. Sie kennen seine Kartons, die mir das Bedeutendste scheinen, was wir überhaupt hier haben. Auf dem einen Karton steht im Vordergrund ein Tubabläser und setzt das Horn an den Mund, um zu Gericht zu rufen. Diese eine Gestalt balanciert fünf Kunstausstellungen, will also sagen netto 15000 Bilder. Und eben diese Kartons, samt dem Bläser zum Gericht, die wollen sie jetzt fortschaffen und sagen dabei in naiver Effronterie, solch schwarzes Zeug mit Kohlenstrichen dürfe überhaupt nicht so viel Raum einnehmen. Ich aber sage Ihnen, meine Herrschaften, ein Kohlenstrich von Cornelius ist mehr wert als alle modernen Paletten zusammengenommen, und die Tuba, die dieser Tubabläser da an den Mund setzt – verzeihen Sie mir altem Jüngling diesen Kalauer –, diese Tuba wiegt alle Tuben auf, aus denen sie jetzt ihre Farben herausdrücken. Beiläufig auch eine miserable Neuerung. Zu meiner Zeit gab es noch Beutel, und diese Beutel aus Schweinsblase waren viel besser. Ein wahres Glück, daß König Friedrich Wilhelm IV. [268] diese jetzt etablierte Niedergangsepoche nicht mehr erlebt hat, diese Zeit des Abfalls, so recht eigentlich eine Zeit der apokalyptischen Reiter. Bloß zu den dreien, die der große Meister uns da geschaffen hat, ist heutzutage noch ein vierter Reiter gekommen, ein Mischling von Neid und Ungeschmack. Und dieser vierte sichelt am stärksten.“

     Alles nickte, selbst die, die nicht ganz so dachten, denn der Alte mit seinem Apostelkopfe hatte ganz wie ein Prophet gesprochen. Nur Melusine blieb in einer stillen Opposition und flüsterte der Baronin zu: „Tubabläser. Mir persönlich ist die Böcklinsche Meerfrau mit dem Fischleib lieber. Ich bin freilich Partei.“

* * *

     Die Abende bei den Barbys schlossen immer zu früher Stunde. So war es auch heute wieder. Es schlug eben erst zehn, als Rex und Czako auf die Straße hinaustraten und drüben an dem langgestreckten Ufer Tausende von Lichtern vor sich hatten, von denen die vordersten sich im Wasser spiegelten.

     „Ich möchte wohl noch einen Spaziergang machen,“ sagte Czako. „Was meinen Sie, Rex? Sind Sie mit dabei? Wir gehen hier am Ufer entlang, an den Zelten vorüber bis Bellevue, und da steigen wir in die Stadtbahn und fahren zurück, Sie bis an die Friedrichsstraße, ich bis an den Alexanderplatz. Da ist jeder von uns in drei Minuten zu Haus.“

     Rex war einverstanden. „Ein wahres Glück,“ sagte er, „daß wir uns endlich mal getroffen haben. Seit fast drei Wochen kennen wir nun das Haus und haben noch keine Aussprache darüber gehabt. Und das ist doch immer die Hauptsache. Für Sie gewiß.“

     „Ja, Rex, das ‚für Sie gewiß‘, das sagen Sie so spöttisch und überheblich, weil Sie glauben, Klatschen [269] sei was Inferiores und für mich gerade gut genug. Aber da machen Sie meiner Meinung nach einen doppelten Fehler. Denn erstlich ist Klatschen überhaupt nicht inferior, und zweitens klatschen Sie gerade so gern wie ich und vielleicht noch ein bißchen lieber. Sie bleiben nur immer etwas steifer dabei, lehnen meine Frivolitäten zunächst ab, warten aber eigentlich darauf. Im übrigen denk’ ich, wir lassen all das auf sich beruhn und sprechen lieber von der Hauptsache. Ich finde, wir können unserm Freunde Stechlin nicht dankbar genug dafür sein, uns mit einem so liebenswürdigen Hause bekannt gemacht zu haben. Den Wrschowitz und den alten Malerprofessor, der von dem Engel des Gerichts nicht loskonnte, – nun die beiden schenk’ ich Ihnen (ich denke mir, der Maler wird wohl nach Ihrem Geschmacke sein), aber die andern, die man da trifft, wie reizend alle, wie natürlich. Obenan dieser Frommel, dieser Hofprediger, der mir am Theetisch fast noch besser gefällt als auf der Kanzel. Und dann diese bayrische Baronin. Es ist doch merkwürdig, daß die Süddeutschen uns im Gesellschaftlichen immer um einen guten Schritt voraus sind, nicht von Bildungs, aber von glücklicher Natur wegen. Und diese glückliche Natur, das ist doch die wahre Bildung.“

     „Ach Czako, Sie überschätzen das. Es ist ja richtig, wenn Sie da so die Würstel aus dem großen Kessel herausholen und irgend eine Loni oder Toni mit dem Maßkrug kommt, so sieht das nach was aus, und wir kommen uns wie verhungerte Schulmeister daneben vor. Aber eigentlich ist das, was wir haben, doch das Höhere.“

     „Gott bewahre. Alles, was mit Grammatik und Examen zusammenhängt, ist nie das Höhere. Waren die Patriarchen examiniert, oder Moses oder Christus? Die Pharisäer waren examiniert. Und da sehen Sie, was dabei herauskommt. Aber, um mehr in der Nähe [270] zu bleiben, nehmen Sie den alten Grafen. Er war freilich Botschaftsrat, und das klingt ein bißchen nach was; aber eigentlich ist er doch auch bloß ein unexaminierter Naturmensch, und das gerade giebt ihm seinen Charme. Beiläufig, finden Sie nicht auch, daß er dem alten Stechlin ähnlich sieht?“

     „Ja, äußerlich.“

     „Auch innerlich. Natürlich ’ne andre Nummer, aber doch derselbe Zwirn, – Pardon für den etwas abgehaspelten Berolinismus. Und wenn Sie vielleicht an Politik gedacht haben, auch da ist wenig Unterschied. Der alte Graf ist lange nicht so liberal und der alte Dubslav lange nicht so junkerlich, wie’s aussieht. Dieser Barby, dessen Familie, glaub’ ich, vordem zu den Reichsunmittelbaren gehörte, dem steckt noch so was von ‚Gottesgnadenschaft‘ in den Knochen, und das giebt dann die bekannte Sorte von Vornehmheit, die sich den Liberalismus glaubt gönnen zu können. Und der alte Dubslav, nun, der hat dafür das im Leibe, was die richtigen Junker alle haben: ein Stück Sozialdemokratie. Wenn sie gereizt werden, bekennen sie sich selber dazu.“

     „Sie verkennen das, Czako. Das alles ist ja bloß Spielerei.“

     „Ja, was heißt Spielerei? Spielen. Wir haben schöne alte Fibelverse, die vor der Gefährlichkeit des Mit-dem-Feuerspielens warnen. Aber lassen wir Dubslav und den alten Barby. Wichtiger sind doch zuletzt immer die Damen, die Gräfin und die Comtesse. Welche wird es? Ich glaube, wir haben schon mal darüber gesprochen, damals, als wir von Kloster Wutz her über den Kremmerdamm ritten. Viel Vertrauen zu Freund Woldemars richtigem Frauenverständnis hab’ ich eigentlich nicht, aber ich sage trotzdem: Melusine.“

     „Und ich sage: Armgard. Und Sie sagen es im Stillen auch.“

* * *

[271]      Es war zwei Tage vor Woldemars Rückkehr aus Ostpreußen, daß Rex und Czako dies Tiergartengespräch führten. Eine halbe Stunde später fuhren sie, wie verabredet, vom Bellevuebahnhof aus wieder in die Stadt zurück. Überall war noch ein reges Leben und Treiben, und Leben war denn auch in dem aus bloß drei Zimmern verschiedener Größe sich zusammensetzenden Kasino der Gardedragoner. In dem zunächst am Flur gelegenen großen Speisesaale, von dessen Wänden die früheren Kommandeure des Regiments, Prinzen und Nichtprinzen, herniederblickten, sah man nur wenig Gäste. Daneben aber lag ein Eckzimmer, das mehr Insassen und mehr flotte Bewegung hatte. Hier, über dem schräg gestellten Kamin, drin ein kleines Feuer flackerte, hing seit kurzem das Bildnis des „hohen Chefs“ des Regiments, der Königin von England, und in der Nähe eben dieses Bildes ein ruhmreiches Erinnerungsstück aus dem sechsundsechziger und siebziger Kriege: die Trompete, darauf derselbe Mann, Stabstrompeter Wollhaupt, erst am 3. Juli auf der Höhe von Lipa und dann am 16. August bei Mars la Tour das Regiment zur Attacke gerufen hatte, bis er an der Seite seines Obersten fiel; der Oberst mit ihm.

     Dies Eckzimmer war, wie gewöhnlich, auch heute der bevorzugte kleine Raum, drin sich jüngere und ältere Offiziere zu Spiel und Plauderei zusammengefunden hatten, unter[WS 1] ihnen die Herren von Wolfshagen, von Herbstfelde, von Wohlgemuth, von Grumbach, von Raspe.

     „Weiß der Himmel,“ sagte Raspe, „wir kommen aus den Abordnungen auch gar nicht mehr heraus. Wir haben freilich drei Sendens im Regiment, aber es sind der Sendbotschaften doch fast zu viel. Und diesmal nun auch unser Stechlin dabei. Was wird er sagen, wenn er oben in Ostpreußen von der ihm zugedachten Ehre hört. Er wird vielleicht sehr gemischte [272] Gefühle haben. Übermorgen ist er von Trakehnen wieder da, mutmaßlich bei dem scheußlichen Wetter schlecht ajustiert, und dann Hals über Kopf und in großem Trara nach London. Und London ginge noch. Aber auch nach Windsor. Alles, wenn es sich um chic handelt, will doch seine Zeit haben, und gerade die Vettern drüben sehen einem sehr auf die Finger.“

     „Laß sie sehn,“ sagte Herbstfelde. „Wir sehen auch. Und Stechlin ist nicht der Mann, sich über derlei Dinge graue Haare wachsen zu lassen. Ich glaube, daß ihn was ganz andres geniert. Es ist doch immerhin was, daß er da mit nach England hinüber soll, und einer solchen Auszeichnung entspricht selbstverständlich eine Nichtauszeichnung andrer. Das paßt nicht jedem, und nach dem Bilde, das ich mir von unserm Stechlin mache, gehört er zu diesen. Er ficht nicht gern unter der Devise ‚nur über Leichen‘, hat vielmehr umgekehrt den Zug, sich in die zweite Linie zu stellen. Und nun sieht es aus, als wär’ er ein Streber.“

     „Stimmt nicht,“ sagte Raspe. „Für so verrannt kann ich keinen von uns halten. Stechlin sitzt da oben in Ostpreußen und kann doch unmöglich in seinen Mußestunden hierher intrigiert und einen etwaigen Rivalen aus dem Sattel geworfen haben. Und unser Oberst! Der ist doch auch nicht der Mann dazu, sich irgend wen aufreden zu lassen. Der kennt seine Pappenheimer. Und wenn er sich den Stechlin aussucht, dann weiß er, warum. Übrigens, Dienst ist Dienst; man geht nicht, weil man will, sondern weil man muß. Spricht er denn englisch?“

     „Ich glaube nicht,“ sagte von Grumbach. „Soviel ich weiß, hat er vor kurzem damit angefangen, aber natürlich nicht wegen dieser Mission, die ja wie vom blauen Himmel auf ihn niederfällt, sondern der Barbys wegen, die beinah zwanzig Jahre in England waren [273] und halb englisch sind. Im übrigen hab ich mir sagen lassen, es geht drüben auch ohne die Sprache. Herbstfelde, Sie waren ja voriges Jahr da. Mit gutem Deutsch und schlechtem Französisch kommt man überall durch.“

     „Ja,“ sagte Herbstfelde. „Bloß ein bißchen Landessprache muß doch noch dazu kommen. Indessen, es giebt ja kleine Vademekums, und da muß man dann eben nachschlagen, bis man’s hat. Sonst sind hundert Vokabeln genug. Als ich noch zu Hause war, hatten wir da ganz in unsrer Nachbarschaft einen verdrehten alten Herrn, der – eh’ ihn die Gicht unterkriegte – sich so ziemlich in der ganzen Welt herumgetrieben hatte. Pro neues Land immer neue hundert Vokabeln. Unter anderm war er auch mal in Südrußland gewesen, von welcher Zeit ab – und zwar nach vorgängiger, vor einem großen Liqueurkasten stattgehabten Anfreundung mit einem uralten Popen – er das Amendement zu stellen pflegte: ‚Hundert Vokabeln; aber bei ’nem Popen bloß fünfzig?‘ Und das muß ich sagen, ich habe das mit den hundert in England durchaus bestätigt gefunden. ‚Mary, please, a jug of hot water,‘ so viel muß man weghaben, sonst sitzt man da. Denn der Naturengländer weiß gar nichts.“

     „Wie lange waren Sie denn eigentlich drüben, Herbstfelde?“

     „Drei Wochen. Aber die Reisetage mitgerechnet.“

     „Und sind Sie so ziemlich auf Ihre Kosten gekommen? Einblick ins Volksleben, Parlament, Oxford, Cambridge, Gladstone?“

     Herbstfelde nickte.

     „Und wenn Sie nun so alles zusammennehmen, was hat da so den meisten Eindruck auf Sie gemacht? Architektur, Kunst, Leben, die Schiffe, die großen Brücken? Die Straßenjungens, wenn man in einem [274] Cab vorüberfährt, sollen ja immer Rad neben einem her schlagen, und die Dienstmädchen, was noch wichtiger ist, sollen sehr hübsch sein, kleine Hauben und Tändelschürze.“

     „Ja, Raspe, da treffen Sie’s. Und ist eigentlich auch das Interessanteste. Denn sogenannte Meisterwerke giebt es ja jetzt überall, von Kirchen und dergleichen gar nicht zu reden. Und Schiffe haben wir ja jetzt auch und auch ein Parlament. Und manche sagen, unsres sei noch besser. Aber das Volk. Sehen Sie, da steckt es. Das Volk ist alles.“

     „Na, natürlich Volk. Oberschicht überall ein und dasselbe. Was da los ist, das wissen wir.“

     „Und eigentlich hab’ ich die ganzen drei Wochen auf ’nem Omnibus gesessen und bin abends in die Matrosenkneipen an der Themse gegangen. Ein bißchen gefährlich; man hat da seinen Messerstich weg, man weiß nicht wie, ganz wie in Italien. Bloß in Italien giebt es vorher doch immer noch ein Liebesverhältnis, was in Old-Wapping – so heißt nämlich der Stadtteil an der Themse – nicht mal nötig ist. Und dann, wenn ich zu Hause war, sprach ich natürlich mit Mary. Viel war es nicht. Denn die hundert Vokabeln, die dazu nötig sind, die hatte ich damals noch nicht voll.“

     „Na, ’s ging aber doch?“

     „So leidlich. Und dabei hatt’ ich mal ’ne Scene, die war eigentlich das Hübscheste. Meine Wohnung befand sich nämlich eine Treppe hoch in einer kleinen stillen Querstraße von Oxford-Street. Und Mary war gerade bei mir. Und in dem Augenblicke, wo ich mich mit dem hübschen Kinde zu verständigen suche…“

     „Worüber?“

     „In demselben Augenblicke sieht ein Chinese grinsend in mein Fenster hinein, so daß er eigentlich eine Ohrfeige verdient hätte.“

[275]      „Wie war denn das aber möglich?“

     „Ja, das ist ja eben das, was ich das Londoner Volksleben nenne. Alles mögliche, wovon wir hier gar keine Vorstellung haben, vollzieht sich da mitten auf dem Straßendamm. Und so waren denn auch an jenem Tage zwei Chinesen, ihres Zeichens Akrobaten, in die Querstraße von Oxford-Street gekommen, und der eine, ein dicker starker Kerl, hatte einen Gurt um den Leib, und in der Öse dieses Gurtes steckte ’ne Stange, auf die der zweite Chinese hinaufkletterte. Und wie er da oben war, war er gerade in Höhe meiner Beletage und sah hinein, als ich mich eben bemühte, mich Mary klar zu machen.“

     „Ja, Herbstfelde, das war nu freilich ein Pech, und wenn Sie wieder drüben sind, müssen Sie nach hinten hinaus wohnen oder höher hinauf. Aber interessant ist es doch. Und ich bezweifle nur, daß Stechlin in eine gleiche Lage kommen wird.“

     „Gewiß nicht. Daran hindern ihn seine Moralitäten.“

     „Und noch mehr die Barbys.“


Anmerkungen (Wikisource)

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  1. Vorlage: handschriftlich (?) verbessert