Der Stechlin/Zwanzigstes Kapitel

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Zwanzigstes Kapitel.



     Um sechs stand das Wahlresultat so gut wie fest; einige Meldungen fehlten noch, aber das war aus Ortschaften, die mit ihren paar Stimmen nichts mehr ändern konnten. Es lag zu Tage, daß die Sozialdemokraten einen beinahe glänzenden Sieg davon getragen hatten; der alte Stechlin stand weit zurück, Fortschrittler Katzenstein aus Gransee noch weiter. Im ganzen aber ließen beide besiegte Parteien dies ruhig über sich ergehen; bei den Freisinnigen war wenig, bei den Konservativen gar nichts von Verstimmung zu merken. Dubslav nahm es ganz von der heiteren Seite, seine Parteigenossen noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: „Siegen ist gut, aber zu Tische gehen ist noch besser.“ Und in der That, gegessen mußte werden. Alles sehnte sich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die langweilige Prozedur zu vergessen. Und war man erst mit den Forellen fertig, und dämmerte der Rehrücken am Horizont herauf, so war auch der Sekt in Sicht. Im „Prinz-Regenten“ hielt man auf eine gute Marke.

     Durch den oberen Saal hin zog sich die Tafel: der Mehrzahl nach Rittergutsbesitzer und Domänenpächter, aber auch Gerichtsräte, die so glücklich waren, den „Hauptmann in der Reserve“ mit auf ihre Karte setzen zu können. Zu diesem Gros d’Armee gesellten [247] sich Forst- und Steuerbeamte, Rentmeister, Prediger und Gymnasiallehrer. An der Spitze dieser stand Rektor Thormeyer aus Rheinsberg, der große, vorstehende Augen, ein mächtiges Doppelkinn, noch mächtiger als Koseleger, und außerdem ein Renommee wegen seiner Geschichten hatte. Daß er nebenher auch ein in der Wolle gefärbter Konservativer war, versteht sich von selbst. Er hatte, was aber schon Jahrzehnte zurücklag, den großartigen Gedanken gefaßt und verwirklicht: die ostelbischen Provinzen, da, wo sie strauchelten, durch Gustav Kühnsche Bilderbogen auf den richtigen Pfad zurückzuführen, und war dafür dekoriert worden. Es hieß denn auch von ihm, „er gälte was nach oben hin“, was aber nicht recht zutraf. Man kannte ihn „oben“ ganz gut.

     Um halb sieben (Lichter und Kronleuchter brannten bereits) war man unter den Klängen des Tannhäusermarsches die hie und da schon ausgelaufene Treppe hinaufgestiegen. Unmittelbar vorher hatte noch ein Schwanken wegen des Präsidiums bei Tafel stattgefunden. Einige waren für Dubslav gewesen, weil man sich von ihm etwas Anregendes versprach, auch speziell mit Rücksicht auf die Situation. Aber die Majorität hatte doch schließlich Dubslavs Vorsitz als ganz undenkbar abgelehnt, da der Edle Herr von Alten-Friesack, trotz seiner hohen Jahre, mit zur Wahl gekommen war; der Edle Herr von Alten-Friesack, so hieß es, sei doch nun mal – und von einem gewissen Standpunkt aus auch mit Fug und Recht – der Stolz der Grafschaft, überhaupt ein Unikum, und ob er nun sprechen könne oder nicht, das sei, wo sich’s um eine Prinzipienfrage handle, durchaus gleichgültig. Überhaupt, die ganze Geschichte mit dem „Sprechen-können“ sei ein moderner Unsinn. Die einfache Thatsache, daß der Alte von Alten-Friesack da säße, sei viel, viel wichtiger als eine [248] Rede, und sein großes Präbendenkreuz ziere nicht bloß ihn, sondern den ganzen Tisch. Einige sprächen freilich immer von seinem Götzengesicht und seiner Häßlichkeit, aber auch das schade nichts. Heutzutage, wo die meisten Menschen einen Friseurkopf hätten, sei es eine ordentliche Erquickung, einem Gesicht zu begegnen, das in seiner Eigenart eigentlich gar nicht unterzubringen sei. Dieser von dem alten Zühlen, trotz seiner Vorliebe für Dubslav, eindringlich gehaltenen Rede war allgemein zugestimmt worden, und Baron Beetz hatte den götzenhaften Alten-Friesacker an seinen Ehrenplatz geführt. Natürlich gab es auch Schandmäuler. An ihrer Spitze stand Molchow, der dem neben ihm sitzenden Katzler zuflüsterte: „Wahres Glück, Katzler, daß der Alte drüben die große Blumenvase vor sich hat; sonst, so bei veau en tortue, – vorausgesetzt, daß so was Feines überhaupt in Sicht steht – würd’ ich der Sache nicht gewachsen sein.“

     Und nun schwieg der von einem Thormeyerschen Unterlehrer gespielte Tannhäusermarsch, und als eine bestimmte Zeit danach der Moment für den ersten Toast da war, erhob sich Baron Beetz und sagte: „Meine Herren. Unser Edler Herr von Alten-Friesack ist von der Pflicht und dem Wunsch erfüllt, den Toast auf Seine Majestät den Kaiser und König auszubringen.“ Und während der Alte, das Gesagte bestätigend, mit seinem Glase grüßte, setzte der in seiner alter ego-Rolle verbleibende Baron Beetz hinzu: „Seine Majestät der Kaiser und König lebe hoch!“ Der Alten-Friesacker gab auch hierzu durch Nicken seine Zustimmung, und während der junge Lehrer abermals auf den auf einer Rheinberger Schloßauktion erstandenen alten Flügel zueilte, stimmte man an der ganzen Tafel hin das „Heil dir im Siegerkranz“ an, dessen erster Vers stehend gesungen wurde.

[249]      Das Offizielle war hierdurch erledigt, und eine gewisse Fidelitas, an der es übrigens von Anfang an nicht gefehlt hatte, konnte jetzt nachhaltiger in ihr Recht treten. Allerdings war noch immer ein wichtiger und zugleich schwieriger Toast in Sicht, der, der sich mit Dubslav und dem unglücklichen Wahlausgange zu beschäftigen hatte. Wer sollte den ausbringen? Man hing dieser Frage mit einiger Sorge nach und war eigentlich froh, als es mit einemmale hieß, Gundermann werde sprechen. Zwar wußte jeder, daß der Siebenmühlener nicht ernsthaft zu nehmen sei, ja, daß Sonderbarkeiten und vielleicht[WS 1] sogar Scheiterungen in Sicht stünden, aber man tröstete sich, je mehr er scheitere, desto besser. Die meisten waren bereits in erheblicher Aufregung, also sehr unkritisch. Eine kleine Weile verging noch. Dann bat Baron Beetz, dem die Rolle des Festordners zugefallen war, für Herrn von Gundermann auf Siebenmühlen ums Wort. Einige sprachen ungeniert weiter, „Ruhe, Ruhe!“ riefen andre dazwischen, und als Baron Beetz noch einmal an das Glas geklopft und nun, auch seinerseits um Ruhe bittend, eine leidliche Stille hergestellt hatte, trat Gundermann hinter seinen Stuhl und begann, während er mit affektierter Nonchalance seine Linke in die Hosentasche steckte.

     „Meine Herren. Als ich vor so und so viel Jahren in Berlin studierte“ („na nu“), „als ich vor Jahren in Berlin studierte, war da mal ’ne Hinrichtung…“

     „Alle Wetter, der setzt gut ein.“

     „…war da mal ’ne Hinrichtung, weil eine dicke Klempnermadamm, nachdem sie sich in ihren Lehrburschen verliebt, ihren Mann, einen würdigen Klempnermeister, vergiftet hatte. Und der Bengel war erst siebzehn. Ja, meine Herren, so viel muß ich sagen, es kamen damals auch schon dolle Geschichten vor. Und ich, weil ich den Gefängnisdirektor kannte, ich hatte [250] Zutritt zu der Hinrichtung, und um mich ’rum standen lauter Assessoren und Referendare, ganz junge Herren, die meisten mit ’nem Kneifer. Kneifer gab es damals auch schon. Und nun kam die Witwe, wenn man sie so nennen darf, und sah so weit ganz behäbig und beinahe füllig aus, weil sie, was damals viel besprochen wurde, ’nen Kropf hatte, weshalb auch der Block ganz besonders hatte hergerichtet werden müssen. Sozusagen mit ’nem Ausschnitt.“

     „Mit ’nem Ausschnitt…; gut, Gundermann.“

     „Und als sie nun, ich meine die Delinquentin, all die jungen Referendare sah, wobei ihr wohl ihr Lehrling einfallen mochte…“

     „Keine Verspottung unsrer Referendare…“

     „…Wobei ihr vielleicht ihr Lehrling einfallen mochte, da trat sie ganz nahe an den Schaffotrand heran und nickte uns zu (ich sage ‚uns‘, weil sie mich auch ansah) und sagte: ‚Ja, ja, meine jungen Herrens, dat kommt davon…‘ Und sehen Sie, meine Herren, dieses Wort, wenn auch von einer Delinquentin herrührend, bin ich seitdem nicht wieder losgeworden, und wenn ich so was erlebe wie heute, dann muß einem solch Wort auch immer wieder in Erinnerung kommen, und ich sage dann auch, ganz wie die Alte damals sagte: ‚Ja, meine Herren, dat kommt davon.‘ Und wovon kommt es? Von den Sozialdemokraten. Und wovon kommen die Sozialdemokraten?“

     „Vom Fortschritt. Alte Geschichte, kennen wir. Was Neues!“

     „Es gieht da nichts Neues. Ich kann nur bestätigen, vom Fortschritt kommt es. Und wovon kommt der? Davon, daß wir die Abstimmungsmaschine haben und das große Haus mit den vier Ecktürmen. Und wenn es meinetwegen ohne das große Haus nicht geht, weil das Geld für den Staat am Ende bewilligt werden [251] muß – und ohne Geld, meine Herren, geht es nicht“ (Zustimmung: „ohne Geld hört die Gemütlichkeit auf“) – „nun denn, wenn es also sein muß, was ich zugebe, was sollen wir, auch unter derlei gern gemachten Zugeständnissen, anfangen mit einem Wahlrecht, wo Herr von Stechlin gewählt werden soll, und wo sein Kutscher Martin, der ihn zur Wahl gefahren, thatsächlich gewählt wird oder wenigstens gewählt werden kann. Und der Kutscher Martin unsers Herrn von Stechlin ist mir immer noch lieber als dieser Torgelow. Und all das nennt sich Freiheit. Ich nenn’ es Unsinn und viele thun desgleichen. Ich denke mir aber, gerade diese Wahl, in einem Kreise, drin das alte Preußen noch lebt, gerade diese Wahl wird dazu beitragen, die Augen oben helle zu machen. Ich sage nicht, welche Augen.“

     „Schluß, Schluß!“

     „Ich komme zum Schluß. Es hieß anno siebzig, daß sich die Franzosen als die ‚glorreich Besiegten‘ bezeichnet hätten. Ein stolzes und nachahmenswertes Wort. Auch für uns, meine Herren. Und wie wir, ohne uns was zu vergeben, diesen Sekt aus Frankreich nehmen, so dürfen wir, glaub’ ich, auch das eben citierte stolze Klagewort aus Frankreich herübernehmen. Wir sind besiegt, aber wir sind glorreich Besiegte. Wir haben eine Revanche. Die nehmen wir. Und bis dahin in alle Wege: Herr von Stechlin auf Schloß Stechlin, er lebe hoch!“

     Alles erhob sich und stieß mit Dubslav an. Einige freilich lachten, und von Molchow, als er einen neuen Weinkübel heranbestellte, sagte zu dem neben ihm sitzenden Katzler: „Weiß der Himmel, dieser Gundermann ist und bleibt ein Esel. Was sollen wir mit solchen Leuten? Erst beschreibt er uns die Frau mit ’nem Kropf, und dann will er das große Haus abschaffen. Ungeheure Dämelei. Wenn wir das große Haus nicht mehr haben, [252] haben wir gar nichts; das ist noch unsre Rettung, und die beinah’ einzige Stelle, wo wir den Mund (ich sage Mund) einigermaßen aufthun und was durchsetzen können. Wir müssen mit dem Zentrum paktieren. Dann sind wir egal ’raus. Und nun kommt dieser Gundermann und will uns auch das noch nehmen. Es ist doch ’ne Wahrheit, daß sich die Parteien und die Stände jedesmal selbst ruinieren. Das heißt, von ‚Ständen‘ kann hier eigentlich nicht die Rede sein; denn dieser Gundermann gehört nicht mit dazu. Seine Mutter war ’ne Hebamme in Wrietzen. Drum drängt er sich auch immer vor.“

     Bald nach Gundermanns Rede, die schon eine Art Nachspiel gewesen war, flüsterte Baron Beetz dem Alten-Friesacker zu, daß es Zeit sei, die Tafel aufzuheben. Der Alte wollte jedoch noch nicht recht, denn wenn er mal saß, saß er; aber als gleich danach mehrere Stühle gerückt wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich anzuschließen, und unter den Klängen des „Hohenfriedbergers“ – der „Prager“, darin es heißt, „Schwerin fällt“, wäre mit Rücksicht auf die Gesamtsituation vielleicht paßlicher gewesen – kehrte man in die Parterreräume zurück, wo die Majorität dem Kaffee zusprechen wollte, während eine kleine Gruppe von Allertapfersten in die Straße hinaustrat, um da, unter den Bäumen des „Triangelplatzes“, sich bei Sekt und Cognac des weiteren bene zu thun. Obenan saß von Molchow, neben ihm von Kraatz und van Peerenboom; Molchow gegenüber Direktor Thormeyer und der bis dahin mit der Festmusik betraute Lehrer, der bei solchen Gelegenheiten überhaupt Thormeyers Adlatus war. Sonderbarerweise hatte sich auch Katzler hier niedergelassen (er sehnte sich wohl nach Eindrücken, die jenseits aller „Pflicht“ lagen), und neben ihm, was beinahe noch mehr überraschen konnte, saß von der Nonne. Molchow und [253] Thormeyer führten das Wort. Von Wahl und Politik – nur über Gundermann fiel gelegentlich eine spöttische Bemerkung – war längst keine Rede mehr, statt dessen befleißigte man sich, die neuesten Klatschgeschichten aus der Grafschaft heranzuziehen. „Ist es denn wahr,“ sagte Kraatz, „daß die schöne Lilli nun doch ihren Vetter heiraten wird, oder richtiger, der Vetter die schöne Lilli?“

     „Vetter?“ fragte Peerenboom.

     „Ach, Peerenboom, Sie wissen auch gar nichts; Sie sitzen immer noch zwischen Ihren Delfter Kacheln und waren doch schon ’ne ganze Weile hier, als die Lilli-Geschichte spielte.“

     Peerenboom ließ sich’s gesagt sein und begrub jede weitere Frage, was er, ohne sich zu schädigen, auch ganz gut konnte, da kein Zweifel war, daß der, der das Lilli-Thema heraufbeschworen, über kurz oder lang ohnehin alles klarlegen würde. Das geschah denn auch.

     „Ja, diese verdammten Kerle,“ fuhr v. Kraatz fort, „diese Lehrer! Entschuldigen Sie, Luckhardt, aber Sie sind ja beim Gymnasium, da liegt alles anders, und der, der hier ’ne Rolle spielt, war ja natürlich bloß ein Hauslehrer, Hauslehrer bei Lillis jüngstem Bruder. Und eines Tages waren beide weg, der Kandidat und Lilli. Selbstverständlich nach England. Es kann einer noch so dumm sein, aber von Gretna Green hat er doch mal gehört oder gelesen. Und da wollten sie denn auch beide hin. Und sind auch. Aber ich glaube, der Gretna Greensche darf nicht mehr trauen. Und so nahmen sie denn Lodgings in London, ganz ohne Trauung. Und es ging auch so, bis ihnen das kleine Geld ausging.“

     „Ja, das kennt man.“

     „Und da kamen sie denn also wieder. Das heißt, Lilli kam wieder. Und sie war auch schon vorher mit dem Vetter so gut wie verlobt gewesen.“

[254]      „Und der sprang nu ab?“

     „Nicht so ganz. Oder eigentlich gar nicht. Denn Lilli ist sehr hübsch und nebenher auch noch sehr reich. Und da soll denn der Vetter gesagt haben, er liebe sie so sehr, und wo man liebe, da verzeihe man auch. Und er halte auch eine Entsühnung für durchaus möglich. Ja, er soll dabei von Purgatorium gesprochen haben.“

     „Mißfällt mir, klingt schlecht,“ sagte Molchow. „Aber was er vorher gesagt, ‚Entsühnung‘, das ist ein schönes Wort und eine schöne Sache. Nur das ‚Wie‘, – ach, man weiß immer so wenig von diesen Dingen, – will mir nicht recht einleuchten. Als Christ weiß ich natürlich (so schlimm steht es am Ende auch nicht mit einem), als Christ weiß ich, daß es eine Sühne giebt. Aber in solchem Falle? Thormeyer, was meinen Sie, was sagen Sie dazu? Sie sind ein Mann von Fach und haben alle Kirchenväter gelesen und noch ein paar mehr.“

     Thormeyer verklärte sich. Das war so recht ein Thema nach seinem Geschmack; seine Augen wurden größer und sein glattes Gesicht noch glatter.

     „Ja,“ sagte er, während er sich über den Tisch zu Molchow vorbeugte, „so was giebt es. Und es ist ein Glück, daß es so was giebt. Denn die arme Menschheit braucht es. Das Wort Purgatorium will ich vermeiden, einmal, weil sich mein protestantisches Gewissen dagegen sträubt, und dann auch wegen des Anklangs; aber es giebt eine Purifikation. Und das ist doch eigentlich das, worauf es ankommt: Reinheitswiederherstellung. Ein etwas schwerfälliges Wort. Indessen die Sache, drum sich’s hier handelt, giebt es doch gut wieder. Sie begegnen diesem Hange nach Restitution überall, und namentlich im Orient, – aus dem doch unsre ganze Kultur [255] stammt, – finden Sie diese Lehre, dieses Dogma, diese Thatsache.“

     „Ja, ist es eine Thatsache?“

     „Schwer zu sagen. Aber es wird als Thatsache genommen. Und das ist ebensogut. Blut sühnt.“

     „Blut sühnt,“ wiederholte Molchow. „Gewiß. Daher haben wir ja auch unsere Duellinstitution. Aber wo wollen Sie hier die Blutsühne hernehmen? In diesem Spezialfalle ganz undurchführbar. Der Hauslehrer ist drüben in England geblieben, wenn er nicht gar nach Amerika gegangen ist. Und wenn er auch wiederkäme, er ist nicht satisfaktionsfähig. Wär’ er Reserve-Offizier, so hätt’ ich das längst erfahren…“

     „Ja, Herr von Molchow, das ist die hiesige Anschauung. Etwas primitiv, naturwüchsig, das sogenannte Blutracheprinzip. Aber es braucht nicht immer das Blut des Übelthäters selbst zu sein. Bei den Orientalen…“

     „Ach, Orientalen… dolle Gesellschaft…“

     „Nun denn meinetwegen, bei fast allen Völkern des Ostens sühnt Blut überhaupt. Ja mehr, nach orientalischer Anschauung – ich kann das Wort nicht vermeiden, Herr von Molchow; ich muß immer wieder darauf zurückkommen – nach orientalischer Anschauung stellt Blut die Unschuld als solche wieder her.“

     „Na, hören Sie, Rektor.“

     „Ja, es ist so, meine Herren. Und ich darf sagen, es zählt das zu dem Feinsten und Tiefsinnigsten, was es giebt. Und ich habe da auch neulich erst eine Geschichte gelesen, die das alles nicht bloß so obenhin bestätigt, sondern beinahe großartig bestätigt. Und noch dazu aus Siam.“

     „Aus Siam?“

     „Ja, aus Siam. Und ich würde Sie damit behelligen, wenn die Sache nicht ein bißchen zu lang wäre. [256] Die Herren vom Lande werden so leicht ungeduldig, und ich wundere mich oft, daß sie die Predigt bis zu Ende mitanhören. Daneben ist freilich meine Geschichte aus Siam…“

     „Erzählen, Direktorchen, erzählen.“

     „Nun denn, auf Ihre Gefahr. Freilich auch auf meine… Da war also, und es ist noch gar nicht lange her, ein König von Siam. Die Siamesen haben nämlich auch Könige.“

     „Nu, natürlich. So tief stehen sie doch nicht.“

     „Also da war ein König von Siam, und dieser König hatte eine Tochter.“

     „Klingt ja wie aus’m Märchen.“

     „Ist auch, meine Herren. Eine Tochter, eine richtige Prinzessin, und ein Nachbarfürst (aber von geringerem Stande, so daß man doch auch hier wieder an den Kandidaten erinnert wird) – dieser Nachbarfürst raubte die Prinzessin und nahm sie mit in seine Heimat und seinen Harem, trotz alles Sträubens.“

     „Na, na.“

     „So wenigstens wird berichtet. Aber der König von Siam war nicht der Mann, so was ruhig einzustecken. Er unternahm vielmehr einen heiligen Krieg gegen den Nachbarfürsten, schlug ihn und führte die Prinzessin im Triumphe wieder zurück. Und alles Volk war wie von Sieg und Glück berauscht. Aber die Prinzessin selbst war schwermütig.“

     „Kann ich mir denken. Wollte wieder weg.“

     „Nein, ihr Herren. Wollte nicht zurück. Denn es war eine sehr feine Dame, die gelitten hatte…“

     „Ja. Aber wie…“

     „Die gelitten hatte und fortan nur dem einen Gedanken der Entsühnung lebte, dem Gedanken, wie das Unheilige, das Berührtsein, wieder von ihr genommen werden könne.“

[257]      „Geht nicht. Berührt is berührt.“

     „Mit nichten, Herr von Molchow. Die hohe Priesterschaft wurde herangezogen und hielt, wie man hier vielleicht sagen würde, einen Synod, in dem man sich mit der Frage der Entsühnung oder, was dasselbe sagen will, mit der Frage der Wiederherstellung der Virginität beschäftigte. Man kam überein (oder fand es auch vielleicht in alten Büchern), daß sie in Blut gebadet werden müsse.“

     „Brrr.“

     „Und zu diesem Behufe wurde sie bald danach in eine Tempelhalle geführt, drin zwei mächtige Wannen standen, eine von rotem Porphyr und eine von weißem Marmor, und zwischen diesen Wannen, auf einer Art Treppe, stand die Prinzessin selbst. Und nun wurden drei weiße Büffel in die Tempelhalle gebracht, und der hohe Priester trennte mit einem Schnitt jedem der drei das Haupt vom Rumpf und ließ das Blut in die daneben stehende Porphyrwanne fließen. Und jetzt war das Bad bereitet, und die Prinzessin, nachdem siamesische Jungfrauen sie entkleidet hatten, stieg in das Büffelblut hinab, und der Hohepriester nahm ein heiliges Gefäß und schöpfte damit und goß es aus über die Prinzessin.“

     „Eine starke Geschichte; bei Tisch hätt’ ich mehrere Gänge passieren lassen. Ich find’ es doch entschieden zu viel.“

     „Ich nicht,“ sagte der alte Zühlen, der sich inzwischen eingefunden und seit ein paar Minuten mit zugehört hatte. „Was heißt zu viel oder zu stark? Stark ist es, so viel geb’ ich zu; aber nicht zu stark. Daß es stark ist, das ist ja eben der Witz von der Sache. Wenn die Prinzessin bloß einen Leberfleck gehabt hätte, so fänd’ ich es ohne weiteres zu stark; es muß immer ein richtiges Verhältnis da sein zwischen Mittel und Zweck. Ein Leberfleck ist gar nichts. Aber bedenken Sie, ’ne richtige [258] Prinzessin als Sklavin in einem Harem; da muß denn doch ganz anders vorgegangen werden. Wir reden jetzt so viel von ‚großen Mitteln‘. Ja, meine Herren, auch hier war nur mit großen Mitteln was auszurichten.“

     „Igni et ferro,“ bestätigte der Rektor.

     „Und,“ fuhr der alte Zühlen fort, „so viel wird jedem einleuchten, um den Teufel auszutreiben (als den ich diesen Nachbarfürsten und seine That durchaus ansehe), dazu mußte was Besonderes geschehn, etwas Beelzebubartiges. Und das war eben das Blut dieser drei Büffel. Ich find’ es nicht zu viel.“

     Thormeyer hob sein Glas, um mit dem alten Zühlen anzustoßen. „Es ist genau so, wie Herr von Zühlen sagt. Und zuletzt geschah denn auch glücklicherweise das, was unsre mehr auf Schönheit gerichteten Wünsche – denn wir leben nun mal in einer Welt der Schönheit – zufrieden stellen konnte. Direkt aus der Porphyrwanne stieg die Prinzessin in die Marmorwanne, drin alle Wohlgerüche Arabiens ihre Heimstätte hatten, und alle Priester traten mit ihren Schöpfkellen aufs neue heran, und in Kaskaden ergoß es sich über die Prinzessin, und man sah ordentlich, wie die Schwermut von ihr abfiel und wie all das wieder aufblühte, was ihr der räuberische Nachbarfürst genommen. Und zuletzt schlugen die Dienerinnen ihre Herrin in schneeweiße Gewänder und führten sie bis an ein Lager und fächelten sie hier mit Pfauenwedeln, bis sie den Kopf still neigte und entschlief. Und ist nichts zurückgeblieben, und ist später die Gattin des Königs von Annam geworden. Er soll allerdings sehr aufgeklärt gewesen sein, weil Frankreich schon seit einiger Zeit in seinem Lande herrschte.“

     „Hoffen wir, daß Lillis Vetter auch ein Einsehen hat.“

     „Er wird, er wird.“

     Darauf stieß man an und alles brach auf. Die Wagen waren bereits vorgefahren und standen in langer [259] Reihe zwischen dem „Prinz-Regenten“ und dem Triangelplatz.

     Auch der Stechliner Wagen hielt schon, und Martin, um sich die Zeit zu vertreiben, knipste mit der Peitsche. Dubslav suchte nach seinem Pastor und begann schon ungeduldig zu werden, als Lorenzen endlich an ihn herantrat und um Entschuldigung bat, daß er habe warten lassen. Aber der Oberförster sei schuld; der habe ihn in ein Gespräch verwickelt, das auch noch nicht beendet sei, weshalb er vorhabe, die Rückfahrt mit Katzler gemeinschaftlich zu machen.

     Dubslav lachte. „Na, dann mit Gott. Aber lassen Sie sich nicht zu viel erzählen. Ermyntrud wird wohl die Hauptrolle spielen oder noch wahrscheinlicher der neuzufindende Name. Werde wohl recht behalten… Und nun vorwärts, Martin.“

     Damit ging es über das holperige Pflaster fort.

* * *

     In der Stadt war schon alles still; aber draußen auf der Landstraße kam man an großen und kleinen Trupps von Häuslern, Teerschwelern und Glashüttenleuten vorüber, die sich einen guten Tag gemacht hatten und nun singend und johlend nach Hause zogen. Auch Frauensvolk war dazwischen und gab allem einen Beigeschmack.

     So trabte Dubslav auf den als halber Weg geltenden Nehmitzsee zu. Nicht weit davon befand sich ein Kohlenmeiler, Dietrichs-Ofen, und als Martin jetzt um die nach Süden vorgeschobene Seespitze herumbiegen wollte, sah er, daß wer am Wege lag, den Oberkörper unter Gras und Binsen versteckt, aber die Füße quer über das Fahrgeleise.

     Martin hielt an. „Gnädiger Herr, da liegt wer. Ich glaub’, es ist der alte Tuxen.“

[260]      „Tuxen, der alte Süffel von Dietrichs-Ofen?“

     „Ja, gnädiger Herr. Ich will mal sehen, was es mit ihm is.“

     Und dabei gab er die Leinen an Dubslav und stieg ab und rüttelte und schüttelte den am Wege Liegenden. „Awer Tuxen, wat moakst du denn hier? Wenn keen Moonschien wiehr, wiehrst du nu all kaput.“

     „Joa, joa,“ sagte der Alte. Aber man sah, daß er ohne rechte Besinnung war.

     Und nun stieg Dubslav auch ab, um den ganz Unbehilflichen mit Martin gemeinschaftlich auf den Rücksitz zu legen. Und bei dieser Prozedur kam der Trunkene einigermaßen wieder zu sich und sagte: „Nei, nei, Martin, nich doa; pack mi lewer vörn upp’n Bock.“

     Und wirklich, sie hoben ihn da hinauf, und da saß er nun auch ganz still und sagte nichts. Denn er schämte sich vor dem gnädigen Herrn.

     Endlich aber nahm dieser wieder das Wort und sagte: „Nu sage mal, Tuxen, kannst du denn von dem Branntwein nich lassen? Legst dich da hin; is ja schon Nachtfrost. Noch ’ne Stunde, dann warst du dod. Waren sie denn alle so?“

     „Mehrschtendeels.“

     „Und da habt ihr denn für den Katzenstein gestimmt.“

     „Nei, gnäd’ger Herr, vör Katzenstein nich.“

     Und nun schwieg er wieder, während er vorn auf dem Bock unsicher hin und her schwankte.

     „Na, man ’raus mit der Sprache. Du weißt ja, ich reiß’ keinem den Kopp ab. Is auch alles egal. Also für Katzenstein nich. Na, für wen denn?“

     „Vör Torgelow’n.“

     Dubslav lachte. „Für Torgelow, den euch die Berliner hergeschickt haben. Hat er denn schon was für euch gethan?“

[261]      „Nei, noch nich.“

     „Na, warum denn?“

     „Joa, se seggen joa, he will wat för uns duhn un is so sihr för de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa’n Stück Tüffelland. Un se seggen ook, he is klöger, as de annern sinn.“

     „Wird wohl. Aber er is doch noch lange nich so klug, wie ihr dumm seid. Habt ihr denn schon gehungert?“

     „Nei, dat grad nich.“

     „Na, das kann auch noch kommen.“

     „Ach, gnäd’ger Herr, dat wihrd joa woll nich.“

     „Na, wer weiß, Tuxen. Aber hier is Dietrichs-Ofen. Nu steigt ab und seht Euch vor, daß Ihr nicht fallt, wenn die Pferde anrucken. Und hier habt Ihr was. Aber nich mehr für heut. Für heut habt Ihr genug. Und nu macht, daß Ihr zu Bett kommt und träumt von ‚Tüffelland‘.“


Anmerkungen (Wikisource)

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  1. Vorlage: vielleich