Der Sphinx. Eine Erd- und Menschengeschichte

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Der Sphinx
Untertitel: Eine Erd- und Menschengeschichte
aus: Zerstreute Blätter. Erste Sammlung.
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Erscheinungsdatum: 1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Scans auf Commons
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[196]

Der Sphinx.

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Eine Erd- und Menschengeschichte.

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I.

Sehet ihr jene dunkle Wolke? sprach Jupiter an einem Tage, da die Götter in Freude lebten: helldunkel und verwirrt schwebt sie tief unter unserm Fuß in den Lüften; was gilts, wenn wir sie zu einem Wohnplatz belebter Wesen und zu einem neuen Spiel unsrer Freuden machten? Er sprachs, und alle Götter stimmten ihm bey.

     Sogleich sandte Rhea, die Mutter der Götter, den künstlichen Vulkan hernieder, und gab ihm von ihrem ewig brennenden Altar das himmlische Feuer in seine Hände. Ungestüm fuhr er hernieder und zerstieß am Felsen, dem Kern der Wolke, seinen Fuß, daß er noch davon hinket. Er gieng in die Klüfte des Felsen mit seiner Flamme, und bereitete sie zum Heiligthum der Vesta: er bildete Gänge in denselben, wo er noch seine Metalle schmiedet.

[197] Juno, seine unsterbliche Mutter, sah ihm nach, und erheiterte mit dem Lächeln ihres Blicks die oberste trübe Luft. Neptun goß seine Wasser auf die Erde: da wurden Meere und Ströme; Pallas warf ihren Schleier hinab: da ward die schöne Bläue der Luft, geschmückt mit goldenen Sternen. Apollo fuhr rings um sie her, und goß auf sie seine Strahlen. Seine keusche Schwester fuhr langsam ihm nach, und ließ den Kopfschmuck ihres Hauptes den Mond, über ihrer Atmosphäre. Ceres leerte ihr Fruchthorn aus, voll Saamen und Kräuter; und die himmlische Venus ließ sich nieder, alles erfüllend mit Leben und Liebe. Der neue Schauplatz grünte und blühete; und alle Götter vereinigten sich, ein Geschöpf zu schaffen, das dies neue Tempe genösse und fühlte.

     Der Vater der Götter winkte, und Leben quoll in den Staub: es regte sich ein Gebilde in Göttergestalt und die Göttinnen eilten hinzu, es aufzurichten von der Erde. Pallas berührte seine Stirn, und der Funke der Weisheit zündete [198] an in seinem Haupte. Juno berührte seine Augen, und sie blickten majestätisch umher. Venus berührte seine Lippe, und die schönste Gabe ihres Schatzes, Ueberredung der Liebe floß auf dieselbe. So bildeten sie einen Mann: so bildeten sie ein Weib: Göttinnen und Götter freuten sich ihres Gebildes.

     Als plötzlich der Bote der Götter ankam, der eben ausgesandt gewesen war, das Schicksal um einen Spruch zu befragen, und erschrocken die Nachricht brachte, daß die mächtigen Götter des Tartarus über ihr neues Gebilde zürnten. „Ohne sie zu befragen, sprach er, habt ihr ihnen ein so weites Gebiet ihrer dunkeln Herrschaft entrissen; darum ist Pluto ergrimmt, die alten Parzen, die wütenden Erynnien zürnen: Nemesis hat euch beym Schicksal verklagt, und die unerbittliche Mutter hat ihren Klagen Gehör gegeben. Vernehmt ihre strenge Entscheidung:

     „Ein kurzes Leben sey den Lebendigen auf ihrer neuen Erde bestimmt; und da sie aus dem Felsen hervorgebracht ist, so sey der Sterblichen [199] Leben ein hartes Leben. Das Metall in ihrem Schooß sey ihnen ewige Mühe, ein immer wachsender Hader und Vielen der mordende Tod. Brüder werden Brüder erwürgen, und Hirten der Menschen ihre Völker schlachten. Der Freund stellt seinem Freunde nach Leben und Ruh; und selbst die süßen Gaben der Himmlischen, Verstand und Ueberredung und Liebe werden ihnen ein immerfließender Quell des Irrthums und des Truges und des Jammers. Also will es das Schicksal!“

     Erblasset standen alle Götter da, als Merkur sprach; denn eben als er noch sprach, stieg schon die Dienerin des Schicksals die ehrwürdige Nemesis herauf, sie, die immer die Erde durchwandert, zu vergelten das Gute, zu strafen das Böse. Ungesehen geht sie umher und zeichnet die Thaten an und wie sie ihr Buch der Unerbittlichen vorlegt: so wägt das Schicksal.


2.

     Die Götter waren bestürzt; doch nicht ohne Rath und Hülfe. Sie wußten, das Schicksal [200] sey unerbittlich, aber auch gerecht; widerrufen läßt sich sein Ausspruch nicht, aber er läßt sich anwenden und mildern. Im Urtheil, das Merkur gebracht hatte, war nicht bestimmt, daß die Neuerschaffnen ein Eigenthum der Unterirrdischen seyn sollten; noch weniger war die Linderung der Leiden, die ihnen das Schicksal auflegte, einem mitleidigen Wesen versagt. Aufs neue also sandten sie den Merkur ans hohe Fatum hinauf, mit einer zwiefachen Vorstellung zu lindern den Spruch des Schicksals.

     Gerechte Göttin, sprach Merkur und trat vor die ewigen Tafeln, der Mensch ist unschuldig an seinem Daseyn: er hat sich nicht selbst geschaffen. Vergönne also, daß die, die ihn ins Leben riefen, ihm auch sein kurzes gefährliches Leben versüßen und lindern.

     Die ewige Tochter der Nothwendigkeit neigte bejahend ihr Haupt und Merkur sprach weiter.

     Gerechte Göttin! Der Boden der Erde ist den Unterirrdischen abgewonnen und so bleibe er [201] das Gebiet ihrer Herrschaft, aus dem sie Gift und Quaalen den Sterblichen senden. Aber alles Lebendige auf und über der Erde ist der himmlischen Götter Werk: vergönne, daß es in ihrer Herrschaft bleibe. Wenn die Parze schneidet: so werde der Leib des Menschen zu Staub; aber mir erlaube, daß ich den himmlischen Athem ins Reich der Himmlischen führe, aus dem er entsprang.

     Du bittest zu viel, sprach das Schicksal und Nemesis rede.

     Nemesis trat heran und sprach: die ewigen Gesetze fodern Wiedervergeltung. Wer Böses auf der Erde verübt und es nicht büßet: der büße es im Tartarus ab, bis seine Seele rein ist: dann führe sie, wohin du willt. Die Reinen und Guten kannst du mitten durch den Orkus führen; ich wehre dir nicht den Weg.

     Das Schicksal winkte Ja, und Merkur verließ den gerechtesten der Throne.


3.

     Welch eine andre Secene begann nun auf der Erde! Die Himmlischen und Unterirrdischen [202] waren im friedlichen Kampf mit einander um die glücklich unglückliche Menschenheerde: denn ihre Grenzen waren vom Schicksal geschieden, und die gerechte Nemesis war Bewahrerin dieser Grenzen. Der Schlund des Tartarus brachte Unheil ans Licht: Krankheiten und Seuchen, Erdbeben und Feuerströme stiegen hervor; das verführende Gold und das mordende Eisen. Die Parzen webten und schnitten ab: die Erynnien schwungen ihre Fackeln in die Herzen der Menschen; doch nicht anders, als ihnen die Thatenverzeichnende Nemesis Erlaubniß gab und winkte.

     Gegentheils thaten die Götter aus helfendem Mitleid mehr für die Menschen, als sie zur bloßen Zeitkürzung würden gethan haben: denn die Elenden waren ihr Werk. Merkur gieng hernieder und gab ihnen das Geschenk der Sprache. Apollo gieng hernieder, und ward ein jugendlicher Hirt: er lockte sie in ein friedliches Thal und erweichte die Herzen der Jugend durch Gesang und Liebe. Bacchus gieng hernieder und zeigte den Menschen die erquickende Traube: [203] er preßte sie in den Becher des Gastrechts, den er mit Rosen der Freundschaft und mit dem Lotos milder Vergessenheit kränzte. So mischten sich tausendfach, unerkannt und in vielen Gestalten die Götter unter die Menschen: sie besuchten die Hütten der Armen, und waren insonderheit beym Spiel der unschuldigen Jugend. Grazien und Tugenden aus dem Gefolge der Venus beschäftigten sich mit der schönsten Zeit des Menschen, wenn er im Liebreiz blühet, und allen sanften Eindrücken gern Raum giebt. Ja endlich bekam zu noch größerer Sicherung jeder Mensch am Tage seiner Geburt einen hülfreichen Genius, der ihn unsichtbar begleite, der aber, um seine Vernunft zu eigner Thätigkeit zu gewöhnen, ihn minder lehre als warne, ihn kräftiger rette als führe.


4.

     Was sollten die Götter mehr thun, als sie thaten? und dennoch sahen sie viel vergebliche Mühe vom Werk ihrer Hände. Gern hätten sie den Menschen den kleinen Stolz gegönnet, daß [204] sie alle das erfunden haben, was eigentlich die Genien und die verkleideten Götter für sie erfanden; wenn nur auch die Geschenke ihrer schönsten Erfindungen dem kindischen Geschlecht Nutzen gebracht hätten. Aber nach dem Spruch des Schicksals ward ihnen das Beste zum Aergsten. Bacchus mit seiner gekelterten Traube, Apoll mit seinem Gesang und Tanz, Merkur mit seiner Citter und seiner überredenden Sprache, am meisten endlich Venus mit ihrem Zauberkelch der Freude und Liebe sahen Folgen, an die sie nicht gedacht hatten, und für die sie keine Mittel mehr wußten. Die Thörichten und Verkehrten! sie fingen an, den Gott auch in seiner tiefsten Verkleidung zu erkennen und zu fliehen. Tugenden und Grazien wurden aus allen Spielen verbannt: der Liebreiz und die erröthende Schaam flohen die Wangen der Jugend und für die Stimme des Genius war jedes Ohr taub, jedes Herz eisern. „Wir sind keine Götter, sprachen sie, und wollen unter uns leben. Vernunft ist uns gegeben, und so bedürfen wir keiner einhauchenden Stimme beschwerlicher Lehrer.“

[205] Die Parzen schnitten und die Erynnien streuten Funken. Nemesis zeichnete an: die Erde war voll unglücklicher, und der Tartarus voll büßender Menschen. Voll Traurigkeit und Zorn über den Undank der Menschen zogen die Götter in den Olymp, und ließen ihnen ihre thierische Behausung.


5.

     Bis Pallas einst vor Jupiter erschien, und ihn mit einem Andenken ans versunkne Menschengeschlecht störte. Ruhest du, Vater? sprach sie: kannst du ruhen und dir verzeihen, daß du Unglückliche gemacht hast?

     Ich habe sie nicht zum Unglück erschaffen wollen, sprach er, und schwieg.

     Das beruhigt dich, Vater, fuhr die fürsprechende Göttin fort; aber auch dich nicht ganz: noch weniger jene Unglückliche selbst, und am wenigsten das hohe Schicksal, das dir alle Mittel der Linderung und Verbesserung ihres Zustandes in deine Hand gestellt hat.

[206] Und welche wären übrig? antwortete er im Unmuth. Sind sie nicht alle versucht worden, um Undankbare zu verbinden, und Unglücklichen durch ihre eigne Schuld das Unglück zu mehren? Laß mich, Tochter.

     Zürne nicht, Vater, sondern höre mich gütig an, wie du mich sonst hörtest. Die Mittel, die wir bisher an den Sterblichen versucht haben, waren ihnen auswärtige, fremde Mittel. Ein Gott mußte ihnen beystehen, ein Genius sollte sie warnen, ein höherer Geist für sie erfinden; was Wunder, daß sie diese fremden Wohlthaten sich zur Beute gemacht und gemißbraucht haben? was Wunder, daß sie endlich dieses ganzen stöhrenden Götterumgangs müde geworden sind? Das Gute quoll nicht aus ihrem Herzen: es ward nicht in ihrer eignen Seele gebohren. –

     Und was folgte draus, meine Tochter?

     Daß es ihnen auch nicht die Freude der Selbstempfängniß gab, den Grund der dauerndsten mütterlichen Freude. Offenbar, o Vater, versahen wirs in unsrer Menschenbildung, daß [207] wir den Thon zu schwach und zu fein nahmen, daß der Hauch unsers Mundes sich ihnen in zu geringen Maas mittheilte, als daß sie die Gefahren bestehen könnten, die ihnen das Schicksal auflegte. Wir müssen also uns ihnen noch enger zu verknüpfen, ihre innere Kräfte zu stärken und das Menschengeschlecht durchs Menschengeschlecht zu erheben suchen. –

     Die dunkle Philosophin hätte vielleicht noch lange so fortgeredet; aber die schalkhafte Venus unterbrach sie, und warf dem Jupiter zu den Apfel der Liebe.

     Pallas schwieg und schlug den Schleyer nieder: denn das hatte ihr dunkler Rath nicht gemeinet; die Auslegung der Venus aber gefiel, und Jupiter gieng den Göttern vor am Beyspiel. Er schlüpfte hinunter, bald als goldner Regen, bald als Schwan, bald in andern Gestalten, wo irgend er nur eine Schönheit fand, in der ein Funke von Götterseele gedeihen konnte. Einige Götter und selbst Göttinnen folgten nicht ungern; insonderheit ließ sich die zärtliche Mutter des [208] Menschengeschlechts, die den Rath mit dem Apfel gegeben hatte, auch die Ausrichtung des Rathes sehr angelegen seyn, so daß zuletzt jeder entzückte Liebhaber in seiner Chloris eine Venus oder Grazie zu umarmen glaubte. Selbst die keusche Diana ward von der großmüthigen Begierde, Menschen zu veredeln, ergriffen, und hieng, da sie sich ihrem Endymion leibhafter Weise zu nahen nicht wagte, mit zärtlich begeisterndem Blick über seinem schlummernden Auge. Nur zwo Göttinnen, Juno und Pallas, blieben keusch: jene aus Stolz und Eifersucht; diese, deren Rath gänzlich verfehlt war, aus schamhafter Weisheit.


6.

     Die Scene des Menschengeschlechts ward nun in ihrem Innern verändert. Halbgötter und Heroen erschienen; nicht durch fremde, sondern durch eigene Kräfte: der Saame der Göttlichkeit war in sterbliche Leiber gepflanzet. Welche größere Thaten geschahen jetzt! welchen weitern [209] Begierden gab die enge menschliche Brust Raum! Aeskulapius, Jupiters Sohn, erweckte Todten und verminderte dem Tartarus sein Reich. Herkules und so manche andre seiner Art befreyten die Erde von Ungeheuern, und drangen als Sieger selbst in der Unterirrdischen Wohnung. Sanftere Göttersöhne kamen auf sanftere Art den Unterdrückten zu Hülfe: manchen frühern Simonides erretteten Castor und Pollux, ohne daß die Geschichte ihre Sagen erhalten. Als eine hülfreiche Flamme schwebten sie über den Masten der Schiffe, als glänzende Sterne über dem Schlachtfelde, und standen den Streitenden bey. Der Sohn Apollo’s und der Muse zähmte abermals thierische Menschen mit seinem Saitenspiel, und drang seiner geliebten Euridice bis ins Reich der Schatten nach. So stifteten Göttersöhne den Bund der Freundschaft und Treue bis über das Grab: Heroen warens, die Königreiche gründeten, Gesetze gaben, Staaten stifteten, und noch in ewigem Nachruhm leben. Sie warteten nicht auf den Stab Merkurs, sie durch die [210] Thäler der Unterirrdischen zu führen; in Flammen gereinigt stiegen sie selbst zum Himmel empor, und die Götter bewillkommten sie als ihre Söhne und Brüder. Im Himmel und auf der Erde siegprangten die Göttersöhne und Venus lächelte über ihren Apfel der Liebe.

     Aber wie bald gieng auch diese Scene vorüber! Die alten Götter wurden ihres Werkes müde, und allmählich fieng ihr Geist an unter den Sterblichen zu verhauchen. Die Abkömmlinge der Heroen waren zwar auf ihren Ursprung stolz; allein es war nur ein fremder, ererbter Vorzug, den sie jetzt zur Unterdrückung anderer Sterblichen misbrauchten. Träge floß das Götterblut in ihren Adern, und dafür schmückten sie sich mit Wappen und Ahnen. Schon wollte Jupiter der Pallas Vorwürfe machen, wie sehr ihre Weisheit sie dießmal bey solchem Puppenspiel betrogen; als sie, ohne sich über einen Rath zu rechtfertigen, den sie niemals gegeben hatte, stillschweigend zur Erde hinabstieg, und ihr Werk selbst vollbrachte.

[211]
7.

     Unter allen Göttern und Göttinnen hatte nemlich Pallas allein den Vorzug, daß sie ohne äußere Berührung im Haupt Jupiters erzeugt war, und also auch unmittelbar auf menschliche Seelen wirken konnte. Keiner Verkleidung bedurfte sie daher, um die Sterblichen zu unterrichten, noch weniger einer täuschenden Verführung. Sie warf die Flöte weg, die ihr Merkur leihen wollte, und die doch immer mehr auf die Ohren als auf die Gemüther der Menschen wirkte; dagegen theilte sie sich unmittelbar lehrbegierigen Seelen mit, die ihren Werth erkannten, und ihre schweigende Gestalt liebten. Sie lehrte den Pythagoras schweigen und denken: ohne wachende Träume enthüllte sie ihm die Gesetze des Weltalls, und öfnete sein Ohr der Harmonie der Sphären. Den begeisterten Plato führte sie ins Reich der Seelen, sie zeigte ihm den Staat der Götter, und selbst die himmlische Liebe. Dem Brutus und Scipio bewafnete sie, mit ihrem undurchdringlichen Schilde, und flößte das [212] Gefühl in sie nicht nur das Vaterland, sondern auch die Tugend zu lieben, den Neid zu verachten[1], und sich durch sein Schlangenhaar nur anreizen zu lassen zu größerer Tugend. Deshalb setzte sie das Haupt Medusens auf ihre Brust, und gab der Furie daselbst eine himmlische Schönheit. Mit ihrer schlichten Lanze, die einst die Riesen niedergeworfen hatte, schlug sie den Fels und es gieng aus ihm hervor der wohlthätige Oelbaum. Nicht Sieger der Feinde, sondern Wohlthäter der Menschen krönte sie mit seinem friedlichen Laube; am liebsten aber den, der sich selbst überwunden, und mit sich in Friede lebet. Auch sah sie bey dieser Belohnung auf keinen Stand, auf kein Geschlecht, auf kein Alter. Sie brachte sie dem Sklaven Epiktet sowohl, als dem geplagten Marc Aurel auf seinem bestürmten Throne; inwendig in ihrer Seele goß sie aus das Oel des himmlischen Friedens. Auch das weibliche Geschlecht entgieng nicht ihrer schwesterlichen Aufsicht: sie erfand, nicht für sie sondern in ihnen, alle Künste der Arbeitsamkeit und des stillen häuslichen [213] Fleißes. Mit der Penelope webte sie ihr frommes Gewand, und erquickte die Harrende durch Thränen ihrer geduldigen Hoffnung. Selbst den Tod lehrte sie einige Edle ihres Geschlechts verachten. Sie gab der Arria den Dolch in die Hand, und verwandelte die Kohle der Porcia in glühenden Nektar. Ihren besten Lieblingen aber, Männern und Weibern, gab sie ihr Bild, das Palladium der Unschuld. Als Siegerin erschien sie jetzt im Olympus, ohne Stolz, in ihrer bescheidenen schweigenden Größe. Jupiter gab ihr das menschliche Geschlecht, um welches sie die größesten Verdienste hatte zu eigen, und sie erwählte sich statt aller Lustbarkeiten des Himmels, die Erde zu ihrer stillen und vertraulichen Wohnung. Am liebsten wohnet sie bey dem überlegenden und geschäftigen Weisen; und freuet sich des stillen Glücks einer guten Erziehung, eines häuslichen, arbeitsamen Lebens. Dafür hönte nun freylich die umschweifende Venus sie mit dem Namen einer dunkeln Nachteule; das Schicksal selbst aber sandte ihr als der einzigen [214] und besten Ausführerin seiner Rathschlüsse ein Symbol von der ältesten Art, den Sphynx, das Bild verborgner Weisheit.

     Noch ist dein Reich, o große Göttin, hie und da nur im Dunkeln auf der Erde; möge es bald ein allgemeines lichtes Reich werden!


  1. Vorlage: zu verachen