Textdaten
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Autor: A. Nagel
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Titel: Der Schatz der Cobra
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 346–348
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Schatz der Cobra.

Von Dr. A. Nagel.

Kaum eine andere Thiergattung spielt in den Sagen und Märchen der Völker eine so große Rolle wie die Schlangen. Von den im zaubrischen Dämmerschein indischer Urwälder erwachsenen anmuthigen Geschichten der indischen Fabelsammlung „Hitopadeça“ bis zu dem treuherzig hausbackenen deutschen Volksmärchen – allenthalben stoßen wir auf die schmiegsamen Gestalten der geheimnißvollen Doppelzüngler. Dem unter glücklichem Gestirn Geborenen zeigt sich wohl, wenn die sommerliche Mittagsschwüle auf den Wipfeln des Forstes lastet, kein Laut die tiefe Stille unterbricht, unter dem knotigen Wurzelgewirr uralter Sträucher hervorlugend, das zierliche Köpfchen des weißen „Haselwurms“, dessen Genuß die Sprache der Thiere verstehen lehrt; oder er darf in den dunkeln Kellern der verfallenen Burg die „Unkenkönigin“ belauschen, wie sie, das köstliche Krönchen von glitzerndem Goldgespinst auf dem Haupte, aus der Mauerspalte sich ringelt, wo sie den reichen Hort hütet.

Es hält nicht schwer, die Ursachen anzugeben, weshalb der Volksglaube den Schlangen gerade allerlei Wunderbares andichtete: ihre geschmeidige, fußlose Gestalt, ihr bald träge dahinschleichendes, bald pfeilschnelles Sichfortbewegen, der kleine Kopf, [347] aus dessen oft mit Giftzähnen bewehrtem Munde die gespaltene Zunge spielt, der berückende Starrblick der glänzenden Augen, die so rasch eintretende Wirkung ihres tödlichen Bisses – das alles mußte diese Kriechthiergattung der im Volksgemüth überall vorhandenen Sucht zur Mythenbildung als außerordentlich dankbaren Gegenstand empfehlen.

Gewiß ist es lohnend, der Entstehung dieser oder jener wunderbaren Schlangensage nachzuspüren. Aber fast noch interessanter ist es offenbar, wenn im Volksmunde lebende Erzählungen betreffs Eigenthümlichkeiten dieser oder jener Schlange, die zwar sehr seltsam klingen, deren Behauptungen aber nicht außerhalb der denkbaren Möglichkeit fallen, von berufener Seite gewissenhaft untersucht und durch eigene sorgfältige Beobachtung als wahr erkannt werden. Eine solche „zu Ehren gebrachte“ Schlangenerzählung, zwar nicht bei uns, sondern auf indischem Boden spielend, bildet den Gegenstand dieser Zeilen.

In einigen für einen größeren Leserkreis berechneten Werken über Zoologie findet man bei der Besprechung der Cobra oder indischen Brillenschlange (Naja tripudians) die beiläufige Bemerkung, daß dieses allgemein mit Recht gefürchtete Reptil bei den abergläubischen Eingeborenen der Gegenstand eines „albernen Märchens“ sei, das da behaupte, es trügen manche Exemplare solcher „Cobras“ einen im Dunkeln leuchtenden Stein mit sich umher, den sie aufs sorgfältigste hüteten und nöthigenfalls mit größtem Muthe vertheidigten, da ihr ganzer Sinn an diesem kostbaren Schatze hänge. Nie sei die Cobra leichter zu erzürnen, niemals vergifte ihr Biß so schnell wie dann, wenn man ihr jenes Kleinod zu rauben trachte.

Das Märchen der „unwissenden“ Eingeborenen wurde als Albernheit verlacht, wie sich’s gebührte, gerade so, wie man bis zu Darwins Untersuchungen über die „fleischverzehrenden Pflanzen“ das „Märchen“ vom Insektenfange der nordamerikanischen Dionaea muscipula (Fliegenklappe, Venusfliegenfalle) gelacht hatte. Seitdem aber der amerikanische Forscher Professor H. Hensoldt auf Ceylon Gelegenheit gehabt hat, solche mineralogisch gesinnte Cobraschlangen in ihrem Thun und Treiben zu belauschen, wird man, so unangenehm dies vielleicht auch sein mag, nicht umhin können, den Hindus und Tamulen Recht zu geben. Der genannte Gelehrte hat seine im Jahre 1876 in der Nähe von Point de Galle gemachten Beobachtungen an Brillenschlangen und seine erste Bekanntschaft mit dem „Najâ- Kallu“ (Schlangenstein) sehr anschaulich in Harpers „Monthly Magazine“ geschildert, dem das Folgende entnommen ist.

Schon auf früheren Reisen in Indien hatte Hensoldt die seltsame Geschichte gehört, die ich eben kurz angedeutet habe, mit dem Zusatze, daß von etwa je zwanzig Schlangen eine die glückliche Besitzerin eines Leuchtsteins sei; er hatte indessen diesen Erzählungen kein Gewicht beigelegt. Zu seinem großen Erstaunen fand er in seinem Wirthe, einem deutschen Pflanzer, einen eifrigen Vertheidiger jener Anschauung: er selber wie auch die übrigen Mitglieder seiner Familie hätten zusammen wenigstens vierzig Cobras mit solchen Steinen beobachtet, und es werde nicht schwer halten, einen solchen aufzutreiben. Befragt, wie denn jenes Mineral beschaffen sei, beschrieb Herr Warkus dasselbe als halbdurchscheinend, von gelblichgrüner Farbe, an Gestalt und Größe etwa einer Erbse gleich, im Dunkeln gebe es ein deutliches Glimmlicht von sich. Der amerikanische Gast erfuhr außerdem noch, daß derartig ausgezeichnete Cobras selten ihre Wohnsitze in den Dschungeln verließen, und daß es immer sehr viel Achtsamkeit erheische, den Stein zu erlangen, da, von der Gefahr eines Bisses abgesehen, das Thier, wenn es sich erschreckt fühle, seinen Schatz ergreife und, ihn im Rachen verbergend, eilends flüchte. Seine singhalesischen und tamulischen Diener hätten ihn sogar versichert, daß eine beranbte Schlange oft vor Kummer über ihren Verlust verende.

Dies alles machte natürlich bei Hensoldt den lebhaften Wunsch rege, selbst eine Kallu-Najâ zu beobachten, sodaß er, um den Eifer der eingeborenen Diener anzuspornen, eine Belohnung von fünf Rupien (etwa 10 Mark) demjenigen von ihnen versprach, der in nächster Zeit eine solche Schlange aufspüre. Ein Kuli, der nur wenige Cents täglich zu verdienen pflegt, betrachtet natürlich die genannte Summe als einen kleinen Schatz. Die eigenen Bemühungen des amerikanischen Naturforschers führten zu keinem günstigen Ergebnisse, da er bei mehr als fünfzig getödteten Cobras sogar die Mägen vergebens nach dem Steine durchsuchte. Nach Ablauf mehrerer Tage endlich wurde ihm des Abends gemeldet, daß ein tamulischer Diener das gesuchte Thier ausfindig gemacht habe. Eiligst folgte unser Forscher der willkommenen Aufforderung, so eilig, daß selbst die getreue Gefährtin jedes Tropenreisenden, die erprobte Flinte, zurückblieb. Wir lassen ihn nun selbst erzählen:

Der Tamule führte mich etwa eine starke Meile quer durch den nördlichen hügeligen Theil der Pflanzung, dann verfolgten wir durch das Dickicht einen schmalen Fußpfad, der uns zu einem von mir schon früher einmal besuchten kleinen Wasserfall leitete. Ganz nahe dem Wasser erhob sich ein ungeheurer Tamarindenbaum, dem wir uns auf etwa fünfzig Schritte näherten, als plötzlich mein Begleiter Halt machte, indem er in geheimnißvoller Weise nach dem Baume hindeutete. Dort, sagte er, liege die Najâ, aber keinen Schritt weiter werde er mit vorgehen, und mit zahllosen Gebärden und Grimassen, die einem Cirkusclown stürmischen Beifall errungen hätten, suchte er mich auf die drohende Gefahr eines solchen Wagnisses aufmerksam zu machen. Da ich indeß von meinem Standorte aus nichts wahrzunehmen vermochte, so näherte ich mich vorsichtig noch weiter bis auf ungefähr ein Dutzend Ellen dem Baume, als ich mit einem Male unwillkürlich wie angewurzelt stehen blieb. War das wirklich das Räthsel der Najâ? Ganz nahe dem Grunde des Stammes bemerkte ich im Grase ein grünliches Licht, anscheinend von einem einzigen Punkte ausstrahlend. Im ersten Augenblick glaubte ich einen sogenannten Glühwurm, das Weibchen der wohlbekannten Lampyris noctiluca, des Johanniswürmchens, vor mir zu sehen, da das Licht dem von jenem Insekte ausgestrahlten sehr ähnlich war; doch bald, nachdem ich den Schein eine Weile fest ins Auge gefaßt hatte. kam ich zu der Ueberzeugung, daß hier etwas anderes vorliegen müsse. Bei den Lampyriden nämlich, wie bei allen „phosphorescirenden“ Insekten, bleibt die Stärke des ausgesandten Lichtes nicht dieselbe, sie nimmt in Zwischenräumen ab bis zum schwachen Glimmen, um dann sich wieder zum hellen Glanze zu steigern – hier aber nahm ich ein sich gleichbleibendes ununterbrochenes Leuchten wahr. Hinzufügen will ich noch, daß die Luft an jenem Abend von Feuerfliegen wimmelte.

Nach einiger Zeit konnte ich auch die Schlange selbst unterscheiden. Sie lag nahe dem Fuße des Baumes, in einen „Teller“ zusammengerollt, ganz ruhig, nur daß sie langsam den Kopf hin und her bewegte. Da mir die Flinte fehlte, so war ich in Verlegenheit, auf welche Weise ich den Stein mir sichern könnte, und ich weiß wirklich nicht, zu welchem verzweifelten und unzweckmäßigen Verfahren ich mich durch meine Begier, das Geheimniß zu lösen, hätte hinreißen lassen, wenn nicht mein Kuli plötzlich Einspruch erhoben hätte. Der gewissenhafte Bursche, von dem Gedanken durchdrungen, daß er eine Art von Verantwortlichkeit für meine Sicherheit trage, war sacht herbeigeschlichen, und, meinen Arm festhaltend, flehte er mich an, doch ja keinen Versuch zu machen, mich des ‚Kallu‘ zu bemächtigen, sein Herr werde ihn sicher zu Tode prügeln lassen, wenn mir etwas zustoße; er sei erbötig, in weniger als zwei Tagen den Stein herbeizuschaffen durch eine besondere List, vorausgesetzt, daß für den Augenblick die Cobra ganz ungestört bleibe. Obgleich ich nicht viel Hoffnung auf sein Versprechen setzte, so erkannte ich doch rasch, daß jeder Versuch in diesem Augenblicke fehlschlagen müßte, und hielt es daher unter solchen Umständen für vernünftiger, mich zurückzuziehen; aber niemals habe ich einen Platz mit solchem Widerstreben verlassen wie den Ort dieses seltsamen Schauspiels. Der Najâ-Kallu hatte mich als ein ungelöstes Geheimniß vollkommen bezaubert – zwei Stunden zum mindesten hatte ich ihn angestarrt.

Auf unserem Rückwege versicherte mich der Tamule, daß, falls die Cobra nicht erschreckt worden sei, sie ganz sicher die nächste Nacht zur nämlichen Stelle zurückkehren werde, und daß er sich ein Verfahren ausgedacht habe, um den Stein innerhalb zweier Tage zu bekommen. Die Schlange zu schießen, sei ein schlechter Plan in Bezug auf den Stein. Ich suchte seinen Eifer anzufachen durch Zusicherung einer Extrabelohnung von fünf Rupien, falls er mir den Kallu verschaffe.

Der schlaue Bursche hielt Wort. Ganz in der Frühe des zweiten Tages nach dem geschilderten Abenteuer rückte er an und überbrachte mir den Cobrastein. Es war ein halbdurchscheinendes, offenbar durch die Thätigkeit des Wassers abgerundetes Mineralgeschiebe [358] von gelblicher Farbe und etwa Erbsengröße, das im Dunkeln, besonders wenn es erwärmt wurde, ein grünliches phosphorescirendes Licht gab. Auf den ersten Blick glaubte ich, daß es aus Baryumsulfat bestehe, dem bekannten ‚Schwerspath‘, von welchem einige, namentlich bei Bologna vorkommende Spielarten (Bologneserstein) die Eigenthümlichkeit besitzen, nach stärkerem Erhitzen über Kohlenfeuer selbstleuchtend zu werden. Bei genauerer Untersuchung fand ich indeß, daß es ein Chlorophan war, eine selten vorkommende Abart des Flußspathes (Fluarcalcium). Ein Stück dieses Minerals, über einer Spiritusflamme erhitzt oder in kochendes Wasser geworfen, leuchtet mit schön grünem Glanze, solange die Wärme anhält. Einige Arten sind so empfindlich, daß schon ein kurzes Erwärmen in der geschlossenen Hand genügt, um sie stundenlang im Dunkel scheinen zu lassen. Der berühmte Berliner Mineraloge Gustav Rose erzählt, daß er auf seiner Reise mit Ehrenberg und Humboldt durch das Altaigebirge gelegentlich im Kiesgeschiebe des Irtisch bei Krasnojarsk Chlorophankiesel entdeckt habe, die mit herrlichem Glanze allnächtlich schimmerten, ohne eine andere Art von Erwärmung als die durch die Sonnenstrahlen des Tages erfahren zu haben.

Die Art, wie der Tamule sich des Najâ-Kallu bemächtigt hatte, war höchst merkwürdig. Lange vor Sonnennntergang schon hatte er den erwähnten Tamarindenbaum bestiegen und seinen Sitz auf einem der Aeste genommen, welche gerade über dem Lieblingsplatze der Schlange sich ausbreiteten. Als die Nacht hereinbrach, und der Kuli die Schlange sammt ihrem leuchtenden Steine wieder auf der alten Stelle gewahrte, leerte er einen mitgebrachten großen Sack voll Asche über denselben aus. Der dichte Aschenregen bedeckte augenblicklich den Kallu mit einer dicken Schicht, während das erschreckte Reptil, nach einer Weile fruchtloser Nachforschung, schließlich in das Dschungel zurückkroch. Der weniger durch Muth als durch Verschlagenheit ausgezeichnete Kuli beeilte sich keineswegs, seinen geschützten Posten zu verlassen, sondern verbrachte die ganze Nacht auf dem Baume und dachte erst an das Hinabklettern, nachdem die Sonne aufgegangen war und er sich versichert hatte, daß das Thier fort und die Luft rein war. Dann durchstöberte er sorglich den Aschenhaufen und fand den Stein. Vor meiner Abreise entdeckte ich selber noch drei weitere Exemplare.

Und nun komme ich zur Erklärung dieses scheinbaren Wunders. Die Cobras sind möglicherweise die einzige Schlangenart, die sich von Insekten nährt. Sie verzehren Ameisen, Heuschrecken, gewisse Käfer etc., scheinen aber eine besondere Vorliebe für „Feuerfliegen“ zu haben, vielleicht weil sie dieselben bei Nacht mit größerer Leichtigkeit erbeuten als andere Kerfe. Oft habe ich stundenlang Cobras belauscht, wie sie im Grase jene Leuchtthiere erhaschten, indem sie sich blitzschnell auf sie stürzten, eine Bewegung, die das Thier sichtlich recht anstrengt. Nun weiß jeder Insektenkenner, daß die fliegenden Lampyriden nur aus Männchen bestehen. Die Weibchen, weit geringer an Zahl, sind größer und können nicht umherschwärmen, da ihre Flügel verkümmert sind. So sitzen sie ruhig im Grase, ein grünes Licht ausstrahlend, welches dasjenige der männlichen Thiere an Stärke weit übertrifft und in regelmäßigen Fristen zu- und abnimmt. Bewacht man eine Zeitlang solchen „Glühwurm“, so beobachtet man ein stetiges Zuströmen von männlichen Insekten dorthin, die in nächster Nähe des Weibchens sich niederlassen.

Nun giebt der Najâ-Kallu, dieser kleine Chlorophankiesel, im Dunkeln ein grünliches Licht, das so leicht mit dem einerweiblichen Lampyride zu verwechseln ist, daß man ohne Mühe mittels desselben die fliegenden Männchen ködern kann. Allmählich sind die Cobras dahin gelangt, aus einer, wie ich glaube sagen zu dürfen, seit Jahrtausenden von ihnen gemachten Erfahrung Nutzen zu ziehen. Häufig kann es sich ereignen, daß eine Cobra einen dieser Leuchtsteine im Geröll ausgetrockneter Bäche antrifft, wo sie keineswegs etwas Seltenes sind, und, durch seinen nächtlichen Schein angezogen, ihn für eine Feuerfliege hält. Jedenfalls würde sie bald darauf aufmerksam werden, daß die Leuchtthiere weit müheloser in der Umgebung eines solchen schimmernden Kiesels zu fangen sind als anderswo, und daraufhin gewohnheitsmäßig jene Stelle wieder besuchen. Mehrere Cobras mögen so zusammentreffen, dann müßte nothwendig alsbald ein Wettbewerb um den nützlichen Stein entstehen, und von diesem Augenblick an bis zu der Erkenntniß, daß der Erfolg in Erbeutung der Nahrung vom Besitze eines derartigen phosphorescirenden Kiesels abhängt, und bis zu der Aneignung desselben mit der Absicht, einer Mitbewerberin zuvorzukommen, ist meiner Meinung nach kein sehr großer Schritt und setzt keine außergewöhnlichen Verstandeskräfte voraus.

Auch scheint mir Grund vorhanden zu der Annahme, daß nicht unumgänglich eine eigene selbstgewonnene Erfahrung nothwendig sei, um irgend ein Cobraexemplar zu dieser Handlungsweise zu veranlassen, sondern daß auch eine ganz junge Schlange instinktmäßig einen gefundenen Chlorophan in der beschriebenen Art anwenden wird. Denn es muß ausdrücklich betont werden, daß unter niederen Thieren ein gewisses durch Vererbung übertragenes Rassengedächtniß besteht, das oft weit stärker als das während der kurzen Lebensdauer des einzelnen Individuums erworbene sich erweist. Auch für weit höher stehende Thiere gilt dies. Was, um ein Beispiel anzuführen, veranlaßt ein blindes junges Kätzchen, zu speien und zu fauchen, seinen Rücken drohend in der bekannten Weise zu krümmen, wenn ihm ein Hund nahe kommt? Es sah niemals einen solchen – dennoch weiß es, daß etwas Gefahrdrohendes sich vor ihm befindet, und wählt das herkömmliche Mittel zur Abwehr.

Soweit der Bericht Hensoldts. Ich habe seine merkwürdigen Beobachtungen unverkürzt hier wieder gegeben, da der Gegenstand es mir werth schien. Ob seine Erklärung der seltsamen Erscheinung – welche ich, im Gegensatz zu der unbewußt von zahllosen niedern Thieren durch Färbung, Leuchtvermögen und anderes ausgeübten Kunst des Täuschens, als willkürliche Mimicry[1] bezeichnen möchte – ob diese überall Anklang finden wird, ist freilich eine andere Frage. Die Nothwendigkeit der Annahme eines Gattungsgedächtnisses steht wohl noch nicht außer allem Zweifel, das Gegentheil, Mittheilung jener Fertigkeit von einem Individuum zum andern, anzunehmen, scheint mir auch etwas gewagt. So muß denn die wissenschaftliche Erklärung bis auf weiteres im Hintergrunde bleiben und der Leser sich an der merkwürdigen Erscheinung selbst genügen lassen.

Aber einen andern Punkt möchte ich noch kurz berühren. Fast in allen Schlangensagen, besonders den deutschen, finden wir eine Art von Gemeinschaft zwischen Schlangen und glänzenden Mineralien, wie ich es eingangs schon angedeutet habe. Vor allem sind es kostbare, mit geheimnißvollen Kräften begabte Steine, als deren Trägerinnen und Wächterinnen die Schlangen auftreten. Besonders hübsch erzählt dies die in der Grimmschen Sammlung mitgetheilte Sage über die Gründung der „Wasserkirche“ in Zürich durch Karl den Großen: eine Schlange, durch den Machtspruch des Kaisers von ihrer Feindin, einer großen Kröte, befreit, bringt jenem aus Dankbarkeit im Munde ihren Schatz, einen funkelnden Edelstein, herbei.

Ist nun, so möchte ich fragen, diese Verbindung von Schlange und Stein im Reiche unserer Sagen und Märchen etwas rein Zufälliges oder liegt etwa eine poetische Verherrlichung des funkelnden starren Auges jener Reptile darin ausgedrückt? Hat man vielleicht früher auch bei einer insektenverzehrenden europäischen Schlange – undenkbar wäre es ja nicht – eine ähnliche Fangmethode beobachtet, wie wir sie oben kennengelernt haben? Oder endlich: liegt jenen Mythen vielleicht eine dunkle Erinnerung an die Cobra selbst zu Grunde, sind jene Erzählungen, ihrem thatsächlichen Kerne nach, etwa schon vor vielen Jahrtausenden mit den nach Westen aufbrechenden arischen Stämmen aus der alten Heimath am Indus und Ganges in Europa eingewandert?

Wie dem auch sei, die Hauptsache bleibt, daß die schönen Beobachtungen des amerikanischen Forschers uns eine neue interessante Stelle in „dem unendlichen Geheimbuche der Natur“ kennen gelehrt haben, die wohl geeignet ist, im Vereine mit so manchen andern überraschenden Entdeckungen der neuesten Zeit die Richtigkeit eines echten Philosophenwortes zu bekräftigen:

„So vorsichtig im Glauben, so vorsichtig im Unglauben.“


  1. Unter „Mimicry“ versteht man die Nachahmung bestimmter Thiere durch andere, welche letzteren dadurch, daß sie den ersteren nach Gestalt, Färbung, Zeichnung, Bewegungsweise etc. bis zur Verwechselung gleichen, gewisse Vortheile im Daseinskampf erlangen.