Textdaten
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Autor: Carl August Heigel
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Titel: Der Schatten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14–18, S. 209–212; 225–228; 241–244; 257–260; 273–278
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[209]
Der Schatten.
Erzählung von Carl August Heigel.
1.

… Er stieg aus dem Sarge.

Angelo unterstützte ihn, mit seiner Linken das Windlicht haltend, das auf die gewölbten grauen Wände und Metallsärge einen matten Schimmer warf.

Es war in der Familiengruft derer von Waldenburg. Eine Nacht und ein Tag waren verflossen, seitdem der Sarkophag mit dem letzten männlichen Sprossen des Geschlechts, dem Grafen Heinrich von Waldenburg, beigesetzt worden. Aber Graf Heinrich war nicht gestorben, er stand um Mitternacht auf von den Todten. Er that einen tiefen Athemzug und blickte schaudernd auf die geheimnißvollen Mauernischen, die übereinander geschichteten Truhen, auf den eignen Sarg.

„Hilf mir!“ sagte Angelo, hob mit des Andern Beistand den schweren Deckel auf den leeren Sarkophag, befestigte die Schrauben und verschloß ihn. Dann stiegen Beide aus der Gruft zur Capelle empor und gelangten von ihr in die Vorhalle.

Auch dort walteten die Einsamkeit und Stille der Mitternacht. Als sie an der mondbeglänzten Haupttreppe vorüber in den Corridor eines Seitenflügels bogen, hörten sie nichts, denn ihre eignen leisen Schritte. So erreichten sie ungestört Angelo’s Thurmzimmer … Durch das breite Bogenfenster schien der Mond. Verblaßte Gobelins bedeckten die Wände; Bücherschränke und einige schwerfällige Möbel waren das Geräth, ein großes Crucifix in der Nische der Schmuck des Zimmers.

Schweigend vertauschte Heinrich sein Sterbekleid mit dem Gewand eines katholischen Priesters, das für ihn bereit lag. Als dies gethan war, ließ er sich in einem Lehnstuhl nieder und senkte nachdenklich das Haupt.

Es war ein Mann von dreißig und einigen Jahren, aber ein schwermüthiger, träumerischer Zug um den Mund, eine gewisse Müdigkeit in der Haltung des Körpers, der Anlage zur Fülle hatte, ließen ihn älter scheinen. Das Haar braun und dünn, die Stirn hoch und schmal, die Augen von feuchtem Blau, die Nase leicht gebogen – so war das Gesicht des Grafen von sanfter Schönheit, ohne aufzufallen. Ganz anders dagegen waren Angelo’s Züge, streng, fest, bedeutend. Das kurzverschnittene schwarze Haar mit der Tonsur des katholischen Geistlichen spitzte sich inmitten der Stirn, während die hohen Schläfe bloß lagen. Der fanatische Blick der tiefliegenden Augen, die dünnen Lippen, die blasse Gesichtsfarbe und der abgemagerte Körper in schwarzer Priestertracht, Alles an ihm verrieth herben, der Welt und ihren Freuden unholden Sinn.

„Wie fühlst Du Dich?“ fragte Angelo.

„Müd, sterbensmüd,“ antwortete der Andere. „Wie lange schlief ich?“

„Vor drei Tagen nahmst Du meinen Trank. Seit drei Tagen ist Graf Heinrich von Waldenburg todt für seine Frau, für die Welt.“

„Todt!“ sagte Heinrich schaudernd; dann fragte er mit ängstlicher Spannung: „Wie trägt Stephanie den Verlust ihres Gemahls?“

„Wie ein Weib; sie jammert und weint.“

„Sie weint!“ seufzte der Graf und barg das Gesicht in beide Hände. „Ihre schönen Augen weinen. Und ich, ich nannte sie herzlos. Ach, Angelo, wozu hast Du mich überredet! Jetzt erscheint mir unsere That ein Frevel gegen Gott und Menschen. Mit den heiligsten Gefühlen, mit Liebe und Treue spielen wir.“

Der Priester zuckte verächtlich die Schultern. „Wenn Du Deinen Entschluß bereu’st, geh’ hin, stürze Dich Deiner Frau zu Füßen, erzähle Deinen staunenden Leuten irgend ein Märchen von Starrkrampf und Scheintod. Sie beweinten Dich drei Tage lang; damit bist Du zufrieden, schwacher, schwankender Mensch!“

Angelo schwieg, um den Eindruck seiner Rede zu beobachten. Aber Heinrich starrte schweigend vor sich hin. „Freilich,“ fuhr Jener fort, „wenn Du das jetzt thust, war unser Beginnen thöricht, vermessen und nutzlos, ein verächtliches Spiel, eine rohe Täuschung. Folgst Du aber auch fernerhin mir, handelst Du in meinem Geist, dann vollbrachtest Du eine große That, die Dich vom Staub der Welt zum Herzen Gottes trägt.“

„Heinrich,“ sagte er mit sanfterer Stimme und legte die Hand auf des Grafen Schulter. „Erkennst Du noch immer nicht Dein besseres Selbst? lauschest Du noch dem Sirenensang? Entschließe Dich! Entweder leere den Becher der Genüsse mit kühnem Zug, sei wie die Andern ein eitler, gottvergeßner, aber lachender Thor, ein ganzer Sünder; oder mach’ es gleich mir, knechte die Sinne, verachte die Menschen und sieh die Welt als einen Traum an!“

„Ach, Freund,“ sprach der Andere schmerzlich lächelnd, „wenn die Welt ein Traum ist, warum schilt mich die Welt einen Träumer?“

„Weil Du Stunden hast, in denen Du wach bist. O daß sie dauern möchten! Denk’ an mich! Wir wuchsen zusammen auf, wir hatten einen Lehrer, eine Erziehung; mein Geschlecht ist so adelig wie das Deine, und wie Du könnte ich jetzt reich, angesehen und, was die Menschen so nennen, glücklich sein. Trotzdem mein Blut rascher fließt als Deines, hab’ ich entsagt. Arm, namenlos, einsam stehe ich – und tausche doch mit Keinem Eurer Glücklichsten. [210] Oft, wenn Du mit Deinem Reichthum, Deiner schönen, allbewunderten Gattin, mit Deinen Ehren und Orden, im Zimmer Deines armen Schloßkaplans zusammenbrachst, von unbefriedigtem Stolz, eingebildeter Eifersucht oder Herzensleerheit gefoltert, und mit Thränen ausriefst: „„Wo ist das Glück?““ hab’ ich, Dein Untergebener, Dich bemitleidet; ich, besitzlos, wunschlos – ich fand mehr als Glück, ich fand Glückseligkeit! … Heinrich, sei wie die Andern, oder gleiche mir! Für einen Hamlet ist weder auf Erden, noch im Himmel Platz!“

„Ich beneide Dich, Angelo, und, beim Himmel, gern ahmt’ ich Dir nach!“ rief der Graf im heftigen Seelenkampf. „Aber Dir gewann die Welt niemals ein Lächeln ab, Du verachtetest sie immer; ich dagegen ließ mich in den Wirbel ziehen, meine Lippen haben geküßt, ach, so selig geküßt! Mein ist ein Weib; ich habe Freunde und treue Diener.“

Angelo lächelte triumphirend. „Prüfe dies Gold!“ rief er. „Gräfin Stephanie liebte in Dir die Freuden, die Dein Reichthum gewähren konnte. Durch Deinen Tod wird sie selber mächtig. Ihre Leidenschaften braucht nicht mehr die Klugheit zu bändigen – Ich bin ja frei! wird sie nach wenigen Monaten sich sagen, und die sanfte, blonde Stephanie wird ein stolzes, grausames, lusttrunknes Weib sein – wie alle vom blauen Blut.“

Heinrich war mit wuthbebenden Lippen emporgesprungen und preßte krampfhaft den Arm des Höhnenden. „Niemals!“ stammelte er. „Den würd’ ich tödten, der außer Dir von meinem Weib so spräche!“

„Hast Du nicht selbst mir gestanden,“ fuhr der Andere unerbittlich und furchtlos fort, „daß zuweilen in Stephaniens Augen ein Feuer wie aus tiefstem Höllenabgrund emporschlage? In diesem Zimmer hingst Du an meiner Brust und klagtest, daß sie mit ihrem Blick und ihrer süßen Rede Dich zum Teufel mache. Und dann wieder warst Du untröstlich über ihre Kälte … Deine Freunde – ach, Keinen wird Dein und empfangener Wohlthaten Andenken hindern, Stephanie Dich vergessen zu lehren und Dein Erbe zu plündern. Und Dienertreue – wer glaubt daran noch? … Sei ein Jahr lang für die Welt todt und dann, rückkehrend in die Welt, erfahre, was für ein Nichts ein Menschenleben ist! Stirb als der mächtige, reiche Graf von Waldenburg und tritt als armer, namenloser Fremdling in Deine Kreise – und dann sage mir, was Menschen sind!“

„Ich will’s,“ sprach Heinrich entschlossen … „Ich weiß,“ fügte er bitter hinzu. „Ich kann nicht zurück, Himmel und Erde stritten sich von jeher in meiner Seele, und doch war sie von beiden verlassen. Am Stoffe hängend, nach Läuterung mich sehnend, flüchtete ich mich in Deine Arme. Von Dir überredet, vollbrachte ich den ungeheuren Betrug. Wenn das Lebensglück zweier Menschen darüber zu Grunde geht und Fluch das Ende des Frevels ist, wälz’ ich die Verantwortung vor dem ewigen Richter auf Dich.“

„Glaubst Du,“ erwiderte ruhig der Andere, „ich hätte das kühne Spiel gewagt, wenn ich nicht gewiß wäre, Dich damit zu retten? Doch vergiß Dein Gelübde nicht: wenn Du nach einem Jahr die Welt im wahren Licht erkanntest, der Welt für immer zu entsagen, Dich vom Weibe zu trennen und Dein Gut unserer Kirche zu geben!“

„O Freund,“ sagte der Graf, „wenn ich die Menschen treulos und das Leben eitel finde, werd’ ich dann auf die Treue des Goldes schwören? Nein, dann bau’ ich meine Hoffnungen nur noch jenseits der Sterne auf.“

„So laß uns gehen!“

Sie verließen das Gemach. Eine Wendeltreppe hinab gelangten sie durch ein geheimes Pförtchen auf die Terrasse, welche sich längs der östlichen Front des Schlosses hinzog. Eine breite Steintreppe führte zum Park hinab, doch traten die Baumgruppen auf beiden Seiten zurück, so daß von der Terrasse der Blick auf den Fluß und das jenseitige Ufer frei blieb. Dorf und Schloß Waldenburg liegen unweit der italienischen Grenze in einem waldigen Gebirgsthal, in einer Landschaft voll wilder Schönheit und ungebändigter Kraftfülle. Ein tobender Fluß theilt das Thal in zwei Hälften. Am linken Ufer zieht sich die Heerstraße südwärts, bald dem Wasser entlang geleitet, bald in’s Waldesdickicht sich verlierend und dann wieder dicht an die senkrechte Felsenwand sich schmiegend. Sie führt mitten durch das Dorf Waldenburg, das hochgelegene Schloß zwischen sich und dem Fluß lassend. Am andern Ufer dehnte sich unabsehbarer Wald aus, über dessen Wipfel die Bergkegel riesig emporsteigen, uralte Bäume wie Blumensträuße und schäumende Bäche wie wallende Bänder an der Brust.

Als Heinrich mit seinem Gefährten in’s Freie trat, stand der Vollmond über der Bergkette und wölbte sich der wolkenlose Sternenhimmel einer Juninacht dawider. Diese Fülle tiefster Schatten und milchweißen Lichts sänftigte die wilde Starrheit der Gegend und gab ihr einen schwermüthig feierlichen Charakter. Wohl rauschte der Fluß, aber das uralte Wellenlied: Fort! fort! fand kein Echo im schlafenden Wald und in seiner flugmüden Vöglein Brust. Selbst die unbewegte Bergluft war weicher durch den Duft, den die Orangenblüthen im Schloßpark ausströmten.

„Ach, Freund,“ sagte Heinrich, während sie langsam die Terrasse hinabstiegen, „als ich Deinen Trank schlürfte, schwanden meine Sinne, schwammen meine Gedanken mählich dahin. Eine süße Lethargie wiegte mich ein. Nie mehr erwachen! war der letzte Wunsch oder Traum, bevor ich ganz in kalte Nacht versank. Aber jetzt der dumpfen Gruft entflohen, athme ich Wollust unter diesem Sternenhimmel, in dieser herrlichen Natur!“

„Blinder Schwärmer!“ versetzte der Andere, „die Giftdünste des Grabes athmest Du auch in diesem schmeichelnden Aether; der Wurm nagt auch im grünen Baum, im Blumenkelch. Ein Kampf Aller gegen Alle, das ist die Losung der Natur, und ihre schönsten Blüthen treibt sie aus Verwesung.“

Aber der Graf hörte nicht auf Angelo; er hielt sein Antlitz dem Schloß zugewandt. Plötzlich blieb er stehen, ergriff hastig den Arm seines Begleiters und wies nach dem letzten Fenster des ersten Stocks. Dort erschien Licht. „Es ist Stephanie,“ flüsterte Heinrich.

„Du zitterst?“

„Es ist Stephanie,“ wiederholte Jener hoffnungslos.

„Was hat sie im Erkerzimmer zu thun ?“ fragte Angelo verdrießlich.

„Horch! sie öffnet ein Fenster.“

„Glücklicher Weise eines auf der andern Seite.“

In diesem Augenblicke ließ sich aus der Ferne ein dumpfes Rollen hören. „Ein Wagen!“

„Ah, ich begreife jetzt,“ erwiderte der Priester. „Die Gräfin blickt nach der Heerstraße aus. Cousin Edgar kommt.“

„Edgar? Weiß er denn …?“

„Ich selber schrieb ihm auf Deiner Frau Befehl die Trauernachricht. Ich muß gestehen, daß er zu trösten sich beeilt. Aber fort, Freund, fort, bevor das Schloß wach wird! Beim Pavillon brach ich soviel Steine aus der Parkmauer, daß Du bequem hinüber gelangst. Linksab führt der Schmugglerweg. Ich habe dafür gesorgt, daß er heute frei bleibt. Mit Sonnenaufgang kannst Du drüben im grauen Kloster sein. Der Prior hat meine Weisung; ungefragt wird man Dich zu den guten Vätern von Monteverde befördern. Dort erhältst Du binnen drei Tagen meinen ersten Brief. Fort, es ist höchste Zeit! … Gott über Dir, entlaß ich Dich; kehre zurück, Gott in Dir!“

Sie umarmten sich. Bald darauf verschwand der Graf zwischen den Bäumen … Am Pavillon blickte er noch einmal nach seinem Schloß zurück. Das Licht im Erkerzimmer war verschwunden. Er winkte mit der Hand … „Leb wohl, Stephanie! auf Wiedersehen!“ … Dann schwang er sich über die Mauer, überschritt die Straße und schlug den geheimen Waldweg ein, der zwischen Felsengeklüft aufwärts führte. Unsichtbar begleitete ihn der Fluß mit seinem Rauschen, das bald schwächer, bald stärker sich vernehmen ließ, zuletzt nur noch dumpf wie das geheimnißvolle Wehen tiefster Waldgründe. Den jähen, grausigen Abhang entlang führte der schmale Pfad, ein Fehltritt war sicherer Tod; aber Heinrich’s Fuß war fest; er kannte die wilde Bergnatur und ihre Gefahren seit seiner Knabenzeit. Vom scharfen Ost umweht, klomm der Todtgeglaubte höher und höher.


Ein Jahr war seit Heinrich’s Auferstehung und Flucht vergangen. Die Gräfin Wittwe war unbestrittene Erbin und Gebieterin von Waldenburg, denn Niemand außer Angelo wußte, Niemand ahnte das Geheimniß. Der jüngste Sarg in der Ahnengruft stand unberührt und vergessen, wie die andern. Der Grünspan nahm, wie der Staar dem Auge, dem Metall den glänzenden Blick; Staub lagerte sich auf den goldgestickten Sammet, und eine Spinne zog ihr Netz zwischen Sarkophag und Wand.

[211] Droben aber, im Lichte, hatte sich Alles verändert. Früher war das Schloß reich, aber alterthümlich eingerichtet gewesen. Die Melancholie des Grafen lag auf den Gobelins und dunkeln Stoffen, dem Eichengetäfel und geschnitzten Geräth. Drei Monate nach seinem Begräbniß, während Stephanie in der Residenz weilte, kamen Möbelwagen, französische Arbeiter und Gärtner nach Waldenburg. Zum Entsetzen der älteren Diener und zum Erstaunen der Dorfbewohner wurde Tag und Nacht gehobelt und gehämmert, zerstört und geschaffen, verwirrt und geordnet. Als die Gräfin bald darauf selber kam, war der Charakter des ganzen Hauses umgewandelt. Die große Treppe glich einem Blumenhügel; die Gemächer, deren Holzwerk und Riesenkamine man vorläufig verschonte, enthielten nur moderne Möbel, lichte Stoffe, zierliche Blumentische und chinesische Vasen. Sogar die altdeutschen Bilder hatten trotz ihres Kunstwerths wegen ihrer schwermüthigen Probleme und schwarzen Rahmen den modernen Frère, Diaz und Guillemin weichen müssen.

An einem schönen Sommerabend befanden sich Stephanie, ihre Gesellschaftsdame und der Priester Angelo in einem dieser Gemächer. Wegen seiner blaßgelben Vorhänge und Divans hieß es das gelbe Zimmer. Die Decke sowohl, als die geräumigen Wände waren getäfelt und in entsprechende, erhaben gearbeitete Felder eingetheilt. Trat man vom Corridor in das Gemach, so führte rechts eine Thür in das Boudoir der Gräfin, das weiter keine Verbindung hatte, die Thüre links in das Zimmer der Gesellschaftsdame.

Stephanie saß am offenen Fenster, Fräulein Fanny hinter ihr, Angelo ihr gegenüber.

„Und so wollen Sie mich wirklich verlassen?“ fragte die Gräfin.

Ihre Stimme hatte einen weichen, schmeichelnden Klang.

„Ich muß,“ antwortete er. „Meine Vorgesetzten rufen mich nach Rom. Ueberdies ist mein Freund Stein, der mich vollständig ersetzen wird, bereits eingetroffen.“

„Ach, an ihn dacht’ ich längst nicht mehr. Er ist schon im Schloß, sagen Sie? Seit wann?“

„Vor einer halben Stunde trat er in mein Zimmer. Er bittet, Ihnen seine Aufwartung machen zu dürfen.“

„Er ist willkommen … Einen Augenblick! Erwähnten Sie nicht einst seine große Aehnlichkeit mit meinem seligen Gemahl?“

„Allerdings sieht er dem Theuern ähnlich, und meine Wahl fiel auch deshalb auf meinen Freund Stein.“

„Warum deshalb?“ fragte Stephanie. Ihre stahlblauen Augen sahen Angelo starr an.

„Warum, Frau Gräfin? Liebt man nicht das Bild, den Schattenriß eines verlorenen Freundes? Sie besitzen kein Portrait Ihres Gatten. Er hatte einen Widerwillen, sich im Bild zu sehen. Eines Andern Aehnlichkeit, denk’ ich, ist immerhin eine Erinnerung an das Urbild selbst.“

„Die Erinnerung an einen Verlust, an so herben, plötzlichen Verlust ist traurig.“

„Sie ist ein Trost in neuem Unglück, eine Mahnung in der Versuchung.“

„Pater!“ fuhr die Gräfin empor, aber sie zwang sich zu einem Lächeln. „Das sollte doch keine Prophezeiung sein? Nein, lassen Sie uns heiter scheiden. Nehmen Sie meinen innigsten Dank für die treue Freundschaft, die Sie meinem Heinrich bewahrten, und geben Sie mir Ihren Segen! Wenn Sie von Rom nach Deutschland heimkehren, werden Sie in Waldenburg stets der willkommenste Gast sein! – Und nun bitte ich Sie, mir Herrn Stein vorzustellen.“

Beide hatten sich unterdessen von ihren Sitzen erhoben. Angelo verließ mit einer stummen Verbeugung das Gemach. Stephanie sandte ihm einen Blick unsäglichen Hasses nach. „Endlich!“ rief sie, tiefaufathmend. „Heute erst werde ich Herrin. Dieser finstere, blasse, unheimliche Mann vergällte jede Freude, verdüsterte alle meine Gedanken. Nun, Fanny, jubeln Sie nicht mit mir? Waren Sie Angelo’s Freundin? Freilich, wie wenig wissen Sie von ihm! Sie, hätten ihn sehen sollen, als mein Mann noch lebte! Wie er des Guten Seele Tag für Tag fester bannte und in eine Nacht höchst trauriger Gedanken senkte. Dieser Angelo stahl mir Stück für Stück vom Herzen meines Mannes. Heinrich lebte noch, hätte Jener nie unsere Schwelle betreten.“

„Mir, gnädigste Gräfin,“ erwiderte das Fräulein, eine kleine, hübsche Blondine, „mir war Angelo – seinen Stand in Ehren!– immer ein Horreur. Ich wollte, sie machten ihn in Rom zum Papst, damit er in Rom bliebe. Und ich an der Frau Gräfin Stelle bedächte mich wohl, den neuen Kaplan zu nehmen, da ihn Pater Angelo empfiehlt.“

„Das kränkt mich ja,“ sprach Stephanie leise und mehr für sich, „daß ich diesem Manne nicht Nein zu sagen wage! So tief ich ihn hasse, so sehr fürcht’ ich ihn. Wozu brauche ich überhaupt einen Kaplan? Ich bin nicht von Zweifeln geplagt, wie mein armer Heinz; ich lasse Gott in Ruhe die Welt regieren. Die Bibliothek? die ließ ich nach dem Speicher schaffen, und meine Bücher möchten Herrn Stein wenig Mühe, aber viel Kopfschütteln machen. Die dummen Dörfler können Sonntags ihre Messe drüben in Wendelstein hören, und wenn ich einen Sommer lang nicht in die Kirche gehe – nun, man wird heutzutage nicht mehr in Acht und Bann gethan.“

„Das hätte ich dem Pater Angelo gründlich dargelegt.“

„Was hätten Sie?“ versetzte heftig die Gräfin. „Sie denken doch nicht muthiger zu sein als ich? Sie hätten geweint, wie Sie immer thun, wenn Sie nicht wissen, was Sie thun sollen. Sie hätten geweint und Herrn Angelo die Hand geküßt und ihm für seine zarte Fürsorge Ihre ewige Dankbarkeit versichert. Das Letztere that ich auch. Doch still, sie kommen! … Wie lange mein Cousin wieder auf sich warten läßt! Was macht die Gräfin Aßperg?“

„Sie schläft.“

„Die Glückliche!“

„Herr Stein,“ sagte Angelo, in’s Zimmer tretend. Ihm folgte ein Priester mit kahlem Haupt, doch vollem, schwärzlich-grauem Bart; seine Stirn war tief gefurcht, seine Wange blaß und hohl, seine Gestalt zum Gerippe abgemagert, aber in seinen Augen brannte zehrendes Feuer, und diese Augen ruhten jetzt auf Stephanie, heiß und schwärmerisch anbetend und verlangend, wie der Wunsch eines Jünglings. Wie blühend, wie schön auch war sie gegen ihn! Ein schwarzseidenes Kleid verhüllte, aber verbarg nicht den Oberkörper, der auf breiten Hüften schmal, gleichsam sich zusammenfassend, ansetzte und dann zur herrlichen Brust anschwoll und zum vollendeten Nacken sich wölbte. Wie ein Triumph stieg das Haupt empor, das Gesicht von edler Rundung und heller Farbe; der Mund mit leicht emporgezogenen Winkeln, lächelnd oder schmollend, Liebesworte oder Flüche sprechend, erweckte immer Sehnsucht zum Küssen, wie Venus’ ewig frische Lippen; die Augen unter dunkeln Wimpern blau, feucht, verlangend; die Stirn niedrig, aber fein geformt, und darüber eine Wucht lichtbraunen Haares – so war Stephanie jener sirenenhaften Schönen eine, mit denen man auf einem Zaubermantel im Sturmwind über die Welt hin und durch den Sternenwirbel brausen möchte.

Nach kurzer Begrüßung, die von Stein stumm erwidert wurde, begann die Gräfin: „Sie sehen auf den ersten Blick meinem seligen Mann ähnlich, allein bei längerer Betrachtung verliert sich diese Aehnlichkeit. Mein Heinrich hatte runde, weiche Züge, seine Augen waren sanft, während Ihre Augen – Vergebung, hochwürdiger Herr! – sehr streng und bedeutsam blicken.“

Angelo gab seinem Freund unbemerkt ein Zeichen, sich zu fassen. Aber dieser war unfähig, zu antworten. Stephanie, die seine Verwirrung allein der Macht ihrer Schönheit zuschrieb, lehnte sich im Fauteuil zurück und sah in dieser halbliegenden Stellung, mit verschleierten Augen und einem leichten Lächeln um den Mund, so reizend aus, daß Heinrich – denn Er war Stein – der Allgewalt des Heimwehs und der Liebe gefolgt und seinem Weib zu Füßen gestürzt wäre, hätte sich nicht plötzlich ein Hornruf aus den Bergen vernehmen lassen. Stephanie sprang rasch empor und sagte zu Fanny „Sie kommen!“ und, von Purpur übergossen, mit fliegender Brust und glänzenden Augen, beugte sie sich aus dem Fenster und winkte mit ihrem weißen Tuch. Dann sich mäßigend, wandte sie sich an Heinrich. „Vergebung, Herr Stein! Ich habe einige liebe Gäste, die soeben von der Jagd zurückkehren. Die Jagd in den Bergen aber ist so gefährlich, daß ich die glücklich Heimkehrenden jedesmal wie Gerettete begrüße … Sie sind gewiß müde, haben Dies und Jenes zu ordnen, Herr Stein? Ihre Gemächer kennen Sie bereits. Befehlen Sie dort ganz nach Ihren Herzenswünschen! … Ich hoffe, wir werden gute Freunde.“ Sie reichte ihm ihre seine Hand.

„Ich hoff’ es,“ sagte Heinrich.

Beim Klang seiner Stimme zuckte Stephanie jäh zurück und starrte mit entsetztem Blick ihn an. „Das,“ sagte sie zitternd, „das war Heinrich’s Stimme.“

[212] Angelo trat schnell dazwischen. „Wunderlich!“ rief er, „ich finde gerade die Stimme nicht ähnlich. Mein unvergeßlicher Freund besaß ein weniger tiefes, aber weicheres Organ … Doch, gnädige Frau, erlauben Sie mir, mich zu empfehlen. Schon geht die Sonne nieder, und ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“

Da Stephanie ganz in Gedanken verloren schien, ergriff Fräulein Fanny das Wort und bot dem Scheidenden die Benutzung von Pferd und Wagen an. Aber Angelo lehnte es ab.

„Ich bin ein Feind aller Bequemlichkeit,“ sagte er. „Meine gnädigste Gräfin, ich empfehle Sie Gottes und der Madonna Schutz. Leben Sie wohl!“

„Leben Sie wohl!“ sprach die Gräfin und reichte Angelo ihre Hand, die eisig kalt war. Sowie beide Männer das Gemach verlassen hatten, warf sich die schöne Frau auf einen Divan und begann heftig zu weinen. Fanny trat erstaunt zu ihrer Gebieterin, kniete nieder und legte Stephaniens Haupt schmeichelnd, tröstend und liebkosend auf ihren Arm, an ihre Brust. Sie verwünschte Angelo und vor Allem ihn, der in Stephanie traurige Erinnerungen weckte. Sie an der Gräfin Stelle würde ihn nicht einmal noch sprechen, sondern ihn kurzweg dem Herrn Angelo nachschicken.

„Nein, nein!“ rief die Andere hastig, „er soll bleiben. Ich will ihn sehen, ihn sprechen hören. Wie Heinrich’s Schatten will ich ihn betrachten. O, diese Stimme, mein Gewissen erwachte bei ihrem traurigen Klang und rief mir zu, welch’ ein leichtsinniges, treuvergeßnes Weib ich bin.“

Mon Dieu,“ versuchte Fanny zu scherzen, „welch’ ein verleumderisches Gewissen! Kommen Sie, gnädigste Gräfin, lassen Sie uns Ihrem Cousin und dem Grafen Aßperg entgegengehen. Wie würde Herr von Montigny erschrecken, Sie hier in Thränen und Verzweiflung zu finden, und wie würde er lachen, wenn er die Ursache davon erführe! Die Aehnlichkeit, die unbedeutende Aehnlichkeit eines armen Bettelmönchs mit dem Grafen Heinrich von Waldenburg! Und vielleicht würde Ihr Cousin auch nicht lachen, vielleicht sich tief verletzt fühlen, denn er bildet sich ein, gewisse Erinnerungen eines Herzens verdrängt und dies schöne Herz für sich erobert zu haben.“

„Glaubst Du, Montigny wäre – würde …?“

„Eifersüchtig,“ ergänzte die schlaue Schmeichlerin die Erröthende, die sich emporgerichtet und mit offenbarem Behagen Fanny’s Worten gelauscht hatte. „Gewiß ist er eifersüchtig auf Alle, die ihm seine Dame streitig machen, seien sie nun lebendig oder todt.“

„Todt, wie traurig das klingt!“

„Aber Montigny lebt, Montigny liebt, die kleine Fanny bittet für Montigny.“

Stephanie legte dem schelmisch lächelnden Mädchen die Hand auf den Mund. „Still,“ sagte sie, „Du bist ein verzogenes, unartiges Kind! …. Wir wollen Edgar – Herrn von Montigny entgegengehen.“

Unterdessen hatte Angelo in Heinrich’s Begleitung das Schloß verlassen. Sie gingen durch das Dorf, das zu beiden Seiten der Landstraße sich hinabzog. Wohl war die Sonne hinter den Bergen, aber noch ergoß sich eine Fülle goldenen Lichts durch den reinen Aether. Schimmernd lag es auf der breiten, festgeglätteten Straße, an den weißen Häusern mit vorspringendem Giebeldach und bunten Schildereien, an den grauen Kalkfelsen dahinter. Auf der Bank neben der Hausthür saßen uralte Mütterchen und Greise mit Gesichtern, die von der Zeit versteinert schienen, und stierten in das lärmende Getriebe der flachshaarigen Kinder, die Ringelreihen tanzten, dort sich haschten, hier sich balgten. Kräftige Männer und Frauen standen auf den steinernen Stufen, die zum Eingang führen, und plauderten mit einander. Aus manchem Erdgeschoß klang die Cither, und droben an der Balustrade der hölzernen Galerie, welche jedes Haus umgiebt, lehnte zwischen Nelkentöpfen und ausgespannter Wäsche eine sonnengebräunte Maid, den Kopf auf beide Arme gestützt, und sah ernst und nachdenklich aus wie ein ägyptisches Sphinxgesicht. Wo Angelo und Heinrich vorbeigingen, grüßten die Männer und knixten die Frauen, aber kaum daß der Eine oder Andere ihnen nachblickte. „Niemand erkennt mich,“ sagte Heinrich wehmüthig.

„Du hast die Feuerprobe bestanden,“ sprach der Andere. „Verstorben, vergessen.“

Ein offener Korbwagen kam ihnen entgegen, zwei Herren in Jägertracht saßen vorn, zwei Forstmänner auf dem Rückplatz.

Angelo’s Gruß wurde kalt erwidert; der eine von den Herren kutschirte und peitschte unbarmherzig auf die schönen Braunen los, die den Wagen zogen. Sie fuhren in’s Schloß.

„Montigny und Graf Aßperg,“ sagte Heinrich finster. „Gehört Aßperg auch zu den „lieben“ Gästen meiner Frau?“

„Er und sein Weib.“

„Sein Weib?“ rief der Andere heftig. „Die berüchtigte Gräfin Wanda Aßperg ist in meinem Schloß, in Stephaniens Nähe? Ich habe vor Jahren schon meiner Frau diesen unwürdigen Umgang untersagt. Stephanie gab mir damals Recht; sie verabscheute das aller Scham und Tugend bare Weib. Und jetzt würdigt sie es ihrer Freundschaft?“

„Die Aßperg ist witzig, amüsant. Die Geschichte von damals ist in der Gesellschaft vergessen. Nichts wird auf der Welt leichter vergessen als ein Scandal, ein Versprechen und ein Todter.“

„Wer waren die zwei grünen Bursche hinter meinem Cousin?“

„Der neue Förster mit seinem Gehülfen.“

„Ist denn mein alter, guter Redlich todt?“

„Nein, aber entlassen. Cousin Montigny fand Redlich zu alt und den Alten zu redlich. Als auf Herrn von Montigny’s Rath, Wunsch oder Befehl – nenn’s wie Du willst! – der Zorningerforst abgeholzt werden sollte, that der Förster Redlich Einsprache. Das zog ihm der gnädigen Frau Unwillen zu, und er wurde entlassen, der Forst aber abgeholzt.“

„Den treuen Diener kann ich belohnen,“ sagte Heinrich schmerzlich, „aber der schöne Forst, die Krone meiner Wälder! Ihn zu zerstören, anstatt stolz darauf zu sein, daß wir einen solchen Forst hegen und halten können!“

„Holz ist baares Geld, und da es sich jetzt zuweilen ereignet, daß Mangel an Baarem ist –“

„Träumst Du?“ unterbrach ihn flammend der Graf. „Meine Frau ist reich.“

„Gewiß, aber sie hat fixe Ideen, die viel, sehr viel Geld kosten. So bildet sie sich ein, Herrn von Montigny’s sprüchwörtliches Unglück im Spiel paralysiren zu können, indem sie sein Bankier beim Spiele ist. Da war Baron Orman jüngst zu Gast. Er kam mit einem einzigen Koffer, aber das war ein Wunderkoffer, denn als der Herr Baron abreiste, trug er den ganzen Zorningerforst darin fort. Leider glaube ich, daß auch die Aßperg’s ähnliche Wunderkoffer haben.“

„Aber was sagt denn der Verwalter?“

„Der neue Verwalter? O, das ist ein gefälliger Mann und ein Tausendkünstler, ein wahres „Tischlein decke dich.“ Die Gräfin braucht nur zu sagen: Geld! so schafft er Geld. Und wie bequem ist er! Er bringt fünfzig, und die Gräfin schreibt hundert; abgemacht! Keine Schwierigkeit, kein Gerede, keine langweilige Ueberlegung. Alles glatt und geschmiert und doch in bester Form!“

Der Andere seufzte. Ein kleiner, schmutziger Junge trat in diesem Augenblick an sie heran und bettelte.

[225] „So lange Graf Heinrich lebte,“ sagte Heinrich mit einem bedeutsamen Blick zu seinem Begleiter, „ward in Waldenburg nicht gebettelt.“

„Es ist des hinkenden Robert Sohn,“ erwiderte Angelo. „Sein Vater ward in Ungnade entlassen und nagt nun am Hungertuche.“

„Der Jäger Robert? Allerdings ein plumper Gesell, aber –“

„Er hinkt. Die Frau Gräfin hat einen ausgeprägten Schönheitssinn. Die Leute in ihrer Umgebung müssen hübsch und gewandt sein. Man will mit seinem Staat doch Staat machen. Und dann benahm sich Robert grob gegen Herrn von Montigny … Ist Dein Vater zu Hause?“ wandte er sich an den Knaben, der neben ihnen her lief und unermüdlich „Bitt’ schön! bitt’ schön!“ sagte.

„Ja, Vater und Mutter sind daheim,“ erwiderte der Junge. „Vater hat einen Rausch, und die Mutter schimpft. Bitt’ schön!“

„Laß uns eintreten,“ sagte Heinrich entsetzt. „Der Mann muß gerettet werden.“ Sie traten in eine elende Hütte, die am Ausgange des Dorfes lag. Die einzige Stube, durch eine Breterwand vom Stall getrennt, war nur schwach erhellt, die Luft darin dumpf und schwül. Am Heerd glimmten einige Kohlen und rösteten eine Hand voll roher Kartoffeln. Eine häßliche Frau mit wirrem Haar und ungeordneter Kleidung saß am Tische und säugte ein Kind. Ein älteres Mädchen balgte sich auf dem schwarzen Fußboden mit einem Dachshund; der Vater, ein bärtiger, wild aussehender Gesell, lag auf dem Bett. Als Heinrich und Angelo hereintraten, schrie das Kind, der Hund bellte, die Frau zerrte keifend ihren Mann empor, und dieser fluchte.

„Pater Angelo ist da, siehst Du denn nicht?“ schrie das Weib. „Pater Angelo vom Schloß, Du Trunkenbold!“

„Hol’ der Teufel das Schloß und Alle, die drin sind!“ lallte der Mann.

„Er weiß nicht, was er redet,“ wandte sich die Frau entschuldigend an Angelo. „Seitdem ihn die Frau Gräfin entlassen hat – was sie vor Gott nimmer verantworten kann – ist er ein Säufer. Schnaps ist Brod, Trost und Recht, sagt er. Ach, ich bin die unglücklichste Frau auf der Welt! Wir müssen elend zu Grunde gehen, aber die Gräfin soll auf ihrem Sterbebette an uns denken.“

„Gieb mir die Kugelbüchse ’runter,“ stammelte der Jäger, als er seine Frau schluchzen hörte. „Ich schieß’ ihn todt, den Hund, den Montigny. Gieb mir die Kugelbüchs’ …“

Seine Frau sprang auf ihn zu und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. „Aufstehen sollst Du,“ schrie sie, „und Deine dummen Reden lassen! Oder man wird Dich auf’s Landgericht bringen und einsperren. Ach, Sie sagen’s nicht weiter, Hochwürden! Er ist so betrunken. Und Herr von Montigny ist an allem Unglück schuld. Sehen Sie, der selige Herr Graf war ein guter, aber ein wenig verworrener Herr. Er hätte in seinem Leben keine Gams getroffen. Wenn ihm nun ein Stück Wild in den Schuß kam, knallte mein Mann zugleich mit dem Grafen los, und der Herr Graf hat nichts gemerkt und sich über seinen eingebildeten guten Schuß gefreut. Wie nun im Frühjahr mein Mann zum ersten Mal hinterm Herrn von Montigny auf der Heinrichswand am Anstand steht und ein Gamsbock drüben vorbeisetzt, schießt Herr von Montigny und mein Mann schießt auch. Es lag ihm in der Hand vom Seligen her. Was aber thut der Andere? Sowie der Gamsbock gefallen ist, dreht er sich um und haut den Robert mit seinem flachen Saufänger. Mein Mann verschluckt’s, holt den Gamsbock, weidet ihn aus, nimmt die Kugel ’raus – es war seine Kugel – und sagt: wenn Sie allein geschossen hätten, könnte der Bock noch hundert Jahr’ leben! … da war’s aus; nach Hause kommen und seinen Abschied kriegen, war eins.“

„Betet für den seligen Herrn,“ sagte Angelo. „Vielleicht schickt er Euch Hülfe.“

„Ach, todt ist todt. Ein lebendiger Bettelmann kann mir mehr nützen, als ein todter König. Ich wollte, Herr von Montigny wäre uns gnädig, denn der ist jetzt Herr auf Waldenburg.“

„Recht hast Du, Frau,“ brummte der Jäger, der sich unterdessen ermuntert hatte. „Ich will zum Herrn von Montigny. Vivat der Herr von Montigny!“

„Komm!“ flüsterte Heinrich, „ich ersticke hier.“ Er legte ein Goldstück auf den Tisch und eilte, bevor die überraschte Frau Worte fand, in’s Freie.

Schweigend schritten sie nebeneinander her. Schon walteten tiefe Schatten, vom Fluß stiegen Nebel auf und am schwarzblauen Himmel traten Mond und Sterne hervor. „Begleite mich nicht weiter,“ sagte Angelo am Eingang eines finstern Fichtenwaldes. „Kehre in Dein unglückliches, entweihtes Haus zurück! Morgen Nachmittag treffen wir uns in der Sennhütte hinter der Heinrichswand. Gute Nacht!“

Sie trennten sich. Langsam ging Heinrich nach Waldenburg zurück. Als er über den stillen Schloßhof schritt, sprang aus einem dunkeln Winkel ein angeketteter großer Hund heulend empor. [226] „Diana!“ sagte Heinrich für sich und trat an den Hund heran. Dieser aber stieß plötzlich einen fast menschlichen Schrei aus, richtete sich an Heinrich empor, umarmte ihn mit seinen Vordertatzen, leckte ihm Gesicht und Hände, sprang wieder herab, wedelte mit dem Schweif und heulte, bellte, winselte und schluchzte. „Du kennst mich noch, du treues Thier,“ sagte Heinrich.

Ein Diener erschien mit einer Peitsche und drohte Dianen.

„Willst du ruhig sein, Köter!“ sprach er. „Hochwürden haben wohl Hunde gern? Die Frau Gräfin mag sie nicht. Kommen Sie, Hochwürden! Ich habe Ihnen auf Ihrem Zimmer den Thee servirt. Ruhig, Köter! –“




Der Gräfin Stephanie Schlafgemach stieß – wie schon erwähnt wurde – an das gelbe Zimmer. Die Corridorthür im letzteren wurde Nachts von innen zugeschlossen, dagegen die Flügelthür des Boudoirs weit geöffnet. Das Himmelbett der Gräfin stand dem Eingange gegenüber, so daß sie erwachend in das gelbe Zimmer und die Thür, die zu Fräulein Fanny führte, sehen konnte. Das Boudoir hatte verschlossene Läden und lag völlig dunkel, während im gelben Zimmer allnächtlich eine Lampe brannte. Diese Lampe stand seitwärts auf einem Tische, so daß Stephanie den lichten Raum, nicht aber das Licht erblickte.

Mitternacht war noch nicht lange vorüber, als Stephanie aus bangen Träumen erwachte. Sie richtete sich seufzend empor; dabei streifte ihr Blick das helle Gemach und den Parketboden, auf dem das Licht weiß wie Schnee lag. Ein jäher Schrecken durchzuckte Stephanie; sie wollte einen Schrei ausstoßen und nach dem Klingelzug über dem Kissen greifen, aber das Entsetzen lähmte ihren ganzen Körper. Im gelben Zimmer war Jemand. Der Schatten eines in einen Mantel oder ein Laken verhüllten Mannes zeichnete sich auf dem Parket ab. Stephanie konnte nicht den Mann selber sehen, nur seinen Schatten sah sie, unbeweglich, aber darum auch unleugbar, bestimmt, schrecklich deutlich. Der Todesschweiß trat auf Stephaniens Stirn; ihr Herz begann schnell und schneller, zuletzt hörbar zu pochen … mit halbem Leib aufgerichtet, starrte sie auf den finstern, drohenden, unbeweglichen Schattenriß … So saß sie eine Ewigkeit der Hölle, bis ihr Gehirn sich drehte, ihre Augen sich schlossen und sie ohnmächtig mit einem leisen Stöhnen zurücksank. Als sie erwachte, war der Schatten verschwunden; Stephanie riß am Klingelzug, und Fanny erschien.

„Hörtest Du nichts?“ fragte hastig die Gräfin. „Jemand war im gelben Zimmer!“

Erschrocken eilte das Mädchen in’s anstoßende Gemach, kam aber bald lächelnd zurück. „Unmöglich,“ sagte sie, „der Schlüssel steckt in der Thür …




2.

Heinrich schlief in Angelo’s Thurmzimmer. Er hatte von vergangenen Tagen geträumt und, frühe am Morgen von Schritten geweckt, fragte er halb im Traume noch: „Sind Sie es, Joseph?“

„Bitte, Titus, mein Herr!“ sagte der Bediente, der ohne Umstände eingetreten war und ein Kaffeebret mit Heinrich’s Frühstück auf den Tisch stellte.

Der Graf richtete sich auf, rieb sich die Augen und erblickte einen zwerghaften Burschen in weißer Livree. „Ist Joseph nicht da?“ fragte er, noch verwirrt.

Der Groom drehte das runde, dummdreiste Gesicht von räthselhaftem Alter nach dem Fragenden. „Meinen der Herr Kaplan des verstorbenen Grafen Kammerdiener?“

Des verstorbenen Grafen! Dies Wort rief Heinrich in die Wirklichkeit. „Ja, den mein’ ich,“ sprach er mit gleichgültigem Ton. „Hieß er nicht Joseph?“

Der Kleine stellte sich breitbeinig vor Heinrich’s Lager, steckte seine Rechte in die Hosentasche, zwinkerte mit den Augen und grinste: „Der Joseph ist nicht mehr da. Er steht jetzt bei einem Herrn von Specht in Condition. Nicht viel los mit dem Herrn von Specht! ’s ist ein halbes Jahr her – ich war noch nicht lange bei der Frau Gräfin, und wir wohnten damals in der Stadt …. Famoses Leben in der Stadt! …. Abends spielten ich, Franz und Joseph im Vorzimmer unser Tarok. Natürlich kam’s dabei jedesmal zwischen den beiden Kammerdienern zum Streit, Und eines Abends haut der Joseph den Franz, aber derb. Was thut der Franz? Er steckt der Gräfin, Joseph habe die goldene Uhr des seligen Herrn gestohlen. Richtig war’s; der Kammerdiener wollt’ ein Andenken und behielt die Uhr, die bei der Inventur vergessen worden. Bei Tisch fragt die Gräfin: wie viel Uhr ist es? und der Dummkopf Joseph zieht, ohne weiter zu denken, des Grafen Uhr und sagt: halb Vier. Nun wußte die Frau Gräfin freilich, wieviel es geschlagen hat, und Abends hatte der Joseph seinen Abschied. Aber auch der Kammerdiener Franz ging bald darauf ab.“

„War auch er ein Dieb?“

„Hm, das weiß ich nicht. Er ging freiwillig, denn der Banquier Levy bot ihm als Tafeldecker zwanzig Gulden mehr, als er bei uns hatte.“

Der Graf blickte finster vor sich hin. Sein ehrlicher Joseph – ein Dieb! Franz, den Waldenburg’s Vater aus bitterer Noth riß, der zwanzig Jahre lang des Grafen Brod aß, verläßt um eines kleinen Vortheils willen seine Herrin … „Ach, Angelo!“ seufzte Heinrich in seinem Herzen.

„Zu des seligen Grafen Zeit,“ fuhr der Groom sich aufblasend fort, „waren nur vier Diener im Schloß. Der Graf soll ein Filz gewesen sein. Jetzt haben wir sechs. Ich und Banks, der Neger, bedienen die gnädige Frau. Seit einigen Wochen brachte ich Pater Angelo das Frühstück, denn Lafleur hat den Herrn von Montigny, die beiden Jäger warten den Aßperg’s auf, und Schramm putzt die Stiefeln. Ein strenger Herr, der Herr Pater! Um vier Uhr stand er auf, um fünf mußte seine Milch auf dem Tische stehen. Wenn Sie das Frühstück künftig später wünschen, mir ist’s recht. Ich schlafe je länger, je lieber.“

„Ich werd’ es wie Pater Angelo halten,“ sagte Heinrich kurz.

„So?!“ versetzte der Groom gedehnt. „Sonst nichts zu befehlen?“

„Nein. Wie ist doch Dein Name, Kleiner?“

Dieser schleuderte auf Heinrich einen empörten Blick, und sich in die Brust werfend, entgegnete er: „Die Frau Gräfin nennt mich Titi, den Uebrigen heiße ich Herr Titus; die Frau Gräfin sagt Du zu mir, Fremden aber bin ich Sie! … Und übrigens bin ich lutherisch, Herr Kaplan.“

Damit kehrte er dem Letzteren gravitätisch den Rücken und verließ das Gemach. Heinrich mußte über die komische Indignation und den unverschämten Hochmuth des Däumlings lächeln. Er stand auf und öffnete, nachdem er sich angekleidet, das Fenster der frischen, würzigen Morgenluft … Vom Thurmzimmer aus konnte man in die Fenster von Stephaniens Gemächern sehen. Die Jalousien waren herabgelassen. „Sie schläft noch,“ sagte sich Heinrich, „schläft nach dem bösen Traum dieser Nacht.“ Er trat zurück und schritt langsam, mit gesenkter Stirn auf und nieder. Er gedachte der Zeit, wo er in früher Morgenstunde am Lager Stephaniens saß, den sanften Athemzügen ihrer Brust wie einer Musik lauschte und unverwandt in das liebliche Gesicht starrte, als sähe er den süßen Schlaf auf den geschlossenen Lidern liegen. Und wenn sie dann erwachte, lächelte sie ihm zu und sagte: „Du böser Heinz!“… Plötzlich flog ängstlich zwitschernd eine Schwalbe am offenen Fenster vorüber, gleich darauf krachte ein Schuß. Heinrich eilte in die Nische und sah hinab.

Auf der Terrasse stand sein Cousin Montigny, die noch rauchende Flinte in der Hand. Unweit davon zuckte der kleine Vogel auf der Erde, aber Jener hatte seines Erfolges nicht Acht, sondern blickte in die Höhe, wo hinter einer hastig geöffneten Jalousie ein weißes Kleid schimmerte, schwenkte lachend seinen Hut und rief: „Guten Morgen, Vielliebchen! Gewonnen! gewonnen!“

Der Fensterladen wurde halb wieder geschlossen, aber einige Secunden später fiel eine Rose hindurch. Montigny hob sie auf und drückte sie an seine Lippen.

Heinrich wankte vom Fenster zurück. „Vergessen, wie ein Schatten!“ flüsterte er.

Sein Herz krampfte sich zusammen. Die Stube ward ihm zu eng; er eilte hinab in’s Freie, durch den Park, durch das Dorf. Vor dem Wirthshaus zum Adler saßen Mägde und wanden Kränze aus Eichenlaub. Der Hausknecht stand auf der Leiter, um über der Thür einen Transparentrahmen zu befestigen, während sein, Herr, der dicke Adlerwirth, in Hemdärmeln und schneeweißer Schürze, das Lederkäppchen keck auf’s Ohr gedrückt, am Fuß der Leiter mit wichtiger Miene „Mehr rechts! Mehr links!“ commandirte.

Heinrich wollte mit kurzem Gruß vorübergehen, aber nicht so dachte der Wirth. Der wollte die eigene Neugierde befriedigen und andrerseits seinen Leuten zeigen, wie wohl er in allen Schloßgeschichten [227] Bescheid wisse. „Hab’ die Ehre, Herr Kaplan!“ rief er Heinrich entgegen und zog tief seine Mütze. „Freut mich die Bekanntschaft Euer Hochwürden zu machen. Ich bin der Adlerwirth. Ja, ja, der Pater Angelo hat uns verlassen. Das war ein Mann! Der hörte das Gras wachsen! Haben der Herr Kaplan in der ersten Nacht gut geschlafen? Wie gefällt Ihnen das Transparent?“

Waldenburg war näher getreten. Die Dirnen hielten in der Arbeit ein und stierten ihn an; auch der Hausknecht hörte zu hämmern auf. Aber kein Gesicht drückte mehr als Neugierde aus. „Man feiert wohl ein Fest heute?“ fragte Heinrich mit einem flüchtigen Blick auf die Guirlanden.

Des Adlerwirths glattrasirtes Antlitz glänzte im Vorgenuß von Freude, Ruhm und Gewinn. Er rieb sich die Hände, schloß vergnüglich die Augen und schnalzte mit der Zunge. „I, ein doppeltes, ein dreifaches Fest,“ rief er, „ein Fest, wie’s Waldenburg noch nicht erlebte! Für’s Erste feiern der Rottmüller und seine Ehehälfte die silberne Hochzeit, und zweitens führt heute ihr Sohn, der schöne Toni, des Silberbauern Afra heim. Was? Das nenn’ ich ein Gaudium! Eine Doppelhochzeit von Vater und Sohn. Das junge Paar das schmuckste im ganzen Dorf, und die Alten die Reichsten! In Wendelstein werden sie getraut, dann geht’s zurück, zum Adlerwirth. Huida! Meine Frau hat gestern und die ganze Nacht Kuchen gebacken, und jetzt brennen schon wieder fünf Feuer in der Küchel und wird gesotten und gebraten wie für den König Pharao. Aber nun bleibt der Hauptspectakel: Weil das Trauerjahr um unsern Herrn – Gott hab’ ihn selig! – um ist, kann die Frau Gräfin heute zur Jubelhochzeit kommen. Herr von Montigny hat’s dem Silberbauern zugesagt, daß sie kommt, mit ihren Gästen zum Adlerwirth kommt. Denn auch im Schloß ist große Tafel und jede Gutsherrschaft im Umkreis von zehn Stunden geladen. Das wird ein Jubel heute, daß die alten Berge wackeln. Sie schenken uns doch auch die Ehre, Herr Kaplan?“

Heinrich’s Antwort kam eine Frauenstimme zuvor, welche aus dem Hintergrunde des Hausflures „Nazi!“ rief; eine Stimme, die wie ein elektrischer Schlag den Wirth und seine Leute durchzuckte; die Mägde begannen plötzlich mit erneutem Eifer zu flechten und zu binden, der Hausknecht aus Leibeskräften zu hämmern. „Gleich, Frau, gleich!“ rief der Adlerwirth in’s Haus. „Heute,“ sagte er zu Waldenburg, „führt sie das große Wort. Wie finden Sie das Transparent? Ein Myrthenkranz und zu beiden Seiten flammende Herzen. Der Huberin Joseph hat’s gemalt, ein blutjunger Bursch’. Der selige Graf wollt’ ihn Maler werden lassen, und das war sein Unglück. Denn nun unser Graf todt ist, hat der Bub’ nicht das Geld, um in der Stadt zu studiren, und keine Lust, Bauer zu werden …“

Wieder unterbrach ihn die Stimme: „Nazi! Blitzkerl! Wo schwatzest Du denn wieder? Willst Du gleich den Keller –“

„Adlerwirth,“ sagte auf der Leiter ängstlich der Hausknecht, „die Frau will den Kellerschlüssel …“

„Gleich, Frau, gleich!“ rief der Redselige. „Sehen Sie, Herr Kaplan,“ fuhr er gegen Heinrich gewandt, aber den Blick unruhig nach der Thüre gerichtet, fort, „im Kranz sollte ein Spruch stehen, der auf die Herrschaft sich bezieht, aber mir fällt nichts ein. Wissen Sie keinen Vers, Herr Kaplan?“

„Ei,“ erwiderte der Andere nach kurzem Besinnen, „nehmt den Wahlspruch der Waldenburg, der in der Schloßkapelle steht!“

Der Adlerwirth schlug sich vor die Stirn. „Richtig! das ist’s! der Wahlspruch muß drauf! Nimm den Rahmen nur wieder ab, Stoffel; nimm ihn ab und lauf’ zum Huber-Joseph! Er soll den Spruch hineinmalen; hörst Du, den Spruch, der in der Schloßkapelle steht …“

„Nazi!“ tönte die Stimme heftiger. „Nazi! Kreuzelement …“

„Adlerwirth, die Frau Loni!“ mahnten die Kranzwinderinnen.

„Herr Jesus, ich komme ja… Nichts für ungut, Hochwürden! - Ich will meine geplagte Frau heute nicht ärgern, sonst sollte sie sehen … Na, tausend Dank für den guten Rath. – Spute Dich, Stoffel! – Hab’ die Ehre, Herr Kaplan!“ Und mit den Schlüsseln rasselnd, stürzte er sich eilig in den Hausflur. Heinrich aber setzte seinen Weg fort.

Er ging zum Fluß hinab, um sich an’s andre Ufer fahren zu lassen. „Gelobt sei Jesus Christus!“ sagte der alte Fährmann, der, seine Pfeife rauchend, im Kahne saß.

„In Ewigkeit, Amen!“ erwiderte Waldenburg den frommen Gruß.

„Schönes Wetter heute,“ begann der Alte, während der Nachen einer Kette entlang glitt und vom Ruderschlag vorwärts getrieben wurde. „Ihr kommt wohl vom Schloß, hochwürdiger Herr?“

„Ja.“

„Da geht’s heute wieder hoch her,“ sagte der Schiffer schmunzelnd. „Sonntag ist dort alle Tag’. Ein lustig Haus, seit der Graf todt ist! Mir kann’s recht sein. Ist das Schloß voll, wird mein Fischkasten leer.“

„Kanntet Ihr den Verstorbenen?“

„Freilich; hab’ ich doch die gräfliche Fischerei und Fähre seit zwanzig Jahren in Pacht! Fuhr ihn oft genug über, ihn und seinen Fuchs, den jetzt der Silberbauer hat. Er stieg im Kahn immer ab vom Gaul und schaute während des Fahrens in’s Wasser – gerade wie Ihr jetzt.“

Heinrich sah betroffen empor, aber der Alte verfolgte seinen Vergleich nicht weiter, sondern lachte still vor sich hin. „Ja, ja,“ sagte er, „sein Vetter, der Montigny, macht’s anders. Eins, zwei, drei, setzt er in den Kahn, daß ich oft meine, er und sein Gaul müßten Hals und Bein brechen. Und dann dreht er sich im Sattel bald links, bald rechts, fuchtelt mit der Peitsche, pfeift und kann nicht schnell genug drüben sein… Aber ich seh’ den Wildfang gar zu gern, und wenn ich ihn ansehe, werd’ ich fast selber wieder jung. Der Selige war ein stiller, guter Herr, und ich wünschte ihm hundert Jahr zu leben; aber todt ist todt, und wenn unsere Gräfin wieder heirathet, soll ein Huchen groß wie ein Walfisch auf den Hochzeitstisch …“

Wieder lachte der Alte und stieß den Kahn an’s Land. „Ihr bleibt wohl nur eine Pfeife lang, Hochwürden?“ fragte er.

„Ich komme bald wieder,“ erwiderte Waldenburg und verließ das Fahrzeug.

„’s ist rattenkahl geworden, hier drüben,“ meinte der Schiffer.

Heinrich schlug den Waldweg ein. Dieser führte durch junges Nadelholz, plötzlich dann stand man vor einer ungeheuren Lichtung. Soweit Heinrich’s Auge reichte, sah er links und rechts einen schattenlosen Grund sich dehnen, mit Wachholdergestrüpp und Haidekraut bewachsen. Zahllose Baumstrunke waren die traurigen Ueberreste eines stolzen Waldes. Gegenüber stieg die ernste Gebirgswand empor. Die Sonne schien in die Tannen auf ihrem Gipfel, daß sie wie ein zierliches Asbestgewebe durchsichtig golden schimmerten. Aber Heinrich’s Blick haftete auf dem Boden. Er blieb, die Hände gefaltet und Thränen im Auge, stehen.

„Hierher lenkt’ ich einst den Schritt,“ dachte er, „Tag für Tag seit meiner Knabenzeit. Hoch wölbten sich die Bogen, und ich ging unter ihnen dahin wie in einer Kirche. In warmen Nächten wandelte ich hier mit Stephanie Hand in Hand. Wir ließen uns am Fuß von Stephaniens Eiche nieder, sahen den Mond wie ein Freundesantlitz durch’s Gezweige grüßen und flüsterten im geheimnißvollen Wehen der Bäume von den süßen Schauern der Einsamkeit. Dahin, dahin, wie der Traum einer Sommernacht; das grüne Reich gestürzt und vergeudet wie meine Hoffnungen! Habt Ihr keinen Schatten mehr für mich? Die Lerche hör’ ich schmettern, aber wo sind die andern Sänger?“

Der Anblick der sinnlos beraubten Gründe, wo nirgends eine Spur neuer Umwandlung und künftiger Schöpfung sich zeigte, that ihm zu weh. Er kehrte zum Fluß zurück.

Während der Kahn an’s andere Ufer trieb, sagte der Fährmann mit einem schlauen Blick auf Heinrich: „Da war einmal ein schöner Forst. Aber auch die Axt, die ihn umhieb, hatte einen schönen Silberklang. Vor Alters sah man so ’nen Wald ehrfürchtig wie ein Tabernakel an und rührte nicht dran. Heutzutage ist man klüger. Anstatt Geld für den Wald auszugeben, macht man den Wald zu Geld. Ja, solang Einer nicht todt ist, kann er jeden Tag Neues lernen. Der Graf wollte nicht klug werden, drum starb er so früh … Wir Fischer, Hochwürden, haben Zeit zum Denken. Manchmal denk’ ich Lustiges, manchmal Trauriges, und zuweilen kommt mir das Kluge und das Einfältige, kommt mir Alles wie Rauch vor.“ Er blies eine Dampfwolke aus der Pfeife, die er zwischen den Zähnen hielt …

Fünf Stunden später führte Banks, der Neger, den Kaplan zur Frau Gräfin. Sie saß mit ihren Gästen und Fanny auf der Terrasse, unter einem Zeltdach. Die Baronin Aßperg lehnte in einem indischen Schaukelstuhl, eine magere Gestalt mit einem Kopf, der nie schön, aber immer noch „interessant“ war, das Gesicht von, gelblicher, doch durchsichtiger Farbe, die Nase lang und schmal, [228] die Augen dunkel, die Stirn niedrig und von schwarzem Haar umrahmt. Der Mund war groß, aber wenn sie lachte, zeigte er tadellose Zähne. Ihr Gemahl, dessen verblühtes Gesicht nichts Auffallendes hatte, als einen unmäßig langen Backenbart, saß der Gräfin zur Linken; Montigny hatte zwischen der Baronin und Fräulein Fanny Platz genommen.

Als Waldenburg sich näherte, schälte Stephanie mit ihren schönen Händen einige Orangen, riß die Scheiben geschickt von einander und überreichte die Krystallteller mit der zurechtgelegten Frucht den beiden Herren, welche die süße Kost von ihrer Hand bereitet sich erbeten hatten.

„Jedenfalls eine wilde Art, Vielliebchen zu gewinnen, Cousin!“ hörte Heinrich die Gräfin sagen. „Meine arme Fanny weckten Sie aus dem Schlaf und mir bereiteten Sie den zweiten Schrecken heute.“

„Den zweiten, meine Gnädigste?“ fragte Aßperg.

„Ja, mein erster war nichts mehr und nichts weniger als ein Schatten … Bon jour, Herr Stein!“ unterbrach sie sich, mit einer leichten Kopfwendung Heinrich begrüßend. „Mein Kaplan, Herr Stein! – Frau Baronin Aßperg – Baron Aßperg – Herr von Montigny.“

Man grüßte den Fremden, der sehr schüchtern erschien, vornehm kalt. „Nehmen Sie Platz, Herr Stein!“ lud Stephanie ein.

„Ein Schatten? schrecklich! ein Schatten war in Ihrem Zimmer?“ fragte die Baronin.

„Nicht in meinem, sondern im anstoßenden Gemach.“

Montigny that lächelnd die Frage: „Was für ein Schatten? Der Schatten eines Lehnstuhls oder des Kaminschirmes?“

„Halten Sie mich für kindisch, Herr von Montigny?“ entgegnete Stephanie gereizt. „Ein menschlicher Schatten, den ich wachend sah, der kam und verschwand. O, wenn ich jetzt ruhig davon erzähle, glauben Sie dennoch, daß diese Erscheinung mitten in der Nacht entsetzlich, beinahe tödtlich war.“

„Ich wäre gestorben,“ sagte die Baronin.

„Aber, theure Cousine,“ wandte Montigny ein, „nur feste Gegenstände werfen Schatten. Der fragliche also mußte Fleisch und Blut haben, einem Jemand angehören. Sie schlafen aber bei wohlverschlossenen Thüren. Wenn er ging, mußten Sie auch das Schloß drehen und die Thür gehen hören.“

„Fragen Sie Fräulein Fanny!“

Fanny berichtete, was sie vom Ereigniß wußte, daß sie tief in der Nacht vom Klingeln der Gräfin geweckt worden und augenblicklich in das Boudoir geeilt sei; daß sie die Gräfin halb ohnmächtig vor Schrecken über einen Schatten, im gelben Zimmer aber Alles unverändert und verschlossen gefunden habe.

„Mein Gott, am Ende spukt es in diesem Zimmer!“ sagte die Baronin. „Wählen Sie ein anderes Boudoir, liebe Stephanie !“

Diese wandte sich an Heinrich, der bisher kein Wort gesprochen hatte. „Was ist Ihre Meinung, Herr Stein? Glauben Sie an Gespenster?“

„Ich will die Todten ruhen lassen,“ erwiderte dieser langsam, „aber ich glaube an Gespenster unserer Seele. Gedanken, die uns beunruhigen, nehmen gleichsam Gestalt an und fallen wie Schatten auf unsern Weg … Erinnerte Sie das Schattenbild nicht an irgend eine bestimmte, Ihnen bedeutende Person, Frau Gräfin?“

Beim Klang von Waldenburg’s Stimme überfiel Stephanie wieder ein leises Zittern. Ihr Auge hing an seinen Lippen, ihr Gesicht ward plötzlich ernst und nachdenklich.

Edgar Montigny, dem der trübe Eindruck von Heinrich’s Rede auf seine Cousine nicht entging, sagte wegwerfend: „Sie nehmen das sehr feierlich, sehr poetisch, Herr Stein. Meine arme Cousine wird nun so lange sinnen und grübeln, bis sie einen Menschen zu diesem Schatten gefunden hat, und dann gute Nacht, süßer Schlaf! Nein, theure Gräfin, sehen Sie das Ding als das an, was es war, ein Schatten, ein Nichts!“

„Ganz meine Meinung,“ bemerkte Baron Aßperg.

Stephanie faßte sich gewaltsam und versetzte mit schwachem Lächeln: „Sie haben Recht, Montigny. Am Ende war’s nur eine Wolke, die über den Mond ging …

Fröhliche Musik unterbrach sie. Ueberrascht lauschten Alle, und Stephaniens Antlitz erheiterte sich dabei mehr und mehr. „Die Leute spielen nicht schlecht,“ sprach sie nach einer Weile. „Es ist das Musikcorps des Regiments Oranien, das in der Festung Rain liegt. Ich habe sie mir vom Commandeur erbeten, damit wir heute Abend gute Musik haben …“ Sie summte einige Takte der rauschenden Weise. „Eine allerliebste Polka,“ sagte sie und warf einen schelmischen Blick auf ihren Cousin. „Wollen wir nicht tanzen, Montigny?“

Au bal!“ jauchzte dieser und sprang empor. „Liebe Cousine, Frau von Aßperg – beginnen wir das Fest!“ Die Damen lehnten lachend ab.

„Montigny, Sie sind unverwüstlich,“ sagte der Baron, sich im Stuhl dehnend. „Heute Nacht bis zwei Uhr Ecarts mit mir gespielt; um fünf Uhr eine Schwalbe geschossen – ein verwünscht schwerer Schuß, meine Damen! – und nun denken Sie schon wieder an’s Tanzen! Unverwüstlich, auf Ehre!“

Hurrah’s schallten vom Dorfe her, Schüsse krachten und widerhallten in den Bergen. „Die Hochzeit!“ sagte Fanny. „Sie ziehen nach Wendelstein.“

Banks erschien und meldete, daß Gäste den Schloßberg herauf gefahren kämen. Alle erhoben sich. „Wir wollen die Ersten mit Blumen und wehenden Tüchern empfangen,“ rief Stephanie, glühend jetzt vor Aufregung und Lebenslust. „Kommen Sie, meine Freunde! kommen Sie! O, dieser Tag soll ein Tag der Musik, der Freude und des Uebermuthes werden!“

Der Baron bot ihr den Arm. Sie nahm ihn an und drehte sich nur noch flüchtig nach Heinrich um. „Ich sehe Sie bei Tisch, Herr Kaplan. Adieu!“ Sie gingen.

Heinrich sah schmerzbewegt seiner Gattin nach, bis sie um die Schloßecke verschwand. Dann sank er auf einen Stuhl, barg sein Gesicht in die Hände und flüsterte: „Todt! vergessen! … In der Verbannung von ihr ergraute mein Haar; mein Körper siechte, mein Herz brach vor Sehnsucht nach ihr – und sie, sie – – wollen wir nicht tanzen, Montigny?“




Die Tafel war glänzend. Der Fürst und die Fürstin Stauff befanden sich unter den zahlreichen Gästen; er ein alter, halb tauber Mann, aber mit dem Brillantstern des L…-Ordens auf der Brust und mit seinem Titel Durchlaucht für die Gesellschaft ein kostbarer Schmuck. Seine Gemahlin, mit flachsblondem Haar und weißen Wimpern, war ziemlich jung und leidlich hübsch.

Sie imponirte durch ihren unnahbaren Stolz. Die Uebrigen waren Gutsnachbarn in Begleitung ihrer Frauen und einige Officiere aus der Festung Rain.

Außer Fräulein Fanny galt nur Heinrich als Bürgerlicher.

Man beachtete ihn daher nur wenig, und er, mit Allen bekannt, von Allen einst als Graf Waldenburg ausgezeichnet, erfuhr als „der arme Priester“ jetzt, daß jene Verehrung nur seinem Rang und Reichthum gezollt worden.

Vor Tische flüsterten sich Einige die Bemerkung zu, daß der Kaplan mit dem verstorbenen Grafen eine entfernte Aehnlichkeit habe. Ein Lieutenant zog auch Montigny bei Seite und sagte mit ironischem Lächeln: „Du, der Schwarzrock dort hat etwas von den Waldenburgs. Er bekam wohl aus besondern Gründen diese Sinecure? Ein linker Bruder vom Seligen, was?“

Montigny bestritt lebhaft jede Aehnlichkeit. „Parbleu,“ schloß er, „sage von meinem „Vetter, was Du willst; er war nervös, mondsüchtig, überspannt, aber er sah doch immer wie ein Aristokrat aus, während ich diesen Herrn Stein niemals für Einen von Geblüt und ohne seinen Pfaffenkittel für einen ausgehungerten Schulmeister halten würde.“

Montigny sprach dies mit einem verächtlichen Blick auf den einsam stehenden, blassen Mann, sprach’s im übermüthigen Bewußtsein, daß ihn die Blicke aller Damen suchten, ihn alle Männer beneideten. Er war so hübsch, so geschmeidig und beredt. Zwar modegültig und elegant gekleidet, doch nur im schwarzen Gesellschaftsanzug, besiegte er gleichwohl selbst die Uniform. Gewachsen wie ein Antinous, hatte Montigny den Kopf eines schönen Provençalen. Das blauschwarze Haar, kräftig sich ringelnd, duldete kaum den Scheitel. Die glänzenden Augen, die aufgeworfenen Nasenflügel, die vollen Lippen, über welchen der keckaufgedrehte, schwarze Schnurrbart saß, verriethen Gesundheit, Temperament und sinnliche Kraftfülle. Man konnte ihn nicht ansehen, ohne auf einem feurigen Roß ihn dahinjagend sich zu denken. Er hatte außer dem Cavalier etwas Zigeunerhaftes in seiner Erscheinung, aber gerade dieser wilde Zug hob ihn in den Augen der Frauen, und er wirkte mit fast dämonischem Zauber auf sie.

[241] Sogar das frostige Herz der Durchlaucht schmolz unter Montigny’s jugendlicher Wärme, seinem Schwatzen und Schmeicheln. Sie ließ sich von ihm zu Tische führen und hörte schon nach dem ersten Gang nur noch auf ihn, vor Vergnügen mit den weißen Wimpern zwinkernd und ihres Nachbarn zur Linken ganz vergessen. Stephanie, die ihnen gegenüber zwischen dem Fürsten und einem siebenzigjährigen General wie eine Elfe zwischen zwei Eisbären saß, beneidete die Fürstin und mußte sich Gewalt anthun, um nicht immer nach ihrem Cousin zu blicken.

Musik spielte während der Tafel. Als Eis servirt wurde und der Champagner in den Gläsern perlte, ward das Gespräch lauter und allgemeiner. Heinrich, der weiland als Schloßherr an diesen Unterhaltungen hatte Theil nehmen müssen, nun aber als stummer Gast sie genauer verfolgen und prüfen konnte, erschrak über die Leerheit der Gespräche, die Unwissenheit, welche Mancher dabei verrieth, und die Herzensrohheit, die nicht selten unter gewähltem Ton hervorzüngelte.

„Alexandrine, horche doch!“ rief der taube Fürst seiner Gemahlin zu. „Sie spielen das Terzett aus der Zauberflöte.“

My dear, Du irrst Dich,“ erwiderte die Fürstin, zerstreut hinhorchend. „Sie spielen Verdi; Verdi!“ wiederholte sie lauter. „Oh, come mobili sono le donne …“

„Lieben auch Sie Verdi, Durchlaucht?“ fragte Montigny. „Verdi ist mein Componist, Heine mein Poet.“

„Dann haben wir Einen Geschmack,“ erwiderte sie. „O ich lebe und schwebe in Musik! Der Fürst hat eine erlesene Kapelle. Wenn Sie uns endlich einmal auf Stauff besuchen, soll sie nur Verdi spielen.“ Und sie versenkten sich wieder in ein leise geführtes Gespräch, während dessen die Fürstin manchmal scheu nach ihrem Gatten und auf die übrige Gesellschaft blickte. Aber der Erstere suchte die Gräfin für das neue Drainirungssystem seines Güterdirectors zu interessiren, die Andern schwatzten wirr durcheinander. Montigny’s Lippen zuckten immer übermüthiger.

Waldenburg sah Stephaniens unmuthiges Erröthen, sah ihr Auge bald auf die Fürstin, bald auf Edgar blitzen und verstand sie. Sie war eifersüchtig. Kurz nach dem Dessert erhob sie sich und gab damit das Zeichen zum Aufbruch nach der Terrasse. Dort theilte sich die Gesellschaft sofort in verschiedene Gruppen. Einige gingen auf der Terrasse plaudernd auf und nieder, Andere lehnten am Treppengeländer, die Mehrzahl lustwandelte im Park. Man trank Kaffee, die älteren Herren rauchten, die jüngeren schlossen sich den Damen an.

Waldenburg verfolgte mit den Augen seine Gattin. Sie streifte an Montigny vorüber und flüsterte ihm dabei einige Worte zu; Edgar antwortete lachend. Heinrich errieth ihn: er machte sich über die Fürstin lustig. Aber Stephanie ließ sich so schnell nicht versöhnen, sie ging in den Park hinab, wohin ihr Montigny mit verdrießlichem Gesicht folgte; dort wurden sie von einem heitern Schwarm umringt und festgehalten.

Fräulein Fanny hatte Heinrich in’s Auge gefaßt. Fühlte sie Mitleid mit dem verlassenen Mann oder fand sie es an der Zeit, dem immer keckeren Drängen eines jungen Officiers, ihres Begleiters, zu entrinnen, sie trennte sich von Letzterem und trat zu Waldenburg.

„Sie wohnten wohl nie einer so großen Tafel bei, Herr Kaplan?“ begann sie in ihrer resoluten Weise. „Uebrigens sollte ich Ihnen grollen, denn während des Diners haben Sie mich grausam vernachlässigt und ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der Gräfin und Herrn von Montigny gewidmet. Allerdings das einzig Interessante der ganzen Tafel! Ich wette, Sie dachten an den nahen Tag, an dem Sie Beide trauen werden.“

„Liebte die Gräfin ihren Gemahl so wenig, daß sie ihn so bald vergessen könnte?“

„O ja, ich glaube, sie liebte ihn. Kurz nach dem Todesfall erhielt ich meine Stelle und fand die Wittwe wie Niobe, ganz in Thränen. Aber kann man denn immer an Leichen denken? Und sagen Sie selbst, bilden Stephanie und Edgar nicht das schönste Paar der Welt? Auch hörte ich von einem alten Privilegium, demzufolge Montigny, sobald er ihre Hand und das Schloß erhält, in den Grafenstand erhoben würde. Sie bliebe also Gräfin.“

„Ist Schönheit die einzige Bedingung einer glücklichen Ehe? der Vorbehalt eines Titels die einzige Rücksicht?“

„So meint’ ich es nicht. Ich bin überzeugt, daß die Gräfin jetzt ihren Cousin liebt, wärmer vielleicht als ihren ersten Gemahl. Ich kannte diesen nicht, aber was ich von meiner Gebieterin, von Herrn von Montigny und Andern über ihn hörte, macht mich vermuthen, daß er für Stephanie nicht der rechte Mann war. Er ein mystischer Träumer, der sich über Gott und Welt, Menschenbestimmung und was weiß ich den Kopf zerbrach; die Gräfin aber träumt niemals am Tag und Nachts gewiß nur von Bällen und Soiréen. Zu gefallen, hält sie für ihre einzige Bestimmung, und ihr Ideal ist vielleicht die Fürstin Metternich in Paris. Ich fiel aus den Wolken, als sie sich heute von einem gespenstischen Schatten etwas einredete. Bisher sah sie nur Sonnenschein auf ihrem Wege. Zu [242] dieser lebensfrohen, reizenden Weltdame denken Sie sich nun jenen melancholischen, „von des Gedankens Blässe angekränkelten“ Mann! Ich fürchte, der gute Graf hat Stephanie mit seinen gewichtigen Discussionen oft entsetzlich gelangweilt. Montigny dagegen paßt seiner Gemüthsart und – seinen Fehlern nach vollkommen zu Stephanie.“

„Sie thun ihr Unrecht!“ fuhr Heinrich empor.

„Kennen Sie denn die Gräfin schon?“ fuhr Fanny, die Schultern zuckend, fort. „Ihres Cousins Charakter mag sich wohl auf den ersten Blick errathen lassen, von Männern wenigstens. Aber sie lernt sich nicht so bald auswendig. Ihre Augen verstehen so sanft zu blicken, ihre Lippen so himmlisch zu lächeln, aber – Sie werden mein Vertrauen nicht mißbrauchen! – ich, die Dienerin, vor der man sich giebt, wie man ist, sah dieselben Augen so böse funkeln, daß ich vor ihnen zitterte. Montigny ist leichtsinnig, flatterhaft; die Gräfin ist es auch. Montigny kann aus Laune Menschen zu Thränen quälen; die Gräfin kann es auch. Heute bin ich ihre süße, liebe Fanny, morgen läßt sie mich, weil es regnet oder ihr neues Kleid nicht ankam, fünf Stunden lang eine politische Abhandlung vorlesen, von der wir Beide nichts verstehen, die uns Beide langweilt; unterbricht mich, nur um meine Aussprache zu tadeln, und quält sich, blos um mich noch mehr zu quälen, bis mir die Stimme versagt und ich halb ohnmächtig vor Brustweh werde …“

„Sie ist launisch wie ein Kind.“

„Sie kann grausam wie ein Teufel sein,“ versetzte das Mädchen mit gesteigerter Leidenschaft. „Vergebung, Herr Kaplan, daß ich solch’ böse Zunge führe, aber ich litt zu viel in diesen Kreisen, um sie zu lieben. Man machte mich zur Heuchlerin; lassen Sie mich Ihnen gegenüber wieder einmal wahr sein. Nach einem Jahre werd’ ich Sie fragen, ob ich Recht hatte; nach einem Jahre werden Sie wissen, was Zurücksetzung, Verdächtigung, Kränkung heißt – jene glatten, schmeichelnden, schönen Wesen haben ja Zeit genug, um unser Herz langsam, mit feinen Nadelstichen zu tödten! Sie werden sie fühlen, diese zierlichen Dolche, denn Sie sind bürgerlich bescheiden, still und wahrscheinlich arm …“

Heinrich betrachtete mit tiefem Mitleiden das Mädchen, das ihm vor einer Stunde noch das fröhlichste, sorglose Wesen schien. Die lang verhaltene Bitterkeit war ihr, einem entfesselten Strome gleich, entstürzt, Thränen standen in ihren Augen, und von den aufgetürmten Empfindungen, die sie einem Leidensgenossen zu bekennen wähnte, wogte noch ihre Brust. „Ach,“ dachte Heinrich, „nun verstehe ich das Lächeln dieser armen Geschöpfe, die ein unseliges Geschick an unsere Launen kettet. Weil wir ihnen nicht erlauben, Empfindungen zu äußern, halten wir sie für unempfindlich.“

Unterdessen hatten sich nach und nach alle Gäste um Stephanie versammelt. Fanny blickte hinab, trocknete sich die Augen und sagte mit flüchtigem Lächeln: „Ich ließ mich zu leidenschaftlichen Aeußerungen hinreißen, welche Sie wahrscheinlich für thöricht und grundlos halten. Es geschieht mir selten, und beinahe glaube ich nun selbst an eine besondere Gewalt Ihrer Stimme. Die Gräfin sprach davon, während sie zum Diner sich ankleiden ließ, und versicherte, Ihre Stimme klänge wie aus dem Grabe. Nun, Todte sind verschwiegen. Vergessen Sie meine Worte und lassen Sie uns dem Triumphzug der Grazie und Freude folgen. Kommen Sie! Man begiebt sich tiefer in den Park. Dort wird man sich auf dem schattigen Rasen lagern, scherzen und spielen … Wenn wir nicht selbst kommen,“ setzte sie ironisch hinzu, „einladen und holen wird man uns nicht.“

Waldenburg lehnte die Theilnahme ab. Er wolle nach der Sennhütte über der Heinrichswand. Angelo habe ihm soviel von der wilden Schönheit des Weges erzählt, daß er darnach brenne.

„Ja,“ erwiderte sie, „der Weg soll sehr schön, sehr romantisch, aber auch lebensgefährlich sein. Wenn Sie im Bergsteigen nicht sehr geübt sind, unternehmen Sie das Wagniß nicht! Ein falscher Tritt ist sicherer Tod.“

„Ich bin im Gebirge geboren. Mein Fuß geht nicht fehl.“

Fanny zuckte die Schultern. „Gott behüte Sie dann auf Ihrem Wege! Auf Wiedersehen!“ Sie eilte die Terrasse hinab, um der Gesellschaft zu folgen, welche im grünen Wirrsal des Parks langsam verschwand.




Die mondhelle Nacht lag über der Landschaft, als Heinrich von der Sennhütte, von Angelo zurückkehrte. Schon von Weitem klang ihm der Hochzeitsjubel entgegen. Als er durch die Dorfstraße ging, waren nur wenige Fenster an den Häusern erhellt, wo Kranke lagen oder altersschwache Leute wohnten. Wer gesunde Beine hatte, war im Adler, und die im hellerleuchteten Gasthaus nicht Platz fanden, drängten sich vor dem Hause oder waren auf die abgeschirrten Fuhrwerke der Gäste aus der Nachbarschaft gestiegen, eine günstige Gelegenheit abwartend, wo sie durch den dichtbesetzten Hausflur nach dem Tanzsaal schlüpfen konnten. So empfing Heinrich im Freien schon ein lustiges Gewühl. Die Dirnen gingen Arm in Arm zu Dreien und Vieren auf und nieder. Die jungen Bursche standen in Haufen beisammen, stießen sich und jodelten übermüthig in die Tanzweise hinein, die von oben durch die geöffneten Fenster rauschte. Dazwischen drängten sich Livreebediente mit Windlichtern; Equipagen kamen vom Schloß gefahren und nahmen die Herren und Damen auf, die, in Tücher eingemummt, aus dem Adler traten, um nach ihrem Gut zurückzukehren. Hoch über dem Eingang aber leuchtete aus Tannenreisig das buntfarbige Transparent mit dem flammenden Herzen, dem Myrthenkranz und dem Wahlspruch der Grafen Waldenburg.

Heinrich kannte den Weg, der zur Hinterthür des Gebäudes führte. Er ging über den Hof an den Stallungen vorüber. Durch einen kleinen Garten gelangte man dann in’s Haus.

Der angrenzende Felsen warf einen breiten Schlagschatten über die Blumenbeete. In diesem Schatten sah Heinrich ein einsames Paar stehen, Mann und Frau. Er hielt ihre Hand und flüsterte hastig, bewegt; sie schluchzte. Als Heinrich den niedrigen Gartenzaun geräuschvoll öffnete, fuhren sie scheu von einander. Sie huschte in eine nahe Laube; der Mann verschwand rasch durch die Hausthüre. Aber beim Oeffnen derselben fiel – freilich nur einen Augenblick lang – der Lichtschimmer vom Flur auf ihn, und Heinrich glaubte die Gestalt Montigny’s zu erkennen.

Der Ueberraschte zögerte; da schallten Schritte hinter ihm. Ein hochgewachsener Bauernbursche, mit einem mächtigen Blumenstrauß auf der Brust, näherte sich eilig. Mit einem flüchtigen Blick maß er den Fremden und murmelte, als er dessen Priesterkleid erkannte, einen Gruß. Dann ging er vor Heinrich rasch in den Garten, sah sich um und trat zuletzt in die Laube.

„Toni, Du bist’s?!“ sagte die Frauenstimme erschrocken.

„Ja, ich, Dein Toni, der glücklichste Bub’ heut’ auf der ganzen Welt!“ antwortete es. „Und Du hast Dich davon geschlichen, sitzest hier und – ich glaube gar, Du weinst! Afra! mein Goldherz, mein liebes, liebes Weib!“

Heinrich schauderte. Das Mädchen, das an Montigny’s Seite geweint hatte, war die Braut, war Afra, die Tochter des reichen Silberbauers, „der jetzt den Fuchs des seligen Grafen hat.“

Heinrich floh vor seinen eigenen Gedanken in das Geräusch des Festes. In der großen Wirthsstube des Erdgeschosses standen die gedeckten Tische der Hochzeitsgäste. Dort saßen am Ehrenplatz das Jubelpaar und die Eltern der Braut, in buntem Gemisch Bauern und Bäuerinnen, Bürger aus Wendelstein und Forstleute, Alle festlich geputzt, vor sich Wein und Speisen im Ueberfluß.

Draußen auf der Treppe ging’s hinauf, hinab. Die Tänzerpaare eilten zum Saal empor oder kehrten erhitzt, mit rothen Gesichtern, von dort zurück. Der Raum, in dem getanzt wurde, lag von der Treppe links. Da summten und sangen die Geigen, dröhnten die Bässe und schmetterten zu Clarinetten und Flötenläufen die Trompeten. Die Paare schwirrten und wirbelten durcheinander, schwangen und drehten sich … Rechts befand sich das geräumige, mit Tannen und Birken ausgeschmückte Gemach für den vornehmen Besuch, für die Gräfin und ihre Gäste. Heinrich, dem die zahlreichen Neugierigen vor der weitgeöffneten Thür Platz machten, trat hastig vor die Schwelle und überblickte den hellerleuchteten Raum. Um eine gedeckte Tafel mit dem silbernen Theeservice der Gräfin saß und stand man in losen Gruppen umher. Die Mehrzahl der Gäste, unter ihnen das Fürstenpaar, hatte sich bereits entfernt. Einige Herren und Damen hielten Stephanie umringt, die schön wie eine Fee aussah, und Montigny redete seiner Cousine eifrig zu. Unweit davon stand schmunzelnd der Adlerwirth. Die Gräfin blickte verlegen zur Erde und schien zu schwanken. Dann schlug sie die Augen zu Edgar auf und erhob sich tief erröthend. Die Herren klatschten in die Hände, auch die Uebrigen drängten sich fröhlich hinzu; der Adlerwirth aber rief Hurrah! und stürmte aus dem Gemach in den Tanzsaal. Dort stieß er links und rechts um sich, gewann die Mitte und schrie, seine Mütze schwenkend, zu [243] den Musikanten empor: „Einen Extrawalzer für die Frau Gräfin! … Platz, Platz für die Herrschaften!“

Waldenburg fuhr, in’s tiefste Herz getroffen, zurück. Unter den zuströmenden Landleuten stehend, sah er mit flirrenden Augen sein Weib am Arme Montigny’s und ihr glänzendes Gefolge an sich vorüberschreiten, sah sie dann am Arme Montigny’s tanzend dahinschweben, langsam erst, belebter, feurig, trunken dann von der langentbehrten Lust. Er fühlte, daß er diesen Anblick nicht länger ertragen könnte, ohne sich auf das schöne, bewunderte Paar wie ein Tiger zu stürzen. Gewaltsam faßte er seinen Entschluß und floh …

Eine Stunde später verließ die Gräfin in Montigny’s, der Baronin und Fanny’s Begleitung das Haus. Die noch anwesenden Herren gaben ihr bis an ihren Wagen das Geleit.

„Das Transparent, Ihro Gnaden!“ sagte der Adlerwirth, bevor Stephanie in den Wagen stieg. „Das Transparent haben gräfliche Gnaden noch nicht gesehen; es ist erst um Neun trocken geworden.“

Sie drehte sich um und las über der Thüre:

„Treu dem Fürsten, wie dem Knecht;
Treu als Gatten:
Auf der Waldenburg Geschlecht
Fällt kein Schatten.“




Tief in der Nacht hörte Fanny einen entsetzlichen Schrei aus dem Schlafgemach ihrer Herrin. Sie eilte hinüber. Stephanie saß gespensterbleich, mit weitgeöffneten, starren Augen auf ihrem Lager. „Der Schatten,“ sagte sie von Schauern geschüttelt, „der Schatten war wieder da!“




3.

Montigny hatte die Damen bis zu ihren Zimmern begleitet und war dann in den Adler zurückgekehrt, wo Baron Aßperg mit den noch anwesenden Officieren am Spieltisch saß. Er verlor und schuldete dem Baron, als man beim Anbruch der ersten Frühröthe endigte, eine bedeutende Summe. Lafleur, der das Frühstück servirte, fand Herrn von Montigny auf dem Divan ausgestreckt und eine Zeitung lesend. „Man ist nicht bei Laune,“ sagte sich Lafleur, während er den Tschibuk für Edgar in Stand setzte. Er präsentirte die Pfeife.

Montigny gab mürrisch zu verstehen, daß er nicht rauchen wolle.

Lafleur nahm den Ausdruck tiefster Verzweiflung an. „Haben der gnädige Herr nicht gut geschlafen? Befehlen der gnädige Herr Brausepulver?“

„Nein.“

„Wissen Euer Gnaden schon die Neuigkeit? Der Schatten ist heute Nacht wieder erschienen.“

„Wer?“

„Der Schatten im gelben Zimmer.“

„Dummes Zeug!“

„Das Fräulein erzählt’ es der Kammerjungfer. Er soll heute schon bedeutend größer als gestern gewesen sein. Die Frau Gräfin ist krank vor Schrecken.“

„Liegt sie zu Bett?“

„Nein, seit einer Stunde ist sie auf, aber Titi findet sie sehr blaß und melancholisch. An der Frau Gräfin Stelle schliefe ich keine Nacht länger neben dem gelben Zimmer, und wenn ich was zu sagen hätte, so würde das ganze Schloß umgebaut, ohne Schlupfwinkel, geheime Thüren und Gänge.“

Montigny hob den Kopf empor. „Was für geheime Thüren und Gänge?“ fragte er aufmerksam.

„Ja, das weiß man eben nicht. Als der grüne Saal zum Gewächshaus gemacht wurde, fand man hinter dem Getäfel eine Treppe, die zum rothen Zimmer im ersten Stock führte. Nun, solcher Treppen kann es mehrere geben. Die Kammerjungfer behauptet, der selige Graf und Pater Angelo hätten sie gekannt, Vielleicht kennt sie aber auch ein Anderer, den wir nicht kennen. Vielleicht lebt Einer im Schloß und mitten unter uns, den Niemand sieht und hört …“

Montigny sah den Bedienten wie Jemanden an, der uns eine neue Idee giebt. Lafleur lächelte voll Genugthuung über seine eigene Schlauheit. „Der dumme Mohr,“ fuhr er fort, „Titi und alle Andern im Vorzimmer schwören darauf, daß der Schatten der Geist des seligen Herrn sei. Noch einfältiger aber schwatzt seine Amme, die Kreislerin. Die Alte ist seit Jahren verrückt. Wenn Unsereiner sie besucht – wir thun’s der Merkwürdigkeit wegen – und fragt sie nach dem seligen Herrn, sagt sie, ihr Heinzi wäre gar nicht todt, ihr Heinzi lebte noch. Und fragt man sie weiter woher sie denn das wisse, legt sie die Hand auf den Brustlatz und antwortet: daher! … Na, das ist purer Unsinn, denn ist Einer ’mal eingesargt, kommt er nicht wieder ’raus. Aber daß Jemand im Schloß ist, der nicht hineingehört, das glaub’ ich.“

„Lafleur, Sie sind so einfältig, wie die Andern.“

„Ach, Herr von Montigny,“ grinste der Diener, „das meinen Sie doch nicht im Ernst. Uebrigens habe ich noch eine Bitte –

„Rasch, rasch! Sie sind ein unerträglicher Schwätzer.“

„Der neue Kaplan war grob gegen mich.“

„Sie werden es verdient haben.“

„Bitte, Euer Gnaden, dem ist nicht so. Wie ich das Frühstück für Euer Gnaden aus der Küche holen will, hält mich der Kaplan an und fragt nach der gräflichen Bibliothek. – Die ist in Körbe verpackt, sage ich, und nach dem Speicher gebracht. – Was, schreit er, die kostbare Bibliothek! – Ich zucke die Achseln und sage, daß ich weder den Herrn Grafen, noch seine Bibliothek gekannt hätte. – Schaffen Sie augenblicklich die Bücher nach meinem Zimmer! spricht Herr Stein. – Ich habe keine Zeit, antworte ich, Herr von Montigny wartet auf sein Frühstück. – Erst gehorch Er mir, knirscht er. – Das werd’ ich bleiben lassen, sag’ ich. Ich gehorche hier nur Herrn von Montigny und der Frau Gräfin … Was thut er? Weiß der Geier, woher die alte Vogelscheuche auf einmal soviel Kraft bekam! Er faßt mich am Kragen und zerrt mich die Treppe hinauf bis in den Speicher. Ich raisonnirte und wehrte mich, aber es half nichts. Korb für Korb mußt’ ich ihm nach dem Thurm schleppen … Ja, erst gehorcht man mir und dann Herrn von Montigny, hat er gesagt. Wenn also der Kaplan mich bei der Frau Gräfin verleumden sollte, bitt’ ich, daß Euer Gnaden –“

„Genug davon,“ unterbrach ihn Montigny. „Gehen Sie jetzt zum Baron. Ich lasse ihn bitten, mich auf der Terrasse zu erwarten.“

Lafleur verbeugte sich und ging. „Ich bin gerächt,“ triumphirte der Bediente. „Der Pfaffe muß aus dem Haus,“ dachte Montigny. „Ich will nur Leute um mich, die Respect vor mir haben.“




Der Tag war heiß. Als die Sonne im Mittag stand, machte Heinrich einen Gang durch den Garten. Im Vorüberschreiten hört er aus einer Laube die Stimmen Edgar’s und Aßperg’s. Sie sprachen französisch. Waldenburg wollte vorbeigehen, aber der Klang seines eigenen Namens bannte ihn.

„Mein Vetter Heinrich dreht sich im Sarge um,“ sagte Montigny.

„Diese Rücksicht hindert Sie doch nicht?“ versetzte der Baron.

„Doch, doch! Der Graf war ziemlich gut gegen mich; er ließ mich reisen und bezahlte zweimal meine Schulden … Freilich war unser Verhältniß kein zärtliches. Wir paßten zusammen wie – wie ein Gebetbuch und Heine’s Romanzero. Auch stand ich nicht in der Gunst seines Herzbruders und Gewissensrathes Angelo. Ich nehme daher ohne Bedenken von meiner Cousine Herz und Hand Besitz, aber sein Schloß, seinen Stammsitz veräußern – Pest! Meine Mutter war eine Waldenburg; es empört sich mein Blut gegen diesen Handel.“

Heinrich zuckte zusammen; er konnte den Platz nicht mehr verlassen.

„Gut,“ hörte er den Baron sagen. „Das ist recht rührend, recht gewissenhaft. Nur schade, daß Sie nicht noch einen Cousin haben, der Ihnen zum dritten Male Ihre Schulden bezahlt. Schulden, die wohl das Sechsfache Ihrer früheren Verpflichtungen betragen.“

„Herr Baron!“ brauste Montigny empor.

„Recht so, spielen Sie den Beleidigten, weil ich Ihr Freund bin und Ihr Retter werden will, weil ich Ihnen den Abgrund zeige, an dem Sie stehen. Kein Wort weiter! Wenn ich nicht Ihr aufrichtiger Vertrauter sein darf, will ich gar nicht Ihr Vertrauter sein.“

„Nun, in Henkers Namen, seien Sie aufrichtig! Halten Sie mir den Spiegel vor, machen Sie mir die Hölle heiß! Ich kann nicht mehr Kopfweh bekommen, als ich schon habe.“

[244] „Ich bin ja kein Angelo, mache Ihnen keine Vorwürfe wegen Ihrer tollen Wirthschaft. Sie sind nun einmal ein Lebemann, ein Cavalier, echtes Vollblut mit allen nobeln Passionen. Wie Sie leben, leben müssen, bedürfen Sie mindestens zwölftausend Thaler Renten. Das finde ich durchaus lobenswerth; der Mensch steigt um so höher in meiner Achtung, je mehr er braucht. Leider wirft Ihnen Ihr eigenes Vermögen nur zweitausend ab. Zwar hege ich eine hohe Meinung von Ihrer Liebenswürdigkeit, Grazie und Ueberredungsgabe – wie Sie dem Silberbauer einen Wechsel in die Hände spielten, war ein Meisterstück! Aber das geht nicht immer. Eines Tages werden Sie nur noch Gläubiger und keine Creditoren haben. Sie müssen sich also zu verbessern suchen –“

„Wenn ich meine Cousine heirathe –“

„Nun, wenn Sie Ihre Cousine heirathen, was dann? Dann werden Sie ihr am Morgen nach der Hochzeit ein Sündenbekenntniß machen und von Wucherern Geld auf das Schloß aufnehmen müssen, um Ihre Schulden zu bezahlen. Und dann, da Sie kein Hans Träumer wie Ihr Cousin sind, sich nicht in Bücher vergraben, nicht Milch statt Sect trinken, werden Sie sich in diesem alten Eulennest sehr bald langweilen, werden mit der Gräfin ein Hôtel in der Residenz beziehen und also doppelte Rechnung machen. Grund und Boden hier werfen eine hübsche Summe ab, aber sie wollen auch klug verwaltet und ausgenützt sein, und Sie sind kein Landwirth.“

„Mit der Zeit kann ich es werden.“

„Nie! Sie haben Ihre Seele der Gesellschaft, dem Spieltisch und dem Ballet verschrieben. Diese drei Teufel geben Einen nicht los, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Andrerseits werden Schloß, Land und Wald an Ihnen zehren, denn man hat auch das Mittelalter nicht umsonst. Kurz, ich sehe Ihren sichern Ruin, durch die Heirath zwar verzögert, aber dann rapid, schrecklich, hoffnungslos.“

Es entstand eine kurze Pause. Montigny pfiff leise vor sich hin. Dann hörte Waldenburg den Baron mit gedämpfter Stimme fortfahren: „Ich zeigte Ihnen den Rettungsweg. Herrn von Stranzau’s Schwiegervater, der Jud’ Levy, will sein Töchterchen, die gnädige Frau, durchaus in einem Ritterschloß sehen. Levy kann ein Fürstenthum bezahlen … Sie wissen, Stranzau thut nichts ohne mich. Gesprächsweise ließ ich einmal ein Wort von Waldenburg fallen. Das ist ja meiner Schwiegermutter Ideal! schrie Stranzau. – Unter Levy’s Leuten befindet sich ein alter Waldenburger. Dieser scheint die Bankiersfrau auf die Romantik der Bergschlösser gebracht zu haben. Denn sie schwärmt für nichts mehr, als für ein thurmgeschmücktes, verwittertes Schloß in pittoresker Landschaft, für lange Corridore, hohe Säle und geheimnißvolle Treppen. Ich, immer in Gedanken, in Sorgen um Sie, lasse einen Schimmer von Möglichkeit blicken, Schloß Waldenburg zu erwerben. Stranzau überschlug sich vor Freude, und seit jener Stunde bin ich bei Levy’s bon enfant.“

„Levy ist ein Geldmensch, ein Speculant. Er wird mich beim Kauf übervortheilen.“

„Bah, diese Börsenhelden haben ihre schwachen Seiten. Nach Ihrer Hochzeit machen Sie sobald als möglich Levy’s Bekanntschaft. Sie laden Stranzau und Schwiegereltern nach Waldenburg ein und spielen hier den liebenswürdigen Wirth. Das weibliche Israel wird entzückt sein, die Männer bearbeite ich, und – heißen Sie mich einen Schwätzer, wenn Sie nicht ein brillantes Geschäft machen! Dann sind Sie das alte Gemäuer los, haben ein baares Capital und können in der Residenz die Stellung einnehmen, die Ihnen gebührt.“

„Wenn aber Stephanie in den Verkauf nicht einwilligt?“

„Montigny?! Muß ich das von Ihnen hören? Eine Frau, die uns liebt, nicht einwilligen? Sie scheinen sich heute vorgenommen zu haben, naiv zu sein …“

„Meine Cousine liebt mich jetzt; sie wird mir auch ihre Hand reichen; wenn sie mich aber besitzt, fürchte ich eine Wandlung. Denn ihre Seele hat Schmetterlingsflügel, wie die meinige. Das Errungene reizt nicht mehr. Sehr bald wird es Scenen geben. Ich habe manchmal hundert Teufel in mir. Diese Scenen werden uns abkühlen, und dann – ach, Aßperg, wir sind doch Alle Träumer! Mein schneller Sieg über Stephanie, anfangs mein Triumph, meine Wonne, ruft jetzt Bedenken in mir wach: sie wird dem zweiten Gatten nicht treuer sein als dem ersten …“

„Also sehen Sie sich vor!“

„Ich habe eine dunkle Ahnung, Stephanie wird nach der Hochzeit sich Nein zu sagen angewöhnen, wie sie jetzt zu Allem Ja spricht.“

„Also sehen Sie sich vor, mein Lieber! Machen Sie einen klugen Contract! Sichern Sie sich in gewissen klingenden Fragen vor diesem Nein!“

„Parbleu, das werd’ ich. Ich will wenigstens goldne Fesseln tragen.“

„Und was Waldenburg betrifft –?“

„Waldenburg wird verkauft … Still! Wer geht da?“ Montigny sprang empor und schlug das Gezweig auseinander. Er sah Heinrich mit einem ernsten Blick vorübergehen. Erblassend taumelte er zurück und rief: „Himmel, mein Cousin!“

„Sind Sie toll?“ sagte Aßperg, durch die Oeffnung blickend.

„Es ist der Kaplan.“

„Ganz recht,“ erwiderte Montigny, der mit Mühe sich faßte. „Gestern bestritt ich selbst jede Aehnlichkeit, aber in diesem Augenblick – in diesem Augenblick, schwör’ ich Ihnen, erschien er mir wie Heinrich’s Gespenst.“

Der Baron maß Edgar mit bedeutungsvollem Blick. „Unglücklicher,“ sagte er, „Sie haben noch ein Gewissen.“

„Wenn der Schleicher uns belauscht hat?“

„Das werd’ ich sofort erfahren,“ sprach Aßperg und verließ den Laubengang. Nach wenigen Minuten kam er zu Heinrich zurück. „Beruhigen Sie sich,“ lächelte er zufrieden. „Herr Stein versteht kein Wort Französisch.“

[257] Stephanie lag Nachmittags im weiten weißen Hauskleid auf einer Causeuse des gelben Zimmers. Aus dem lose gescheitelten Haar blickte ein blasses, leidendes Gesicht voll Angst auf die Baronin Aßperg. Diese saß Stephanien gegenüber.

„Und Sie glauben in Wahrheit an Gespenster? in allem Ernst, Josephine?“

Certainement. Wir haben auch das vor den Bürgerlichen voraus, daß es auf unsern Schlössern spukt.“

„Ich danke für dies Vorrecht.“

„Strambergs z. B. haben eine schwarzgekleidete Dame. Auf Schloß Stauff zeigt sich zuweilen ein großer Hund mit feurigen Augen. Bei meinem Vetter in Warchin gehen unsichtbare Tritte und ein leises Aechzen um Mitternacht durch einen gewissen Corridor. Hier erscheint der Hausgeist als Schatten.“

„Aber mein seliger Mann,“ sagte Stephanie, „mein Mann, der mich mit alten Familiengeschichten und wunderlichen Anekdoten leidlich quälte, erwähnte niemals eines Schloßgespenstes.“

„Vielleicht ist es ein junger Schatten und in Sie verliebt. Wie rührend: ein schmachtender Schatten allnächtlich vor der Schwelle Ihres Boudoirs! Man wird künftig von „kühlen“ Schatten gar nicht mehr reden können.“

„Ah, Josephine, erst ängstigen Sie mich, und dann behandeln Sie die Sache lächerlich.“

„Pardon, ich finde das im Gegentheil sehr tragisch … doch, Scherz bei Seite, liebe Gräfin, verlassen Sie dies alte, unheimliche Schloß so bald als möglich. Und wenn der Schatten nichts weiter bedeuten sollte, als daß er Ihre Wangen blaß wie heute färbt, fliehen Sie! In der Residenz giebt es keine Gespenster. O, und dort sehnt man sich so sehr nach Ihnen. Prinz Ferdinand fragte mich neulich so angelegentlich nach meiner schönen Freundin, so angelegentlich –“

Stephanie erröthete. „Seine Hoheit waren immer sehr gütig gegen mich.“

„O, das war mehr als die Sprache der Güte, das war –“ die Baronin unterbrach sich mit einem bedeutungsvollen Lächeln, sah Stephanie mit ihren schwarzen Augen forschend an und fuhr dann, in den Schooß blickend, fort: „Wunderbar, wie sich das trifft! Während der Prinz für meine schöne Freundin schwärmt, scheint seine Gemahlin Herrn von Montigny –“

„Montigny?“ rief Stephanie und fuhr aus ihrer bequemen Stellung auf.

„O,“ sprach die Baronin ruhig, „hören Sie das heute zum ersten Mal? Es ist allgemein bekannt, daß Ihr Cousin von jener Seite mit besonderer Auszeichnung behandelt wird.“

„Und ahnt, weiß mein Cousin –?“ fragte die Andere voll Ungeduld.

Die Baronin, ohne in die brennenden Augen ihrer Freundin aufzusehen, spielte mit einer Seidenquaste. „Ich denke, Herr von Montigny ist in der Deutung von Blicken nicht blöde. Man spricht von seiner Ernennung zum Kammerherrn …“

Stephanie stand rasch auf und durchschritt das Gemach. Der starre Blick, die zuckenden Lippen, die tiefathmende Brust verriethen den Kampf in ihrem Innern. Zuletzt siegte die Leidenschaftlichkeit des Weibes über den Stolz und die Zurückhaltung der Aristokratin. Weinend warf sie sich Josephinen in den Schooß und rief: „Ach, ich bin grenzenlos unglücklich, verrathen und verlassen!“

Jene umarmte und küßte die Schluchzende, streichelte ihr Haar und gab ihr zärtliche Namen. „Fassung, Fassung, meine Liebe!“ sagte sie. „Ich ahnte nicht den Pfeil in Ihrem Herzen. Warum auch zogen Sie mich nicht in Ihr Vertrauen? O, längst dann hätt’ ich Ihnen entdecken können, daß Edgar Sie liebt, Sie anbetet. Die Wahrheit zu gestehen, fand ich Sie bisher sehr kalt, sehr grausam gegen Edgar.“

„Ich kalt, ich grausam gegen ihn? O, wo waren Ihre Augen?“

„Im Vergleich mit ihm schienen Sie fühllos. Er konnte sein Herz nicht verleugnen. All sein Denken und Reden waren Sie, immer Sie. Aber, theure Stephanie – man muß den köstlichen Paradiesvogel halten und binden, sonst flattert er wider Willen in ein anderes Netz.“

Die schöne Frau erhob sich. „Sie haben Recht, Josephine,“ sagte sie sinnend. Dann, in ihren eignen Gedanken erglühend, fuhr sie fort: „Wer kann, wer darf mich hindern, den Mann, den ich liebe, vor der Welt mein zu nennen? Ich bin ja so jung, ich liebe das Leben, den Frohsinn. Freudlos legte ich an Heinrich’s Arm den ersten Frühling zurück. Soll ich auch die Rosenzeit vertrauern? Meinen voreiligen Schwur hat der Tod gelöst; frei bin ich vor Gott und Menschen. Und diese Freiheit geb’ ich hin, um Freude dafür einzutauschen!“

„Endlich!“ rief Josephine und zog die Freundin an ihr Herz. „Endlich denken und sprechen Sie, wie ich an Ihrer Stelle längst gesprochen und gehandelt hätte. Wie beneid’ ich Sie um Ihre Empfindung! wie lacht Ihnen die Zukunft! Und wer ist, der Ihre Wahl schmähte? Man braucht Sie und Edgar nur zu [258] sehen, um zu wissen: Sie mußten sich wählen! Er schön und liebenswürdig, ein Edelmann, und Sie – womit beginn’ ich, wann würd’ ich aufhören, Sie zu loben? Und bei allen diesen Göttergaben sind Sie so reich, daß seine Armuth nicht in Rede kommt.“

„O, was ich besitze, soll sein Eigenthum werden. Man soll ferner nicht sagen: der arme Montigny! Ich lege mein Schloß, mein Gold und mich selbst ihm zu Füßen.“ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

So schwärmte die junge Frau, entwarf Pläne künftigen Glückes und schwelgte im Jubel ausgesprochener Liebe. Während dessen kniete Waldenburg, ein elender, hoffnungsloser Mann, vor dem Crucifix im Thurmzimmer.

„Herr! Gott!“ rief er. „Aus den Tiefen der Verzweiflung schrei’ ich nach dir. Wo ist der Zug deines Antlitzes in ihrem Antlitz? wo dein Finger in diesen Schicksalen? Was ist dein Werk, wenn jene Creaturen Gottes Werk sind! ... Vergieb, daß ich mit meinem endlichen Leid dir nahe; du bist ja der Unfaßbare, der Unendliche. Aber der Schmerz, der mich durchwühlt, ist mein höchster Schmerz; was ich besaß, war mein Himmel auf Erden; was ich verlor, mein All! Und wenn ich auch der ganzen Welt und deiner Milliarden Sterne gedenke, mein Leid und mich kann ich über dem Ungeheueren nicht vergessen. Du liebst Nichts, wenn du Einen verzweifeln lässest! … Du dort, mit dem menschlichen Angesicht, du Dornengekrönter, riefst du nicht: Mich dürstet!? Neige dich zu mir! Nur einen Tropfen deiner Menschenliebe flöße mir wieder in die lechzende Seele! Denn mein ganzes Wesen ward in Bitterkeit und Haß verwandelt …“

Der Angstschweiß trat auf seine Stirn, er zitterte. „Mein Gebet ist vergebens,“ sagte er sich, „denn ich bin ein Frevler vor dem Ewigen. Ich habe das Geheimniß des Todes entweiht. Das Buch mit den sieben Siegeln versucht’ ich zu lesen und konnte doch nur dies entziffern: Alles eitel … Nun führe ich, am Tod und Leben rechtlos, eines Schattens Leben, der vom Baume fällt, indeß die Sonne schon unter ist …“

„Und wenn ich jetzt vor mein Weib, unter die Menschen träte und in alle Welt ausriefe, daß ich Heinrich bin – ich gewänne mein Weib und die Welt nicht mehr. Alle würden scheu vor mir zurückweichen, Alle mich fliehen und fliehend verdammen. Ich trüge den Fluch auf der Stirn, Jedem leserlich: Meine Sünde war Selbstmord!“

Eine Nachtigall schlug im Garten. Ihre schwermuthsvollen Töne zogen wie Trösterworte in das Ohr. Schmeichelnd trug der Abendwind den Duft von Rosen in’s Zimmer, und vom blauen Himmel nieder grüßte der Liebesstern.

Langsam legte sich der Sturm in Heinrich’s Brust, und er begann zu überlegen, was ihm zunächst zu thun. Mit dem Vorsatz, Stephanie zu warnen, begab er sich dann hinab und ließ die Gräfin um eine Unterredung bitten.

Diese saß, Edgar’s Heimkehr von der Jagd erwartend, im gelben Zimmer und ließ sich von Fräulein Fanny aus einem französischen Roman vorlesen. Als Titi den Kaplan meldete, flog das Buch unter die Sophakissen, und Fanny ergriff ein reichgebundenes Gebetbuch, das als Schaustück zwischen Albums und Illustrationswerken auf dem Tisch lag. Stephanie streckte sich auf den Divan und empfing Heinrich mit leidender Miene.

„Sie entschuldigen mich, Herr Stein,“ sagte sie, „ich fühle mich sehr schwach, sehr elend. Uebrigens,“ setzte sie mit einem Blick auf Waldenburg’s blasses, gramentstelltes Gesicht hinzu, „finde ich auch Sie krank aussehend. Sind Sie nicht wohl? Ich habe keinen Arzt mehr im Schloß, denn meines Mannes Leibarzt nahm räthselhafter Weise unmittelbar nach Heinrich’s Tod seinen Abschied und lebt, wie ich höre, gegenwärtig in Amerika. Ich fürchte, er hat den theuern Todten auf dem Gewissen. Aber in Wendelstein wohnt ein trefflicher Arzt; ich werde ihn holen lassen, er mag uns Beide behandeln.“

Waldenburg lehnte die Hülfe ab; diese Blässe sei seine natürliche Farbe. „Sie denken, Sie studiren zuviel, Herr Kaplan,“ ergriff Fanny das Wort. „Es ist bereits verrathen, daß man heute am frühen Morgen Ihre Lampe brennend und Sie noch wach und in Kleidern bei den Büchern fand.“

„O, das müssen Sie nicht thun,“ versetzte Stephanie lebhaft.

„Mein Mann dachte und las auch soviel des Nachts, und das untergrub seine Gesundheit, zerstörte seine Nerven. Folgen Sie hierin nicht dem Rath Pater Angelo’s, den ich für keinen Menschen, für einen Dämon halte. Ich will heitre Wesen um mich sehen … Doch, ach! ich predige Fröhlichkeit und bin selbst zum Sterben betrübt. Der Schatten, der furchtbare Schatten erschien auch in der vergangenen Nacht.“

„Vereinigen Sie Ihre Bitten mit den meinigen, Herr Kaplan!“ sagte Fanny. „Die gnädigste Gräfin muß in einem andern Zimmer schlafen.“

„Umsonst!“ entgegnete Stephanie, welche die Erinnerung an das Phantom jetzt wirklich traurig machte. „Er wird mir auch dahin folgen.“

„So löschen wir wenigstens die Lampe vor dem Schlafengehen und schließen die Thür Ihres Boudoirs.“

„Nein, nein,“ rief die Gräfin, „er würde in mein Gemach selbst, würde auf mein Lager fallen. Ich würde ihn fühlen die ganze Nacht, wie Eis, wie den kalten Tod auf meinem Herzen.“

„Dann bin ich rathlos, um so mehr, da er für mich durchaus nicht sichtbar sein will. Er war auch heute wieder verschwunden, als ich der Gräfin zu Hülfe eilte.“

„O,“ sagte Stephanie nachdenklich, „Niemand wird ihn sehen, Niemand an ihn glauben, außer mir. Ich aber werde ihn Nacht für Nacht schweigend kommen und gehen sehen, wie einen Arzt an’s Lager einer Hoffnungslosen. Er wird kommen und gehen, bis ich selbst in’s Reich der Schatten sinke … Ich habe über Ihre Worte von gestern nachgedacht, Herr Stein, doch find’ ich keinen Aufschluß durch sie. All mein Denken war bisher einem sorglosen Blick in’s Blaue gleich, und die Menschen, die ich liebe, die mir werth und wichtig sind, leben noch, sind frisch und froh und nächtlichem Spukwerk fremd.“

„Leben Alle, die Sie lieben?“ fragte Heinrich leise.

„Alle. – Außer meinem Gemahl,“ setzte sie leicht erröthend hinzu. „Aber Heinrich war so sanft, so gut. Er wird mich auch im Tod nicht kränken und schrecken.“

Waldenburg senkte sein Haupt.

„Der Schatten wird wohl nicht wieder kommen,“ sprach er nach einer Pause … „Doch, gnädigste Gräfin, bevor Ihre Gäste Sie beanspruchen, bitte ich in einer Angelegenheit, die – die Angelo mir an’s Herz legte, um kurzes Gehör!“

Fanny entfernte sich auf einen Wink ihrer Herrin. Sobald sie allein waren, schwand der ruhige Ausdruck, den Heinrich in Haltung und Gesicht mühsam bewahrt hatte. Stephaniens Wort, daß er sie auch im Tode nicht kränken könne, hatte ihn tief erschüttert. In leidenschaftlicher Art sprang er auf und that einen Schritt gegen seine Gattin hin. Stephanie, von Staunen, von Furcht ergriffen, legte unwillkürlich die Hand an die Klingelschnur. Diese Bewegung gab dem Manne die Selbstbeherrschung wieder. „Ich will Sie weder kränken noch schrecken,“ sagte er bitter.

Stephanie zog langsam den ausgestreckten Arm zurück, aber ihre Augen betrachteten Heinrich mit Angst und Sorge.

„Ich werde mich kurz fassen,“ begann er. „Gott hat es gefügt, daß sich die Wege Ihres Schicksals mir klar enthüllten. Ich stehe hier als Warner, als Ihr einziger Freund. Vorher jedoch empfangen Sie mein Bekenntniß, das mich in diesem Fall nicht erröthen macht: Ich belauschte ein Gespräch zwischen Ihrem Cousin und Baron Aßperg.“

„Ich hoffe, unfreiwillig?“ erwiderte die Gräfin, deren Schrecken sich in Ungeduld und üble Laune verwandelte.

„Nein, denn es handelte sich um Ihr Wohl und Wehe, um das Glück Ihrer Zukunft … Gräfin, denken Sie wirklich Ihre Hand diesem Montigny zu reichen?“

„Mein Herr,“ fuhr Stephanie empor, „wenn Sie diese Vermuthung hegen – die ich nur gleich bestätigen will – bitte ich, mit geziemenderem Wort und Ausdruck von meinem künftigen Gatten zu sprechen.“

„Sie reichen ihm Ihre Hand?!“ rief Heinrich außer sich.

„Und warum nicht? Ist es denn unerhört, daß Wittwen sich zum zweiten Male verheirathen? O, ich weiß, Sie sind ein heiliger Mann; Sie werden mir zum Kloster rathen. Aber ich sehne mich nicht nach der Märtyrerkrone, nach dem Heiligenschein; ich will kein Engel, will ein Weib sein, das liebt und geliebt wird!“

„Verzeihung, aber ich glaubte an Treue, die über Gräber währt … durch Angelo kenne ich Sie von Ihrer Kindheit an. Unfreundlich und stürmisch war Ihr Lebensmorgen, trüb der Blick [259] in Ihre Zukunft. Da nahm sich Graf Waldenburg des armen, bedrängten Mädchens an. Er rettete Ihre Eltern vom Untergange, er erhob Sie aus Schmach und Dunkelheit zu seinem Glanz empor, er war Ihnen mehr als Bruder und Vater. Auf den Händen trug er Sie, und was sein Gattenrecht war, jeden freundlichen Blick, jedes Liebeswort von Ihnen nahm er als eine Gnade hin. O, Sie fühlten seine Zärtlichkeit nicht einmal nur gelobten Sie ihm Treue über’s Grab, Treue, ewige Treue. Und nun?! Nach einem Jahr sein Bild und Ihr Gelübde ausgelöscht in Ihrem Herzen! nach einem Jahr tanzen Sie auf seinem Grab!“

Heinrich’s Stimme besaß keine Gewalt mehr über Stephanie.

Die bittere Wahrheit in seinen Worten verwirrte ihre Sinne und erfüllte sie mit Grimm und Haß.

„Mein Herr,“ erwiderte sie, und ihre Lippen zuckten, ihre Stimme klang hart, „ich hörte Sie an, weil ich graue Haare zu achten pflege, weil - weil Indiscretion zu Ihrem Beruf gehört. Nun hören Sie mein letztes Wort! Ich fühle mich nicht an Gelübde gebunden, die man als thörichtes Kind gethan. Ich verletzte niemals die Pflichten der Gattin, solang der Graf lebte; nie werd’ ich aufhören, ihm eine dankbare Erinnerung zu bewahren; genug der Thränen weinte ich an seinem Sarge. Doch da er in das Grab sank, verlor ich einen Freund, nicht meine Welt in ihm!“

„Weh ihm!“ bebte Heinrich vernichtet.

Der Hornruf, den er am ersten Abend gehört halte, erklang wieder aus der Ferne. Bei diesem Ton fuhr Stephanie mit der Hand nach dem Herzen. Dann, zu Heinrich gewandt, fragte sie herrisch: „Und nun, was haben Sie gegen Montigny?“

„Er ist frivol, leichtsinnig, ein Spieler.“

Stephanie biß sich vor Wuth in die Lippe. „Haben Sie auch das von Pater Angelo?“

„Nein. Ich beurtheile Herrn von Montigny nach seiner eignen Rede.“

„Die Sie belauschten,“ fiel die Gräfin verächtlich ein. „Mein Cousin ist fröhlich, das nennen Sie frivol; graziös schelten Sie leichtsinnig, und was das Spiel betrifft, nun ja, ein Cavalier kann sich nicht mit gelehrtem Wust die Zeit vertreiben!“

„Don Juan war ja auch ein Cavalier, ein echter, rechter! Beneiden Sie Donna Elvira’s Geschick? Und wäre Jener nur das! Aber ein Werber, der den Reichthum seiner Geliebten berechnet, ist selbst für eine Theaterfigur zu schlecht. Wissen Sie, was der erste Schritt Herrn von Montigny’s in der unseligen Ehe sein würde? Dies ehrwürdige Schloß, die Wiege und den uralten Besitz der Waldenburgs, will er verschachern, um einige Jahre lang in Gold und Tollheit wüthen zu können! Nach dieser Spanne Zeit werden Sie dachlos, hülflos, bankerott sein an Gold und Liebe. Denn was sind Sie Montigny, was kann er Ihnen bieten, wenn Sie arm sind!“

Bei diesen Worten, die Heinrich fassungslos, hastig, grimmig hervorstieß, sprang Stephanie auf. „Genug!“ rief sie empört. „Fluch diesem Haus, das mich an die Schwäche meines Mannes selbst nach seinem Tode erinnert! Die Tortur, die ich litt, Angelo in meiner Nähe dulden zu müssen, wollen Sie fortsetzen! Eine einsame, verlassene Frau in einem melancholischen, abgeschiednen Schloß, o, die ist bald überredet, der Welt zu entsagen und das Büßerkleid zu wählen. Aber ich durchschaue Eure Pläne. Ich weiß jetzt, warum Angelo gerade Sie zu meinem Umgang erkor; Ihre Ähnlichkeit mit meinem Gatten, Ihre Stimme – ha, welche Wirkung versprach er sich davon! Aber kehren Sie zurück zu Ihrem Freund, Herr Stein, und sagen Sie ihm, daß ich am Arm Montigny’s seiner Schrecknisse lache!“ –

Im Gemach über dem gelben Zimmer wurden Schritte laut, und Montigny’s Stimme, eine Chansonnette trällernd, tönte von oben:

Il faut, sans croire
Aux sots discours,
Très-souvent boire,
Aimer toujours!

Stephaniens Aufregung glich einem Fieber, das die Gedanken wirbelnd emporjagt und überstürzt. „Aimer toujours!“ rief sie und klatschte in die Hände. „Immer, ewig lieben! – O, was sprach ich doch, Herr Stein? Ich hieß Sie gehen? Nein, Sie müssen bleiben; ich befehle Ihnen, zu bleiben. Sie sollen Zeuge dieser Gräuel sein; sollen zusehen, wenn ich über Gräber tanze. Ich befehl’ es Ihnen und entlasse Sie erst an dem Tag, an dem ich dies Schloß, von heut’ an Montigny’s Schloß, für immer verlasse!“

Die Thür öffnete sich. Montigny trat in’s Zimmer, schön, lächelnd und glühend, wie ein Gott der Freude, der Jugend.

Stephanie schritt ihm hastig entgegen. „Edgar,“ sprach sie, mit fliegender Brust. „Sie richteten gestern eine Frage an mich, die ich heute erst beantworte: Ja, ich will, ich will Ihr Weib sein.“

„Stephanie! Meine Stephanie!“ jubelte Montigny und riß sie stürmisch an sein Herz…

Heinrich that einen Schritt gegen das Paar hin und streckte den Arm aus, wie Einer, der ein letztes, entscheidendes Wort sprechen will. Der Aufruhr seiner Seele wetterleuchtete aus den Augen. Aber er sprach die Losung nicht; schlaff sank seine Rechte an der Seite nieder, sein Haupt neigte sich wie vor einem unsichtbaren Höheren, und schweigend verließ er das Gemach. Die Liebenden, Seligen achteten seiner nicht. Traulich sich umschlungen haltend, saßen sie, stammelten süße Namen und tauschten Küsse, bis der letzte Tagesschimmer schwand und sie im tiefsten Schatten ließ.




Als Heinrich sein Thurmzimmer erreicht hatte, brach er in die Kniee, streckte die Arme aus und rief: „Was noch?! Wenn mein Beginnen ein Frevel gegen Erd’ und Himmel war, so ist dies Ende eine Buße, die Erd’ und Himmel besiegt und mir ihre zehnfache Vergebung sichert! … Mit dieser Stunde hab’ ich mir das Recht des Fluchs, das Recht zu richten erkauft. Ich will - -“

Der Gedanke erstarb auf seinen Lippen; Heinrich stürzte besinnungslos mit dem Gesicht zur Erde.

So lag er lange – starr, unbeweglich, wie todt. Der Mond ging auf, und ein Schatten ruhte dann neben dem ausgestreckten Körper. Als Waldenburg aus der Ohnmacht erwachte, war sein Kopf dumpf und schwer. Er suchte die Gedanken zu sammeln, allein sie verwirrten sich. Es erschien ihm Alles wie ein Traum.

„Ein Traum des Todesschlafs,“ sagte er. „Aller Welt bin ich todt. Aber muß Sterben Vergessen sein? Die Kräfte des Gehirns, die Sinnesverrichtungen, können sie nicht nach dem Tode fortdauern, trügerisch, traumhaft, wie sie im Leben waren?“

Er stieß ein irres Lachen aus.

„Erinnerung, das ist das rechte Wort! All’ die schmerzlichen Vorgänge waren und sind nur Metamorphosen der fortdauernden Erinnerung. Mein Sehen und Hören, mein Sprechen und Handeln sind nur die nichtigen Schöpfungen der Phantasie im Tode, indessen mein Leib stumm, blind, reglos im Sarg seine Verwandlungen feiert.“

In dieser fieberhaften Verwirrung, in der Ironie dämmernden Wahnsinns nahm Waldenburg die Gruftschlüssel und Brechwerkzeuge aus Angelo’s Lade, wo sie vom vergangenen Jahr noch unberührt lagen. Er wankte die Treppen hinab, trat in die kühle Kapelle und stieg in die Gruft.

Durch die vergitterte Mauerluke fiel ein schwacher Schein auf den Sarkophag, dessen Sammetbehang Heinrich’s Wappen und Namenszug trug.

Waldenburg blickte mit Grauen auf diesen düstern Schrein.

„Todt!“ flüsterte er. Hastig dann begann er – vom Fieber zu riesiger Kraftanstrengung, durch diese zur Klarheit des Bewußtseins getrieben – an den Schrauben, an den Nägeln, am Schloß zu arbeiten. Der Schweiß brach ihm aus, seine Hände bluteten; zuletzt stieß er den Metalldeckel ungestüm hinweg, daß dieser dröhnend auf die Steinfließen fiel, und starrte in den leeren, schmalen Raum.

„Wahr!“ schrie er auf. „Alles wahr! Nur Glück, Liebe, Treue sind Lüge! Der Fluch des Lebens bannt mich noch.“

Er schlug die Hände über das Gesicht. Dann sah er mit wildem Blick auf die Särge, die, als schwärzere Massen denn die Dunkelheit, rings um ihn sich thürmten.

„Euch Todten hier,“ rief er, „Euch, meinen Ahnen, meinen Eltern, geb’ ich, als des Maskenreigens Letzter, die Grabschrift für uns Alle: Wir täuschten und wurden getäuscht!“




„Gute Nacht, mein Lieb!“ sagte Montigny zum dritten Mal und küßte sie auf Stirn und Mund.

„Gute Nacht, du lieber, herziger Mann!“ erwiderte Stephanie.

Sie standen an der Thür des gelben Zimmers. Der Baron und Josephine waren längst in ihren Gemächern, aber das glückliche [260] Paar riß sich ungern los. Fanny lehnte schlaftrunken an einem Spiegeltisch, die Kammerjungfer ging vom Zimmer in’s Boudoir ab und zu, während Jene sich die Hände drückten, zusammen flüsterten und sich Gute Nacht sagten, nur um sich zu küssen.

„Wenn nun der Schatten wieder kommt?“ begann Montigny auf’s Neue.

„O, er kommt nicht,“ sagte Stephanie. „Er kommt heute ganz gewiß nicht. War’s ein Omen, so ist das Ereigniß eingetroffen, und war’s ein Gebilde meiner Phantasie, ein Traum, so hab’ ich heute süßere Träume.“

„Wenn aber der Schatten –“ Montigny unterbrach sich, legte den Arm um Stephanie und bat: „Verschließe Dein Boudoir und laß mich hier im gelben Zimmer wachen.“

Sie schlug ihm mit einem Kuß, aber bestimmt die Bitte ab. „Wenn Du so bedenklich davon sprichst,“ schloß sie, „erwacht meine Angst wieder.“

„Vergieb, mein Herz!“ erwiderte Edgar, „ich will ja nur auch den leisesten Schatten Dir aus dem Weg schaffen … Doch lassen wir die Todten –“ er biß sich ärgerlich auf die Zunge, „die Schatten, will ich sagen, den Schatten ruhen. Ich glaube wirklich, das frühe Zubettgehen verwirrt mich.“

„Wir wollen in der Residenz uns bessern. O, mein Leben beginnt mit dem Heute erst.“

Ein tieftöniger, nachhallender Schall durchdröhnte das Schloß, ähnlich dem Schlag auf eine Metallplatte oder Glocke.

„Was war das?“ sagte die Gräfin erschreckt.

„Eine Eisenthür krachte in’s Schloß,“ antwortete nach einigen stummen Secunden Montigny.

„Im ganzen Gebäude ist keine Eisenthür. – Der Schall kam von der Capelle her.“

„So fiel dort ein Leuchter oder Crucifix auf den Steinboden.“

„O, wie sehn’ ich mich, dies alte, unheimliche Gemäuer zu verlassen!“

„An Dir nur liegt’s, es bald zu verlassen.“

Stephanie drohte schelmisch mit dem Finger und sagte: „Davon sprechen wir morgen. Ich habe Herrn von Montigny eine sehr ernste Lehre zu geben – daß in solchem verwunschenen Schloß die Wände Ohren haben.“

„Was meinst Du damit?“

„Himmel! es geht auf Zwölf. Nun kein Wort mehr! Gute Nacht, Du schönster, geliebtester Mann! Gute Nacht!“

Sie trennten sich. Edgar begab sich nach seinem Zimmer, wo er Lafleur im Lehnstuhl eingeschlafen fand.

„Vergebung, Euer Gnaden,“ stammelte der unsanft geweckte Diener; „die Landluft macht Einen zum Murmelthier. Erst zwölf Uhr, und das ganze Haus schläft schon.“

Montigny entließ ihn und warf sich angekleidet auf den Divan.

Es erschreckte ihn ein unfaßbares Etwas in der Luft, eine unerklärliche Schwüle in seinem Innern, ein noch ungeborener Gedanke. Ja, dies Unbehagen war stärker als die Freude über Erfüllung seines höchsten Wunsches. Mit halbgeschlossenen Wimpern lag er schlaflos da. Gedanken kamen ihm und gingen, tasteten hierhin, dorthin, jeder in scheuer Furcht vor dem nächsten …

Die Schloßuhr schlug Eins, und immer noch fand Montigny nicht Schlaf. Er stand auf. Die Lampe war so gestellt, daß in Folge dieser Bewegung sein Schatten auf die Wand fiel. „Das ist’s,“ sagte er plötzlich, ergriff eine Schußwaffe und schlich leise, vorsichtig aus dem Gemach; leise, vorsichtig hinab bis vor die Thür des gelben Zimmers. Er legte das Ohr an – Alles still.

Die Nacht triefte von Mondlicht, und der Corridor war grell erleuchtet. Edgar lehnte sich mit dem Rücken an ein Fenster, das der Thür gegenüber lag. Im Zimmer, im ganzen Schloß kein Laut … Doch horch! Es raschelte in der Mauer. Neben der Thür befand sich eine flache Nische mit einer Marmorbüste. Von dort kam das Geräusch, und plötzlich sah Montigny zu seinem Entsetzen die Nische sich langsam, langsam drehen, und dann stand Heinrich ihm gegenüber … Im ersten Augenblick stürzte Edgar wüthend auf Jenen los, wollte ihn zu Boden schmettern, aber der Blick, die Ruhe des Mannes lähmten ihn. „Mensch,“ bebte er, „gestehen Sie oder ich vergesse mich – Was wollen Sie von uns? Wer sind Sie?“

Heinrich trat aus der Nische und sah Edgar mit einem drohenden, vernichtenden Blick fest in’s Antlitz. „Ich bin nur noch der Schatten dessen, der ich war,“ antwortete er, „aber Du, Edgar von Montigny, bist mit Fleisch und Blut, mit Leib und Seele ein ganzer Schurke.“

Edgar drückte die Waffe in seiner Hand nicht ab, riß den langsam Hinwegschreitenden nicht zurück. Leichenblaß, mit starren Augen sah er ihm nach und stammelte: „Er war’s – Heinrich lebt!“

[273]
4.

Bleifarbige, schwere Wolken zogen am andern Tag über den Bergen auf. Ein scharfer Wind jagte sie ruhelos von Gipfel zu Gipfel, wühlte den Fluß auf, packte und bog die Bäume im Park, stürzte sich heulend durch die Kamine im Schloß. Die Diener saßen müßig und mit geheimnißvollen Gesichtern im Vorzimmer. Der räthselhafte Schatten war gigantisch angewachsen und lagerte über dem ganzen Haus, über allen seinen Bewohnern.

„Merkwürdig,“ sagte Titus, „daß das Gespenst just bei der Verlobung sich zeigt. Das bedeutet nichts Gutes.“

„Ist’s denn mit der Verlobung richtig?“ fragte der schüchterne Schramm. „Ich hab’s der schwarzen Mariandel nicht glauben wollen, als sie mir’s beim Stiefelputzen erzählte. Mir ist’s, als wäre der Herr Graf erst gestern gestorben. Sein Begräbniß war schauerlich. Und jetzt ist die Gräfin schon wieder verlobt!“

„Schramm, Sie sind ein Esel,“ bemerkte Lafleur vornehm, der auf dem Ledersopha lag und sich die Zähne stocherte. „Sie hören und sehen nichts. Wen von den Herren, außer Ihnen, nimmt das Ereigniß Wunder; ich frage, wen? Niemanden von uns. Ich war in beständiger Attention. Ich hätte mit Jedem zwei Flaschen Rothspon darauf gewettet. Es ist so zu sagen eine alte Neuigkeit, nicht werth, daß man noch ein Wort darüber spricht. Bah!“

„Sehr richtig, mon cher,“ schnarrte Titus der Kleine. „Für mich ist der Schatten viel interessanter, als die Verlobung. He, Herr Banks, wie denken Sie heute darüber?“

Der Schwarze zeigte grinsend seine glänzenden Zähne, „Oh, yes!“ sagte er, „I think –“

„Deutsch, wenn ich bitten darf, Mr. Banks,“ unterbrach ihn Lafleur kalt. „Wir sprechen nur in England englisch. Apropos, gestern Abend war ich wieder ’mal bei der verrückten Kreislerin.“

Die Aufmerksamkeit Aller richtete sich auf Lafleur.

„Was meint denn die von dem Schatten?“ fragte einer der Jäger.

„I, das ist merkwürdig. Sie sagt –“ Eine der Klingeln im Zimmer begann heftig zu läuten.

„Lafleur, das gilt Ihnen,“ sprach Titi.

„Ja,“ antwortete Jener nach einem Blick auf die vibrirende Glocke. „Dann muß ich hinauf; solange Herr von Montigny Bräutigam ist, darf man ihn nicht warten lassen.“

Montigny hatte seinen Lehnstuhl an’s Fenster gerückt und sah, mit aufgestütztem Haupt und finsterem Gesicht, dem Aufruhr am Himmel zu.

„Ist die Gräfin zu sprechen?“ fragte er den eintretenden Lafleur, ohne den Kopf zu wenden.

„Bedaure, Euer Gnaden,“ antwortete der Diener. „Die Frau Gräfin haben den Auftrag gegeben, sie zu entschuldigen, Sie fühlen sich sehr krank; der Schatten –“

„Zum Teufel mit Eurem Schatten!“ zürnte Montigny. „Wer noch einmal mir von diesem Unsinn spricht, ist entlassen!“

„Ganz nach Euer Gnaden Befehl,“ versetzte Lafleur.

Ruhigeren Tones dann gab Edgar dem Bedienten den Auftrag, sich zu erkundigen, ob die Gräfin auch für ihn nicht zu sprechen sei.

Nach einer kurzen Weile kam Lafleur mit einem Briefchen von der Gräfin Hand zurück. Montigny überflog die Zeilen. Sie waren mit der Bleifeder flüchtig hingekritzelt. Ihr Inhalt lautete:

My dear! Tausend Küsse vorher! Ich bin sterbenskrank. Der Schatten – ce maudit spectre – war im gelben Zimmer, als ich aus einem Traum – Du erräthst doch, von wem ich träumte? – erwachte. Ist das nicht schrecklich? Jetzt kann ich Dich nicht sprechen, ich sehe gräulich aus. Aber Abends wollen wir unsere Verlobung feiern und mit Aßpergs die ganze Nacht durchschwärmen. Hörst Du, die ganze Nacht! Den Schlaf holen wir morgen im Wagen nach, denn wenn Dir mein Leben lieb ist, so verlassen wir morgen schon dies entsetzliche Schloß und reisen mit Aßpergs nach Baden-Baden. Es küßt und umarmt Dich

Deine Stephanie.“ 

„Sie können gehen,“ sagte Montigny zum Bedienten. Allein, warf er das Papier auf den Tisch und starrte wieder in die gährenden Wolken. Manchmal senkten sie sich tief an den grauen Felswänden nieder, als wollten sie das Thal erdrücken, dann riß sie der Wind wieder wie einen Vorhang empor.

Die Gedanken Edgar’s wogten wie das Gewölk. Dunkel, gewitterschwer stiegen sie in ihm auf, und zogen sie vorüber, so standen dunklere dahinter. Einmal trat er an den Tisch, um eine Cigarre anzuzünden. Eine Wachskerze brannte dort. Edgar benutzte Stephaniens Brief als Fidibus und warf das flackernde Papier auf den kostbaren Fußteppich. Einige Secunden lang betrachtete er die kleine Flamme am Boden und trat dann heftig mit dem Fuß darauf. „Aus!“ sagte er mit einem sonderbaren Aufleuchten seiner Augen.

Er schritt im Zimmer auf und nieder und versuchte zu singen, aber die Stimme versagte ihm; auch am Rauchen fand er [274] kein[WS 1] Behagen. Die Cigarre flog bald zur Erde. Er warf sich wieder in den Lehnstuhl.

„Alles in Allem,“ sagte er sich nach tiefem Sinnen, „ist eine grelle Wahrheit erträglicher, als dumpfer Verdacht; Gewißheit ersprießlicher, als zagende Ungewißheit. Man kann sich einrichten – man handelt. Eine merkwürdige Geschichte! Todte werden lebendig, oder vielmehr Lebendige gelten für todt. Nun, wie immer die Sache zusammenhängen mag: ich ward betrogen und beschimpft, jedes von Beidem Grund genug, mich zum Aeußersten zu treiben. Und so denn, theurer Cousin, setz’ ich Deinen mystischen Launen mein ganzes Sein entgegen: Jugend und Kühnheit, Stephaniens Liebe und meinen Haß. Ich denke, ich bin ein respectabler Gegner. Gieb Acht, daß Du, mit dem Tode spielend, nicht den Teufel an die Wand maltest!“

Wieder zog ihn der Aufruhr am Himmel an. „Pest!“ dachte er, „was ich nur immer nach den Wolken luge?! … Wie sie wachsen und wallen! Es ist mir, als sollte ich dort eine Wahrheit für mich entdecken, als wollte das tolle Gebräu mir etwas sagen …“

Später begab er sich auf die Terrasse und fand dort Fräulein Fanny mit wehenden Kleidern an der Balustrade stehen. Sie sah aufmerksam in den Park hinab.

„Ei, meine blonde Mignonne,“ redete Montigny sie an. „Bei diesem Wind wagen Sie sich ohne Hut und Shawl in’s Freie? Wie leichtsinnig!“

Fanny kehrte flüchtig das angstvolle Gesicht ihm zu, dann wies sie mit der Hand auf den Grafen Heinrich, der langsam einen Gartenpfad hinabwandelte. „Dort!“ sagte sie, „dort, sehen Sie Herrn Stein?“

„Ich sehe ihn.“

„Denken Sie, er geht in die Berge, geht bei diesem Wind und Wetter nach der Heinrichswand, will auf die Alm und vor Abend wieder zurück.“

„Woher wissen Sie das?“

„Von ihm selbst. Ich traf ihn im Corridor, und weil er einen Gebirgsstock trug, fragt’ ich ihn, wohin er denn wolle. Ich bin des Todes erschrocken über seine Absicht; ich bat und beschwor ihn, doch heute nicht das Wagniß zu unternehmen, aber er ließ es sich nicht ausreden.“

„Der Teufel lohne dir deine Gutmüthigkeit!“ dachte Edgar, aber laut sagte er: „Das war recht, das war hübsch von Ihnen, mein Fräulein. Sie haben ein gutes Herz. Der Kaplan ist toll. Ich hätte dem Bücherwurm das Wagstück gar nicht zugetraut. Was will er denn auf jener Alm? Die Sennerin dort ist alt und häßlich.“

„Pfui, Herr von Montigny,“ versetzte das Mädchen unwillig. „Der arme Mensch ist ein Sonderling. Er dauert mich. Am ersten Abend möcht’ ich ihn gar nicht leiden, weil Pater Angelo ihn uns brachte. Aber jetzt fühle ich anders. Ich habe eine Ahnung, daß er sehr unglücklich ist.“

„O, das sollte mir leid thun!“ sagte der Andere und verwünschte innerlich das Ahnungsvermögen der Weiber.

„Wenn Herr Stein nicht schwermüthig wäre, würde er bei solchem Wetter nicht so schaurige Spaziergänge wählen. Der arme Mann, er wird verunglücken!“

Montigny zuckte. „Er kann verunglücken,“ erwiderte er langsam, und plötzlich schien sein Körper die gewohnte Elasticität zu gewinnen, seine verdüsterten Züge heiterten sich auf; er ward beredt und lebendig. Mit umständlicher Genauigkeit, fast Schritt für Schritt, begann er Fanny den Weg zu schildern, den sein Todfeind jetzt ging. Erst den Pfad an den Bergen hinter Waldenburg empor, nicht bequem, aber ungefährlich. Schlanke Lärchen schießen empor, und Alpenrosen trifft man in Hülle und Fülle. Den senkrechten Felswänden entlang windet sich der Steig hinan, zuweilen führt er über schiefeinstreichende Lagen. Plötzlich dann steht man auf der sogenannten Teufelsmauer, auf einer schmalen Felsenplatte vor einem tiefen Abgrund, durch dessen Rinnsal der wildbrausende Fluß dahinschießt. Gegenüber steigt die graue Heinrichswand himmelhoch empor.

„Aber wie kommt man hinüber?“ fragte Fanny.

„Auf zwei rohen Baumstämmen, die quer über den Abgrund gelegt und an beiden Enden mit Eisenklammern in das Gestein festgefügt sind. Eine derbe, sichere Brücke, nur darf man nicht an Schwindel leiden. Wer in den Schlund fiele, würde rettungslos am Gestein zerschellen und vom Fluß verschlungen werden.“

„Und ist man glücklich drüben?“

„So beginnt die eigentliche Gefahr.“

„Ich dächte –“

„Nun, den luftigen Steg nennen Sie doch nicht gefährlich? Deren giebt’s Hunderte im Gebirg. Ich will über ihn tanzen. Aber jenseits heißt es vorsichtig und doch fest die Füße setzen, den Pfad hinan, der kaum für Einen Platz hat; immer aufwärts, daß der Fluß drunten zuletzt nur ein kochender Milchstrahl erscheint. Aufwärts! aufwärts! …“

„Sie schildern mit solcher Lebhaftigkeit“ sagte Fanny zum Erzähler, der eine Weile starr vor sich in’s Leere blickte. „Ich stehe auf der Teufelsmauer und sehe gegenüber unsern armen Kaplan emporklimmen.“

„Bald nur als einen schwarzen Punkt. Dann verschwindet er um die schroffe Ecke der Heinrichswand. Die Gefahr ist vorüber. Man hat noch eine breite Schieferlage zurückzulegen; durch wildes Gezack dann geht es eine Weile wieder abwärts, und endlich tritt man aus diesem unfruchtbaren, rauhen Klippenwirrsal auf eine schöne, grüne Matte, wo die Sennhütte steht.“

„Mögen alle Engel und Heiligen Herrn Stein beschützen,“ rief tiefaufathmend das Mädchen.

„Alle Engel und Heiligen,“ sagte Montigny.

Sie wechselten noch einige Worte und trennten sich dann. Und jetzt sang und pfiff Edgar, während er im Park sich erging, lustig mit dem Wind um die Wette. Stephanie, die in ihrem Schlafzimmer am Fenster stand und ihn zwischen den Bäumen sich tummeln, über Beete springen und andere jugendliche Kraftübungen vollführen sah, lachte aus voller Seele über den lustigen, ausgelassenen, übermüthigen Mann. Aber in Wahrheit barg sich unter Edgar’s scheinbarer Lustigkeit nur die Aufregung seiner Seele. Er wußte jetzt, was ihm die Wolken sagen wollten.

Beim Diner, das er mit den Aßpergs einnahm, war er von hinreißender Liebenswürdigkeit. Die Baronin konnte keinen Blick von ihm verwenden, ihr Gemahl strich sich vergnügt den Backenbart, und die aufwartenden Diener nickten sich hinter seinem Rücken beifällig zu. Nachdem der Kaffee servirt war, stand Edgar auf und küßte Josephinen die Hand. „Wohin wollen Sie denn?“ fragte Aßperg. „Bei diesem Wetter denken Sie doch nicht auf die Jagd zu fahren?“

„Nein, ich will mir einen kleinen Streifzug nach dem Wendelsteinerwald unternehmen, einen Spaziergang, weiter nichts.“

„In einer Stunde haben wir ein Gewitter.“

„Um so besser. Ein Gewitter im Gebirge, das ist ein Schauspiel!“

„Das Sie aber von meinem Zimmer aus, bei einer ausgesuchten Havanna, viel bequemer haben können.“

„Ein nahes Gewitter bringt mein Blut in Wallung. Ich habe zu Hause keine Ruhe; ich muß in’s Freie, muß mich austoben wie der Sturm.“

„Adieu denn, junger Roland! Kommen Sie vor Abend noch zurück?“

„Gewiß, denn heute Abend heißt es:

Le vin dans tous les verres,
L’amour dans tous les yeux.

Es soll eine Götternacht werden! Die Damen sollen uns mit bekränzen, und wir wollen dagegen zärtlich und galant sein, wie die Ritter aus des „Minnesanges Zeilen“. Schloß Waldenburg soll wie eine Burg von Sternen strahlen, und im Dorf Keiner sein, der nicht, in Wonne taumelnd, ein Hurrah auf Josephine und Stephanie, als die Schönsten aller Schönen, ausbringt. O, ich komme; heute käme ich als Todter!“ Er empfahl sich.

Als er, die Flinte über die Schulter gehangen, aus dem Schloß in den Vorhof trat, hatte sich der Wind gelegt. Im Süden stauten sich die schwarzen Wolken auf und rückten langsam näher.

Diane, der Lieblingshund des Grafen, stand vor seiner Hütte, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, den Kopf erhoben und heulte jämmerlich. „Machen Sie doch den dummen Hund los,“ rief Montigny ärgerlich dem Thorwärter zu, der seine Nachmittagspfeife schmauchte. „Das Vieh fürchtet sich vor dem Wetter.“

„Das muß wohl so sein, Euer Gnaden,“ sagte der Diener, während er die Kette löste, „denn er heult wohl seit ’ner Stunde schon.“

„Geben Sie ihm die Peitsche. Ich will kein Hundegeheul.“

[275] Nach dieser kurzen Verzögerung trat Edgar den Weg nach Wendelstein an. Sobald er aber Dorf und Schloß hinter sich hatte, verließ er die Landstraße und kehrte auf Seitenpfaden die zurückgelegte Strecke wieder zurück.




Einen großen Theil seines gefahrvollen Weges mußte Heinrich von der Dunstschichte aufgenommen und eingehüllt zurücklegen. Bei der Biegung um die Heinrichswand trat er endlich in freiere Atmosphäre und sah nun, den ganzen Wolkenzug unter sich, die fahlfarbige Säule noch gebundenen Lichts über dem Thale wallen.

In der Sennhütte, einem dumpfen, durch das Heerdfeuer rauchigen Raum, erwartete ihn Angelo.

Graf Waldenburg, in Schweiß gebadet und doch von Frost durchschauert, nahm in der Ecke Platz, wo die Bank der rohgefügten Balkenwand entlang lief, und der Tisch stand. Dort hing auch der künstlerische Schmuck der Almhütte, ein grellbemaltes Crucifix und ein eingerahmter Holzschnitt der „wunderthätigen Madonna von Wendelstein“. Darüber kreuzte sich der geweihte Zweig einer Palmweide mit einer Pfauenfeder.

Trotz seiner Erschöpfung begann Heinrich sofort, dem Freunde die Ereignisse des vergangenen Tags zu erzählen. Angelo blieb vor dem Tische stehn und unterbrach den leidenschaftlichen Erguß des vielgeprüften Herzens mit keinem Wort.

„Und so ist eingetroffen, was Du prophezeitest,“ schloß Waldenburg. „Die Welt meiner Träume versank. Schiffbrüchig sehe ich nach dem letzten Felsen aus, der mich aus diesen ewig schwankenden, falschen Wogen, ich will nicht sagen retten, sondern zerschellen will.“

Er sank ächzend zurück.

„Du bist blaß, angegriffen, erschöpft,“ begann der Priester und gab seiner Stimme den sanftesten Ausdruck. „Laß uns nicht jetzt weiter sprechen, nicht in der Aufregung und voreilig einen Entschluß fassen! Ich will überlegen. Schlaf Du unterdessen; Du bedarfst der Ruhe, der Erquickung! Thu’s mir zu lieb: sprich nicht mehr, sondern strecke Dich aus und schlaf!“

Heinrich fühlte selbst seine Schwäche und Hinfälligkeit zu sehr, um sich diesem wohlgemeinten Rath zu widersetzen. „Ach, Freund,“ sprach er mit einem schwermüthigen Lächeln, das selbst Angelo’s Augen feuchtete, „warum wecktest Du mich damals?!“

Er streckte seine müden Glieder, schloß die Augen und sank bald in wohlthätigen Schlaf. Lange betrachtete Angelo das stille Dulderantlitz des Schlummernden, riß dann sich mit einem Seufzer los und trat in’s Freie vor die Hütte.

Vom Wiesenabhang, der hinter dem Hause lag, klang das Geläut der Leitkuh und der Lockruf der Schwaigerin, die zum dritten Mal molk. Wunderbar klar und frisch war die Luft. Die Schneeberge, welche ringsum über schwarzen Waldgebirgen lagen, glänzten im Sonnenschein, aber hinter der Heinrichswand rollte und grollte es; fernab, in der Richtung von Waldenburg, ging die donnernde Wolkenschicht nieder.

Angelo setzte sich auf die Fensterbank nieder und stützte das Haupt in die Hand.

„So stünde ich doch nicht über den Gewittern?!“ dachte er. „So wanderte ich immer noch im Nebelthal und könnte der Sturmwind mich ergreifen? Wie klar schien der Weg, den ich mit Heinrich wandeln wollte, vor mir zu liegen! und jetzt ist mein Blick verwirrt; ich sehe plötzlich hundert Pfade sich vor uns kreuzen. Leidenschaften, die ich abgethan wähnte, schlagen plötzlich die Flügel auf – und schlimmer als dies Alles: ein Zweifel faßt mich, ob ich auch recht gethan?!“

Er sprang jählings empor. „War ich denn fromm, gläubig, rein bisher? Wohl entsagt’ ich allen Genüssen, die Menschen begehren, schwelgte in meiner Erniedrigung und schritt, wie ein Triumphator über eine königliche Leiche, über meine Erdenhoffnung, hin. Aber wem nützte ich durch mein Beispiel? Wer ward besser und frömmer durch mich? Siegreich ist die Wahrheit! Wo sind meine Schüler? Und was ist ein Sieg, der nur den Kämpfer befreit, nicht seine Brüder?“

„Die Menschen nannten mich einen Mystiker. Wenn mystischen Sinn Der hat, dem diese Welt Nichts, aber jene Welt desto größer und wichtiger ist – was war mir denn jene Welt? Ein Aufgehen in Gott. Aber mit Entsetzen sehe ich jetzt, daß die Sonne, dieser winzige Theil des Weltalls, größer, herrlicher, fruchtbarer ist als mein Gott.“

„Weltgeist!“ rief er aus und sank, von seinen eignen Gedanken zerschmettert, in die Kniee, „Dich glaubte ich zu begreifen, Dir ähnlich zu sein. Meine Ohnmacht schien mir Deine Kraft, meine Blindheit Dein Auge. Die Zügel eines Menschenschicksals ergriff ich und muß, unseliger als Phaëthon, den eignen Sturz überlebend, den Untergang des mißgeleiteten Freundes sehen.“

„Und wenn in dieser heiligen Stunde, die meine eingebildete Größe wie Schnee schmilzt und mit dem bloßen Ahnungsschimmer der ewigen Majestät wie einen Wurm mich hinwegkrümmt, wenn in dieser Stunde der Wahrheit und Erkenntniß Heinrich mich fragt, warum ich ihn dahin brachte, kann ich nichts Anderes erwidern, als: Wenn ich unglücklich war, warum wolltest Du glücklich sein!“

So, zerknirscht und reuevoll, ruhte er lange Zeit. Geläutert erhob er sich. Seine hohe Stirn erschien reiner, edler, glänzender: der Hauch der Liebe hatte sie berührt. Als er zu Heinrich zurückkam, fand er diesen bereits wach.

„Der Schlaf that wohl,“ sagte Waldenburg dem Eintretenden. „Ich fühle mich neugestärkt und zum Handeln muthig. Ich bin wieder, der ich heute Morgens war.“

„So hast Du einen Entschluß schon gefaßt? weißt, was Du Stephanien, Edgar und den Andern gegenüber zu thun hast, daß Alles sich ordnet, und Du makellos vom vollbrachten Werk zurücktreten kannst?“

Heinrich lächelte bitter. „O!“ sprach er, „ich habe einen trefflichen Gedanken, der Alles in sich faßt, ausgleicht und endigt. Um kurz zu sein: Ich bin entschlossen, mich zu rächen.“

Angelo erblaßte.

„Du staunst, Du verstummst. Nicht wahr, das hast Du von Deinem Heinrich nicht erwartet? Er ist ja so sanft, so gut, kann Niemanden schrecken noch quälen! Wie sie Alle staunen werden: Heinrich Waldenburg rächt sich! Abel erschlägt den Kain!“

„Ich hoffe, Du rächst Dich edel.“

„Wie ein Mann,“ sagte Waldenburg stolz. „Simson begrub nach Delila’s Verrath sich und seine Feinde unter Trümmern, und die Bibel sagt: Er rächte sich in der Kraft des Herrn.“

„Denk’ an Dein Gelübde!“

„Der Welt zu entsagen und nur noch Gott zu denken? Freund, das will ich. Auf Flammenfittigen, heiß wie meine Sehnsucht, will ich mich aufschwingen. Aber sie sollen mit vor den Richter!“

„Welchen wahnsinnigen Gedanken birgst Du?“ fragte Angelo in steigender Angst.

„Weißt Du eine andere Lösung, als unsern Tod?“

„Ja, die Buße!“ rief Angelo. – „Auch wir haben zu bereuen, Freund,“ fuhr er bewegt und dringend fort, „ich mehr als Ihr Alle. Unsere Saat war Lüge, wir ernteten Verrath. Wir wappneten uns mit dem Grauen des Todes, doch nur der Lebende behält Recht.“

„Und so redest Du? Muß ich Dich an jene Nacht erinnern, als ich mich zögernd vom Leben losriß? Wer rieth mir zu dieser Prüfung des Lebens und seines Werths? Wie sprachst Du, da ich schwankte?“

Der gerechte Vorwurf des Unglücklichen zerriß Angelo’s Herz. Er warf sich vor Heinrich nieder und rief: „Fluche mir, Du mein einziger und letzter Freund! Fluche mir, und wenn Erd’ und Himmel Dein Echo werden, ich habe den dreifachen Fluch verdient! Sieh, auf meinen Knieen lieg’ ich vor Dir und bekenne: meine Freundschaft war Dein größter Feind. Ich bin schuld an Deines Weibes Schuld; ich machte Dich namenlos unglücklich. Vergieb mir nicht! Setze Deinen Fuß auf meinen Nacken und verdamme mich. Aber lasse auch mir die Sühnung! Laß mir die Sühnung! Und wenn Dein Weib, wenn Edgar Kieselherzen hätten, ich will sie heute schmelzen. Meine Stimme soll wie einer Mutter Stimme sein, streng und mild, unabweisbar und unwiderstehlich. Meine Reue soll so beredt sein, daß ihnen nur noch Reue begehrenswerth, Reue Seligkeit erscheint. Heinrich! Ihr sollt mich, den stolzen, harten, selbstsichern Mann, weinend, gebrochen, verzweifelnd sehen, und jede Thräne, die ich weine, möge Höllengluth für mich und Balsam für Deine Wunde sein! … Heinrich – schließe mich aus von der Buße; heiß’ mich Hand an mich legen, ehe ich büßte! aber vorher laß mich Euch versöhnen, Euern Irrthum sühnen!“

Der Anblick, die Leidenschaftlichkeit des reuigen Mannes war erschütternd. Einen Augenblick zögerte Waldenburg, doch dann [276] wandte er sich düster ab und sprach: „Es ist zu spät. Wunden giebt’s, die nie vernarben, Kränkungen, die nie vergessen werden. Ich wie Jene, wir können einander nie verzeihen. Wir können auch nicht leben fürder. Deine Schuld am Vergangenen vergeb’ ich Dir. Das Künftige kommt nicht auf Dich … Lebwohl!“

„Ich folge Dir,“ sagte Angelo fest und erhob sich. „Darf ich nicht Dein Retter sein, so will ich Deinen Untergang theilen.“

„Freund, bleibe zurück! Ich gehe den Todesweg.“

„Ich folge Dir wie Dein Schatten.“

„Angelo, hoffe nicht, mich zu überreden, mich zu erschüttern! Wenn Gott selbst vom Himmel mir riefe – ich bin zu tief im Abgrund, ich höre Keinen mehr.“

„Ich hoffe Nichts.“

Sie traten aus der Hütte. Die Schneegipfel schienen feuerdampfende Pyramiden; die Felsen rings standen in dunkelrother Gluth.

„Nun küßte mein schönes Waldenburg die Sonne zum letzten Mal,“ sagte Heinrich leise vor sich hin. „Denn heute werfe ich statt des Schattens rothen Schein. Ich will das Schloß zu ihrem Verlobungsfest hell erleuchten.“

Sie traten die Wanderung an. Durch die öde Wildniß nackter Klippen und Felsennadeln kletterten sie mühsam bergab, bergan. Dann legten sie die weite Strecke grauer Lagen zurück, die mit Geröll bedeckt und von Rinnsalen durchfurcht waren. Rechtsab, jenseits des Strombetts, wie zur Linken sah das Auge steile Gesteinswände, reich an Geklüft und schneeigen Schluchten. Vor ihnen starrte die gigantische Felsenmasse, die Heinrichswand, und nach überklettertem Getrümmer mit Kieferngebüsch standen sie auf dem Steig zur schwindligen Höhe.

Unterdessen war der Abendschein verglüht, nur auf den höchsten Gipfeln zauderte noch ein leiser Farbenhauch; aber schon waltete am Himmel die milde Kraft der nächtlichen Gestirne.

Beide Wanderer hielten jetzt auf einem breitrückigen Steinblock kurze Rast. An ihre Stäbe gelehnt, richteten sie den Blick prüfend empor.

„Kehre zurück, Angelo!“ wandte sich Heinrich nach einer Weile zum Gefährten. „Das Wetter ging über Waldenburg nieder. Drüben an der Thalwand wird der Felsen feucht und schlüpfrig sein. Mich stählt, mich hält meine wilde Sehnsucht.“

Der Andere schüttelte das Haupt. „Ich gebe mich in Gottes Hand,“ erwiderte er.

Ihre Blicke begegneten sich. In ahnungsvoller Bewegung sanken sich Beide an die Brust; doch wechselten sie keine Worte mehr.

Dann stieg Waldenburg voran, und da ein trotziger Gedanke seine Kraft und Kühnheit verdoppelte, ließ er Angelo weit hinter sich. Mit weitgeöffneten Nüstern und wildem Blick klomm er den schmalen Pfad, den der Fels gewährte, empor. Aber trotz seiner Anstrengung kam er auch nur langsam vorwärts. Oft glitt sein Fuß auf dem glatten Gestein zurück, und seine ganze Wucht hielt dann der getreue Stab …

Wo nur noch der Gipfel wie eine Titanenwarte überhing, wand sich der Steig um die Ecke und senkte sich dann steil die Felsenbrust hinab. Die Brücke zur Teufelsmauer erschien dort oben noch ein schwaches Reis, über den entsetzlichen Abgrund gelegt, in dessen tiefster Tiefe der Fluß wühlte.

„Wenn ich zu spät käme!“ dachte Heinrich, als er in der unermeßlichen Einsamkeit der Gebirgsnacht das dumpfe Gezisch des Gewässers vernahm. „Wenn sie geflohen wäre mit Edgar!“ Dieser Gedanke krampfte ihm das Herz zusammen. Aber Angelo’s Wort ging ihm durch den Sinn: „Ich folge Dir wie Dein Schatten.“

„Fort! fort!“ stachelte er sich selber an und klomm, ohne eine Secunde zu rasten, den Hang hinab …

Gerinnsel, das aus allen Spalten des Berges hervorzubrechen schien, machte den Stein glatt, wie geschliffenen Marmor. Jeder Schritt trug Heinrich aus Todesgefahr in neue; ein Fehltritt des vorwärtstastenden Fußes, ein Abgleiten des stemmenden Beins stürzte hier in den Abgrund, in den Tod.

Und schon entdeckte Heinrich, daß die Nervenerregung, während sie ihn Anfangs befeuert hatte, mit der ungeheueren Muskelanstrengung verbunden, in Erschöpfung endigte, die sein ganzes Selbst zu verändern beginnt. So hatte er ungefähr die Hälfte des Wandsteigs hinter sich, als von irgend einer der nächstliegenden Almen ein weiblicher Jodelruf durch die Nachtstille und das Flußrauschen klang …

Ein kurzgestoßenes, vom Echo schwach erwidertes Aufjauchzen! Aber auf Heinrich bewirkt es einen Druck des Bluts in den Gefäßen, wie der donnernde Niedergang einer Lawine. Er steht plötzlich still – er fühlt das Erblassen seiner Wangen, vor den Augen flirrt und kreist es, seine Gelenke werden schlaff und schlotternd, der Stab entsinkt ihm – Er schwindelt! … Verloren! durchzuckt es ihn, und er besitzt nur noch so viel Besinnung, sich langsam auf ein Knie niederzulassen - -

Dann schließt er die Augen.

Aber ein wohlthätiger Schweiß brach ihm aus allen Poren, und die Anwandlung von Ohnmacht ging vorüber. Mit ruhiger kreisendem Blut und rückkehrender Kraft erhob er sich und begann, nun ohne Stab, die letzte Wegeshälfte zurückzulegen. Das Tosen des Bergwassers schlug lauter und lauter an sein Ohr. Doch Heinrich konnte jetzt wieder ohne Schwindel auf den milchweißen Gischt und die Lärche, die aus einem Felsenriß emporschoß, hinabsehen.

„Gott will’s,“ flüsterte er … Er hatte den Steg erreicht, der von Feuchtigkeit im Mond wie Silber glänzte.

Schon setzt er den Fuß auf die geländerlose Brücke, als drüben laut sein Name gerufen wird und Edgar aus dem Fichtengebüsch der Teufelsplatte auftaucht.

„Graf Heinrich Waldenburg,“ wiederholt dieser mit schneidender Stimme. „Denkst Du zum zweiten Mal vom Tode aufzuerstehen?!“

Ein kalter Schauer packt Waldenburg, da er seinen Todfeind so nah sich gegenüber gewahrt. Einen Moment zögert er unschlüssig, aber dann hebt er warnend seine Rechte empor und betritt den schlüpfrigen Steg. Langsam setzt er Fuß für Fuß… In der Mitte hält er und blickt wieder hinüber. Da reißt plötzlich Montigny seine Flinte empor, legt an – Heinrich sieht den blinkenden Lauf auf seine Brust gerichtet, sieht den gewissen Untergang – blitzschnell biegt er sich zur Seite, aber dabei glitscht sein Fuß – er schreit auf und stürzt kopfüber in die Schlucht.

Edgar, der unwillkürlich zurückprallte, hörte unmittelbar nach dem Entsetzensschrei und dem Verschwinden des Mannes ein Knacken im Geäst der Lärche, dann einen dumpfen Fall in’s Wasser, ein kurzes Aufrauschen der Wellen … Der tödtliche Schuß schläft noch in seiner Waffe, dennoch flieht Edgar, flieht entsetzt hinweg, ein Mörder mit unblutiger Hand.

Aber hoch vom Felsen wandelt Angelo, sieht das Opfer, sieht den Fliehenden. Der Stein unter ihm löst sich nicht, sein Fuß gleitet nicht aus; den Berg hernieder und über die Schlucht schreitet er, feierlich, fest, unaufhaltsam, vom Sternenlicht beleuchtet, hinter dem Fliehenden her, wie der Engel der Nemesis. - -




Lustig! lustig! Die Waldenburger schlafen nicht! Hurrah!

Im Adler rufen wieder Flöten und Geigen zum Tanz. Wer eintritt, der hat auf Montigny’s Kosten Essen und Trinken umsonst.

Ein Prachtkerl, der Montigny! Der wird ein anderer Schloßherr, als der Selige. Leben und leben lassen! Da wird’s zu verdienen geben, im Schloß, an den Gästen, die zahllos kommen werden wie nach dem gelobten Land! Die goldene Zeit bricht an.

Die Männer taumeln vor Vergnügen über den Prachtkerl, die Verlobung und den Verlobungswein. „Das gräfliche Brautpaar soll leben, Vivat hoch!“ tönt es bald da, bald dort, an allen Tischen, und die Gläser klirren. Kein Waldenburger, vom reichen Silberbauern bis zum armen Wegmacher herab, der nicht auf Montigny heute schwört, trinkt und hofft. Und wenn die verrückte Kreislerin, die in der Küche sitzt und ein Weinsüpplein bekommt, hin und wieder versichert, daß ihr Heinzi noch lebt, lacht die Adlerwirthin, lachen die Mägde, lachen alle Gäste; das ganze Haus lacht.

Und die Dirnen im Tanzsaal denken an Montigny, während sie mit ihren Burschen, Brust an Brust, sich wiegen und drehen.

Im Schloß sind alle Fenster glänzend erleuchtet, und im Erdgeschoß tanzen die Jäger und Bedienten, Zofen und Hausmägde. Lafleur hält eine „famose“ Rede und trinkt auf das Wohl der Braut, auf das Wohl des gnädigen Herrn. Hurrah Montigny, und Montigny für immer!

In einem Salon, den ein Blumenflor durchduftet und der Kerzenschein von Girandolen und Armleuchtern taghell erleuchtet, sitzen die Gräfin, Baron Aßperg mit seiner Gemahlin und Fanny am silberstrotzenden Tisch. Das Souper ist vorüber – Montigny ließ auch gar zu lange auf sich warten. Die lästigen Diener sind verabschiedet. Die Braut, die Freunde, der Champagner warten [277] auf Montigny. Endlich kommt er, heiß und erregt, jedenfalls lustig erregt. Er entschuldigt sich: das Wetter hat ihn überrascht, der Wendelsteinerwald ihn in die Irre geführt – man muß ihn abholzen, den verwünschten Wald! – Stephaniens Unwille verwandelt sich sofort in Liebe, Freude, innigste Theilnahme. Sie streicht ihm das feuchte Haar aus der Stirn und sagt: „Du Aermster!“ Er soll das Souper nachholen, aber Montigny dankt, er will nur trinken. Zwei, drei Gläser des goldigen, perlenden Weines stürzt er hinab. Ah – das erfrischte! Nun ist er wieder der alte, fröhliche Montigny, nein, fröhlicher, lauter, als man ihn je gesehen.

Seine wilde Lust steckt die Andern an; das Gespräch wird ausgelassen, man klatscht in die Hände und lacht unbändig. Die Gläser klingen; die Damen müssen trinken. Aßperg improvisirt einen Toast. Er wird dafür mit Blumen geschmückt. Stephanie steckt auch ihrem Geliebten eine Rose an die Brust.

„Rosen! Rosen statt Wunden auf der Brust!“ ruft Edgar. „Keine Wunde, kein Blut, das ist die Hauptsache.“

„Treuloser! ist Dein Herz nicht verwundet?“

„O, mein Herz liebt. Liebe aber ist ein Kuß, ein Tanz, ein Flug in’s Blaue! Verwünscht seien die Poeten, die vom Pfeil der Liebe und blutenden Herzen sprechen! Ich will mit dem häßlichen Blut nichts zu schaffen haben.“ Er sprang empor und öffnete weit die Fensterflügel. Musik klang vom Erdgeschoß herauf; aber die Musik im Dorfe klang nicht mehr.

„Musik!“ rief er. „Auch wir wollen Musik.“

Fanny setzte sich an den Flügel und spielte eine rauschende Weise.

Montigny wollte Aßperg um den Hals fallen und umarmte statt dessen die Baronin. Stephanie rief ihn zur Ordnung und erhielt ein Dutzend Küsse dafür.

„Horcht!“ sagte plötzlich der Baron, der sich dem Fenster genähert hatte. Vom Dorf her klang ein verworrenes Rufen, ein wüster Lärm.

„Das Pack prügelt sich,“ erwiderte Montigny, dessen Lippen leise zu zucken begannen. „Trinken wir! Liebstes, bestes Fräulein, noch einen Walzer!“

„Still,“ sagte Aßperg. „Der Lärm nähert sich; die Musik drunten bricht plötzlich ab.“

„Man wird uns ein Hurrah bringen,“ versetzte der Andere ungeduldig. „Bitte, mein Fräulein!“

Das Mädchen beginnt zu spielen, doch bald unterbricht sie sich, denn jetzt hören sie Alle ein dumpfes Stimmengewirr und wiederhallende Schritte, dazwischen das kurze Geheul eines Hundes.

Die Damen werden ängstlich, Montigny blickt leichenblaß. Es ist, als ob er sich Muth zu trinken hätte, so hastig füllt und leert er sein Glas.

Sie sind nun im Schloßhof, den murmelnden Stimmen, den tapsenden Schritten nach viele, viele Leute.

„Man bringt einen Verunglückten,“ sagt Aßperg, den Kopf aus dem Fenster zurückziehend.

„Jesus! Der Kaplan!“ schreit Fanny in Ahnung auf.

„Wie unangenehm!“ spricht die Baronin ärgerlich, und Stephanie ist noch mehr empört, als erschrocken darüber, daß man ihr einen Todten in’s Haus bringt. Montigny sitzt stumm. Er weiß es: sie bringen Ihn ….

Und jetzt schreitet’s und tönt’s die Treppe herauf. Die Flügelthüre wird weit geöffnet; Männer und Frauen drängen sich auf der Treppe, im Corridor. Sie machen scheu dem Priester Angelo und der Bahre Platz, die man langsam emporträgt.

Und die Bahre mit einer entstellten, triefenden Leiche wird in den glänzenden, parfümirten Saal, wird mitten unter die aufkreischende vornehme Gesellschaft gesetzt; Angelo aber tritt an den schlotternden Edgar heran und sagt ruhig, ehern, unwiderleglich mit der Stimme der Nemesis: „Edgar von Montigny, kennst Du diesen Todten?! Ich zeihe Dich des Mordes am Grafen Heinrich von Waldenburg!“




[278] Die seltsame Geschichte war wochenlang das Gespräch der Residenz, Jahre lang der Stoff und das Grauen der Waldenburger. Montigny floh in der verhängnißvollen Nacht über die Grenze. Man hörte nie wieder von ihm; er ist verdorben, gestorben. Die Gräfin Stephanie warf der Schrecken auf das Krankenlager. Nach schwerem Leiden genas sie, blieb aber zeitlebens eine blasse, kränkelnde, der Welt entfremdete Frau. Sie that Vielen Gutes, aber Niemand sah sie fürder lächeln. Auf ihrem Wege lag ein Schatten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sein