Textdaten
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Autor: A. M.
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Titel: Der Rigi des Salzkammergutes
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 572–574
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schafberg im Salzkammergut
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Der Rigi des Salzkammergutes.


Den Wanderer, der am frühen Morgen von Ischl, dem weltbekannten Soolbade und vornehmen Sommerfrischorte in den Alpen des oberösterreichischen Salzkammergutes, ausgezogen ist und längs des gleichnamigen Flüßchens wandert, umfängt bald ein frischgrüner Wald. Das Gras erglänzt von Thautropfen, schöner als ein perlenbedeckter Teppich, würzige Luft weht entgegen, blinkend, schäumend, murmelnd begleitet das Bergwasser den Wanderer, der zuweilen in das Dickicht hineinlauscht, wo die Vögel singen. Nachdem er so auf der Straße gen Salzburg eine Stunde gegangen, sieht er schon einen Zipfel des St. Wolfgangsees; immer großartiger entfaltet sich der landschaftliche Charakter der Gegend, bald zeigt sich ein weiter, azurner Spiegel, von mächtigen bewaldeten Bergen umschlossen. An der Mitte des Sees, wo sich dieser verengert, liegt St. Wolfgang. Es ist ein alter, in den See hineingebauter Marktflecken, dessen gothische Kirche, die aus dem Jahre 1481 stammt, seit uralter Zeit ein Ziel von Wallfahrten ist. In der Pfarrei daneben nahm Kaiser Leopold der Erste während der Belagerung Wiens durch die Türken 1683 seine Zuflucht. Drüben, am westlichen Seeende, schaut mit weißen Mauern St. Gilgen herüber. Nachdem man im Wirthshaus ein gutes Frühstück genommen, thut man gut, in einem Kahn gegen St. Gilgen zu zu fahren. Bald blickt uns die jäh ansteigende graue Falkensteiner Wand entgegen, wo ein merkwürdiges Echo ist. Dann mag man aussteigen und die Anhöhe hinangehen.

Die Falkensteiner Wand war einst gleichfalls ein berühmter Wallfahrtsort und ist es zum Theil noch immer. Dort lebte in gottgefälliger Verwilderung der heilige Einsiedler Wolfgang, jetzt der Schutzpatron der Schafe. Man sieht die in den Stein gehauene Einsiedelei, jetzt eine Capelle, und die Bettstelle des Heiligen in Stein, der sich nach der Form seines Leibes eingedrückt hat. Auch eine besonders gesunde Quelle ist da. Der Gottesmann hat sie durch sein Gebet aus dem Felsen hervorgelockt. Daneben sieht man ganze Mauern aufgeschichteter Steine, von denen manche über einen Centner wiegen mögen. Diese wurden mit monatelanger, vielleicht jahrelanger Anstrengung von Büßern hinaufgerollt, deren Seele sich entlastete, je weiter der Stein kam. Grüne Tannen überschatten, frische Moose umhüllen jene Denkmale eines nur noch in Ueberresten vorhandenen Wunderglaubens.

In der Nähe des wunderlieblich gelegenen St. Wolfgang, wohin wir zunächst zurückkehren, um uns seine alte Kirche mit ihrem herrlichen, kunstreichen Altare zu beschauen, erhebt sich zwar nicht der höchste, doch einer der auch draußen außerhalb Oesterreichs berühmtesten Berge, der Schafberg, den man wohl und nicht mit Unrecht den Rigi der österreichischen Alpen zu nennen

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Der Schafberg.
Nach der Natur aufgenommen von Blumauer.

[574] pflegt. Ihn, dieses erhabene Luginsland, wollte ich heute besteigen. Sobald die Abendkühle herankam, machte ich mich auf den Weg, längs den Hütten, am Wegweiser vorbei; sodann rechts geht’s durch die Wiesen, dann zwischen eingesäumten Feldern, bis man den Wald betritt. Man schreitet über eine Brücke, der voransteigende Führer öffnet ein Gatter um’s andere, Wasserfälle rauschen in die Tiefe. Nach fast zweistündigem Marsch hat man die Dorner Alm erreicht. Vor der großen, unbewohnten Hütte kann man sich auf die Bank niederlassen, ausschnaufen und das heiße Gesicht am Röhrkasten abwaschen. Hier werden schon die zwei Almhäuser des Schafberges sichtbar. Man wandert nun lange durch schattigen Wald, dann führen Stufen in die Höhe, es geht über eine Brücke – der Rückblick ist prachtvoll, grandios, überwältigend.

Wir sind etwas spät aufgebrochen, es dunkelt bereits, das Roth auf den Gebirgsspitzen beginnt zu erbleichen. Der schmale Pfad geht wohl eine Stunde durch’s Geröll und diese letzte Stunde ist beschwerlich. Es mochte halb neun Uhr sein, als ich nach vierthalbstündigem Marsch – von St. Wolfgang aus gerechnet – Schwarzinger’s Gasthaus, das wir auf unserm Bilde beinahe an der Spitze der Halbpyramide erblicken, erreichte: es ist vom Juli an bis tief in den Herbst hinein geöffnet. Vier große Schlafzimmer enthalten jedes vier Betten. In anderen Jahren muß man das Bett voraus bestellen; jetzt aber ist Alles leer von Besuchern, der Krieg ist bis in die höchste Alm hinauf fühlbar. Einst saß ich hier in großer Gesellschaft. Wir hatten Champagner mit, dessen Stöpsel wir lustig knallen ließen, wir kochten Thee, schöne Damen ließen sich den Hof machen, sangen und spielten Cither, dann gingen wir hinaus und ließen, um unsere Ankunft zu verkünden, Raketen steigen, war das eine Lust und eine Freude! – heute bin ich allein und müde suche ich bald das Nachtlager auf.

Am andern Morgen hatte sich das schönste Wetter in das schlechteste verkehrt. Es gießt wie aus Schleußen, der Regen klatscht auf die Steine, von Aussicht ist keine Spur, man kann nicht hinaus, noch viel weniger herunter. Es gilt, sich in Geduld zu fassen, da ich immer noch der einzige Fremde im Hause bin. So gut oder so schlecht es eben ging, vertrieb ich mir die Zeit, denn die Ungeduld wollte weder meine Lectüre, noch mein Schreiben recht gedeihen lassen. Immer von Neuem sah ich nach dem Himmel, immer aber blieb er grau, immer klatschte der Regen fort und fort. Man muß eben schon einmal unfreiwilliger Gefangener in derartigen einsamen Bergwirthshäusern gewesen sein, um die ganze Unbehaglichkeit und Oede des schier endlosen Tages zu begreifen.

Abends tritt ein Junge in die Schenkstube. Er hat einen alten Tirolerhut mit einigen Alpenblumen auf dem Kopfe, einen Regenmantel und kurze bis an das Knie reichende Lederhosen. Er ist ganz naß und gleicht einem Wilden. Er ist aus dem „Moos“. Die Kellnerin macht sich daran, ihn zu examiniren, wie es mit seiner Erziehung steht.

„Mach’s Kreuz!“

Er macht es mit plumpem Daumen.

„Bet’s Vaterunser, kriegst einen Kreuzer!“

Er versucht es, bringt es aber nicht über die ersten drei Bitten hinaus.

„Warum schickt Dich Dein Vater nicht in die Schul’?“

„So viel Grob’s im Wald,“ antwortet der Junge lakonisch.

„Was denn?“

„Nattern!“

In diesem Augenblick bemerkt ein Fleischer, der kurz vorher ebenfalls zum Nachtquartier eingesprochen war, daß dem Jungen die Augenbrauen versengt sind. Mit inquisitorischer Tücke frägt er: „Habt’s ein Pulver bei Euch? Wer schießt denn bei Euch?“

Der Knabe antwortet nicht.

„Bringt wohl der Vater oft ein Wildpret nach Haus?“

Der Knabe, wohl wissend, daß er über diesen häklichen Punkt schweigen soll, schüttelt lächelnd den Kopf. Ich ahne, daß im Hintergrunde dieser Fragen manche Wildschützengeschichte spielt. Wieder suchte ich meine Strohmatratze auf und hatte wenig Hoffnung für den kommenden Tag, denn noch immer gießt der Regen auf das Dach, als ob er die Steine, mit denen es belastet ist, herabschwemmen wollte. Da weckt mich früh ein Klopfen an der Thür und die Stimme der Kellnerin:

„Auf, auf! Es ist hell! Der schönste Morgen!“

Ich kleide mich rasch an und bin bald draußen. Steil und beschwerlich führt ein Weg, dessen Wendungen man wohl beachten muß, vom Wirthshaus bis auf die Spitze, wo die Fahnenstange steht, aber der Lohn ist so herrlich, so groß und überschwänglich, daß man die ersten Minuten, wie von einem überwältigenden Eindruck getroffen, wie aus sich herausgerissen wird. Ein ungeheueres Panorama liegt vor den Blicken des Reisenden. Er befindet sich gleichsam auf einem Felspromontorium, welches nördlich der Mondsee und der fünf Stunden lange Attersee, südlich der Wolfgangsee umschließt. Aber auch der Zellersee, der Trummersee und in weiter Ferne der bairische Chiemsee ist sichtbar.

Das Amphitheater hereinblickender Bergriesen ist ungeheuer. Oestlich dehnen sich der Leonzirken, das Höllengebirg, hinter welchem der Traunstein emporragt, der Dachstein, der Thorstein und der Donnerkogel mit weißen Graten. Daran schließen sich die ungeheuren Radstädter Tauern. Südwärts über dem Wolfgangsee steht die weiße Pyramide des Sperler, stehen die Heiligenbluter Tauern, die Malnitzer Tauern und der Großglockner, der Herzog Ernst und Hohenaar in Steiermark, weiter das Tännengebirge, sodann der zusammenhängende Stock des Berchtesgadener Gebirgs: die übergossene Alm, das steinerne Meer, der hohe Göll, Watzmann, Hochkaltern, Hochkaiser. Westlich zeigt sich der Untersberg, der Staufen, davor der Gaisberg. Neben dem sichelförmig gekrümmten Mondsee sieht man den klaren Fuschelsee blinken. Hinter dem Attersee glänzt Vöcklabruck und dahinter nördlich das lachend grüne Mühlviertel mit seinen die Donau dominirenden Hügeln und Burgen.

Das Bild ist so hehr, so großartig, so wunderbar, daß man sich wie in eine fremde Geisterwelt versetzt fühlt. Erst, nachdem sich das Gemüth einigermaßen beruhigt, stellt man die Frage an sich, wie es denn komme, daß der Blick von einem vergleichungsweise so mäßig hohen Berge – der Schafberg zählt fünftausendsechshundertundzwanzig Fuß über der Meeres-, oder dreitausendneunhundertundzwölf Fuß über der Seefläche – an Umfang und Großartigkeit die Aussicht von vielen Bergkolossen übertreffe? Die Antwort ist diese: Es giebt gewissermaßen Aussichtsberge. Darunter verstehe ich solche, welche weit vorgeschoben unter Vorbergen liegen und dabei relativ die höchsten unter ihren nähern Nachbarn sind.

Zu solchen glücklich gelegenen Bergen zählen die hohe Salve bei Kufstein in Tirol, der Krotenkopf bei Partenkirchen in Oberbaiern, das Nebelhorn im Allgäu, zählt vor allen andern der Rigi in der Schweiz. Sie sind weit vorgeschobene Posten, denen kein mächtiger Gebirgsrücken gegenüber steht, der ihre Aussicht deckt. Sie liegen nur wenig Stunden vom Flachland entfernt, doch, so zu sagen, am Fuße einer majestätischen Alpenwelt, welche von ihnen ab mit zunehmender Rapidität an Großartigkeit gewinnt. Ein solcher Aussichtsberg par Excellence, gut zugängig und doppelt bevorzugt, weil er in einem wahrhaft zauberisch schönen Bergbezirke steht, ist der Schafberg.

Warum aber haben solche Berge keine Nachbarn? Wer ihr mürbes Gefüge, ihre schroffen, durch Felsabstürze gebildeten Abhänge betrachtet, findet es leicht heraus. Sie hatten ehemals Nachbarn und haben sie nicht mehr. Das Zerstörungswerk der Zeit geht in den Kalkbergen mit wahrhaft verheerender Gewalt vor sich. Wasser und Schnee durchsickern das Gestein, machen es mürbe, Lawinen und Gießbäche lösen Schicht um Schicht und werfen sie in die Tiefe. So sind große Partien von Bergen allmählich zusammengebrochen und gleichsam herabgeschmolzen; Vorberge, wie dieser, sind Bergtheile, welche sich aus gewissen Ursachen besser als andere conservirten. Mächtige Kegel, jetzt mit Matten oder Wald bedeckt, lagern am Fuß starr emporragender Felszähne; man denkt, diese seien von allem Anfang da, dem ist aber nicht so. Diese Matten und Wälder überkleiden nur Gerölle und Felsabstürze, welche vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden herabgefahren sind und von deren Ausdehnung sich auf die ehemalige Großmachtstellung dort bestandener Bergriesen zurückschließen läßt.
A. M.