Der Rhone-Gletscher von der Höhe des Grimsels

LXX. Felsentempel bei Ellora in Indien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXI. Der Rhone-Gletscher von der Höhe des Grimsels
LXXII. Brügge in Flandern
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RHONE-GLETSCHER

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LXXI. Der Rhone-Gletscher
von der Höhe des Grimsels.




Die weniger besuchten und gefährlichern Alpenpässe bieten dem Freunde der erhabenen, majestätischen und schaudererregenden Natur einen noch reicheren Genuß dar, als die großen Heerstraßen, auf welchen man jetzt das höchste Gebirge Europa’s mit derselben Bequemlichkeit und Sicherheit, wie eine Ebene, überschreitet. So führt von Luzern über den Grimsel und Gries nach Domo D’Ossola und Italien ein Saumpfad, der nur wenige Wochen im hohen Sommer offen steht, stets beschwerlich, an manchen Stellen gefahrvoll ist, und größtentheils nur von Maulthiertreibern, die den Käse des Oberlandes nach Italien führen, betreten wird. – Von Luzern bis Meyringen (12 Stunden) ist er nothdürftig fahrbar. Vom letztgenannten Städtchen aber wird er zum schmalen Pfade, der das romantische, 3 Stunden lange Ober-Haslithal hinauf geht. Alles ist hier Milde und Ruhe, alles noch Segen und Fruchtbarkeit. Die über dasselbe hingestreuten unzähligen Hütten zeugen von dichter Bevölkerung. Gegen den Ausgang des Thals hin beginnt das Reich des Eises. Der Urbachgletscher steigt zwischen den schönsten Matten herab. Die Aar, an welche sich der Pfad bald rechts, bald links hinzieht, wird von da an brausender, tosender, wilder. Einzelner werden auch die Wohnungen; doch rücken sie noch einmal, dicht an des Hochgebirges Marke, zu einem Dörfchen zusammen, [64] Guttanen geheißen. Es ist der letzte Ort, wo man ein Wirthshaus findet. Gleich hinter dem Dörfchen beginnt die Ersteigung des furchtbar steil sich aufthürmenden Grimsel. Noch auf die Strecke einer Viertelstunde sieht man zuweilen eine kleine Matte mit einer Sennhütte; dann aber ist die letzte Spur von Cultur und Menschen verschwunden. Alle Vegetation hört auf; überall nichts als brauner, starrender Urgranit. –

Der Weg, mit Felsentrümmern bedeckt, läuft beständig an dem Rande der Abgründe hin und wird an verschiedenen Stellen so schmal, daß, während der eine Fuß die Felswand berührt, der andere über der Tiefe schwebt. Das Leben des Reisenden ruht in dem sichern Tritte des Thiers, das ihn trägt. Der geringste Fehltritt stürzte ihn in die Klüfte! An Absteigen ist hier nicht zu denken; dazu fehlt’s an Raum. Nicht selten zieht sich der Pfad an Wänden hinauf, so senkrecht, daß sie das Thier nur mittelst eingehauener Stufen ersteigen kann, welche kaum groß genug sind, darauf zu fußen. Eben so steil geht’s bergab, und dieß ist noch gefährlicher.

Die von der Hochalpe herabdonnernde Aar ist fort und fort des Pfads Begleiterin. Er überschreitet sie wohl zehnmal auf schwindlichen Brücken, die aus einem quer über die Schlucht gelegten, großen, oben platt behauenen Baumstamme, ohne alles Geländer, bestehen. Von Strecke zu Strecke bildet der Strom Cascaden; die prachtvollste ist bei Handeck, einer längst verlassenen Senn-Hütte. Von da sind es noch 2 Stunden zum Nacken des Grimsels. Man braucht aber 5 zum Erklimmen dieser fürchterlichen Strecke, das Höllenfeld genannt. Auf Stufen, im Zickzack, lothrechten Felswänden hinan geht der Weg. Nach 4 Stunden gelangt man zu einem kleinen, von himmelhohen Eisbergen umgebenen Plateau, und mit froher Verwunderung sieht man mitten in dieser graußigen Oede, in einer Höhe von 6000 Fuß, einen kleinen, oft im Hochsommer noch gefrorenen See und daneben ein Gebäude; es ist das Hospiz des Grimsels. Der Hospizwirth, ein Mann aus Guttanen, gewährt Jedem freundliche, unentgeldliche Aufnahme und Labung, deren Kosten eine Gesellschaft durch Subscriptionen, die sie in Genf, Bern, Luzern etc. sammeln läßt, bestreitet. Das Haus ist blos von Ende May bis Mitte August bewohnt; aber das ganze Jahr über unverschlossen und mit einem Vorrath von Brennholz und Kartoffeln in tiefen Kellern versehen. Man weiß nämlich, daß der Grimsel von Schleichhändlern, Gemsenjägern und einzelnen Maulthiertreibern selbst mitten im Winter passirt wird. Die Menschlichkeit berücksichtigt diese Verhältnisse.

Vom Hospiz erklettert man in ¾ Stunden die Scheide des Passes, dessen Höhe 7200 Fuß übersteigt. Nichts ist trauriger, als dieser Weg über und zwischen großen, auf einer Eis- und Schneewüste hingestreuten, schwarzen Granitblöcken und nichts Graußenerregenderes, als die Aussicht von der erreichten Höhe, die ein kleines Plateau ist, dessen Mitte ein tiefer See mit schwärzlichem Wasser, der Todtensee, einnimmt. So weit das Auge reicht, nichts als eine Welt von Alphörnern, Schneefeldern und Gletschern! Nirgends eine Spur nur von Leben. Alles ist Erstarrung. Man steht mitten im Palast des Todes. Ein eisiger Wind, der immerfort auf dieser Höhe saust, hilft das Unerträgliche des Aufenthalts vergrößern. –

Einige 100 Schritte abwärts öffnet sich die Gebirgwelt nach Osten, und der Blick ruht urplötzlich auf einer [65] der grandiosesten Scenen in der Alpenwelt. Vom gegenüberliegenden Punkte steigt nämlich der berühmte Rhone-Gletscher, der größte und schönste der Schweiz, das Ziel so vieler Reisenden, wie ein krystallbepanzerter Riese glänzend und strahlend in das Thal hinab, und deutlich sieht man aus hohen Eisportalen den neugebornen Rhodan, einen kleinen Herkules in der Wiege, zwischen immergrünen Matten[1] dem Süden zurinnen.

Im Geiste möge der Leser ihm durch die mannichfaltigen, an den graußenvollsten, wie an den anmuthigsten und lachendsten Contrasten so reichen Ansichten seiner Gestade nachfolgen, von dem Eispalaste des ewigen Winters, seiner Wiege an, bis zu den reizenden Gefilden, wo der Oelbaum schattet, und duftende Myrthensträuche und Orangenbäume ein immerwährendes Frühlingsleben verkünden. –




  1. Der Rhonequell ist kein Gletscherwasser, sondern ein tief unter dem Eise aus dem Innern des Gebirgs sich hervordrängender Brunnen von außerordentlicher Wassermenge und so bedeutender Wärme, daß der Bach, den er bildet, selbst mitten im Winter nicht zufriert.