Der Rabe (Übersetzung Lachmann)
[70] Der Rabe.
Eines Nachts aus gelben Blättern mit verblichnen Runenlettern
Tote Mähren suchend, sammelnd, von des Zeitenmeers Gestaden,
Müde in die Zeilen blickend und zuletzt im Schlafe nickend,
Hört’ ich plötzlich leise klopfen, leise doch vernehmlich klopfen
„Einer von den Kameraden!“
In dem letzten Mond des Jahres, um die zwölfte Stunde war es,
Und ein wunderlich Rumoren klang mir fort und fort im Ohre,
Sehnlichst harrte ich des Tages, jedes neuen Glockenschlages,
Meine Träume von Lenoren, meinen Schmerz um Leonore,
Um die tote Leonore.
Seltsame, phantastisch wilde, unerklärliche Gebilde,
Schwarz und dicht gleich undurchsicht’gen, nächtig dunklen Nebelschwaden
So daß ich nun bleich und schlotternd, immer wieder angstvoll stotternd,
Murmelte, mich zu beschwicht’gen: „Einer von den Kameraden,“
„Einer von den Kameraden!“
Alsbald aber mich ermannend, fragt’ ich jede Scheu verbannend,
Hub ich an weltmännisch höflich, Sie verzeihen, ich bin sträflich,
Daß ich Sie nicht gleich vernommen, seien Sie mir hochwillkommen,
[72] Hiemit öffnet’ ich die Thüre – nichts als schaudervolle Leere,
Schwarze, schaudervolle Leere.
Fürchtend, harrend, zweifelnd, staunend, meine ganze Seel’ im Ohre –
Doch die Nacht blieb ungelichtet, tiefes Schwarz auf Schwarz geschichtet,
Und das Schweigen ungebrochen, und nichts weiter ward gesprochen,
Als das Eine flüsternd, raunend: das gehauchte Wort „Leonore“,
In mein Zimmer wiederkehrend und zum Sessel flüchtend, während
Schatten meinen Blick umflorten, hörte ich von neuem klopfen,
Diesmal aber etwas lauter, gleichsam kecker und vertrauter.
An dem Laden ist es, sagt’ ich, und mich zu erheben wagt’ ich,
Weiter nichts als Regentropfen.
[73] Und ich öffnete: Bedächtig schritt ein Rabe groß und nächtig
Mit verwildertem Gefieder in’s Gemach und gravitätisch
Mit dem ernsten Kopfe nickend, flüchtig durch das Zimmer blickend,
Ließ er sich gemächlich nieder, saß dort stolz und majestätisch,
Selbstbewußt und majestätisch.
Ob der herrischen Verfahrens und des würdigen Gebahrens
Dieses wunderlichen Gastes schier belustigt, sprach ich: Grimmer
Du bist sicher hochgeboren, kommst du gradewegs von den Thoren
Des plutonischen Palastes? Sag’ wie nennt man dich dort? „Nimmer“
Hört’ ich da vernehmlich: „Nimmer!“
Wahrlich, ich muß eingestehen, daß mich seltsame Ideen
[74] Zweifel vom bizarrsten Schlage, – und es ist wohl keine Frage,
Daß dies wunderlich Begebniß ein vereinzeltes Erlebniß:
Einen Raben zu bewirthen mit solch ominösem Namen,
Solchem ominösen Namen.
Mir kein Zeichen der Beachtung. Lautlos stille ward’s im Zimmer,
Bis ich traumhaft, abgebrochen (halb gedacht und halb gesprochen)
Raunte: Andre Freunde gingen, morgen hebt auch er die Schwingen,
Läßt dich wieder in Umnachtung. Da vernahm ich deutlich „Nimmer“,
Stutzig über die Repliken, maß ich ihn mit scheuen Blicken,
Sprechend: Dies ist zweifelsohne sein gesammter Schatz an Worten,
Einem Herren abgefangen, dem das Unglück nachgegangen,
[75] Nachgegangen, nachgelaufen, bis er auf dem Trümmerhaufen
Jederzeit und allerorten.
Doch der Rabe blieb possierlich würdevoll und unwillkürlich
Mußt’ ich lächeln ob des Wichtes: Aldann mitten in das Zimmer
Einen sammtnen Sessel rückend und mich in die Polster drückend,
Künders göttlichen Gerichtes, über dieses dunkle „Nimmer“,
Dieses räthselhafte „Nimmer“.
Dies und anderes erwog ich, in die Traumeslande flog ich,
Losgelöst von jeder Fessel. Von der Lampe fiel ein Schimmer
Lag ich lange, traumverloren, schwang mich auf zu Leonoren,
[76] Die in diesen sammtnen Sessel nimmermehr sich lehnet, nimmer,
Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer.
Plötzlich ward es in mir lichter, und die Luft im Zimmer dichter,
Mich erwärmend, rief ich: Manna, Manna, schickst du Gott, Hosianna!
Lob ihm, der dir Gnade spendet, der dir seine Engel sendet,
Trink’, o trink’ aus dieser Lethe und vergiß Lenore! „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
Triumphirend ob der Sünder Zähneklappern und Gewimmer –
Hier aus dieser dürren Wüste, dieser Stätte geiler Lüste,
Hoffnungslos, doch ungebrochen und noch rein und unbestochen,
Frag’ ich dich, du Schicksalskünder: Ist in Gilead Balsam?“ „Nimmer“,
[77] „Nachtprophet, erzeugt vom Zweifel, seist du Vogel oder Teufel,
Bei dem göttlichen Erbarmen, lösch nicht diesen letzten Schimmer!
Sag’ mir, find ich nach dem trüben Erdenwallen einst dort drüben
Sie, die von dem Engelschore wird geheißen Leonore?
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
Feind, du lügst, heb’ dich von hinnen, schrie ich auf beinah von Sinnen,
Dorthin zieh’, wo Schatten wallen unter Winseln und Gewimmer,
Kehr’ zurück zum dunklen Strande, laß kein Federchen zum Pfande
Nimm aus meiner Brust die Krallen, hebe dich von hinnen! „Nimmer“,
Krächzte da der Rabe „Nimmer“.
[78] Und auf meinem Thürgerüste, auf der bleichen Pallasbüste,
Unverdrossen, ohn’ Ermatten sitzt mein dunkler Gast noch immer.
Das Gemach, schwillt immer mächt’ger und wird immer grabesnächtger –
Und aus diesem schweren Schatten hebt sich meine Seele nimmer –
Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer. –
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