Textdaten
<<< >>>
Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Proceß Leuthold
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15–17, S. 233–235, 246–248, 264–267
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[233]
Der Proceß Leuthold.
Von Dr. J. D. H. Temme.

Im Canton Zürich lebte noch vor wenigen Monaten der reichste Fabrikenbesitzer der Schweiz; er gehörte zu den reichsten des Continents. Seine Spinnereien verbreiteten sich durch einen großen Theil des Schweizerlandes. Sie sind vor einigen Tagen unter seine Erben vertheilt, und man las da von 150,000 und noch mehr Spindeln.

Sein Vermögen wurde schon bei seinen Lebzeiten zu ungeheuren Summen angegeben. Anderswo hört man im Munde des Volkes von einem sehr reichen Manne oft sagen: „Er ist so reich, daß er selbst sein Vermögen nicht zählen kann.“ In der Schweiz können sie zählen, und der Oberst Kunz, so war der Name des Krösus, gab selbst zum Zwecke der Versteuerung – in der Schweiz schätzt man für die Versteuerung sich selbst ab – sein Vermögen zu sechs Millionen Franken an. Nach seinem Tode stellte es sich zu siebenundzwanzig Millionen heraus. Seine Erben haben, nebenbei bemerkt, den – Rechnungsfehler dadurch wieder gut gemacht, daß sie dem Lande zu wohlthätigen[WS 1] Stiftungen 750,000 Franken schenkten.

Der Oberst Kunz war unverheirathet, auch nie verheirathet gewesen. Er lebte sparsam, vielleicht mehr als sparsam, und man erzählt von ihm, daß er einen Fabrikinspector entließ, weil er den Mann im Weinhause hatte einen Schoppen Wein für 36 Centimes trinken sehen, während er selbst seinen Schoppen nur für 30 Centimes trank; Leute, die so verschwendeten, könne er nicht gebrauchen. Gegen seine fast zahllosen Fabrikarbeiter soll er mitunter hart gewesen sein. Doch werden ihm auch manche Züge von Wohlthätigkeit gegen die Armen nacherzählt.

Er hatte als armer Fabrikarbeiter zu arbeiten und zu wirken begonnen und sein kolossales Vermögen durch Fleiß, durch Sparsamkeit, durch Klugheit und durch Glück erworben. Nie hat man eine Unredlichkeit von ihm behauptet. Daß ein solcher Mann schon bei seinen Lebzeiten der Gegenstand der Neugierde, der Bewunderung, des Geheimnisses, des Aberglaubens im Volke wurde, ist begreiflich.

Er hieß fast allgemein nur der Spinnerkönig, und man erzählte die wunderbarsten Geschichten von ihm. Nach seinem Tode vermehrten sich diese. Er hatte kein Testament hinterlassen, und entferntere Verwandte – ich glaube, vier Neffen – waren seine gesetzlichen Erben. Allerlei Gerüchte wollten diesen lange Zeit die Erbschaft streitig machen. Bald sollte doch noch ein Testament da sein; bald eine plötzlich aufgetauchte Frau; bald gar ein in geheimer, aber rechtmäßiger Ehe geborener Sohn. Wahr war aber nichts davon.

Begreiflich ist auch, daß der Spinnerkönig, gleichfalls schon bei seinen Lebzeiten, zu mancher Speculation dienen mußte. Nicht gegen ihn selbst; – ich glaube, kein Mensch kann sich rühmen, den Oberst Kunz überlistet zu haben – aber Schwindler beschwindelten Andere unter Mißbrauch seines Namens. Einen interessanten Beleg dazu liefert der Proceß Leuthold, der im Januar dieses Jahres (1860) vor den Geschworenen in Zürich verhandelt wurde. Ich erzähle ihn hier. Ich erzähle ihn in seiner Entwickelung vor den Geschworenen, denn er ist reich an dramatischen, psychologischen und juristischen Momenten. Er ist zugleich ein Bild von dem in mancher Beziehung eigenthümlichen Züricher Schwurgerichtsverfahren.

Im Anfang August 1859 war der Oberst Kunz gestorben. Erst mehrere Monate später verbreitete sich das Gerücht, daß sein Name bei seinem Leben und nach seinem Tode von einem verschmitzten Weibe in fast unglaublicher Weise zu einem großartigen Betruge mißbraucht sei. Bei Gelegenheit der Entdeckung und Untersuchung des Verbrechens waren mehrere andere Verbrechen desselben Weibes zur Sprache und Untersuchung gekommen, namentlich eine ganz eigenthümliche Betrügerei gegen einen jungen, hübschen Arzt. Bei dem Betruge durch Mißbrauch des Namens Kunz war der Mann des Weibes Gehülfe gewesen, bei den anderen Verbrechen andere Personen, unter diesen ein hübsches, junges Mädchen, von dem man bisher nichts Nachtheiliges wußte und nur wissen wollte, daß sie gern Männer sähe.

Am 20. und 21. Januar standen die Angeklagten vor dem Schwurgerichte. Es waren ihrer sechs. Sie wurden zusammen in den Gerichtssaal eingeführt. Bevor ich die Verhandlung der Sache erzähle, muß ich einige Bemerkungen über einige Eigenthümlichkeiten des Züricher Schwurgerichtsverfahrens vorausschicken.

Es ist im Ganzen das französische, das sie leider seit einigen Jahren zur Genüge auch in Deutschland haben kennen lernen müssen, mit aller seiner Ostentation von Recht und Schutz der Unschuld, und mit allem Gegentheil in der Wirklichkeit. Es ist hier nur durch einige Modificationen im republikanischen und demokratischen Sinne gemildert, und es findet hier Institutionen und Beamte, die ein Ausbeuten im französischen Sinne nicht zulassen können und nicht zulassen mögen. Auswüchse kommen vor, aber selten. Das eigentliche Schwurgericht besteht nur aus einem Präsidenten und zwei Richtern. Der Präsident ist ein Mitglied des „Obergerichts“ (des obersten Landgerichts); die Richter werden gewöhnlich aus Mitgliedern der Bezirksgerichte oder Ersatzrichtern des Obergerichts genommen. Sämmtliche Richter des Landes werden bekanntlich vom Volke und aus dem Volke und nur auf wenige Jahre gewählt. Sie sind deshalb auch nicht immer Juristen, bei den Bezirksgerichten sogar selten.

Die Geschworenen sind Männer aus dem Volke, wie anderswo. Sie werden kirchengemeindweise gewählt und in öffentlicher Sitzung des Obergerichts durch Ausloosung bestimmt, die gewöhnlich für eine Reihe von Sachen der jedesmaligen Schwurgerichtssitzung gilt. Dauert die Sitzung längere Zeit, so pflegt für jede Woche eine besondere Abtheilung gebildet zu werden. Der Staatsanwalt ist – leider – mit großer obrigkeitlicher Macht ausgerüstet, wie auch anderswo. Aeußerlich steht seine Stellung freilich der des Vertheidigers gleich. Er sitzt in der Schwurgerichtssitzung mit den Vertheidigern in einer und derselben Bank; er vertritt den klagenden Staat, wie diese den Angeklagten. Er hat auch in der öffentlichen Verhandlung um kein Haar breit mehr Rechte, als der Vertheidiger. Er befragt die Zeugen, das thun auch die Vertheidiger. Das englische Kreuzverhör durch die Parteien ist auch hier eingeführt. Der Präsident des Gerichts verhört nur die Angeklagten, aber auch nur er, und so wenig wie ein Vertheidiger, darf auch der Staatsanwalt unmittelbar an einen Angeklagten eine Frage richten.

Eine große Garantie liegt in der großen äußeren Einfachheit der hiesigen öffentlichen Schwurgerichtssitzungen. Keine Spur von Prunk, von gemachter Feierlichkeit, wie die Franzosen das Alles sehr pomphaft eitel zur Schau tragen, und die Deutschen vielfach mit bureaukratischem Hochmuth es ihnen nachmachen. Richter und Staatsanwalt und Vertheidiger, selbst Geschworene, Alles verkehrt in der Sitzung, auch amtlich, ohne alle steifen Formeln, fast wie in einer Privatgesellschaft mit einander. Sie sind ja auch in der Republik Alle einander gleich, und wissen das, und darum kann Keiner suchen, sich über den Anderen überheben zu wollen, und Keiner sucht es. Solche Einfachheit, solcher nahezu vortrefflicher Verkehr läßt auch die Leidenschaft, das falsche Pathos, das gebieterische Einschüchtern der Geschworenen und manche andere anderswo herrschende ähnliche Uebelstände nicht wohl aufkommen. Richter und Staatsanwalt unterscheiden sich von den Anderen nur dadurch, [234] daß sie zu ihrem schwarzen Frack einen Degen tragen. Es soll das aber nicht feierlich sein, es ist nur die alte, in der Schweiz conservirte deutsche Sitte, daß die Männer in den Versammlungen bewaffnet erschienen.

In dem Proceß Leuthold fungirte als Präsident des Schwurgerichts der Oberrichter von Orelli, ein eben so tüchtiger Jurist, wie humaner Mann. Beisitzer waren ein Bezirksgerichtspräsident und ein Bezirksrichter aus dem Canton. Die zwölf Geschworenen waren meist vom Lande, ein paar Bezirksgerichtsschreiber, mehrere Gemeindevorsteher und Gemeinderäthe. Aus der Stadt Zürich war nur ein Particulier da. Die sechs Angeklagten waren und saßen auch so in der Reihe:

Jacob Leuthold, ein Mann von etwa sechzig Jahren, der aber wie ein Siebenziger aussah. Er war früher ein vermögender Mann gewesen, aber ein träger, schlechter, liederlicher Wirth, der Alles durchbrachte, dann Betrügereien machte, mehrmals in’s Zuchthaus kam und im Jahre 1854 seine jetzige Frau, die Hauptangeklagte, heirathete, um mit ihr in Gemeinschaft das Geschäft des Betrügens desto besser fortsetzen zu können. Er war ein hagerer Greis, saß auf der Angeklagtenbank immer unbeweglich und mit einem unbeweglichen, freundlichen und nichtssagenden Gesichte. Man konnte aus seinem Äeußeren während der ganzen Verhandlung nicht entnehmen, ob er in höchstem Grade bornirt, oder ein alter Gauner war, der den Idioten spielt. Der Fall zeigt freilich deutlich genug das Letztere.

Die Frau Leuthold, eine schon bestrafte Betrügerin, 39 Jahre alt, etwas corpulent, von Gesicht schön; der sinnlich stark aufgeworfene Mund trat unangenehm hervor. Ihre Kleidung war einfach; ihre Haltung durch und durch gemacht und berechnet. Am ersten Tage saß sie ununterbrochen still vor sich hin, die Hände über den Knieen gefaltet, die stets niedergeschlagenen Augen unverwandt auf die Hände gerichtet. Man konnte nur einmal in diese Augen blicken, und da sah man denn freilich hell glühende Katzenaugen. Ihr Mann, vom Präsidenten befragt, hatte sich als völlig unschuldig und von seiner Frau ohne sein Wissen zum blinden Werkzeug mißbraucht darstellen wollen. Da hob sie ihre Augen zu ihm auf, kein Wort sprechend, aber mit einem Hohne, mit einer Verachtung und mit einer Bosheit, wie nur ein recht böses Weib ihrer fähig ist. Es war das einzige Mal, daß sie während der zwei Tage, die sie unmittelbar an seiner Seite saß, ihn ansah. Gesprochen hat sie kein Wort mit ihm. An dem ersten Tage war es auch das einzige Mal, daß sie überhaupt aufblickte. Selbst wenn sie dem Präsidenten antworten mußte, erhob sie sich zwar – wie das Gesetz es befiehlt – aber ihr Auge blieb unbeweglich zur Erde niedergesenkt. Am zweiten Tage verfuhr sie anders. Sie blickte freier umher, aber mit der Miene des stillen und tiefen innerlichen Leidens. Man würde an eine Miene der gekränkten Unschuld gedacht haben, wenn sie nicht – in der Hauptsache – schuldig plaidirt hätte. Leidend, sanft, einschmeichelnd und unschuldig war auch ihre Stimme und ihre Sprache, und ruhig und langsam waren ihre Bewegungen. Sie war eine äußerst verschmitzte und gewandte Betrügerin.

Auf sie folgten in der Reihe der Angeklagten die Eheleute Mobiliarhändler Kambli. Beide im mittleren Lebensalter, gewöhnliche Menschen, gewöhnliche Gesichter; der Mann wegen Betrugs schon bestraft.

Die unverehelichte Anna Messerschmidt, ein junges, hübsches Mädchen, „ein hübsches Frätzchen“, wie ihr Vertheidiger sagte; eine Verbrecherin, eine Betrügerin sah man ihr wahrhaftig nicht an. Sie war es auch nicht. Sie ernährte sich als Weißnäherin bei der sechsten und letzten Angeklagten.

Dies war eine Wittwe Suter, Lohnwäscherin, 40 Jahre alt, früher hübsch gewesen, jetzt mager, mit einem Gesichte, aus dem man nicht viel herauslesen konnte. Ihr Ruf sollte kein besonderer sein.

Sämmtliche Angeklagte waren wohnhaft in Zürich. – Der ihnen schuldgegebenen Verbrechen waren fünf, alle als Betrug charakterisirt. Der erste war der durch den Mißbrauch des Namens Kunz verübte. Sein Betrag war zu 14,000 Franken angegeben. Der Betrogene war ein Militair-Instructor aus dem Canton Zürich, Namens Weidmann. Angeklagte waren die Ehefrau Leuthold, und als ihr Gehülfe ihr Mann. Der zweite sollte an dem Silberarbeiter Knecht in Zürich zum Betrage von 1158 Franken verübt sein. Die Frau Leuthold war allein angeklagt. Das Opfer des dritten sollte ein Dr. A. aus dem Canton Zürich sein. Er war als „unbenannter Betrug“ bezeichnet. Theilnehmer waren die sämmtlichen Angeklagten, mit Ausnahme des Ehemanns Leuthold.

Außerdem war die Ehefrau Leuthold allein noch zweier Betrügereien zum Betrage von 300 und 400 Franken angeklagt, die sie unter lügenhaften Vorspiegelungen zweien Aufwärterinnen im Spitale zu Zürich, beziehungsweise dem Gastwirth zum Bären in Bern als Darlehen abgeschwindelt hatte. Dieser beiden letzten war die Angeklagte geständig. Sie kamen daher nach dem Zürcherischen Strafproceßgesetze vor den Geschworenen nicht weiter zur Verhandlung. – Der Betrug gegen Weidmann war der schwerste und wichtigste Fall. Er wurde zuerst verhandelt. Die Ehefrau Leuthold hatte auch hier schuldig plaidirt. Aber ihr Ehemann leugnete. Deshalb die Verhandlung vor den Geschworenen, in der die Frau nur als Zeugin (Kronzeugin im englischen Recht) vernommen werden konnte.

Das Zürcherische Strafverfahren unterscheidet sich von dem französischen (und diesem nachgebildeten neuen deutschen) unter Anderem auch dadurch, daß keine ausführliche Anklage verlesen wird. Das Verbrechen wird von dem Präsidenten des Gericht nur mit wenigen Worten ganz allgemein bezeichnet, nicht mehr, als ich es oben gethan habe. Es wird dann auch nicht der Angeklagte verhört. Es beginnt vielmehr sofort die Vernehmung der Zeugen (durch die Parteien selbst), und erst nach deren Vernehmung hat der Präsident die Verpflichtung, an den Angeklagten Fragen zu richten, hauptsächlich zum Zwecke der Vertheidigung. Die Vorzüge dieses Verfahrens leuchten Jedem ein, der von den leidenschaftlichen, von vornherein auf Captivirung der Geschworenen und moralische Vernichtung der Angeklagten berechneten Anklagen des modernen Verfahrens, sowie von den nur zu oft mit empörender Einseitigkeit vorgenommenen inquisitorischen Verhören der Angeklagten, namentlich durch französische Assisenpräsidenten, nur einmal etwas gehört hat. In Zürich entwickelt der Fall sich dramatisch von selbst, ohne alle jene Uebelstände.




1. Betrug gegen Weidmann.

Der Damnificat, Jacob Weidmann, wurde zuerst als Zeuge aufgerufen. Verheirathet, Vater von fünf Kindern, lebte er in dem Dorfe Unter-Embrach, ein paar Stunden von Zürich, in bescheidenen Vermögensverhältnissen, als Landmann und zugleich als Militair-Instructor (Exercirmeister – Unterofficier). Der Mann war auf eine unglaubliche Weise, durch die plumpsten Mittel von der Welt um 14,000 Franken betrogen, um sein ganzes Vermögen. Er war mit Frau und Kind Bettler geworden. Alles war gespannt auf seine Erscheinung. Ein großer, magerer Mann in mittleren Jahren trat ein, mit einem feinen Gesicht, stillem, anspruchslosem Wesen. Welch ein Contrast gegen stolze, ihrer Würde bewußte Unterofficiere anderswo! Aber auch den entsetzlich dummen Betrogenen sah man ihm nicht an. Im Gegentheil, das prüfende Gesicht, das aufmerksame Auge schien recht gut jeden Fehlgriff der Rekruten sehen, jeden Knopf an der Uniform zählen zu können. Warum hatte er der Betrügerin gegenüber so schlecht gesehen und gezählt? Die Habsucht vermag die Menschen arg zu verblenden.

Er erzählte ruhig, wie sein Wesen war. Im Herbst 1858 besuchte er einmal seine Schwester. Diese war an einen Landmann, Namens Boller, verheirathet. Die Eheleute Boller wohnten im Balgrist, unweit Zürich. Er traf bei ihnen eine arme Frau, die sehr leidend war, und klagte, sie sei lange im Spital zu Zürich gewesen, die Aerzte hätten ihr aber nicht helfen können. Er fragte seine Schwester, wer die Frau sei. Es sei eine arme Frau, war die Antwort, die von der Armenbehörde bei ihr, der Schwester, in Kost gegeben sei. Es war die Frau Leuthold. Weidmann sprach damals nicht weiter mit ihr. Aber zu Fastnacht 1859 kam er wieder zu seiner Schwester, und nun erzählte ihm diese, sie werde sehr glücklich werden, jene arme Frau habe zur Belohnung für die Krankenpflege ihr 500 Franken, ihrer Tochter ein Clavier und jedem ihrer Kinder ein einschläfiges Bett und noch mehr versprochen. Woher das Alles? Die Frau Leuthold stehe mit dem Obersten Kunz in Verbindung.

Der Name Oberst Kunz hatte ausgereicht, die Frau Boller zu verblenden. Er hatte auch den Weidmann verblendet. Ob er [235] da nicht auch etwas abbekommen könne? Er sagte es zwar nicht vor den Geschworenen, aber gewiß hatte er mit der Schwester so gesprochen. Nach einiger Zeit, im Mai, kam die Frau Leuthold in einem Wagen bei ihm in Embrach angefahren. Mit ihr waren die Eheleute Boller. Es war an einem Sonntag. Sie blieben zu Mittag da. Vor Tisch erzählte die Frau Boller, auch er, der Weidmann, solle glücklich werden. Der Oberst Kunz wolle ihm „einen Gewerb“ (eine Besitzung) schenken, der mindestens 15,000 Franken werth sein müsse. Nach Tisch fragte die Frau Leuthold selbst den Weidmann, ob er nicht „einen guten Gewerb“ wisse, der zu verkaufen sei; es sei für ihn selber. Weidmann zweifelte. Aber die Leuthold versicherte, sie sage nichts als die Wahrheit, der Oberst Kunz sei zwar geizig, aber er sei „Präsident der Freimaurer“, und die Freimaurer seien unendlich reich, die hätten über zweitausend Millionen Franken, und der Herr Oberst habe das Geld für die Freimaurer an brave Leute zu vertheilen und auch von ihm, dem Weidmann, gehört. Und Weidmann glaubte. Er sah sich noch an dem nämlichen Tage in der Nachbarschaft nach einem „Gewerbe“ um, und theilte das Resultat der Leuthold mit. Von da an war es mit dem Mann vorbei. Der Teufel der Habsucht hatte ihn gefangen und verblendet, obgleich seine eigene Frau fortwährend zweifelte und ihn fortwährend warnte.

Schon am nächsten Donnerstag kam die Leuthold wieder angefahren. Sie war allein. Sie traf zuerst nur die Frau Weidmann. Sie las dieser einen Brief vor, den ihr der Oberst Kunz geschrieben habe. Der Oberst versprach darin dem Weidmann 70,000 Franken; vorläufig aber sollte dieser monatlich 120 Franken bezahlen. Der Oberst hoffe nicht, daß Weidmann sein Glück mit Füßen treten werde. Was das heißen sollte? Die Frau Leuthold forderte von der Frau Weidmann 100 Franken, und als die Frau die nicht geben wollte, 80, und dann 60. Und wozu? Ein anderer hätte dem Herrn Obersten nur 5 Franken geben sollen, er habe es aber nicht gethan und darauf von dem Herrn Obersten nichts erhalten, denn dieser habe sich überzeugt, daß der Mann nicht „freigebig“, und also nicht brav sein könne. Die Frau Weidmann wolle sich dennoch auf nichts einlassen. Aber zu Mittag kam Weidmann nach Hause und er gab her, er gab sogleich die vollen 100 Franken, zu denen er die Hälfte in der Nachbarschaft leihen mußte. Er wollte nur als ordentlicher Mann einen Handschein. Allein: „das dürfe nicht sein, sonst sei alles umsonst; er dürfe auch keinem Menschen ein Wort davon sagen; er dürfe nicht einmal wissen, wozu das Geld bestimmt sei.“

Und vier Tage später war die Betrügerin schon wieder da, um Geld zu holen und zu empfangen. Sie brachte diesmal einen Brief des „Obersten Kunz“ an Weidmann selbst. „Werthgeschätzter Herr Weidmann,“ schrieb der Oberst und Besitzer von siebenundzwanzig Millionen an den Exercirmeister, „ich danke Ihnen ehrerbietigst für die empfangenen 100 Franken.“ Er verspricht ihm dann „ein schönes Heimwesen“ (Besitzthum) zu 70,000 Franken, um Zürich herum: er werde selbst nach Embrach kommen und das Geld bringen. Für heute aber müsse Weidmann der Frau Leuthold 50 Franken oder etwas mehr geben, je mehr, desto besser. Es dürfe aber Niemand davon wissen. „Dem Verlangten entgegensehend, grüßt Sie freundschaftlich Kunz, Oberst.“ Der Brief war bei den Acten und wurde verlesen. Die Frau Leuthold erhielt die 50 Franken. Aber schon am nächsten Tage mußte sie wieder Geld haben, und jetzt hatte sie einen anderen Vorwand. Der Oberst Kunz habe eine Tochter, die in Morgenthal krank liege und nur durch Geld gesund werden könne, das von einem braven Manne komme. All das eigene Geld des Obersten könne nicht helfen. Sie forderte nur 35 Franken, und Weidmann gab sie. Schon nach wenigen Tagen war sie abermals bei ihm. Die 35 Franken hätten nicht gewirkt, weil Jemand (seine Schwester, die Frau Boller) zugegen gewesen, als er sie hergegeben habe. Sie forderte und erhielt 150 Franken.

Auch die hatten jedoch nicht gewirkt, „weil es Wirthschaftsgeld gewesen sei; sie müsse anderes Geld haben.“ Sie forderte 250 Franken. Freilich ließ ihm der Oberst Kunz dafür zu dem „schönen Heimwesen“ noch „12 einschläfige Betten“ versprechen, und das Heimwesen sei auch schon für ihn gekauft, es dürfe das nur noch Niemand wissen, und es sei der bestimmte Wille des Herrn Obersten, daß Weidmann sich nicht länger als Instructor plage. Leuthold gab die 250 Franken, ging dann zu seinem Bataillonscommandanten und forderte seinen Abschied als Instructor, „er wolle keinen Dreck mehr stampfen.“

[246] Zu der fingirten Krankheit der fingirten Tochter des Obersten Kunz trat unterdeß die wirkliche Erkrankung des wirklichen Obersten Kunz, und damit eine neue doppelt ergiebige Bezugsquelle für die Frau Leuthold.

Der Herr Oberst selbst sei krank geworden, kam sie zu dem Weidmann, und mit der Tochter wolle es immer noch nicht besser werden, und auch der Herr Oberst könne nur durch das Geld anderer braver Leute gesund werden, und je mehr gegeben werde, desto bester sei es für den Obersten und den Geber. Und sie erhielt von dem gläubigen Weidmann am 9. Juni 130 Franken, am 11. 600 Franken, am 19. 250, am 25. 250, und am anderen Tage nochmals 250, indem sie ihm schrieb, das Geld sei nicht an sie übergekommen und sie habe gehört, daß es an eine andere Frau Leuthold abgegeben sei, indeß werde der Herr Oberst Alles tausendfach ersetzen. Am 2. Juli mußte er wieder 250 Franken schicken und am 9. 400. Das Geld hatte gewirkt, aber noch nicht völlig, weil es noch nicht genug gewesen sei. Einmal hatte es gar nicht wirken können. Sie hatte mit dem Gelde zugleich einen Vierling Zwetschen gefordert, und Weidmann hatte vergessen, diese mitzuschicken. Weil er sie nicht geschickt habe, sei der Kranke nicht besser geworden, schrieb sie ihm.

Und nun forderte sie auch keine bestimmte Summe mehr. So viele hundert Franken er schicke, schrieb sie ihm das nächste Mal, so viele Jahre könne ihr gemeinsamer Wohlthäter, der Herr Oberst, noch leben. Und Weidmann schickte mit Einem Male 300 Franken und erhielt dafür einen Brief, in welchem es hieß: „O, welche Freude! O, welche entzückende Freude! Aber auch welches Erstaunen! Der Herr Oberst kann jetzt noch 30 Jahre leben! Herzlichen Dank vom Herrn Oberst und der ganzen Familie.“

Freilich mußte er acht Tage nachher wiederum 600 Franken schicken, und sie schrieb ihm dafür (am 19. Juli), sie habe das Geld sofort dem Herrn Obersten gegeben, und sobald er es in die Hände genommen, habe er wieder reden können, und seine ersten Worte seien gewesen: „O Du lieber Weidmann, wie kann ich Dir das je ersetzen?“ dabei seien „ihm die Freudenthränen aus den Augen gelaufen.“

Allein im Anfang August war der Oberst Kunz todt. Alle Zeitungen verkündeten es, alles Volk redete davon. Und die Frau Leuthold schrieb an Weidmann: „Mit weinenden Augen und tiefbetrübtem Herzen melde ich Euch, daß unser Freund und Wohlthäter selig im Herrn entschlafen ist. O, welch’ trauriger Bericht! Unser Wohlthäter ist entschlafen! Wenn Ihr aber noch Etwas thun könnt, so wird er wieder lebendig!“ Es müßten aber wenigstens 600 Franken sein, setzte sie hinzu. Und Weidmann schafft die 600 Franken an – er hatte schon längst bei Verwandten, Freunden und Nachbarn borgen müssen – und sendet sie dem Weibe. Es war aber nicht genug. Nach wenig Tagen schrieb sie ihm wieder, „mit weinenden Augen und betrübtem Herzen“, wie ihr gemeinschaftlicher Wohlthäter feierlich „nach der Ruhestätte geführt sei, Blumen auf seinem Sarge gelegen und in sein Grab gestreut worden, und wie man ihn einbalsamirt“ habe. Aber er werde ihnen wieder geschenkt werden; nur seien 1800 Franken nöthig. Weidmann schickte die 1800 Franken. Am 2. September zeigte sie den Empfang des Geldes an, forderte aber neues, dann werde der Herr Oberst ihnen ganz gewiß bald wieder geschenkt werden. Weidmann hatte nicht gleich geschickt. Am 8. September schrieb sie schon wieder „in großer Trauer, in letzter Nacht wäre unser Wohlthäter uns wieder geschenkt worden,“ wenn – Weidmann das Geld geschickt hätte. Der „Herr Oberst habe nur einen Nervenschlag, aber es werde je später, je böser.“ Tausend Franken müßten wieder da sein, und Weidmann schickte dieselben und erhielt darauf einen Brief von ihr, am nächsten Sonntag Abend neun Uhr sei’s, wo der Wohlthäter ihnen werde wieder geschenkt werden. Die Freunde des Hauses „stehen schon an seinem Grab, um ihn aus der Erde in Empfang zu nehmen.“ Sie würden am Montag Alle zu Weidmann nach Einbrach kommen.

Sie kamen zwar nicht, aber ein Brief traf ein, daß der Oberst wirklich vom Tode erwacht, jedoch noch äußerst schwach sei, und zu seiner völligen Wiederherstellung neuer Gelder bedürfe. Der zum Wahnsinn verblendete Mann schickte sie, und schickte sie bis in den November hinein, täglich den bald völlig wiedergenesenen Obersten Kunz, dessen Erwachen vom Tode das tiefste Geheimniß bleiben müsse, und mit demselben die Erstattung alles von ihm Hergegebenen und die versprochene Belohnung von 70,000 Franken erwartend.

Der Unglückliche wurde endlich selbst wegen Betruges zur Untersuchung gezogen. Er hatte viele Tausende für die Betrügerin zusammenborgen müssen und hatte dabei den wahren Grund nicht angeben dürfen, sondern andere, falsche Vorspiegelungen gemacht. Er konnte nicht zurückzahlen, war so dem Strafgesetze verfallen, und dabei kam erst heraus, wie elendig er betrogen war und noch immer betrogen wurde, und die Gerichte setzten den Betrügereien des schändlichen Weibes ein Ziel.

Das Alles erzählte der unglückliche Mann in der Schwurgerichtssitzung mit großer Fassung, obwohl er mit Frau und fünf Kindern zum Bettler geworden war, und mit voller Offenheit und Wahrheit. „Ob es denn menschenmöglich gewesen sei,“ wurde er gefragt, „solchen unsinnigen Lügen nur ein oder zwei Mal Glauben zu schenken und nur einen Centime darauf hinzugeben, geschweige über ein halbes Jahr lang in siebenundzwanzig verschiedenen Malen sich 14,000 Franken abschwindeln zu lassen?“ „Die Bollers (sein Schwager und seine Schwester) hätten es ja auch geglaubt,“ meinte er, „und der Reichthum des Obersten Kunz sei bekannt gewesen, und an die Freimaurer dachte er auch.“ Was er nicht sagte, wessen er sich wohl nicht einmal bewußt war, das war, daß das Mysteriöse dem Menschen überhaupt so leicht imponirt, und daß die Leidenschaft den Aberglauben weckt, und keine mehr, als die Habsucht.

Die Angeklagte Leuthold hatte während seines ganzen langen Verhörs die Augen nicht aufgeschlagen, keine Bewegung gemacht; auch in dem freundlichen, imbecillen Gesichte ihres Mannes hatte sich kein Zug verändert. Die beiden Betrüger saßen wie taube Menschen da.

Nach Weidmann wurde seine Frau vernommen. Es war eine gewöhnliche, beschränkte Bauersfrau. Aber wie ihr Mann äußerlich ruhig war, so war sie heftig erbittert, ingrimmig. Haß und Wuth kochten in dem Innern der armen Frau gegen die Leuthold, durch die sie so tief elend geworden war, und was in ihr kochte, mußte sie gegen das schlechte Weib aussprudeln und ausstoßen. Fast ein Drittel ihrer Antworten richtete sie nicht an den Fragenden, sondern in Haß und Zorn gegen die Angeklagte. Sie ballte die Fäuste gegen das Weib und verfluchte sie. Das war ihr Recht, und es war Gerechtigkeit, es ihr nicht zu wehren. Sie bestätigte die Aussagen ihres Mannes, sie hatte nicht geglaubt und den Mann gewarnt. So versicherte sie, und sie mochte es jetzt wohl selbst so meinen. Aber sie gestand doch auch, daß sie Angst gehabt habe, daß ihr Mann so viel Geld von dem Obersten, dem Präsidenten der Freimaurer, und eigentlich für nichts, erhalten solle; sie habe gefürchtet, er werde dafür etwas unterschreiben müssen. „Was?“ wurde sie gefragt. „Nun, sich dem Teufel verschreiben!“ Ja, dem Teufel hatte er sich verschrieben, dem Teufel der Habsucht! Die Eheleute Leuthold blieben auch gegen sie taub und blind.

Die Eheleute Boller aus dem Balgrist wurden noch als Zeugen vernommen. Sie bestätigten gleichfalls die Aussagen des Weidmann und zeigten sich als sehr einfältige Leute. Man hätte dennoch, nach den Angaben des Weidmann, zuweilen den Verdacht einer Mitschuld mit der Leuthold gegen sie fassen können, zumal da sie mit dieser dem Weidmann zugeredet, und da die Leuthold während der Betrügereien noch längere Zeit bei ihnen gewohnt hatte. Ein eigenthümlicher Zwischenfall sollte jeden solchen Verdacht vollständig vernichten. In den Schwurgerichtssaal kam die Kunde einer gegen die Eheleute Boller selbst ganz neuerdings verübten und mit der eben verhandelten im genauen Zusammenhange stehenden Betrügerei. Der Betrüger war, wenn ich nicht irre, am Abend vorher verhaftet und an demselben Morgen, während der Schwurgerichtssitzung, bei der städtischen Polizei verhört worden.

Der Präsident des Schwurgerichtes ließ auf die Mittheilung [247] sofort den Beamten der Polizei, der das Verhör geleitet hatte, in den Sitzungssaal als Zeugen eintreten, und es ergab sich aus seiner Mittheilung Folgendes: In der Woche vorher war zu den Eheleuten Boller ein Fremder gekommen, hatte sich als einen Freund ihres Verwandten Weidmann vorgestellt und ihnen anvertraut, die Leuthold habe von dem Weidmannschen Gelde 40,000 Franken „verkochet“ (vergraben); die Kapuziner in Rapperschwyl könnten das Geld heben; es gehöre aber Geld dazu, ob sie es daran setzen wollten? Etwas von dem Schatze habe er schon, 6400 Franken; er wolle sie ihnen in Versatz lassen, wenn sie ihm das Geld für Hebung des Ganzen gäben. Die Leute borgten 210 Franken zusammen und gaben sie dem Betrüger, der ihnen dafür ein schweres verschlossenes Kästchen zurückließ. Sie schickten ihn in ihrem Glauben zugleich an den (Mitangeklagten) Mobiliarhändler Kambli, von dem die Leuthold gleichfalls Geld geliehen hatte. Kambli aber überlieferte ihn der Polizei. Das Kästchen enthielt Steine und Straßenschmutz. Der Betrüger hatte gestanden.

Die Beweisaufnahme über den Betrug gegen Weidmann war damit dem Wesen nach beendet. Der Präsident befragte sofort den Ehemann Leuthold. Die Frau Leuthold schied für den Fall aus; sie hatte schuldig plaidirt. Der Mann war der Theilnahme angeklagt, dadurch, daß er die sämmtlichen oben genannten und während der Vernehmung der Zeugen verlesenen Briefe geschrieben habe. Er erkannte an, daß er die Briefe geschrieben, aber er leugnete, irgend etwas von dem betrügerischen Thun und Treiben seiner Frau gewußt zu haben; er habe die Briefe willenlos abschreiben müssen, „sonst hätte sie mich verzehrt.“ Sie sei immer „wüst“ gegen ihn gewesen. Sie habe mit Geistern geflüstert und ihn dann weggeschickt. Er habe geglaubt, daß sie viel Vermögen vom Obersten Kunz habe. „Hochgeachteter Herr Präsident, hochgeachtete Herren! ich bin von meiner Frau und von Weidmann hinter’s Licht geführt worden.“ Hier war es, wo seine Frau, zum ersten Male aufsehend, ihm den Blick voll Hohn und Verachtung zuwarf.

Daß die Frau entschieden das Regiment geführt hatte, wurde noch durch zwei Mägde, die im Hause gedient hatten, bestätigt. Sie selbst leugnete es auch nicht. „Er hat mich geschlagen, ich habe ihn geschlagen,“ sagte sie zwar als sie dann aber gefragt wurde: „Wer hat im Hause regiert?“ antwortete sie ohne Zögern: „Ich!“ Trotzdem stand ihm entgegen, daß er ungeachtet aller Verstellung, ein alter, abgefeimter, oft bestrafter Betrüger war; daß er vor seiner Heirath seine Frau als Zuchthäuslerin gekannt; daß sie später aus Armenmitteln ernährt worden; daß sie in Folge ihres Verkehrs mit Weidmann, also auch der von ihm geschriebenen, stets Geld fordernden und den Empfang von Geld anzeigenden Briefe, auf einmal in den Besitz von vielem Gelde gekommen, mit ihm eine eigene Wohnung gemiethet, diese elegant eingerichtet, Mägde gehalten und gar luxuriös gelebt habe.

Seine Verurtheilung durfte unbedenklich erwartet werden, und wurde allgemein erwartet. Es konnte sich nur fragen, ob ihm der ganze erschwindelte Betrag von 14,000 Franken werde zugerechnet werden. Das Züricher Strafgesetzbuch stuft die Strafe des Betrugs nach dem höheren oder geringeren Betrage desselben verschieden ab.




2. Betrug gegen den Silberarbeiter Knecht.

Die Frau Leuthold wollte von dem Gelde, das sie von dem armen Weidmann erschwindelt hatte, auch gut, selbst elegant leben. Unter Anderem schaffte sie sich eine Menge Luxusgegenstände an. Namentlich entnahm sie im Sommer und Herbst (1859) von dem Silberarbeiter Knecht in Zürich goldene Uhren, goldene Ketten, Bracelets, Brochen u. s. w. zu bedeutenden Beträgen. Sie bezahlte jedesmal gleich baar. An, 3. November kaufte sie wieder bei ihm für 1158 Franken, aber ohne zu bezahlen, sie versprach schriftlich Zahlung zu Martini, also in acht Tagen, wo ihre Zinsen eingingen. Knecht creditirte unbedenklich der Frau, die er nach dem Vorhergegangenen für reich hielt. Er erhielt aber zu Martini kein Geld, erkundigte sich nun näher nach den Leuthold’s, erfuhr, daß sie „Lumpenpack“ seien, und begab sich zu der Frau Leuthold in ihre Wohnung, sofortige Bezahlung oder Zurückgabe der gekauften Waare fordernd. Sie suchte ihn anfangs hinzuhalten, als er aber nicht wich, schrieb sie ein Billet, schickte es fort und gab ihm nach einer Viertelstunde die sämmtlichen gekauften Sachen zurück, und zwar noch in derselben Verpackung, in der sie sie von ihm erhalten hatte.

Der Zeuge Knecht – Damnificat konnte man ihn nicht nennen, weil er nicht den geringsten Schaden erlitten hatte – trug selbst die Sache mit vielem Humor so vor. Seine Aussage wurde ergänzt durch das Zeugniß eines in der Nähe der Frau Leuthold wohnhaften Specereihändlers. Von diesem hatte die Frau Leuthold im November ein Darlehn von 600 Franken entnommen, unter Verpfändung jener Waaren. Einige Tage nachher hatte sie mit einem Billet die 600 Franken ihm zurückgeschickt und dafür die Pfänder zurück erhalten.

Die Frau Leuthold gab die vorgetragenen Thatsachen zu, wollte aber den von der Staatsanwaltschaft angeklagten Betrug um 1158 Franken nicht darin finden. Sie habe weder die Absicht gehabt, den Knecht zu betrügen, noch sei sie unvermögend gewesen, ihn zu bezahlen. Der beste Beweis sei, daß sie Geld gehabt habe, die Sachen sofort einzulösen. Sie habe sich nur nicht auf einmal von dem Gelde entblößen wollen. Hätte sie die Absicht zu betrügen gehabt, so würde sie die Sachen verkauft, anstatt versetzt haben.

Das Zürcherische Strafgesetzbuch faßt zwar (im § 239) den Begriff des Betruges sehr weit auf: „Jede zum Nachtheil der Rechte eines Anderen absichtlich unternommene Täuschung, sie mag durch Erzeugung eines Irrthums oder durch unerlaubte Vorenthaltung oder Unterdrückung der Wahrheit geschehen, ist Betrug.“

Gleichwohl glaubte man hier, da weder eine absichtliche Täuschung anzunehmen sei, noch eine Rechtsverletzung vorliege – Knecht selbst hatte sich befriedigt erklärt – ein Nichtschuldig der Geschworenen erwarten zu dürfen.




3. Betrug gegen den Dr. A.[1]

Die Leuthold, als sie zu Gelde gekommen war, wollte alle ihre Liebhabereien befriedigen, und sie hatte deren mancherlei. Unter anderen suchte sie junge Männer an sich zu ziehen, und besonders hatte sie es auf junge Aerzte abgesehen. Sie fingirte zu dem Zwecke allerlei Krankheiten, am liebsten solche, die kein Arzt kannte und erkennen konnte. Sie ließ sich so nach und nach, in wenig Monaten, von fünfzehn Aerzten aus Zürich und Umgegend behandeln. Alle zogen sich alsbald von ihr zurück, nachdem sie den eigentlichen Zweck des wollüstigen Weibes erkannt hatten.

Nur Einer hatte bei ihr ausgehalten, und sie suchte ihn dauernd an sich zu fesseln. Dazu wählte sie ein eigenthümliches Mittel, das freilich der Staatsanwalt als Betrug ansah.

Sie nahm von der Straße ein ihr völlig fremdes Mädchen, gab es gegen den jungen Arzt für ihre reiche Tochter aus und verlobte es mit ihm, Alles unter allerlei, zum Theil romantischen Zuthaten. Unter Anklage wegen dieses Betruges standen: sie, die Leuthold, das junge Mädchen, Namens Anna Messerschmidt, und die Eheleute Kambli mit der Wittwe Suter, die in Zuführung, Ausputzung etc. des jungen Mädchens, und also zu dem verübten Betruge geholfen haben sollten.

Der Betrogene war der Doctor der Medicin A. Das Publikum urtheilte schon vor der Verhandlung anders, ja strenger über ihn, als über die Angeklagten. Er habe um des schlechten Weibes und der leichtfertigen Person willen eine brave Braut sitzen lassen, hieß es; er habe mit dem Weibe wohlgelebt; er habe sich theure Geschenke von ihr machen lasten, und es werde in der öffentlichen Verhandlung noch manches Andere zum Vorschein kommen. Ein solcher Mensch wolle sich als einen Betrogenen darstellen?

Der sogenannte Betrogene selbst mochte gleichfalls wohl fühlen, daß von Betrug gegen ihn nicht viel die Rede sein könne, daß er eigentlich nur gefoppt und zum Narren gehalten sei. Als er als Zeuge vernommen werden sollte, war er nicht da. Dagegen ging ein ärztliches Zeugniß ein, daß er an einem Augenübel leide, durch welches er verhindert werde, das Zimmer zu verlassen.

In dem ganzen Schwurgerichtssaale herrschte augenblicklich eine große Entrüstung. Die sämmtlichen Vertheidiger der fünf Angeklagten erhoben sich einmüthig zu unverhohlener Bezeichnung einer solchen Simulation und zu dem Antrage, unter allen Umständen den Mann in die Schwurgerichtssitzung zu schaffen. Man habe ihn gestern oder vorgestern noch frisch umhergehen sehen; dagegen habe es schon vor mehreren Tagen geheißen, daß er am [248] Schwurgerichtstage krank sein werde; ein leichtes Augenübel, sogar mit bedenklichem Anschein, könne Jeder, zumal ein Arzt, sich leicht künstlich machen. Die Richter zogen sich zurück, um über die Anträge zu entscheiden. Sie faßten die richtige Entscheidung: die Sitzung würde für heute (es war der erste Tag) aufgehoben, um den Zustand des Zeugen amtlich feststellen zu lassen und danach das Weitere zu befinden. Die Versammlung ging in großer Aufregung auseinander. Wird der Dr. A. erscheinen müssen? das war die einzige Frage, die man hörte.

Früh am anderen Morgen waren Saal, Gebäude und Hof des Gerichts schon wieder gedrängt voll Menschen. Alles war in der gespanntesten Erwartung, für den Augenblick nur, ob der Dr. A. erscheinen werde. Er war plötzlich die, wenigstens momentane, Hauptperson geworden, gegen die sowohl die Angeklagten, wie der arme Weidmann in den Hintergrund traten. Warum? Das Rechtsgefühl des Volkes machte sich geltend. Jeder hatte, nach Allem, was man gehört, das lebendige Gefühl, daß, bestätige sich durch die Verhandlung das Gehörte, gegen den Mann, wenn er auch nicht auf der Anklagebank, sondern auf dem Zeugenstuhle sitze, ein Strafact der sittlichen Volksgerechtigkeit erfolgen müsse und erfolgen werde.

Aber mußte der Zeuge das nicht selbst einsehen? Hatte er es nicht schon eingesehen, als er durch die Allen nur als fingirt erscheinende Krankheit sein Ausbleiben entschuldigen ließ? War er nicht jetzt doppelt lächerlich gemacht und compromittirt, wenn er erschien? Und konnte man ihn zum Erscheinen zwingen? Ein Vorführungsbefehl gegen ihn war allerdings zulässig; aber eine vorherige Verhaftung des Zeugen gestattete das Gesetz nicht. Wer konnte ihn halten, wenn er in der Nacht, selbst vor der amtlichen Untersuchung seines vorgegebenen Augenübels, sich auf und davon machen wollte?

Er erschien.

Die Vertheidiger der fünf Angeklagten hatten durch ein eigenthümliches Mittel ihn zu halten gewußt. Zu seiner Verhaftung oder auch nur Observirung lag für das Gericht keine Veranlassung vor. Die Vertheidiger ließen auf ihre eigene Hand seine Wohnung bewachen. Gewalt war ihm übrigens nicht angethan. Er erschien, und auch, was allgemein erwartet war, sollte sich erfüllen.

Ich habe in meiner langen und reichen kriminalistischen Praxis selten einem Verhöre beigewohnt, das ein so hohes psychologisches Interesse gewährt hätte, wie das dieses Mannes. Es war ein wohlgewachsener, kräftig gebauter junger Mann, dieser Zeuge. Auch seine Gesichtszüge schienen hübsch zu sein. Man konnte sie indeß nicht genau unterscheiden. Er trug eine schwarze Binde über den Augen, besonders dem rechten, das krank war oder krank sein sollte. Später, während seiner mehr als zweistündigen Vernehmung, verschob er in Verwirrung und Aufregung die Binde zwar oft, aber sein Gesicht war jetzt wahrhaft nicht schön. Er trat natürlich mit Befangenheit ein. Diese wich aber bald. Der Staatsanwalt befragte ihn zuerst, als Damnificaten und Belastungszeugen, und im Interesse der Anklage lag es nur, von ihm solche Thatsachen zu erhalten, die zum Nachtheile der Angeklagten gereichten. Das andere ging die Vertheidiger an. So wurde er bald unbefangen, immer mehr, zuletzt erzählte er lachend, scherzend. Es war das freilich die beste Art und Weise, das Lächerliche der Rolle, die er gespielt hatte, den Zuhörern weniger zum Bewußtsein zu bringen.

Als darauf aber die Vertheidiger an die Reihe seiner Vernehmung kamen, und nun Schlag auf Schlag immer mehr Thatsachen angeregt, ihm vorgehalten und abgefragt wurden, die zuerst das Lächerliche der Rolle; die man ihn hatte spielen lasten, dann aber gar das Unwürdige seines Benehmens in dieser Rolle an den Tag brachten, ihm selbst und dem Publicum: da kam mehr und mehr eine ungeheure Angst über ihn, das Gefühl seiner inneren und seiner äußeren Vernichtung, und der Zeugenstuhl war ihm härter, als eine Anklagebank, er war ihm ein Marterstuhl.

Er erzählte: Er war im Sommer 1859 nach Zürich gekommen, als Assistent eines Züricher Arztes. Als solcher hatte er die Frau Leuthold behandelt. Er hatte sie regelmäßig besucht, er hatte ihr Sorgfalt gewidmet. Sie wollte ihm dankbar dafür sein. Sie machte ihm Anträge, ihr Schwiegersohn zu werden. Sie habe eine Tochter aus erster Ehe, erzählte sie ihm, Barbara Zollinger, die sei hübsch und reich. Der Oberst Kunz sei ihr Pathe (Götte), wohl auch noch mehr, wie sie zu verstehen gab. Von dem Obersten habe die Babette schon jetzt ein Vermögen von dreißig Millionen Franken. Der junge, vermögenslose Arzt ging auf den Antrag ein. Er sah bei der Frau Leuthold Wohlhabenheit, Eleganz, Luxus. Sie sprach ihm viel vor von ihrem Reichthum und von ihrer Verwandtschaft und anderen Verbindungen mit dem Obersten Kunz. Er glaubte ihr, der wissenschaftlich gebildete, in der Welt erfahrene Arzt ganz, wie der beschränkte Exercirmeister in dem abgelegenen Dorfe. Wie diesen ein „Heimwesen“ und 70,000 Franken, so blendeten jenen eine hübsche Braut und 30,000,000 Franken. Freilich waren auch noch andere Unterschiede da.

[264] Nachdem Dr. A. mit der Mutter einig war, erhielt er durch diese ein Schreiben von der Tochter. Sie hielt sich zu ihrem Vergnügen bei einem Verwandten, Amtmann Hotz, in Bern auf, hieß es. Von da schrieb sie. Sie dankte ihm für die Sorgfalt, mit der er ihre Mutter behandle, wünschte ihren Dank ihm mündlich aussprechen zu können und bestellte ihn auf einen bestimmten Tag gegen Mitte [265] nach dem Bade Heinrichsbad bei St. Gallen. Er antwortete ihr, wie ihr entgegenkommendes Wohlwollen ihn rühre, und daß er an dem bestimmten Tage in Heinrichsbad sich einfinden werde. Er reiste mit der Frau Leuthold hin. Babette war aber nicht da. Man wartete drei Tage vergeblich auf sie. Am dritten traf endlich ein Brief an die Mutter von ihr ein, sie könne unmöglich kommen, weil ihrem Verwandten Hotz 80,000 Franken gestohlen seien.

In Zürich erhielt er dann bald nachher selbst einen Brief von ihr, des zärtlichsten Inhalts. „Theuerster Herr Doctor!“ Er möge ihr Ausbleiben im Heinrichsbade nicht falsch auslegen. In ihrem Inneren glühe es von Freundschaft, die an Liebe grenze. Sie habe nie geglaubt, daß die Sehnsucht nach einem theuren Freunde sie so quälen könne. Sie hoffe ihn bald zu sehen. „Verzeihen Sie meine zuvorkommende Gesinnung. Ihre Barbara Zollinger.“ Zärtliche Antworten folgten hin und her.

Zuletzt gegen Ende September kam eine Einladung nach Bern, in den Gasthof zum Bären. Dr. A. reiste mit der Frau Leuthold hin. Babette war aber wieder nicht da, und die Leuthold ging in ihre Wohnung allein, sie zu holen; A. mußte im Gasthofe zurück bleiben. Die Leuthold kam allein zurück, die Babette habe nicht mitkommen können; es sei ein junger Doctor da, der Absichten auf sie habe, und von dem sie sich nicht habe losmachen können. A. und die Leuthold blieben dennoch drei Tage zusammen in dem Gasthofe und lebten wohl. Am dritten Tage schickte sie ihn nach Thun, wohin sie mit der Tochter nachkommen werde; er mußte dort wieder um mehrere Tage warten. Endlich kam die Leuthold mit der Geliebten; es war ein hübsches, elegant gekleidetes junges Mädchen. Sie blieben die Nacht in Thun und fuhren am andern Tage nach Aeschi; dort wurden die jungen Leute bald einig, und es fand die Verlobung statt.

Die junge Braut mußte dann aber sofort verreisen, in Erbschaftsangelegenheiten nach Uster, wie man ihm sagte, wo im August der Oberst Kunz gestorben war, der Pathe der Braut „und noch mehr“. Sie reiste mit der Mutter ab; A. aber wurde nach Interlaken bestellt, wo er die Braut bald wiederfinden werde; sie kam zwar nicht, statt ihrer aber traf die Frau Leuthold wieder ein, und die Beiden blieben wieder beisammen. Die Babette werde in Bern zurückgehalten. Erst nach einiger Zeit langte endlich auch die Braut an, aber sie mußte bald in ihren Erbschaftsangelegenheiten wieder fort; A. und die Leuthold blieben allein in Interlaken zurück, und lebten da wohlauf und vergnügt im Hotel Ritschard, einem Gasthofe ersten Ranges; A. ließ sogar einen Freund hinkommen, in dessen Gesellschaft sie dann Reisen in dem schönen Berner Oberlande machten. Das lustige Reiseleben setzten A. und die Leuthold fort, nachdem der Freund sie wieder verlassen hatte, drei Wochen lang im Ganzen. Die Braut kam nicht zu ihnen zurück, obwohl mehrere telegraphische Depeschen von verschiedenen Seiten sie jedesmal vergeblich anmeldeten.

Als endlich Mitte October A. nach Zürich zurückkehrte, erfuhr er dort, daß eine Babette Zollinger gar nicht existire, daß die Leuthold gar keine Tochter habe, und daß die Person, die ihm als solche vorgestellt worden und mit der er sich verlobt, eine Weißnäherin Namens Anna Messerschmidt aus Zürich sei. Von wem er zuerst die Aufklärung erhalten hatte, erinnere ich mich nicht mehr ganz genau; entweder war es die Wittwe Suter, bei der die Messerschmidt wohnte, oder diese war es selbst. Die Suter behauptete nachher bei ihrer Vernehmung, sie sei es gewesen, und eine Confrontation hat darüber nicht stattgefunden. Gewiß ist, daß auch die Messerschmidt bei der ersten Gelegenheit, da er sie wieder sah, ihm Alles offen und aufrichtig bekannt hatte.

A., nachdem er von der mit ihm gespielten Komödie – oder wollen wir es einstweilen noch mit der Staatsanwaltschaft als Verbrechen des Betrugs bezeichnen? – Kenntniß hatte, wurde von der Leuthold nach Aarau bestellt, wo er dann unter der Drohung, er werde sie sonst mit ihrer ganzen Sippschaft einsperren lassen, von dem Weibe, die er noch immer für reich hielt, eine Entschädigung forderte. Sie stellte ihm ohne Schwierigkeit einen Schuldschein von 10,000 Fr. aus.

Das war im Wesentlichen die Aussage des Dr. A. auf die Befragung des Staatsanwalts. Er hatte sie, wie gesagt, vielfach leicht, lächelnd, selbst scherzend abgegeben. Das sollte anders werden. Das Kreuzverhör der Vertheidiger mit ihm begann.

„In welchem Verhältnisse,“ wurde er zuerst befragt, „er mit der Anna Messerschmidt geblieben, nachdem ihm schon Alles entdeckt sei?“ Der Vertheidiger der Messerschmidt las dabei einen Brief vor, den er, A., am 27. October an sie geschrieben, und in dem es hieß: „Geliebte Anna, ich berichte Dir, daß ich morgen um zehn Uhr nach Baden reise, um zu sehen, wie Wort gehalten wird. Ich hoffe, daß Du Schritte für Deinen Paß gethan hast, wie ich für den meinigen. Sei unverzagt und bleibe treu; zweifle nicht an mir, der ich Dich liebe“ u. s. w.

Seine Antwort sagte Folgendes: Er hatte ihr Alles verziehen. Er hatte sie selbst für betrogen gehalten. Er verlobte sich von Neuem mit ihr und redete mit ihr ab, daß sie zusammen nach Amerika gehen wollten, da er doch hier einmal in eine „schandvolle Lage“ gekommen sei. Darum jener Brief und die Besorgung der Pässe. Das war zu der Zeit, als er die Schuldverschreibung über 10,000 Fr. von der Leuthold hatte und diese noch für reich hielt. Als aber darauf die Leuthold wegen des Weidmann’schen Betrugs in Untersuchung gerieth und nun ihre Verhältnisse bekannt wurden, da brach er auch das mit dem Mädchen kaum wieder angeknüpfte Verhältniß wieder ab, und er konnte, trotz der „schandvollen Lage“, in die er hier gerathen war, hier in seiner bisherigen Stellung als Assistenzarzt verbleiben.

„Ob er schon früher verlobt gewesen?“ wurde er gefragt. Er mußte Ja sagen. Er war seit Jahren mit einem braven Mädchen in seiner Heimath verlobt gewesen. Er hatte das Verhältniß aufgelöst, als ihm eine gemeine Betrügerin die erste beste Person zuführte, unter der Vorspiegelung von Geld, unter eben so frechen wie lächerlichen weiteren Vorspiegelungen und Schwindeleien. Er hatte das Verhältniß aufgelöst, ohne einen Grund angeben zu können, obwohl von Freunden ermahnt und verwarnt, ja obwohl –

„Auf wessen Kosten er seine Studien vollendet und sein Doktorexamen gemacht habe?“ fragte ihn der Vertheidiger.

Der Vater seiner Braut hatte ihm, der keine Mittel besaß, 900 Fr. dazu hergegeben. Er mußte es selbst sagen vor dem Gericht, vor den Geschworenen, vor allen den Leuten. Und er hatte diese Braut verlassen, unglücklich gemacht, das Geld hatte er nicht zurückerstattet, konnte er nicht zurückerstatten. Ein Gemurmel der Entrüstung erfüllte den Gerichtssaal.

„Wußte die Messerschmidt von dem Verhältniß zu Ihrer Braut?“ fragte der Vertheidiger. Es war die Zeit gemeint, da A., nach Mittheilung des Betrugs, sich zum zweiten Male mit der Messerschmidt verlobt halte.

Der Zeuge mußte „Ja“ antworten.

„Und was that sie?“

„Sie wollte zurücktreten.“

Und die Messerschmidt saß auf der Anklagebank, und er auf dem Zeugenstuhle! Aber freilich, eine andere Anklage, als der Staatsanwalt gegen ihn anstellen konnte, hatte schon gegen ihn begonnen und wurde immer weiter geführt, und die Strafe ereilte ihn schon während und mit dieser Anklage.

„Wie lange die Reise mit der Frau Leuthold und theilweise der Messerschmidt nach Thun, Interlaken und weiter in das Berner Oberland gedauert habe?“ fragte ein anderer Vertheidiger.

„Drei Wochen.“

„Ob die Reise viel Geld gekostet?“

„Zwölfhundert Franken.“

„Wer das Geld bezahlt habe?“

„Die Frau Leuthold.“

Sie waren auf den Eisenbahnen in der ersten Classe gefahren; sie hatten in den Gasthöfen ersten Ranges logirt. Sie hatten sich nichts abgehen lassen, meist der Herr Doctor mit der Frau Leuthold allein. Sie hatte ihm eine vollgespickte Börse zum Bezahlen der Reisekosten übergeben. Er hatte ihren Leibarzt und Reisemarschall gemacht, und noch mehr. So war das Geld des armen Weidmann verpraßt, der unterdeß schon angefangen hatte, mit Weib und Kindern zu hungern, um die Geld- und Lustgier des nichtswürdigen Weibes noch immer mehr befriedigen zu können. Freilich der Teufel der Habsucht hier und da!

„Ob ihm die Leuthold nicht auch Geschenke gemacht?“ fragte wieder ein anderer Vertheidiger den A.

Er mußte es einräumen; er hatte von der Frau erhalten: neue Kleider, Tabatieren, goldene Hemdknöpfe, zwölf feine Battisthemden, Foulards, einen goldenen Ring, eine silberne Cigarrenspitze, baar Geld, zusammen über 1000 Fr. werth. Ein Theil [266] war ihm im Namen der Messerschmidt übersandt worden, wenn er in deren Namen Briefe erhielt.

In dem Gerichtssaale verbreitete sich das Gerücht, der Zeuge habe sogar die Frechheit gehabt, gerade in der Kleidung hier vor Gericht zu erscheinen, die er von der Leuthold zum Geschenk angenommen habe.

„Von wem der Rock sei, den er da trage?“ fragte ihn ein anderer Vertheidiger.

„Von der Frau Leuthold,“ mußte er antworten.

„Auch die Beinkleider?“

„Ja.“

„Ich habe genug,“ sagte der Vertheidiger, und nur Blicke der Verachtung trafen den Zeugen.

Er hätte auf die letzten Fragen nicht zu antworten brauchen, aber er hatte den Kopf verloren unter der Wucht, mit der ihn vernichtend die sittliche Strafe des Volksgerichts traf. Mit dem Gefühle seiner Vernichtung verließ er den Zeugenstuhl und den Saal.

Nach ihm wurden noch ein paar andere weniger erhebliche Zeugnisse erhoben. Dann begannen die Vernehmungen der Angeklagten über den Fall.

Die Frau Leuthold räumte die ihr zur Last gelegten Thatsachen ein, fand aber kein Verbrechen darin. Sie wollte die ganze Sache mit den Eheleuten Kambli verabredet haben; die Frau Kambli habe ihr auch die Anna Messerschmidt als brauchbare Person zugewiesen. Im Kambli’schen Hause sei die Messerschmidt für ihre Rolle instruirt, angekleidet und aufgeputzt worden, die Frau Kambli selbst habe noch Sachen dazu zusammengeholt. Er, der Kambli, habe die telegraphischen Depeschen nach Interlaken besorgt.

Die Eheleute Kambli bestritten, von dem Plane und der ganzen Komödie der Leuthold irgend etwas gewußt zu haben. Die Frau Kambli wollte ihr auch die Messerschmidt nicht zugewiesen haben; das sei von der Witwe Suter geschehen, bei der die Messerschmidt gewohnt und die eine Jugendfreundin der Leuthold sei. Die übrigen Bezichtigungen der Leuthold räumten beide Eheleute Kambli ein, aber sie wollten nicht gewußt haben, um was es sich handle; die Leuthold habe ihnen vielmehr nur gesagt, es handle sich um eine Commission, die die Messerschmidt bei vornehmen Leuten ausrichten solle.

Die Frau Suter wollte von gar nichts wissen; sie gab nur zu, daß sie die Leuthold in ihrer Jugend gekannt, und daß die Messerschmidt bei ihr gewohnt habe und jetzt wieder bei ihr wohne. Sobald sie – wie ich meine, von dieser selbst – die Geschichte erfahren, habe sie dieselbe von der Fortsetzung abgemahnt, und auch sie habe zuerst den Dr. A. über Alles aufgeklärt.

Die Messerschmidt bekannte offen die ganze Komödie oder Betrügerei. Die Leuthold habe sie aber erst auf dem Wege nach Bern unterrichtet, mit folgendem Vorgeben: Sie habe eine Tochter in Bern, mit dieser wolle sie einen armen jungen Mann, den Dr. A., glücklich machen; sie, die Messerschmidt, solle einstweilen die Rolle dieser Tochter spielen, bis es ihr, der Leuthold, gelungen sein werde, das Verhältniß ihrer Tochter zu einem reichen Manne, mit dem sie verlobt sei, zu trennen. Die Messerschmidt hatte, zugleich gegen das Versprechen, daß auch sie glücklich gemacht werden solle, die Rolle, in der sie nichts Verbrecherisches fand, übernommen. Sie hatte dem A., der ihr ebenfalls gefallen, und dessen frühere Verlobung sie erst später erfahren, schon in Thun und Interlaken Alles entdecken wollen, die Leuthold hatte sie aber keinen Augenblick mit ihm allein gelassen. In Zürich hatte sie ihm nachher sogleich Alles mitgetheilt. Die Messerschmidt mochte ein leichtsinniges Mädchen sein; sie war unverkennbar ein ehrliches und gutmütiges Geschöpf. Sie machte einen günstigen Eindruck, man interessirte sich fast allgemein für sie.

Nach den Vernehmungen der Angeklagten folgten die Plaidoyers des Staatsanwalts und der sämmtlichen Vertheidiger über alle zur Verhandlung gekommenen Verbrechen. Die Reden waren geschickt, leidenschaftslos; einzelne Vertheidiger redeten meisterhaft. Der Präsident gab ein bündiges, klares, völlig unparteiisches Resumé; er verlas dann die von den Geschworenen zu beantwortenden Fragen.

Eine der nichtsnutzigsten, verwirrendsten und schädlichsten Proceßinstitutionen ist das System der Fragestellung an die Geschworenen in dem französischen Strafprocesse. Es ist in die deutschen Strafproceßgesetze übergegangen. Anstatt, wie es die Natur des ganzen Geschworeneninstitutes nothwendig mit sich bringt, und wie es auch im englischen Processe geschieht, die Geschworenen einfach die Frage beantworten zu lassen: ob der Angeklagte des angeklagten Verbrechens (Mord, Diebstahl, Betrug u. s. w.) schuldig sei, wird die That, die das Verbrechen bilden soll, in möglich viele einzelne Momente, Thatsachen und Thatsächelchen zerlegt, mit allen möglichen Einschachtelungen, Alternativen, Eventualitäten, Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien, daß oft den Richtern selbst und den Staatsanwälten und Vertheidigern wüst und wirr darüber im Kopfe wird, und die Geschworenen gar nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Da werden oft achtzig bis hundert solcher Fragen ausgestellt, wo eine einzige zureichte und in England zureicht. Das nennt man Recht, und es geschieht, damit den Geschworenen, den Volksrichtern, ja nicht zu viele Macht eingeräumt werde. Der alte Napoleon wußte wohl, was er that, als er den Franzosen das Scheinbild eines liberalen Strafprocesses gab.

Das Züricher Strafproceßgesetz hat jenes einfache und richtige englische System der Fragestellung aufgenommen. Den Geschworenen wurde über jedes der einzelnen verhandelten Verbrechen nur eine Frage vorgelegt.

Sie gingen in ihr Berathungszimmer. Das Publicum war wesentlich nur in einer Beziehung auf ihr Verdict gespannt. Ueber den Hauptbetrug, – an Weidmann verübt, – hatten die Geschworenen gegen die Hauptverbrecherin, – Frau Leuthold, – kein Verdict abzugeben; daß der Ehemann Leuthold werde für schuldig erklärt werden, bezweifelte man nicht; es konnte sich nur fragen, bis auf welchen Betrag; die Frage war untergeordnet.

Der Knecht’sche Fall hatte nur ein theoretisch-juristisches Interesse, und richtig bemerkte ihr Vertheidiger, in Beziehung der Leuthold sei es gleichgültig, ob sie den Fall auf ihre ohnehin schon große Rechnung nehmen müsse oder nicht, es komme aber auf das Recht an.

Mit großem, allgemeinem Interesse wurde aber der Entscheidung des sog. Betrugs gegen den Dr. A. entgegengesehen, bei dem zugleich vier, außerdem straflose Personen betheiligt waren. Das Züricher Strafgesetzbuch faßt zwar, wie oben bemerkt wurde, im §. 239 den Begriff des Betrugs sehr weit auf, und es rechnet unter denselben ausdrücklich im §. 256 als „unbenannten Betrug“: „Vergehen, welche zu keiner der in diesem Gesetzbuche besonders benannten Arten des Betruges gehören, allein unter die Bestimmungen des §. 239 fallen, sollen mit der Strafe derjenigen Art belegt werden, mit der sie, nach dem Ermessen des Richters, am meisten verwandt sind.“ Und als solcher unbenannter Betrug war die That angeklagt.

Allein der §. 239, der danach der zuletzt entscheidende bleiben soll, fordert immer eine zum Nachtheil der Rechte eines Anderen unternommene Täuschung, und da fragte sich denn mit Recht Jeder, welches Recht des Dr. A. denn in Nachtheil oder nur in Gefahr gebracht worden sei. Die Vertheidiger gingen alle möglichen Rechte des Mannes durch. Daß ein Vermögensbetrug nicht vorliege, habe die Staatsanwaltschaft selbst anerkannt, indem sie eben auf unbenannten Betrug geklagt habe; auch habe klar der Dr. A. keinen Vermögensschaden, vielmehr mancherlei pecuniäre Vortheile bei und von der Geschichte gehabt. Auch ein Betrug in Bezug auf den Familienstand habe nicht stattgefunden. Das Gesetz erfordere dazu rechtswidrige Veränderung oder Unterdrückung des Familienstandes eines Menschen. Möglicherweise könne man daran hier nur bezüglich der Messerschmidt denken, die sei ja aber Angeklagte und nicht Beschädigte. Wolle man etwa speciell eine betrügliche Verleitung zur Ehe annehmen? Weder die Leuthold, noch die Messerschmidt, noch irgend ein Anderer habe nur im Entferntesten ernstlich daran gedacht, den A. mit der Messerschmidt zu verheirathen. Die Leuthold habe nur den jungen Mann an sich fesseln und mit ihm allein ungestört und in Freuden ein paar Wochen in der Welt umherreisen wollen; die Anderen hätten nur an einen Scherz gedacht. Welches Recht des Dr. A. sei dann verletzt? Sein Leben, seine Gesundheit war nicht in Gefahr. Seine Keuschheit? Oder vielleicht seine Ehre? Es sei ein schlechter Scherz, eine heillose Posse mit ihm gespielt. „Wenn aber für alle Männer, denen das passirt, eine Criminalklage erhoben werden soll, dann müssen wir uns hier permanent erklären.“ Habe wirklich die Ehre des Dr. A. gelitten, so habe er sie selber vernichtet. Er habe sich roh, gemein, habsüchtig benommen; er habe seine Braut, die Jugendfreundin, verlassen, um Millionen zu heirathen; als es mit den Millionen nichts geworden, habe er sich [267] an die 10,000 Fr. gehalten und der Messerschmidt die Ehe versprochen, um auch sie wieder sitzen zu lassen. Gewiß schütze der Staat auch ideale Güter, aber der Dr. A. habe nur sich selbst entehrt; und die Genossen dieser Selbstentehrung säßen auf der Anklagebank? Es bleibe erdenklich nur ein Recht auf Wahrheit übrig. Ein solches Recht gebe aber das Leben nicht, mithin könne das Gesetz es nicht durch Strafe schützen. Es sei schön, wenn alle Menschen nur die Wahrheit sagen möchten. Aber jeden Lügner zu einem Criminalverbrecher machen? Ueberdies verlange das Gesetz zum Betruge ausdrücklich eine Täuschung zum Nachtheile fremder Rechte; also neben der Wahrheit noch eine besondere Rechtsverletzung.

Der Vertheidiger der Messerschmidt hatte für diese noch besonders hervorgehoben, daß sie in keiner Weise auch nur unanständig bei der Sache sich benommen habe, sowie daß sie auch bisher in gutem Rufe gestanden.

Die Geschworenen beriethen lange und kehrten mit folgendem Verdicte zurück:

„Der Ehemann Leuthold sei schuldig der Theilnahme des Betrugs gegen Weidmann, jedoch nur zu einem Betrage von 100 bis zu 800 Fr.

„Dir Ehefrau Leuthold sei schuldig des Betrugs gegen Knecht und gegen den Dr. A. (Der anderen Betrügereien hatte sie sich selbst schuldig bekannt, die Geschworenen hatten daher kein Verdict darüber.)

„Anna Messerschmidt sei schuldig der Theilnahme an dem Betruge gegen den Dr. A.“

Die drei anderen Angeklagten, die Eheleute Kambli und die Wittwe Suter, wurden nichtschuldig erklärt. In dem Saale gab sich vielfache Ueberraschung kund. In Betreff des Dr. A.’schen Falles hatte man überhaupt kein Schuldig erwartet, am wenigsten gegen die Anna Messerschmidt, unzweifelhaft die auch moralisch am wenigsten Compromittirte auf der Anklagebank, weit weniger, als die drei nicht schuldig Befundenen. Und gerade sie hatten die Geschworenen ausgesucht! sagte man.

Staatsanwalt und Vertheidiger plaidirten noch über das Strafmaß. Der Staatsanwalt beantragte gegen die Frau Leuthold zwölf Jahre Zuchthausstrafe. Das Weib hatte bis dahin ihre unerschütterliche äußere Ruhe bewahrt. Die Aussicht auf eine so schwere und lange Strafe versetzte sie in große Aufregung; sie konnte lautem und heftigem Weinen und Schluchzen nicht gebieten. Ihr Mann blieb nach wie vor freundlich und stumpf.

Psychologisch interessant war das Benehmen der Anna Messerschmidt. Sie hatte während der ganzen zweitägigen Verhandlung sich sehr ernst, ehrbar, bescheiden und äußerlich ruhig benommen. Nur als ihr Vertheidiger in seiner Rede hervorhob, daß sie die Unverdorbenste und am meisten zu Berücksichtigende in der Gesellschaft auf der Anklagebank sei, mußte sie lange und bitterlich weinen. Die Verkündigung des Wahrspruchs der Geschworenen hörte sie dann wieder äußerlich ruhig an; als sie darauf aber das Weinen der Frau Leuthold hörte, brachen auch ihre Thränen wieder hervor, und sie wurde erst wieder ruhig, als der Präsident des Gerichts ihr Strafurtheil verkündete. Sie war zu vier Wochen einfachem Gefängniß verurtheilt, worauf jedoch drei Wochen unverschuldeter Untersuchungsarrest angerechnet wurden, so daß sie nur noch acht Tage zu verbüßen hatte. Eine so geringe Strafe hatte sie wohl nicht erwartet. Die helle Freude stieg ihr in das Gesicht.

Der Ehemann Leuthold wurde zu achtzehn Monaten Gefängniß verurtheilt; er hörte es mit seinem vollen Gleichmuth an. Die Frau Leuthold erhielt eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Sie wurde abgeführt, indem sie laut heulte. Mitleid begleitete sie nicht aus dem Saale.

Das Bedürfniß anderer Richter über die verbrecherische Schuld, als der von der Regierung angestellten und abhängigen ständigen Richter, hat sich vielfältig, auch in deutschen Ländern, gezeigt. Wo gar diese Richter unter dem Damoklesschwerte moderner Disciplinargesetze stehen, da ist das Bedürfniß in der That ein unabweisbares, wenn nicht das Recht und alles Vertrauen zu der Rechtspflege vernichtet werden sollen. Ich kenne aber kein bedenklicheres Surrogat für solche ständige Richter, als das moderne französisch-deutsche Geschworeneninstitut.

In der Schweiz, namentlich in Zürich, ist dieses Institut mehr der englischen Jury nachgebildet. Ich habe es hier dennoch immer mindestens für Luxus gehalten, da hier die Richter sämmtlich, vom untersten bis zum obersten, von und aus dem Volke, von dem gesammten Volke und aus allen Classen des Volkes, und nur auf wenige Jahre gewählt werden. Der Proceß Leuthold hat in meiner Ansicht mich – nicht irre gemacht.

Aber eins hätte ich beinahe vergessen. Der Mitangeklagte Kambli, der, wie bemerkt, schon früher bestraft worden, war damals auch auf mehrere Jahre zur Strafe der „Eingrenzung“ verurtheilt, einer Art von Stellung unter polizeiliche Aufsicht, so daß er ohne polizeiliche Erlaubniß die Grenzen seiner Kirchgemeinde nicht überschreiten durfte. Diese Eingrenzung bestand noch, als er im October v. J. Nachricht erhielt, daß es mit der Leuthold nicht ganz richtig stehe. Er hatte damals der Leuthold Geld geliehen; sie befand sich gerade in Bern, und um sein Geld zu retten, reiste er schleunigst nach Bern, ohne vorher jene polizeiliche Erlaubniß einzuholen. Hierfür wurde er der „Verletzung der Eingrenzung“ schuldig erklärt und zu zehn Tagen Gefängniß und 50 Fr. Buße verurtheilt.

  1. Warum ich mich nicht dazu entschließen mochte, den Namen des Mannen mitzutheilen, obwohl Blätter und Broschüren über den Proceß ihn offen nennen, wird das Folgende hinlänglich ergeben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wohlhätigen