Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Melancholiker
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 475–476
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Dieser Beitrag erschien als Nr. 2 in der Reihe Die Charaktere der Menschen.
Nr. 1 Der Phlegmatiker siehe Heft 34
dazu Der Sanguiniker in Heft 7.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[475]
Die Charaktere der Menschen.
2. Der Melancholiker.

Wenn die sanguinischen und cholerischen Menschen zu den aktiven Naturen gezählt werden müssen, so stehen die phlegmatischen and melancholischen auf der Seite der passiven, so daß sich auch hier, wie überhaupt im Reiche der Natur, eine Zweiheit, eine Polarität offenbar macht, welche in dem nachher zu beschreibenden fünften Temperament, im genialen, ihre Ausgleichung und Vollendung findet. Das Element des melancholischen Naturells ist die Seite des Geisteslebens, welche wir die Empfindung im allgemeinern Sinne zu nennen pflegen: das Insichaufnehmen der Eindrücke. Ist diese Basis der Aufnahme sehr groß, ist die Reizempfänglichkeit bedeutend, so bemerken wir die Geneigtheit zum melancholischen Temperament. Ihm entspricht die Klasse der Weichthiere, wo die Haut, das Organ der Empfindung, der äußern Eindrücke, der vorherrschende oder einzige Sinn ist. Wenn diese Thierform (unter den „wahren Thieren“) die erste und unterste Entwicklungsstufe genannt werden muß, so steht das melancholische Temperament dem höchsten, dem genialen nahe, durch eine gewisse Totalität, Anlage zu Allem; – es kann, so zu sagen, noch Alles daraus werden, da die erste Bedingung, Empfänglichkeit für die Eindrücke von außen, in reichem Maße vorhanden ist und gleichsam die Ausartung in die Einseitigkeit der drei beschriebenen Temperamente noch nicht zur Entwickelung gekommen. Daher die Erscheinung, daß große Männer, namentlich Gelehrte und Künstler, häufig mit Entschiedenheit sich diesem Temperamente zuneigten. Das Zusammengehen und sich Anschließen der untersten Thierform an die obersten, der Weichthiere an die Ordnung des Säugethiertypus, scheint unter andern in der Natur darin angedeutet, daß es dieser Form gelungen ist, im Tintenfisch das höchste Resultat des Nerventhiers, das Auge, darzubilden, indem der Tintenfisch eine dem menschlichen Auge ähnliche Bildung aufweist. Melancholische Menschen (damit sollen nicht Trübsinnige bezeichnet werden) empfinden tiefer, als man glaubt; es schmerzt und freut sie Alles in reicherem Maße als andre Menschen; aber man merkt es ihnen nicht viel an, weil ihre Natur nicht die Elasticität hat, den empfangenen Eindruck zurückzuprallen und durch Worte oder Handlungen im Aeußern davon Zeugniß zu geben. Der Sanguiniker ist eben so reizempfänglich, aber der Reiz ist nicht nachhaltig; „es geht nicht tief“ und verschwindet bald wieder von der leicht erregten Fläche.

Beim Melancholiker aber haftet der Eindruck, er hat nicht die Gabe zu vergessen. Der Gegensatz zum Choleriker ist noch entschiedener: während dieser aus sich herausgeht, sich durch Aeußerung und Handlung gleichsam Luft macht, und die Eindrücke sich vom Halse schafft, nimmt sie der Melancholische immer tiefer in sich hinein und verschließt sie in seinem Innern. Die stets von Neuem auf ihn einstürmenden Eindrücke – er ist auch für die kleinsten empfänglich – lassen ihm weder Kraft noch Zeit, entgegen zu wirken, daher sind diese Naturen still, reich, tief, verschlossen, nicht selten unglücklich. Gegen die Unbilden der Welt und des Lebens setzen sie sich nicht stark zur Wehre – wenn auch von Zeit zu Zeit ihre Empfindung heftig, in unerwarteter Weise losbricht –; sie sind mehr duldende Naturen, denen man’s nicht anmerkt, wie tief sie aufgeregt oder verwundet sind. Es sind die „stillen Wasser“, welche „tief gründen“. Ebenso sind auch die freudigen Eindrücke weniger an ihnen wahrzunehmen, weil sie sich in stiller Heiterkeit zu freuen pflegen. Von ihrem Wissen und Können, von ihren Plänen and Absichten machen sie nicht viel Aufhebens, auch sind sie nicht mittheilsam, daher sie nicht selten durch tiefe Gedanken, merkwürdige Eigenschaften oder auffallende Handlungen überraschen. Dieses Temperament, welches durch einen gewissen gedankenvollen Ernst und durch eine sich abschließende Eigenheit kenntlich ist, artet gern in Menschenscheu aus, welche zuweilen, durch unglückliche Verhältnisse krankhaft erregt, mit Selbstmord endet.

Da die Gemüthswelt, das unbewußte Seelenleben, bei dem Melancholiker vorherrschend ausgebildet zu sein pflegt, so findet man wohl ein reiches Ahnungsvermögen, auch tiefe und große Gedanken und Empfindungen bei solchen Naturen, aber der Wille pflegt schwach zu sein. Es finden sich daher mehr weiche, verwöhnte, warm fühlende, als kräftige, frische und praktische Menschen unter dieser Temperamentsform. Da sie für das Aeußere wenig Sinn und Geschick haben, vielmehr in ihre reiche, innere Welt versunken sind, so sind Melancholiker gewöhnlich linkische, unbeholfene Menschen, zuweilen so arglos der Welt gegenüber, wie die Kinder. Man kann diesem Temperament eine warme Theilnahme und viel Wohlwollen nicht absprechen; überhaupt haben Melancholiker viel Anlage zum nobeln Charakter; aber über ihre Entschluß- und Thatlosigkeit hat man häufig Gelegenheit, sich zu ärgern. Da sie nicht nach scharfen, logischen Gesetzen zu urtheilen und zu schließen gewohnt sind, und zum Handeln die Energie nicht finden können, so sind sie in der Regel ihren Empfindungen und der Macht der Eindrücke preisgegeben, auch nicht selten willenlose Spielzeuge in den Händen geschickter Intriganten. Lessing war in seiner Schärfe und kühnen Thatenfrische das ächte Gegenbild des melancholischen Temperaments, während Shakespeare’s Hamlet, wie schon erwähnt, das ächte Muster des Melancholikers bleibt. Welch ein Reichthum, welche Fülle von Geist und Empfindung in diesem Königssohn – aber die Ohnmacht seines Willens läßt ihn nie weiter als zu grübelndem Räsonnements und zu tausend Anläufen zum Handeln kommen. Und welche Motive hatte er zur That! Der zürnende Geist seines gemordeten Vaters muß selbst aus dem Grabe steigen, um den Sohn zur Rache gegen den Mörder und Thronräuber aufzurufen. Und doch kommt er nicht zur That, bis ihm der Drang der Verhältnisse das Schwert in die Hand drückt und ihn auf den Schuldigen hinstößt. Es waren nicht Zweifel an der Wahrheit des Verbrechens, die ihn zurückhielten; es war nicht der Abscheu vor der blutigen Rache, ein unsicheres Gewissen – er bleibt bei der Ermordung des Polonius ungerührt und spottet über den Höfling; es war nicht Mangel an Empfindung, – sondern das Uebermaß derselben, welches alle Kraft zur That in ihm erstickte und niederhielt. Vermöge seiner eigenthümlichen Natur und seiner bis in die feinsten Fibern empfänglichen Seite, mußte Alles bei ihm in Gefühl und Empfindung ausarten – wie zu fette Pflanzen in’s Kraut schießen und keine Früchte tragen –; es war ihm ein Genuß, in diesen Gefühlen zu schwelgen und sich daran zu berauschen; darauf verwendete er seine ganze Kraft, so daß ihm für die That keine mehr übrig blieb. Welche Ströme und Fluthen von verwundenden, peinlichen Eindrücken ergossen sich aber auch über dieses edle, reiche Gemüth. Der Tod des Vaters, der unwürdige Oheim, die zu frühe Vermählung der Mutter mit diesem Elenden, die furchtbare Entdeckung des Geistes, schon die Wiederkehr des Vaters aus dem Reich der Nacht, und dann das Gefühl der eigenen Ohnmacht zur That, das Gefühl seiner Unwürdigkeit und Verwerflichkeit, aus dem er vermöge seiner Natur sich nicht erheben kann. Das Bild des Melancholikers ist nie tiefer und treffender gezeichnet worden, als in dieser unsterblichen Figur des großen britischen Dichters.

Man kann den Melancholiker nicht in gleicher Weise, wie den Verstandes-, Phantasie- und Willensmenschen, den Gefühlsmenschen nennen. Sein Temperament ist weniger einseitig, mehr zur Totalität angelegt und darum dem genialen Temperament, wie bemerkt, verwandter, weil das Regiment, unter welchem es steht, die Eindrücke sind, die Anschauungen, die zu Gedanken und zu Empfindungen werden können. Die Seele des Melancholischen ist ein fein empfindlicher, unbegrenzter Spiegel der Welt, in dem fortwährend zahllose Bilder reflektirt werden.

Wenn Tiefe, Gründlichkeit und ein dankenswerthes Ahnungsvermögen, [476] so wie Humanität und eine edle Gesinnung, überhaupt Großartigkeit, zu den Vorzügen des melancholischen Temperaments zu rechnen sind, so müssen Weichlichkeit, Mangel an Energie, Sonderbarkeit und Bizarrerie als seine Fehler bezeichnet werden. Man findet unter Künstlern, Gelehrten und Denkern, als den mehr der Welt entfremdeten, wenigstens vom alltäglichen, praktischen Lebensgang Abgeschlossenen, das melancholische Temperament am Häufigsten. Aber so oft man hier interessante Menschen, noble Charaktere und tief angelegte, über das Niveau des Gewöhnlichen hoch erhabene dabei antrifft, so häufig stößt man in diesen Lebenskreisen auf Sonderlinge, für die Welt und das Leben unbrauchbare Menschen, Unverträgliche, Eigensinnige, mißtrauische Einsiedler, wunderliche Kauze, Querköpfe und Narren.

Ein ziemlich sicheres Kennzeichen des melancholischen Temperaments, welches bei weitem nicht so klar als das sanguinische und cholerische zu Tage liegt, da die Verschlossenheit und Insichgezogenheit nothwendige Eigenschaften desselben sind, ist die Sucht, sich selbst zu quälen. Man findet nämlich bei Kindern sowohl, als bei Erwachsenen nicht selten die Neigung, einen Schmerz, ein Leiden absichtlich zu schärfen, zu vergrößern, um ja recht unglücklich zu sein. Es ist eine gewisse Selbstgefälligkeit im Unglück, eine Art des Kokettirens mit dem Schmerz, da der Mensch beständig zu sagen scheint: natürlich, mir mußte dieser Unfall passiren, ich bin zum Leiden bestimmt, ich kann nicht mehr froh werden, es ist Alles vorbei, nur immer zu, ich bin auf Alles gefaßt, es wird noch ärger kommen, denn das Schicksal hat von der ersten Stunde meiner Geburt an mich stets auf’s Sinnreichste und Grausamste gequält u. s. w.

Diese Resignation der Selbstquäler voll kleinlicher Bitterkeit geberdet sich oft so komisch und kindisch, daß man bei dem besten Vorsatz der Theilnahme mit dem Leidenden, unwillkürlich lachen muß, was er denn natürlich als einen weitern Zusatz zu dem Uebermaß seiner Prüfungen mit ingrimmiger Dankbarkeit auf dem verzerrten Gesichte hinnimmt. Dies ist einer der Wege, auf dem sich der kalte Menschenhaß in das Herz des Melancholikers schleicht, ein beklagenswerther Seelenzustand, welchen der Gemüthskranke durch seine Weichlichkeit und Willenlosigkeit, die gleichsam mit Vorbedacht der Vernunft beide Augen zuhält, großentheils selbst verschuldete.

Kinder von weichem, vollem Gefühl, von zarter Körperconstitution, – bei denen die Reizempfänglichkeit oft außerordentlich gesteigert ist und die Spuren von der erwähnten Selbstquälerei zeigen, sind durch alle möglichen Mittel vor der Ausartung ihres Temperaments zu bewahren. Stärkung des Körpers durch Bewegung im Freien, Turnen, Baden etc., Umgang mit lebhaften, kräftigen Naturen, die sich mehr Muthwillen und tolle Streiche, als Andere erlauben, möglichst frühe Vermittlung mit der Welt und dem Leben und sorgsames Bewahren vor aller Isolirung und Vereinsamung, namentlich durch anhaltendes Lesen, werden in den meisten Fällen geeignet sein, eine Natur, welche zum melancholischen Temperamente hingeneigt ist, vor Ausartungen und Verirrungen zu bewahren, welche gerade hier zu den beklagenswerthesten Extremen führen.