Der Mühlendamm in Berlin

Textdaten
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Autor: H. H.
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Titel: Der Mühlendamm in Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 693, 695–696
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[693]

Der Mühlendamm in Berlin.
Originalzeichnung von Wilhelm Geißler.

[695] Der Mühlendamm in Berlin. (Mit Illustration S. 693.) Nur sehr wenige Straßen giebt es heute in Berlin, die von der Neuzeit mit ihrem Verschönerungs- und Veränderungstrieb so gänzlich unberührt geblieben sind, wie der Mühlendamm, dieser zwischen dem Kölnischen Fischmarkt und dem Molkenmarkt in verkehrsreichster Gegend belegene, aus baufälligen Gebäuden bestehende Engpaß. Hier ist ein unverfälschtes Stück der alten Stadt erhalten, und gerade an diese Straße knüpfen sich ganz besonders eigenartige Erinnerungen.

Die Erbauung des Mühlendamms reicht weit bis ins vorige Jahrhundert. Seinen Namen trägt er nach den königlichen Mühlen, die sich an die nördliche Häuserreihe nach der Wasserfeste zu anlehnen und Tag und Nacht im Betriebe sind. Denn fast die ganze Straße, unter der ein Arm der Spree hinwegfließt und die Räder der Mühlen treibt, ist auf Pfählen erbaut. Zu Anfang der vierziger Jahre zerstörte eine große Feuersbrunst diese Gebäude und den größten Theil der nördlichen Häuserreihe in den oberen Etagen, die deßhalb auch ein moderneres Gepräge haben. Die Mühlen selbst wurden – der Neuzeit angepaßt – schnell wieder aufgeführt. Bei dem Brande, der zur Nachtzeit stattfand, kamen 16 Menschen ums Leben, entweder durch Ersticken, oder indem sie sich aus den Fenstern in die Spree stürzten und ertranken oder sich an den unten befindlichen Fischkasten zerschmetterten.

Auf dem vorliegenden Bilde nun ist das Leben und Treiben auf dem heutigen Mühlendamm veranschaulicht. Der ungeheure Verkehr wogt auf und ab von früh bis spät in die Nacht hinein und geräth nicht selten, trotz der Ordnung schaffenden Schutzmannschaft, ins Stocken.

Es ist Mittagszeit. Von der nahen Nikolaikirche hat die Stunde geschlagen. Die Kinder entströmen den Schulen und tummeln und balgen sich inmitten des Durcheinander von Omnibussen, Droschken, Lastwagen, Handkarren und Gefährten aller Art, dem die Passanten nur mit Mühe auszuweichen vermögen. Dazwischen Rufen und Schreien der Kutscher. Eilende Menschen, Lärm überall! Für die Fußgänger bieten die langen arkadenartigen Gänge unterhalb beider Häuserreihen einen sicheren Weg. Das nahe Polizeipräsidium, die Stadtvogtei und Kriminalpolizei bringen oft düstere, aber auch heitere Abwechselung in dieses Getriebe. Es passiren nur zu häufig Arrestanten oder Sistirte, unter Schutzmanns-Eskorte, begleitet von dem lärmenden Berliner Janhagel und der immer bereiten Straßenjugend.

Die elegante Welt meidet den Mühlendamm; dieser dient hauptsächlich dem geschäftlichen Verkehr, da die Straße im Herzen der Stadt liegt und die verkehrsreichsten Stadttheile verbindet.

Die eigentliche Besonderheit, die der Mühlendamm aus frühester Zeit in die Gegenwart mit herübergenommen hat, äußert sich in den zahlreichen, meist verräucherten Läden und Verkaufsgeschäften unter den Arkaden zu beiden Seiten der Straße. Da sind Trödler, Pfandleiher, Glaswaaren- und Bilderhandlungen mit Darstellungen historischer Ereignisse in seltsam primitivem Kolorit und sonstiger Ausführung, Kuchenbäcker und Destillationen, Bierläden, Schnittwaarenhändler und Schuhmacher, alles bunt durcheinander. Hier sind meist Gegenstände zum Verkauf ausgestellt, die eher an Jahrmärkte kleiner Städte, als an die Großstadt erinnern.

Der Haupt-Handelsartikel des Mühlendamms jedoch sind alte, getragene Kleidungsstücke. Dies Geschäft wird in großem Maßstabe betrieben, und die ganze eine Seite der Straße besteht ausschließlich aus Kleiderläden. Es hängen da Civil- und Uniformstücke jeder Gattung zur Schau, und manche goldgestickte Officier-Uniform, die bei Paraden und im Salon den Träger geziert hat, wandert hierher und von dort in die Theatergarderoben.

Die jüdischen Händler oder deren „Junge Leute“, im Volksmunde von altersher „Mühlendammer Jünglinge“ genannt, stehen Winter und Sommer meist in den Thüren ihrer Geschäfte und laden die Vorübergehenden [696] zum Kaufen ein. In früheren Jahren hatte diese Art des Anpreisens einen geradezu widerlichen Höhepunkt erreicht, so daß die Polizei dem Unfug steuern mußte. Wehe dem Kleinstädter, dem arglosen Landmann, der nach Berlin kam, um auf dem Mühlendamm sich zum „Neuen Menschen“ zu machen! Die Händler stürzten sich auf ihn, packten ihn und zerrten ihn, oft wider Willen, in ihre Geschäfte, um ihn zum Kaufen zu bewegen. War er dem Einen glücklich entronnen, fiel er dem Anderen sicher zum Opfer. Ihm wurden nicht selten buchstäblich die Kleider vom Leibe gerissen!

Diese Händler waren aber auch ebenso die rettenden Engel der akademischen Jugend, und mancher ehrbare Geheimrath denkt gewiß noch heute der goldenen Zeit, wo die Mühlendammer Firmen „Labandter und Sohn“ oder „Scholem nomine Brühl“ dem flotten Studio für alte Kleider Geld zum Kneipen brachten.

Das Alles hat heut freilich seinen Charakter verändert.

Wie lange noch, und auch der Mühlendamm, dieser originelle Fleck des alten, gemüthlichen Berlins, ist nicht mehr! Die morschen Gebäude sollen niedergerissen und an ihrer Stelle wird eine Prachtbrücke über die Spree gebaut werden. „Ade, du altes Berlin!“ H. H.