Textdaten
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Autor: St. v. J.
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Titel: Der Letzte von Hohen-Realta
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 650–654
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[650]

Der Letzte von Hohen-Realta.

„Aus dem dunkeln Geklüft und zerriss’nen Gestein
Was stürzet dort siegend hervor?
Es ist der gewaltige, freie Rhein,
Der sprengte das Felsenthor.“

Wer kennt nicht wenigstens vom Hörensagen jene großartige Alpenschlucht, welche anderthalb Stunden lang, von über tausend Fuß hohen Felswänden eingeengt, das angestaunte Kleinod des an Naturschönheiten so reichen Cantons Graubünden bildet? Wer kennt nicht die Via mala, den „bösen Weg“, auf dessen Grunde der jugendliche Rhein bald ruhig seine schimmernden Wellen spielen läßt, bald, durch Schmelzwasser der Berge aufgeregt, mit wildem Getose dahinbraust? Einst zogen hier die Kriegsheere verschiedener Nationen über den sich aufthürmenden Alpenkamm, und mühsam beförderten hier die Säumer ihre Waaren, gegen Raubritter die Sicherheit des Handels und Wandels mit Geld oder bewaffneter Faust, je nach der Zeiten Lauf, erringend. Und wo am Eingang zu dieser finsteren Schlucht das liebliche Domleschgerthal seine Reize entfaltet, blinkten vor Zeiten von den [651] Kuppen der einzelnen Berge viele herrliche Burgen, in denen das laute, übermüthige Ritterleben in Saus und Braus dahinflog und tief im Thale wenig erfreulichen Widerhall weckte.

Heute hört man sie nicht mehr, die feierlich kriegerischen Klänge und begeisterten Harfengesänge, entschwunden sind für immer unseren Blicken „jene Ritter voll Muth“ und „Fräulein so hold und gut“. Nur die alten Burgen am Rhein träumen noch von jenen Tagen, wiewohl

„Verfallen und wehmuthsvoll schauen
Zu Thale, die Thürme, die grauen, –
Ein geisterhaft Flüstern um sie.“ –

Ja, die Geister der Volkssage werden immer müde, und was die geschriebene Geschichte nicht zu erzählen weiß, davon pflegen sie den kommenden und gehenden Geschlechtern zu berichten. So haben sie denn auch die höchste jener Burgen, gleich einer Königin, mit ihrem schimmernden Glanze gekrönt.

Da erhebt sie sich auf hoher Felsenstufe, himmelanragend, die ehrwürdige Ruine der Burg von Hohen-Realta (auch Hohenrhätien genannt). stolz blickt sie von ihrer Höhe auf das Domletschger Thalgefild hinab und scheint wie ein vereinsamter Wachtposten den Eingang der Via mala zu hüten. Die Geschichte berichtet uns, daß sie einst eine gewaltige Veste war, ausgezeichnet durch ihre Lage und ihre Bauwerke. Vier Thürme beschützten sie, und noch heute sieht man von dem nördlichsten derselben stattliche Reste.

Ein sagenhafter König Rhätus soll sie schon im dritten Jahrhundert v. Chr gegründet haben, und in den zwei Jahrtausenden, die seitdem verflossen, schaute die Burg auf Handlungen und Wandlungen[WS 1], welche der Lauf der Geschichte zu ihren Füßen im Thal hervorbrachte. Aus einem stolzen königlichen Sitze wurde sie selbst zu einer Ritterburg, in welcher die Zwingherren des Landes nach ihrer Weise schalteten und walteten.

Und merkwürdig! Ebenso dunkel wie die Entstehung ist auch das Ende Hohenrhätiens. Aber sein Untergang mußte mit tragischen Kämpfen verbunden sein, denn was uns die Sage davon berichtet, das zeugt von tollkühnem Mute und blinder Verzweiflung.

Der letzte der Herren auf Hohen-Realta, genannt der rauhe Conrad, soll die schöne Tochter des greisen Andreas von Ehrenfels (der benachbarten Burg) geraubt haben. Der Raub sollte nicht ungestraft bleiben, und die Mannen des Ehrenfelser und die Bauern der Umgegend stürmten das Schloß. Als nun der Sieg den Gegnern des Hohenrhäters zugefallen war, da hat Conrad seinem Rosse die Augen verbinden lassen, ihm die Sporen gegeben und sich so vom Felsen in den Rhein hinabgestürzt. Erst nach zweitägigem Suchen wurde die Tochter im Burgverließ gefunden und ihrem bekümmerten Vater zugeführt.[1]

So erzählen sich die Einen im Volke. Aber es giebt noch andere Varianten der Sage. Eine im Jahre 1742 erschienene Beschreibung von Graubünden durch R. Gererhard spricht in folgender Weise von Hohenrhätien:

„Ein Stück ob Sils sind die Rudera des ältesten Schlosses von ganz Bünden, nämlich: Alta Rhätia von Rhäto circa 300 Jahre vor Christi Geburt erbauet. Dieses Hohen-Rhätien stehet nächst ob Thusis auf einem sehr hohen perpendicular aufrecht stehenden Felsen, an welchem der Hinterrhein hinfließet. Man erzählet ein artiges, wie man des letzten Zwingherrn aus alta Rhätia los worden. Nämlich als seine Feinde, die er lang genug tyrannisirt hatte, ihn in seiner Festung eingesperrt gehabt, daß er nirgends mehr echappiren können, faßte er diese desperate Resolution, und verbande seinem Pferd die Augen, setzte sich darauf, und gab ihm den Sporn und sprengte es furiose über den entsezlich hohen Felsen hinaus in die Luft, da soll auch unden observirt worden seyn, daß das Pferd ein gut Weil vor dem Mann in der Tiefe angelanget, und dem in der Luft der Bauch zersprungen, daß ihm die Därm ausgehanget, ehe er auf den Boden kommen ist. Dies war ja eine harte Cavalcade. Es wäre diesem Cavalier oder Reuter auf dem fahlen Pferd wohl bekommen, wann sein Pferd dem Pegaso gleich gewesen wäre und hätte fliegen können. –“

Hat nun die erste Variante dieser Sage Nina Camenisch, der anmuthigen Nachtigall des Domleschger Thales, den Vorwurf zu einem kurzen Roman geliefert, so dürfte die letztgenannte Erzählung durch Friedrich Neßler ihren veredelten poetischen Abschluß gefunden haben. Ihrer Auffassung entspricht wenigstens zum Theil das Gedicht „Der letzte Zwingherr Bündens“, welches den Untergang des letzten Hohenrhätiers also schildert:

Da wo der junge Rhein erzürnt und wild
Der finstern Viamalaschlucht entschießet
Und abwärts durch’s Domleschger Thalgefild
In tausend Wirbeln seine Wasser gießet;

Im Schloß, das weithin in die Schlucht hinein
Den Weg nach Welschland räub’risch kann belauern,
Der letzte Zwingherr Bündens steht allein,
Geharnischt auf der Zinne seiner Mauern.

Der Bauernaufruhr schwoll zum Schloß empor,
Im Blute liegen, die es sollten schirmen,
Empörung klopft mit starker Faust an’s Thor
Und rüttelt an den Mauern, an den Thürmen.

Des Ritters Aug’ von Berg zu Berge schweift,
Ob irgendwo noch Rettung zu erpochen;
Doch alle Burgen ringsum sind geschleift
Und alle Warten, alle Thürm’ gebrochen!

Mit hohlen Augen, wie aus off’nem Grab,
Grinst ihn der Tod an aus des Thales Schlunde,
Gebrochen ist des Adels Herrscherstab –
Er fühlt es tief und spricht mit stolzem Munde:

„Zum mächt’gen Riesen wuchs heran der Zwerg,
Die Ritter können ihn nicht mehr besiegen,
Die Landesherrlichkeit ist von dem Berg
Hinab zum Bauern in das Tal gestiegen.

Der Letzte bin ich und zum Tod bereit;
Allein der Feind soll meinen Leib nicht haben,
Mit ihm will ich die alte Ritterzeit,
Hinunterspringend in den Rhein, begraben!“

So sprechend, stürzt im Harnisch er beherzt
Hinunter in die Tiefe vom Castelle,
Und über seinen Leichnam spielt und scherzt,
Aufschäumend im Triumph des Stromes Welle.

Aber damit war die weitere Entwickelung der Sage nicht abgeschlossen. Der Raub der Jungfrau und der Kampf des untergehenden Adels mit dem um seine Freiheit kämpfenden Volke der Schweiz wurden zu einem Ganzen verbunden, und damit wurde eine neue künstlerische Ausbeutung des Stoffes ermöglicht. In diesem neuen Gewande würde die Erzählung etwa folgendermaßen lauten:

Eine vielleicht in irgend einem Grade leibeigene Tochter feiert im Thale von Domleschg die Hochzeit; sie bedurfte dazu die Erlaubniß ihres Grundherrn, weil das Verhältniß desselben zu ihren Nachkommen vorher festzustellen war. Die Sache scheint nicht ganz geordnet zu sein, und der Ritter hilft sich durch eine Gewaltthat, indem er die Braut raubt. Damit hat er wider sein Recht gehandelt und ist zum gemeinen Räuber geworden. Das im Krieg und Frieden an treues Zusammenhalten gewohnte Landvolk, zum weitaus größten Theil schon freie Leute, eilt, nachdem es sich rasch gesammelt, zur Burg hinauf und erstürmt sie. Der Ritter, keinen Ausweg findend, will sich mit der Geraubten in die tiefe Schlucht stürzen, aber das Mädchen wird ihm noch im letzten Augenblick entrissen, und er tut den entsetzlichen Sprung allein.

Das ist der Untergang des letzten Ritters von Hohen-Realta, wie ihn der berühmte schweizerische Maler E. Stückelberg, der schon durch seine Gemälde in der neuen Tells-Capelle unsern Lesern bekannt ist, in dem großartig aufgefaßten, unsere heutige Nummer schmückenden Bilde darstellt.

Mag nun diese Auffassung der wirklichen Geschichte des Domleschger Thales und des Cantons Graubünden nicht entsprechen, so bleibt ihr doch ein hoher historischer Werth erhalten. Der Schreckensruf „Tod den Tyrannen!“ ist wohl in dieser Weise niemals in jenen Bergen zur Geltung gelangt. Eine unparteiische geschichtliche Forschung ergiebt vielmehr, daß zwar die Unklarheit der Rechte und Pflichten, sowie der kriegerische Zeitcharakter im Mittelalter da und dort gewaltsame Selbsthülfe hervorrufen mußten. Aber es war in Rhätien immer so gemeint, daß Jeder bei seinen Rechten und Diensten zu bleiben habe, nach altem Herkommen. Die Conflicte, hier „Stöße“ genannt, führten allmählich zu vielen kleinen Bünden, in welchen alle Stände eines Gebietes zusammenschwuren und in welchen immer die Sicherung von Recht und Gerechtigkeit für Jedermann das Hauptziel war. Die kleinen

[652]

Der letzte Ritter von Hohen-Realta stürzt sich in den Abgrund der Via mala.
Nach dem Oelgemälde von E. Stückelberger.

[654] Bünde verschmolzen später in drei große Bünde, und diese verbanden sich etwa im Jahre 1470 zu dem gemeinsamen Staate der „ewigen drei Bünde in Rhätien“, welcher 1803 als Canton Graubünden der schweizerischen Eidgenossenschaft beitrat.

Aber vom allgemein geschichtlichen Standpunkte und gewissermaßen allegorisch aufgefaßt, predigt uns die gewaltige Composition Stückelberg’s in beredter Sprache eine nicht abzuleugnende und wahre Thatsache.

Der an Gewaltstreiche gewöhnte Ritter ist der Vertreter des Mittelalters und steht hier dem für Rechte und Sicherheit zusammenhaltenden Landvolke gegenüber. Ihn und mit ihm gleichsam das Mittelalter läßt der Künstler durch ihre eigene Schuld auf großartige Weise untergehen, während das Volk sich selbst zu helfen weiß und durch sein Zusammenhalten und seine Bündnisse einer neuen, geregelten Staatsordnung entgegengeht.

St. v. J.

  1. Vergl. „Thusis und die Hinterrheinthäler“. Von Ernst Lechner. Chur 1875.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wandlungen und Wandlungen