Der Internationale Frauenkongreß in London
Der Internationale Frauenkongreß in London.
Der große, von zweitausend Teilnehmern besuchte Londoner Frauentag ist vorüber. Die Einberufer desselben, das aus den einzelnen Landesverbänden gebildete internationale Komitee, können mit hoher Befriedigung auf ihn zurückblicken. Während der in London doppelt drückenden Julihitze eine volle Woche lang in dichtgedrängten Sälen stundenlangen Vorträgen und Beratungen beizuwohnen, ist schon an sich eine Leistung, welche den Damen den vollen Respekt, aber auch die wärmste Sympathie des „starken Geschlechts“, die principiellen Gegner der Frauenfrage nicht ausgeschlossen, sichert. Sodann verliefen die Verhandlungen in solch ordnungsgemäßer Weise und die Leiter der einzelnen Sitzungen – allen voran die Präsidentin des gesamten Kongresses, Gräfin Ishbel Aberdeen – bekundeten ein solches parlamentarisches Talent, gepaart mit weiblichem Takt, daß man auch in dieser Hinsicht den aus Angehörigen der verschiedensten Nationalitäten zusammengesetzten Kongreß nur beglückwünschen kann. Man hatte von vornherein für jede Rede ein gewisses Zeitmaß festgesetzt, das nicht überschritten werden durfte, und mit einer einzigen Ausnahme fügten sich die Damen dieser Bestimmung, gleichviel ob sie ihren Gegenstand beendet hatten oder nicht.
Eine der Rednerinnen hatte einleitungsweise so lange bei der Schilderung der Schönheit ihrer heimatlichen Berge verweilt, daß sie eben erst den eigentlichen Gegenstand beginnen wollte, als die Glocke der Präsidentin ertönte. Ohne Murren verfügte auch sie sich auf ihren Platz.
Vor allem aber war es der Inhalt der Verhandlungen, der Lady Aberdeen in ihrer Abschiedsansprache berechtigte, den Kongreß als ein „great success“, einen „großen Erfolg“, zu bezeichnen. Von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, konnte man sich des wohlthuenden Gesamteindruckes nicht erwehren: es war die Frau, die wahre, echte Frau, die hier zum Frauenherzen sprach. Es war das „Ewig-Weibliche“, das seinen heilenden, helfenden Einfluß geltend zu machen suchte.
Dies ist um so mehr anzuerkennen, als zwar nicht die Frauenbewegung selbst, aber doch der Internationale Kongreß bekanntlich eine überaus junge Schöpfung ist. Seine Gründung wurde im Jahre 1888 auf einer Frauenversammlung in Washington beschlossen. 1892 fand sodann der erste Internationale Kongreß in Chicago statt. Aber während es bisher vor allem die Rechte der Frau waren, für die man eintreten zu müssen glaubte, sind es heute, nachdem sich die Frau auf vielen Gebieten eine selbständigere Stellung errungen hat, vorzugsweise ihre Pflichten, ihre hohen Aufgaben innerhalb der menschlichen Gesellschaft, die in den Vordergrund treten. Dieser Grundgedanke konnte keinen schöneren Ausdruck finden als in den Worten, mit denen die Präsidentin den Kongreß eröffnete. So verschieden auch die Ziele seien – bemerkte sie –, welche die einzelnen Abgeordneten je nach Nationalität und Individualität im Auge hätten; ob sie die Extreme der Frauenemanzipation verträten oder gemäßigteren Anschauungen huldigten: in dem einen stimmten sie doch alle überein, daß es die Aufgabe der Frau sei, die Welt besser und glücklicher zu verlassen, als sie sie gefunden.
Diese breite und liberale Basis trat dem Besucher auch schon in der äußeren Erscheinung der Versammlungen entgegen. Die „Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar“ war eine ebenso große Seltenheit, wie es jetzt auch der „Mann mit dem wallenden Haar“ ist. Die dichtgefüllten Hallen boten einen erfrischenden Anblick dar, denn sämtliche Damen waren in hellen Sommertoiletten erschienen und neben der gereiften Frau befand sich so manche anmutsvolle Mädchengestalt. Der kosmopolitische Charakter der Versammlung bekundete sich in der Anwesenheit einiger indischer Damen in malerischer Nationaltracht, mit goldenen Armspangen und Ohrringen. Auf der Tribüne hatte die Gattin eines Attachés der chinesischen Botschaft in London, gleichfalls im Nationalkostüm, Platz genommen. Sie war auf ausdrücklichen Befehl ihres Kaisers erschienen und beteiligte sich sogar an den Verhandlungen, indem sie dem Kongreß durch ihren Dolmetscher sagen ließ, daß man sich in Europa meist einen ganz falschen Begriff von der chinesischen Frau mache. Dieselbe sei durchaus nicht so unwissend und niedrigstehend als man glaube. Sie sei vielmehr die ebenbürtige Gefährtin ihres Mannes, vorausgesetzt, daß sie es verstehe, ihn an sich zu fesseln. Diese mit allgemeiner Heiterkeit aufgenommenen Worte fanden ihre Bestätigung durch den Augenschein. Denn der Gemahl der jungen resoluten Frau, der ebenfalls erschienen war, wich keinen Augenblick von ihrer Seite. –
Die Verhandlungen – es fanden täglich acht verschiedene Sitzungen in drei Sälen statt – waren voll der interessantesten Aufschlüsse über den gegenwärtigen Stand der Bewegung. Ihre Führerinnen haben allen Grund, auf ihre Erfolge stolz zu sein. Eine ganze Anzahl von neuen Berufszweigen hat sich der Frauenwelt erschlossen. Als Aerzte, Sachwalter, Journalisten, als Kunsthandwerker, als Inspektoren in Fabriken mit weiblichen Arbeitern, sowie in einer ganzen Anzahl von Berufszweigen bescheidenerer Art haben die Frauen im Lauf der letzten Jahre Beschäftigung gefunden. Als Beweis für die künstlerische Begabung der deutschen Frau wurde vielfach der von Fräulein v. Milde gehaltene Vortrag „Die Frauen in der Litteratur“ citiert –, als begabte Vertreterinnen der modernen socialpolitischen Gedanken wurden Frau Bieber-Böhm und Fräulein Dr. jur. Anita Augspurg gefeiert. Hier in England blüht besonders der medizinische Beruf unter den Frauen. Einige Krankenhäuser für Frauen werden ausschließlich von Aerztinnen besorgt. In Dänemark dagegen hat namentlich das Kunsthandwerk weibliche Kräfte an sich gezogen; zu nennen sind Fräulein Sophie Christensen, Frau Ragna Nielsen, Frau Dagmar Hjort. Es giebt z. B. in Kopenhagen Kunsttischlereien, die von Frauen geleitet werden und mehr als ein halbes Hundert männlicher Arbeiter beschäftigen. Die größten Erfolge aber hat die Bewegung in Amerika aufzuweisen, deren eine Hauptvertreterin, Mrs. May Wright Sewall, einem europäischen Kreisen wohlbekannte Erscheinung ist. In den Vereinigten Staaten werden Frauen sogar zu Stadtverordneten und in den Stadtrat, ja selbst zu Bürgermeisterinnen gewählt. Das letztere, so versicherte eine Rednerin, ist zumal dann der Fall, wenn es sich um sparsame Bewirtschaftung eines allzu belasteten Haushaltplanes handelt! Trotz dieser Erfolge aber erklärten die amerikanischen Abgeordneten, daß ihre Erwartungen so lange unerfüllt bleiben werden, als man der Frau volle politische Gleichberechtigung mit dem Manne vorenthalte. Die Führerin dieser Bewegung ist die bekannte Miß Susan Anthony, die von ihren Gesinnungsgenossen für ihre Bestrebungen, der Frau Sitz und Stimme im Parlament zu verschaffen, ein schönes Rosenbouquet erhielt. Trotzdem wäre die Behauptung mehr als gewagt, daß der Kongreß in seiner Gesamtheit auf seiten seiner amerikanischen Schwestern gestanden habe. Zwar erhob sich ein vereinzeltes Zischen, als eine Engländerin es unternahm, gegen die politische Emanzipation der Frau zu sprechen. Ein kurzes Wort der Präsidentin jedoch genügte, um allen Widerspruch verstummen zu [577] machen. Als eine eigentümliche Ironie der Geschichte aber müssen wir es bezeichnen, daß an dem nämlichen Tage, als der Kongreß seine Sitzungen begann, das englische Herrenhaus einen Antrag auf Wahlfähigkeit der Frauen in die Gemeindevertretungen mit großer Majorität ablehnte. –
Vielleicht die gewichtigste Frage, die dem Kongreß vorlag, betraf die Stellung der weiblichen Berufsarbeiter zum Familienleben. Diese Frage ist ja überhaupt eine der wichtigsten der ganzen Bewegung. Ist die Frau – wenigstens ein Teil der Frauenwelt – wie heute niemand mehr bestreiten kann, durch die Zusammensetzung der modernen Gesellschaft gezwungen, sich einen Beruf außerhalb des Hauses zu suchen, so entsteht auch sofort die Frage: Wie hat sie sich zu verhalten, wenn sie zur Familie zurückkehrt? Soll die verheiratete Frau ihren Beruf beibehalten oder im Interesse der Familie aufgeben? Es fehlte nicht an Stimmen, die das erstere befürworten. Freilich wurde dabei auch sofort die Befürchtung laut, daß der Gatte einer solchen Frau sich die Gelegenheit zu nutze machen und die Füllung des Familiensäckels ausschließlich der Frau überlassen könnte.Es ist bei dieser Gelegenheit so manches strenge Wort gegen den „Mann an sich“ geäußert worden. Ein streitbarer Geist zog durch die sonst so anmutige Versammlung und die Atmosphäre des Saales begann schwül und heiß zu werden. Doch wie ein befreiender, elektrischer Schlag wirkte es, da die nicht minder als gefeierte Sängerin wie als leidgeprüfte Gattin und Mutter gleich hochverehrte Madame Antoinette Sterling sich erhob und die einfachen Worte sprach: „Ich glaube, daß Sie die Männerwelt zu hart beurteilen.“ Das Frauenherz hatte gesiegt! –
Und es siegte auf dem ganzen Kongreß. Nicht materielle, sondern ideale, ethische Anschauungen gewannen mehr und mehr die Oberhand. Das zeigte sich auch in den Ausführungen der berühmten amerikanischen Tragödin Miß Genevieve Ward, welche über die Stellung der Frau zur dramatischen Kunst sprach. Einst zu Shakespeares Zeit, so bemerkte sie scherzhaft, habe das Publikum zuweilen auf den Beginn der Vorstellung warten müssen, weil sich die Julia noch erst hinter der Bühne rasieren mußte! Heute habe sich die Frau auch auf der Bühne eine geachtete Stellung erworben. Aber nur volle leibliche, geistige und moralische Gesundheit könne auf Erfolg rechnen. Ihre Ausführungen wurden durch eine junge deutsche Schauspielerin, deren geschmackvolle Toilette, nach den englischen Berichten zu schließen, besonderes Interesse erregte, in wirksamer Weise ergänzt. –
Noch mehr aber traten die großen ethischen Gesichtspunkte der Frauenbewegung in den Vordergrund bei der Besprechung socialer Fragen. Das Los der weniger beglückten Schwestern zu lindern – darin erkannte der Kongreß offenbar seine Hauptaufgabe. Wir können aus dem weitverzweigten Gebiet nur einzelnes anführen. Einen interessanten Beitrag zur Auswanderungsfrage bot der Gemahl der Präsidentin, Lord Aberdeen. Durch langjährigen Aufenthalt in Nordamerika mit den dortigen Verhältnissen vertraut, empfahl er Kanada allen auswanderungslustigen Mädchen, warnte jedoch zugleich vor Illusionen. Es existiere eine absurde Erzählung, nach welcher ein nach der Stadt Winnipeg bestimmter, mit jungen Auswandrerinnen angefüllter Zug auf jeder Zwischenstation von heiratslustigen Farmern in Empfang genommen und eines Teiles seiner Passagiere beraubt worden sei, bis er endlich, in Winnipeg angekommen, überhaupt keine Passagiere mehr besaß. Diese Erzählung, so warnte der Lord, sei ganz geeignet, etwaigen Auswandrerinnen bittere Enttäuschung zu bereiten.
Daneben aber fehlte es auch nicht an Blicken in das dunkelste Gebiet der Frauenwelt: die Rettung der Gefallenen und die Fürsorge für die weiblichen Gefangenen. Auf dem letzteren Gebiet hat sich besonders Mrs. Ellen Johnson, Vorsteherin des Staatsgefängnisses für Frauen in Massachusetts, große Verdienste erworben. Auch sie war auf dem Kongreß erschienen und trat warm für die von ihr vertretene Sache ein. Es sollte ihr nicht beschieden sein, in ihre Heimat zurückzukehren. Noch während der Dauer des Kongresses ereilte sie ein plötzlicher Tod. Ein kleiner Vorfall aus ihrer Praxis möge ihr philanthropisches Wirken illustrieren. Eines Tages wurde eine neue Gefangene in ihre Anstalt eingebracht. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, denn auf dem langen Transport hatte sie wiederholt gewaltsame Fluchtversuche gemacht. Mrs. Johnson trat ihr liebevoll entgegen, ließ ihr sofort die Fesseln abnehmen, nahm sie trotz ernster Gegenvorstellungen der Umstehenden mit auf ihr Zimmer und bewirtete sie mit Speise und Trank. Diese unerwartete Liebe machte die Frau zu einer der fügsamsten Gefangenen. Der Verlust der edlen Amerikanerin war der einzige Schatten, der auf die Kongreßtage fiel. Frau Jeanette Schwerin, die verdienstvolle Vertreterin der Frauenbewegung in Berlin, ward erst nach ihrer Heimkehr vom Tod ereilt.
Neben ernster Arbeit wurde den Mitgliedern auch so manche festliche Veranstaltung bereitet. Zwar den dazwischen liegenden Sonntag verlebte man der Landessitte gemäß in stiller Ruhe. Die einzige Ausnahme davon machte eine Amerikanerin, welche auch an diesem Tag zu sprechen wünschte und die Kanzel einer Sektengemeinde bestieg, um an Stelle des Herrn Pfarrers die Predigt zu halten. Wünschte diese Dame etwa auch den geistlichen Beruf den Frauen zu eröffnen? Sicherlich hatte der Bischof von London, als er die Abgeordneten gastfreundschaftlich in seinen bischöflichen Palast einlud, von dieser seinem Amte drohenden Neuerung keine Kenntnis! Von den übrigen festlichen Veranstaltungen sei nur noch das großartige Gartenfest erwähnt, das Lady Rothschild auf ihrem herrlichen Landsitze unweit London veranstaltete. Den eigentlichen Abschluß aber bildete ein Empfang bei der greisen Monarchin des Landes. Etwa 250 Damen verfügten sich nach Windsor, wo sie von der Königin huldvoll empfangen und sodann gastfreundlich bewirtet wurden.
So endete der zweite Internationale Frauenkongreß in London. Sind abermals fünf Jahre über diesen Erdball mit all seinen schwebenden Fragen dahingezogen, so hofft man sich zum dritten Kongreß in Berlin wiederzusehen. –
Bournemouth. Dr. F. Müller.