Der Herzog von Orleans
Der Herzog von Orleans.
Chauchois-Lemaire’s Schreiben an den Herzog von Orleans[1], sein Prozeß und seine Verurtheilung haben in Deutschland mehr Aufsehen erregt, als eine, wie die französischen Journale sie darstellen, unbedeutende Sache verdienen würde. War die Absicht des Briefstellers bloß die, den Herzog von Orleans zum Chef einer aristokratischen Opposition gegen die Willkürherrschaft eines congregationalistischen Ministeriums vorzuschlagen – wie uns Cauchois-Lemaire in seiner zweiten Schrift[2], gleichsam einer rectifizirten Ausgabe der erstern, glauben machen will –, so hatten freilich die liberalen Blätter[3] leicht zu beweisen, daß die Strafe, welche die Gerichte über einen constitutionellen Irrthum verhängten, etwas stark, daß die leidenschaftliche Weise, wie der Angeklagte vor der Verurtheilung behandelt wurde, kaum zu rechtfertigen sey.
Indessen erhält man durch die englischen[4] Blätter eine andere Ansicht von der Sache.
Hier ist die Rede von nachtheiligen Gerüchten, welche bei jener Gelegenheit in Flugschriften und Salonsgesprächen gegen die Legitimität des Herzogs in Umlauf gesetzt wurden; von einer zahlreichen Orleanistenpartei, welche in Frankreich den Auftritt mit Jacob II und Wilhelm III gerne wiederholen möchte; von dem Ehrgeiz des Herzogs etc. Das Folgende, sagt die Literary Gazette, ist das Wesentliche einer – wir sind es überzeugt – aus trüber Quelle geflossenen Geschichte; aber unsre sinnreichen Nachbarn legen auf das, was sie eine Mystifikation nennen (ein Ding, wofür der ehrliche Britte kein Wort hat), zuviel Werth, als daß es möglich wäre, über die Wahrheit oder Falschheit der in mancher Beziehung unzusammenhängenden Geschichte ein Urtheil zu fällen.
Es wird behauptet, daß die Gräfin von Newborough, jetzige Baronin von Sturnberg, obgleich bei ihrer Geburt in Italien, im Mai 1773, in Folge einer Austauschung gegen ein anderes Kind, als die Tochter von Lorenz Chiappini in die Geburtsregister eingetragen, die in gesetzmäßiger Ehe erzeugte Tochter des Herzogs Orleans-Egalité sey. Es wird hinzugefügt, daß diese und die folgenden Thatsachen auf den eidlichen Zeugnissen mehrerer glaubwürdigen Personen beruhen.
Im Anfang des Frühjahrs 1773 kam ein Franzose von Auszeichnung, unter dem Namen eines Grafen von Joinville, mit seiner hochschwangeren Gemahlin in Modigliana an. Er nahm sein Absteigequartier in dem sogenannten Gerichtspalast, wo er die angesehensten Familien der Nachbarschaft bei sich empfing. Graf Pompei Borghi, der gewöhnlich die schöne Jahreszeit in derselben Stadt zubrachte, wurde in dem Zirkel des Grafen Joinville eingeführt, und es entspann sich bald ein freundschaftliches und zuletzt ein vertrautes Verhältniß zwischen beiden Häusern. Der Graf von Joinville hatte einen schweren Kummer auf dem Herzen, dessen Ursache er dem Grafen Borghi mittheilte. – „Seine Gemahlin war ihrer Niederkunft nahe. Hatte er einen Knaben oder ein Mädchen zu erwarten? Im letztern Fall standen unermeßliche Familieninteressen für ihn auf dem Spiel.“ – Chiappini war der Gefangenwärter des Gerichtshofs; seine Frau war gleichfalls schwanger, und höchst wahrscheinlich traf ihre Niederkunft mit der der Gräfin von Joinville in der Zeit zusammen. Etwas, wobei man seinen Vortheil findet, wenn es auch gegen Pflicht und Gewissen wäre, thut man um so leichter, wenn man es ohne Schwierigkeit thun kann. Chiappini’s Weib konnte einen Knaben, des Grafen Weib ein Mädchen gebären. Eine solche Möglichkeit war dem Grafen peinlich. Er machte eine Bekanntschaft mit dem Gefangenwärter, der diese Gunst mit der ganzen Dankbarkeit eines Mannes von niederem Stande aufnahm, den ein Großer mit Wohlwollen behandelt. Der Graf von Joinville eröffnete zuletzt dem Grafen Borghi seinen Plan. Chiappini wurde vor sie gerufen, und durch glänzende Versprechungen dahin vermocht, daß, wenn seine Frau mit einem Knaben, die Gräfin mit einem Mädchen niederkäme, die Kinder ausgetauscht werden sollten. Zwei Zeugen, Maria B. und Dominik B., geben an, sie hätten gehört, wie der Graf von Joinville zu Chiappini sagte, er verliere, wenn die Gräfin eine Tochter zur Welt bringe, ein großes Erbgut; eben deshalb hätte er die Austauschung der Kinder vorgeschlagen. – Wie gedacht, so gethan. In einer Stunde gab Chiappini’s Frau einem Sohn, und die Gräfin einer Tochter das Leben. Nach der Aussage derselben Zeugen wurden die Kinder unmittelbar nach der Geburt in Gegenwart des Grafen und der Gräfin Borghi ausgetauscht, und die Tochter des Grafen von Joinville erhielt in der Priorei zu Modigliana die Taufe unter den Namen Maria Stella Chiappini. Die Sache wurde indessen – man weiß nicht, auf welchem Wege – ruchbar, und der Graf von Joinville, der einen [194] Ausbruch des öffentlichen Unwillens befürchtete, wandte sich an den Obern des Klosters zum heiligen Bernhard von Brisighella, den er um eine Freistätte in seinem Kloster bat. Der Zeuge D. V. will unter den Papieren des Klosters einen aus Modigliana 1773 datirten Brief des Grafen an den Obern gesehen haben, worin ersterer seinen Dank für die erhaltene Zusage der Aufnahme abstattet. In diesem Kloster blieb der Graf, um ruhig abzuwarten bis der Sturm vorüber wäre. Als er sich eines Tages auf einem Spaziergange von seinem Asyl etwas entfernt hatte, wurde er auf Befehl der Inquisition festgenommen, und in die Gefängnisse des heiligen Offiziums abgeführt. Der Obere des Klosters that jedoch Schritte bei dem Kardinallegaten von Ravenna; Seine Eminenz befahl den vermeintlichen Grafen vor Sie zu bringen, erkannte, umarmte[5] ihn, und ließ ihn sogleich in Freiheit setzen. Diese Thatsachen werden von dem Advokaten Horatio L. bezeugt, und der oben erwähnte D. V. erklärt ferner, unter den Papieren jenes Klosters einen Brief des Grafen gesehen zu haben, worin dieser dem Obern für seine Verwendung dankt, und ihn von seiner Freilassung in Kenntniß setzt. Einige Zeit nach dem Kindertausch verließ die Gräfin von Joinville Italien, und nahm ihren vermeintlichen Sohn mit sich. Später (die Zeit wird nicht genau angegeben) gibt der Graf von Joinville in einem Schreiben, welches der Zeuge B. B. gelesen zu haben versichert, seinem Freund, dem Grafen Borghi, die Nachricht, daß ihm seine Gemahlin einen Sohn geboren habe, und daß der Knabe, dessen sich Graf Borghi erinnern werde, gestorben sey.
[198] Was wurde aber derweil aus der jungen Maria Stella und aus Chiappini? Da ist ein Zeuge, der beweist, daß sich der Gefangenwärter von 1773 in einer sehr armseligen Lage befand, nachher aber auf einmal in Wohlstand kam, eine schöne Wohnung bezog, und auf einem glänzenden Fuß lebte. Die Gräfin Borghi, welche im Geheimniß war, als die junge Maria Stella zum Verlust der Vorrechte ihrer Geburt verurtheilt wurde, suchte durch Aufmerksamkeiten und Liebkosungen das Mißgeschick des armen Kindes zu mildern. Im Hause der Gräfin verlebte es seine ersten vier Jahre; nach dem Zeugniß von D. B. jammerte die Gräfin oft über das Vorgefallene. Chiappini, um sich den Stichelreden derer zu entziehen, die seine frühere Lage und die Mittel, wodurch er sie verbessert hatte, kannten, entschloß sich Modigliana zu verlassen, und begab sich nach Faëna. Stella wurde in einem Kloster untergebracht. In der Sorgfalt, mit welcher sie erzogen, und in der Art, wie sie behandelt wurde, erkannte man nicht die Tochter eines Gefangenwärters. Lord Newborough lernte sie kennen, und bat um ihre Hand. Die Hochzeitfeier war glänzend. Man behauptete, der edle Lord habe sich einige Anzeigen in Betreff der hohen Abkunft seiner jungen und liebenswürdigen Gemahlin zu verschaffen gewußt, wenigstens soll er oft gesagt haben, er sey versichert, daß sie nicht von Chiappini abstamme. – Ungeachtet ihrer Erhebung benahm sich Lady Newborough gegen ihre Pflegeeltern mit derselben Achtung und Zärtlichkeit wie früher; aber für Chiappini waren ihre Aufmerksamkeiten eine wahre Verlegenheit. Unfähig, sie als seine Tochter zu betrachten, nannte er sie nie anders als Madame; er stand vor ihr wie ein Bedienter, nicht wie ein Vater; unaufhörlich sprach er von seiner Dankbarkeit, hieß sie seinen Schutzengel seinen Glücksstern etc. Chiappini wurde plötzlich krank; er rief laut nach Lady Newborough. Sie trat vor sein Bett; da stammelte er die Worte heraus: No figlia! no figlia! und, indem er krampfhaft ihre Hände faßte; Baratto! baratto! Bei diesen Worten wurde Lady Newborough von ihrem vermeintlichen Bruder weggeführt, und nach einem Landhause gebracht. Zwei Tage darauf starb Chiappini. Indessen fühlte er beim Herannahen der letzten Stunde, daß er das verhängnißvolle Geheimniß nicht mit ins Grab nehmen könne; er schrieb deshalb an Lady Newbourgh folgenden Brief:
- „Mylady!
Lady Newborough empfing den Brief aus den Händen seines Beichtvaters, und es ist seitdem bewiesen worden, daß der Brief von Chiappini’s Hand war. Ist nun wirklich Lady Newborough die Tochter des Grafen von Joinville, so fragt sich, wer war dieser Graf von Joinville? [199] Man sagt, Lady Newborough habe nichts unterlassen, hierüber Gewißheit zu erlangen. sie reiste nach Paris. Würde der Gegenstand ihrer Nachforschungen – dachte sie – sogleich bekannt, so könnte in der Familie Joinville (wenn eine solche existirte) Lärm entstehen, und dieser Umstand leicht ihren ganzen Plan vereiteln. Was that sie also? Sie ließ in die Zeitungen die Anzeige rücken, eine englische Lady, die sich einige Tage in Paris aufhalte, sey beauftragt, über den Grafen von Joinville, der 1773 eine Reise in Italien gemacht habe (oder über seine Descendenz), Erkundigungen einzuziehen, um demselben wegen einer ihm zugefallenen unermeßlichen Erbschaft Mittheilungen zu machen. Sie versprach eine große Belohnung, wenn ihr Jemand schleunige Auskunft verschaffte, da sie genöthigt sey, ihre Rückreise nach London zu beschleunigen, und aus bloßer Freundschaft für eine italienische Dame die Besorgung dieser Angelegenheit übernommen habe. Bald erschien der Abbé von St. Phar, der natürliche Bruder des verstorbenen Herzogs von Orleans, bei der Lady; er kam, im Namen des (jetzigen) Herzogs von Orleans, um wegen der Erbschaft Kunde einzuholen. Lady Newborough bemerkte ihm, daß sie nicht absehe, was der Graf von Joinville den Herzog von Orleans angehe. Der Abbé, ohne sich übrigens auf nähere Erklärungen einzulassen, gab zu verstehen, daß bei dem Charakter des Herzogs von Orleans-Egalité diese anscheinend sonderbare Identität nicht unwahrscheinlich sey. Der Besuch war wegen des beharrlichen Stillschweigens der Lady nur kurz; sie versprach aber, am folgenden Tag Jemand zu dem Abbé zu schicken. Diese Person wurde Anfangs gut aufgenommen, erhielt jedoch keine bestimmte Aufschlüsse, und als man sich zu einer neuen Zusammenkunft einfinden sollte, war weit und breit kein Abbé von St. Phar.
[203] Dieser Umstand bestärkte die Lady in ihren Vermuthungen, und sie entschloß sich, jedes Mittel anzuwenden, um sich Gewißheit zu verschaffen. Was die Identität der Namen betraf, so bekam sie darüber bald Licht. Die Domaine Joinville in Lorraine gehörte 1773 dem Herzoge von Orleans: einer der Söhne des Herzogs führte den Titel Herzog von Joinville. Als die Herzogin von Chartres zum zweiten Mal Italien besuchte, reiste sie unter dem Namen einer Gräfin von Joinville, eine Thatsache, welche die Gazzetta di Parma von 1776 in ihrer 28ten Nummer bezeugt. Roger de Fon Colombe, (in einem Brief vom 15. Mai 1776 an Marquis Paolucci,) erzählt die Ankunft der Herzogin von Chartres in Reggio, mit der Bemerkung, daß sie den Namen Gräfin von Joinville angenommen habe. Er fügt ein Verzeichniß der Personen im Gefolge Ihrer Hoheit bei – darunter befand sich Frau von Genlis. Es wird hier angenommen, daß die Gräfin von Joinville von 1776 und die von 1773 die nemliche war. Glaubwürdige Personen setzen die Sache außer Zweifel. D’E. erklärt, daß er im Anfang des Jahres 1773 (damals 22 Jahr alt) mit einigen Personen, die zum Haus des Herzogs von Orleans gehörten, in Verbindung stand, und daß der Herzog von Chartres auf Reisen war. Die Baronin V. und ihr Bruder sagen, daß sie im Anfang des Jahrs 1773 in Rom waren, als der Herzog von Chartres daselbst unter dem Namen eines Grafen von Joinville ankam; er verweilte einige Zeit, scandalisirte den französischen Adel durch seine zügellosen Ausschweifungen, und setzte dann seine Reise durch Italien als Graf von Joinville fort. Bald darauf findet man ihn in Reggio, in der Nähe von Modigliana. Nach der Angabe der Madame H., welche 1773 Ehrendame bei der Herzogin von Este, der Mutter des gegenwärtigen Herzogs von Modena, war, „hatte bei der Ankunft des Herzogs und der Herzogin von Orleans im Frühjahr 1773 in Reggio, die Herzogin von Este ihren Obersthofmeister, den Grafen Menetti, abgeschickt, um II. Hoheiten zu beglückwünschen und sie einzuladen, in ihrem Palaste abzusteigen. Graf Manetti kehrte mit dem Dank des Herzogs und der Herzogin zurück, die indessen die Ehre unter dem Vorwande ablehnten, daß sie nur eine Nacht in Reggio zu verweilen und unter dem Namen Graf und Gräfin von Joinville weiter zu reisen gedächten.“ Dieselbe Dame ist auch Zeugin in Bezug auf die zweite Reise der Herzogin von Orleans im J. 1776, welche dieselbe allein, gleichfalls unter dem Namen einer Gräfin von Joinville, machte. Damals setzte der Vater der Zeugin auf Befehl des Herzogs von Modena einen Palast für die Herzogin von Orleans in Bereitschaft.
Indem Madame H. bemerkt, daß den Grafen Manetti bei der oben erwähnten Sendung mehrere Personen vom modenesischen Hofe begleiteten, fügt sie noch eine Schilderung des Herzogs von Orleans bei, nach welcher derselbe ein schöner, gut gewachsener, munterer Mann, mit einem runden, blatternarbigen Gesichte und einer etwas rothen Nase war, der kleine Ringe in den Ohren trug. Sie beruft sich auf den Kammerherrn des Herzogs von Modena, der ihre Aussage bestätigen soll. Einiger Umstände der Reise von 1773 erinnern sich noch mehrere Personen; unter Andern M.–, ein Franzose, der in demselben Jahre in Rom war: er sagt, die Herzogin von Chartres, die als Gräfin von Joinville nach Rom gekommen, seye über ihre nicht sehr glänzende Aufnahme daselbst höchst unzufrieden gewesen. Der Graf Du– will von seiner Mutter, der Prinzessin De–, einer vertrauten Freundin der Herzogin von Chartres, gehört haben, daß die Herzogin, vor ihrer Reise mit Frau von Genlis in Italien, dieß Land – und zwar als Gräfin Joinville, bereiste. Die Prinzessin De– ist nicht mehr. – Endlich will der Priester N. – die Herzogin auf ihrer Rückreise aus Italien, auf dem Weg von Alexandria nach Piemont, gesehen haben.
Zu allen diesen Angaben kommt als ein wichtiges Moment hinzu die völlige Unähnlichkeit des vorigen und des jetzigen Herzogs von Orleans und die auffallende Aehnlichkeit der Lady Newborough mit der Schwester des jetzigen Herzogs.
Der vorstehende Roman hätte keinen Werth, wenn nicht durch ihn die Vermuthung von der Existenz einer Orleanistenpartei, gegen welche er als ein politisches Manöver betrachtet werden kann, neue Bestätigung erhielte.
Die ersten Spuren einer Partei, welche den Herzog von Orleans zum Thron ruft, zeigen sich um die Zeit der Restauration. Im Gefühl ihrer Schwäche, und aller Popularität ermangelnd, verhielt sich indessen diese Partei anfänglich ruhig: sie zog sich vom Hofe zurück, ohne sich gegen den Hof zu erklären, und trat nicht eher aus ihrem Dunkel hervor, als ums Jahr 1820, als die zahlreichen damals ausbrechenden Verschwörungen ihr zu beweisen schienen, daß der Widerwille gegen die regierende Linie allgemein und folglich eine Thronveränderung zu Gunsten ihres Candidaten nunmehr ausführbar sey.
Wäre in jener kritischen Periode der Herzog von Orleans den Planen der französischen Unzufriedenen beigetreten, wer will entscheiden, ob er sich nicht hätte unter den obwaltenden Umständen auf den schwankenden Thron des alten Königs setzen können? Aber obgleich tief gekränkt über die beleidigende und abstoßende Weise, mit welcher ihn der Hof behandelte, obgleich unermeßlich reich und ehrsüchtig genug, um sich nach dem Erbe des heiligen Ludwigs gelüsten zu lassen, unterdrückte er seine Empfindlichkeit und seinen Stolz, und ließ aus Unentschlossenheit und Geiz die Gelegenheit vorbeigehen.
[204] Der Charakter dieses Fürsten ist eine Mischung von Furchtsamkeit und Ehrsucht, von Verschwendung im Kleinen und Kargheit im Großen. Im Jahr 1815 wollte er weder Ludwig XVIII nach Gent folgen, noch gegen Napoleon sich erklären. Im Jahr 1820 protestirte er gegen die Legitimität des Herzogs von Bordeaux, aber er wagte nicht, dem wichtigen Aktenstück, von welchem das gegen ihn selbst im Jahr 1828 ausgestreute Gerücht nur die Copie zu seyn scheint, alle Oeffentlichkeit zu geben. Er sprach seine Mißbiligung gegen den spanischen Krieg aus, verstand aber nicht, von den Wechselfällen, welche ihm diese ungerechte Invasion dargeboten hätte, Nutzen zu ziehen. Er ermuthigte und unterstützte Dichter, Philosophen und Künstler, aber er verweigerte seinen Anhängern, die ihm zum Thron verhelfen wollen, das dazu erforderliche Geld.
Dieser Mangel an Entschlossenheit von seiner Seite hätte ohne Zweifel den Untergang seiner Partei nach sich gezogen, wenn er nicht Prinz von Geblüt, und als solcher immer eines, wo nicht zahlreichen doch durch Einfluß bedeutenden, Anhangs sicher wäre. Es kommen aber noch andere Momente bei dem Herzog von Orleans in Betracht. Der Sohn eines Regicide; in seiner Jugend Theilhaber an den glorreichsten Siegen der Revolution; durch seine Geburt der Verwandte der Könige; durch die Einfachheit seiner Sitten und sein Vergessen des aristokratischen Dünkels der Mann des Volks – ist er im Stande, alle Parteien Frankreichs (mit Ausnahme einer einzigen) an sein Interesse zu fesseln.
Die Communeros der Revolution und die Constitutionellen der Charte, die Bonapartisten, welche der Herzog von Orleans nicht beleidigt, und die Royalisten, welche die Bigotterie des Hofes von sich entfernt hat, neigen sich zur Orleanistenpartei hin. Ihren Mittelpunkt hat aber diese Partei in den zahlreichen Freunden einer vernünftigen Freiheit, welche sich von einem Fürsten, der seine Erhebung dem Willen der Nation verdanken würde, eine Regierung in ihrem Sinn versprechen. Der König, meinen sie, der einst als Verbannter von dem Ertrag seiner Lektionen[6] lebte, müsse keine Ansprüche gelten lassen, als die des Talents und des Verdiensts; er müsse den Schriftsteller, der das Volk belehrt, den Kaufmann, der es bereichert, den Künstler, der es durch seine Werke bildet, höher achten als den vornehmen Müßiggänger, der der Gesellschaft zur Last ist, als das ganze Heer von Wespen und Drohnen, die sich von der Arbeit der fleißigen Bienen nähren.
Was man immer von den Entwürfen der Orleanisten halten mag, so viel ist gewiß, daß vornehmlich die letzten Ereignisse es sind, welche dieser Partei eine ungeheure numerische Stärke gegeben haben. Die Wahlen von 1827 ließen keinen Zweifel über die allgemeine Verstimmung des öffentlichen Geistes. Das Ministerium wollte trotz der erlittenen Niederlage die Gewalt nicht aus seinen Händen lassen. Es hatte durch seine Skandale die öffentliche Geduld ermüdet, alle Stimmen gegen sich vereinigt, alle Meinungen gegen sich aufgebracht. Die Partei ersah diese Gelegenheit, um ihren Chef dem Publikum zu zeigen. Da trat ein junger Schriftsteller, voll Muth und Vaterlandsliebe, den der Despotismus um die Zeit der Restauration zum Exil verdammt, aber nicht zum Stillschweigen vermocht hatte, Cauchois-Lemaire, mit seinem Sendschreiben hervor, und forderte – halb im Scherze, halb im Ernste – den Herzog von Orleans auf, dem Beispiele der englischen Prinzen zu folgen, und sich an die Spitze der französischen Opposition zu stellen.
Die Schrift, die wenige Tage vor dem Sturze des Hrn. v. Villele erschien, brachte in Frankreich einen tiefen Eindruck hervor. Man kann sie als das erste Factum des Orleanismus betrachten. Sie setzte den Hof in Schrecken und beschleunigte die Bildung des neuen Ministeriums. Die Gazette de France und der Moniteur, die besoldeten Organe der Regierung, beobachteten ein absolutes Stillschweigen über die kühne Flugschrift. Die diplomatischen Blätter der Opposition, der Constitutionnel und das Journal des Debats, nicht minder. Das Journal du Commerce zitirte daraus eine ganz unschuldige und ganz constitutionnelle Stelle, schien aber durch diese Zurückhaltung nur sagen zu wollen, daß man darin noch wichtigere Sachen finden könne.
Als die unglückahnende Gazette drei Tage nachher den Namen des Herzogs von Reichstadt entdeckte, schlug sie Lärm, und erklärte, es sey von der Berufung eines fremden Fürsten zum Thron die Rede. Den folgenden Tag, als sich noch immer keine Stimme vernehmen ließ, wandte sie sich an die Quotidienne: „was sagst du dazu, Schildwache der Monarchie?“ Die Quotidienne, die nun auch in Angst gerieth, rief aus, wenn dem also sey, so sey es nicht mehr an den Publicisten zu widerlegen, sondern an dem Procurator des Königs anzuklagen, und an den Gerichten zu verurtheilen. Das nun eingeleitete strenge Verfahren gegen Cauchois-Lemaire, der mitten[7] in der Nacht aus dem Bett ins Gefängniß geholt und mit zwölf andern Gefangenen von allen Gattungen zusammen in ein Zimmer gesperrt wurde, machte den Herzog von Orleans betreten und er sprach durch seinen Advokaten, den berühmten Dupin, indirekt seine Mißbilligung über die Schrift aus. Bald erklärte indessen der Globe die Gefahr für nicht sehr groß, sofern es sich ja überall nur um eine Opposition und um keine Usurpation handle; da kehrte auch dem Prinzen der Muth wieder, und er ließ Cauchois-Lemaire durch seinen Adjutanten, Herrn von Rumilly, seines Schutzes versichern und ihm sagen, daß er nicht zu seinen Verfolgern gehöre[8].
- ↑ Sur la crise actuelle, lettre à S. A. R. le Duc d’Orléans
- ↑ Aux Liberaux. Petites lettres apologétiques.
- ↑ Z. B. der Globe vom 29. Dec. und 19. Jan.
- ↑ The literary Gazette, January 12; The Sphynx January 30.
- ↑ Nach der Etikette der römischen Kirche würdigen die Kardinäle nur Prinzen vom Geblüte ihrer Umarmung.
- ↑ Der Herzog von Orleans war in Aarau eine Zeitlang Professor der Mathematik.
- ↑ Man sehe den Constitut. 13. Jan.
- ↑ Um die verschiedenen Nuancen des Orleanismus anzudeuten nennt die Sphynx Namen wie Talleyrand, Alexander Lameth, Sebastiani, Marmont, Chauteaubriand, Hyde de Neuville, Royer Collard, Ternaux, Dupin, Casimir de la Vigne, Vernet und Andere: eine Liste, mit welcher es wahrscheinlich nicht so ganz seine Richtigkeit hat, so wie wir überhaupt alles Gesagte, namentlich auch das Urtheil über den Charakter des Herzogs, blos getreu aus den englischen Blättern referirt haben, ohne uns ein eigenes Urtheil zu erlauben.