Der Habermeister
„Kruzitürken, was ist denn das für ein Wirthshaus, wo man die Leut’ verdursten laßt? Eingeschenkt oder die Kellnerin aufgehängt!“ so schrie, ungeduldig mit dem Zinndeckel eines Steinkruges klappernd, ein dickleibiger Mann in halber Bauerntracht, der eben vor dem Wirthshause an der Kreuzstraße angekommen war und neben den zum Eingange hinaufführenden Stufen Platz genommen hatte. Das Gasthaus mit den blanken, weißgetünchten Wänden, den vielen hellen Fenstern und den grünen Läden dran, mit dem stattlich verzierten hohen Giebel stand recht einladend in Mitte einer großen Waldblöße, gerade da, wo zwei bedeutende Straßen senkrecht einander kreuzten. Der Wald war nach allen Seiten ziemlich weit zurück gelichtet, bis an seine Ränder hin wechselten grüne Wiesenstreifen mit braunen Ackerbreiten und leeren Saatfeldern, auf denen die Stoppeln mit weißen, lang hin wehenden Spinnenfäden wie mit geschwenkten Fahnen verkündeten, daß der Herbst bereits ernstlich seinen Einzug gehalten. Es war hohe Mittagszeit, der Sonnenschein legte sich hell und heiß auf Wald und Blöße und wenn manchmal ein leiser Lufthauch vorüberstrich, brachte er den Harzduft der Tannen mit, den die Schwüle ausgebrütet unter dem dunklen, grünen Gezweig.
Nirgends war Schatten zu erspähen; nicht einmal an den schmalen Sitzreihen und den noch schmäleren Tischen vor dem Wirthshause, nur über den Heckenzaun des grasigen Baumgartens sahen die Kronen einiger Obstbäume herüber – der Bauer verschmäht es, für die Bequemlichkeit eines schattigen Sitzes zu sorgen, und wenn er zur Schenke geht, hockt er am liebsten enggedrängt in niedriger Stube, fast als wollte er sich flüchten und abschließen vor der freien Natur, der er sonst tagüber angehören muß.
Der Stufenvorsprung des Eingangs mit seinem Dachgebälke und dem schräg davon abfallenden Schatten bildete das einzige kühle Plätzchen und war deshalb gleich den andern Tischen und Bänken bereits vollauf mit Gästen besetzt; dennoch war der ankommende dicke Mann in Hemdärmeln, den Rock über die Achsel geworfen, einen derben Stock in der Hand und einen noch derberen Fanghund hinter sich, unbekümmert und fest geradezu auf den kühlen Winkel losgesteuert, gleich als verstände es sich von selbst, daß da und nirgends anderswo ein Platz für ihn vorhanden sein müsse. Er täuschte sich auch nicht in dieser Erwartung, denn die bereits seßhaft gewordenen Bauern hatten bei seinem Erscheinen nichts Eiligeres zu thun, als recht nahe aneinander zu rücken, damit er ja in der innersten Ecke, wo es am bequemsten und kühlsten war, seine Stelle finde: unverkennbar, weil er sich selbst das Ansehen gab und weil er reich war; das verrieth nicht nur die schwere Reihe von Silbermünzen, welche als Knöpfe über den stattlichen Bauch spannten, sondern noch mehr der breite, wohlgefüllte lederne Geldgürtel um seine Hüften. Während er sich mit aller Wucht auf den Brettersitz niedergleiten ließ, löste er den Gurt und warf ihn wie achtlos neben sich, trocknete sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von dem fetten, rothen Gesicht und erwiderte mit gnädigem Nicken die Grüße der Anwesenden, welche ihn willkommen hießen.
Zur andern Seite des Stufenaufgangs, in der gegenüberliegenden Ecke, fast unmittelbar neben der Thür des Pferdestalls, war ebenfalls eine Bank mit einem gebrechlichen Tische davor angebracht; an diesem saß, völlig abgeschieden von den übrigen Anwesenden, ein einzelner Gast, ein Bauer von hagerer Gestalt und mit magerem, verkümmertem Angesicht, das durch die graugemischten Stoppeln des nicht abgenommenen Bartes einen Ausdruck von Verwilderung und Verkommenheit erhielt, welcher durch den schadhaften und unsaubern Anzug nur erhöht wurde. Ein schmieriger, großer Sack, der neben ihm unterm Tische lag und durch dessen Löcher allerlei bunte Lappen hervorsahen, ließ erkennen, daß es das Wandergewerbe des Lumpensammlers war, was er betrieb. Niemand kümmerte sich um den Abgesonderten, er aber schien wohl wahrzunehmen und zu hören, was an den andern Tischen geschah, denn auch er versäumte nicht, dem Angekommenen seinen Gruß zuzurufen.
Dieser wendete sich halb nach der Richtung, von welcher der Ruf kam, und blickte den Mann, als wollte er sich überzeugen, daß er recht gesehen und gehört, mit einem kurzen Blicke höhnischer Verwunderung an, dann wandte er sich, ohne einen Laut zu erwidern, geringschätzig ab und rief den Uebrigen mit lauter Stimme zu: „Wie kommt denn der Lump daher? Darf der sich noch in einem Wirthshaus blicken lassen unter ehrlichen Leuten?“
Ueber die Wangen des Ausgestoßenen flog eine rasche Röthe, er drehte sich ab und stützte Kopf und Gesicht, wie um sie zu verbergen, in die aufgestemmten Hände, dann erhob er sich halb, es war, als kämpfte er mit sich selbst, ob er schweigend sich entfernen und der Unbill weichen, oder ob er derselben zur Abwehr entgegentreten solle.
Die Bauern hatten vorher auch nicht mit einem Blicke auf [578] ihn geachtet, und wenn sie ihn gewahr geworden, so waren sie mit seiner stillschweigenden Ausschließung ganz einverstanden, daß aber der reiche Metzger ihm das so laut und rauh zu hören gab, brachte die gutmüthigen Leute dennoch in Verlegenheit und der dem neuen Gaste zunächst Sitzende, ein alter Bauer mit freundlichem, rothem Gesicht und stattlichem, weißem Schnauzbart, brachte es nicht über’s Herz, demselben anders zu antworten, als mit halb unterdrückter Stimme: „Es ist der Nußbichler Alis – er wird wohl auf seiner Wanderschaft da sein und Hadern suchen…“
„Da in der Einöd’? An der Kreuzstraßen?“
„Oder er hat davon gehört, daß wir heut’ Alle vom Bezirksamt daher bestellt sind. Ihr müßt wissen, daß wir Osterbrunner Bauern einen Streit haben mit den Hungerleidern von der Westerbrunner Gemein’ wegen der Vermarkung an unsern Gemeindewald, da soll heute die Grenz’ begangen werden: vielleicht will er auch dabei sein.“
„Aber ist er denn nicht längst von Haus und Hof?“
„Freilich, das Gütl ist ihm längst verkauft worden, vom Gericht aus, aber er glaubt, es wär’ ihm Unrecht geschehen und er müßt’ es einmal wieder bekommen, und da stellt er sich überall ein, wo die Gemeind’ zusammenkommt; er meint, er thät sich was vergeben, wenn er wegblieb’, und so schaut man nit auf ihn, laßt ihn halt geh’n!“
„Aber das soll man nicht!“ rief der Metzger wieder, herausfordernd und laut wie zuvor. „Einen solchen Menschen sollt’ man gar nicht mehr leiden in der Gemeinde, und ehe drei Wochen in’s Land gingen, müßt’ er mir draußen sein aus dem Dorf, als wenn er nie drinnen gewesen wär’! Ist denn nit im vorigen Herbst bei ihm Haberfeld getrieben worden? Das ist ja schlimmer, als wenn er im Zuchthaus gewesen oder am Pranger gestanden wär … mit einem Solchen thät ich nicht viel Federlesen machen, aber das versteht Ihr halt nicht, Ihr seid und bleibt halt Bauern!“
Der Betroffene saß unbeweglich, als hätt’ ihn ein Krampf ergriffen und erstarrt, die Bauern hörten zu und nickten mit verlegenem Lächeln. „Wir haben erst gar nit gesehen, wer drüben gesessen ist an dem Katzentischel,“ sagte der Weißbart wieder, „wir sind gar zu verwundert gewesen, wie wir Enk (Euch) gesehen haben, Herr Staudinger … daß Ihr so zu Fuß daher kommen seid und völlig allein! Geht’s Oes (Ihr) denn jetzt selber in’s Gäu?“
„Muß ich denn nicht?“ erwiderte der Dicke in neuem, steigendem Aerger. „Hab’ meinen Knecht, den Steffel, nach Unterwies bestellt mit dem Schweizerwagerl – aber er ist nicht ’kommen und wird sich gewiß irgendwo in einem Wirthshaus festgesoffen haben, der Hallunk’! So hab’ ich wohl auf Schusters Rappen weiter gemußt; thut auch schon Noth, daß man sich selbst rührt, wenn noch etwas herausschauen soll bei der Handelschaft – auf die Knecht’ darf man sich nicht mehr verlassen und mit Euch Bauern kann man gar nicht genug auf der Hut sein, denn Ihr seid Spitzbuben Alle mit einander!“
Die Bauern lachten wieder; sie nahmen es hin, daß der Allen bekannte reiche Viehhändler sich herabließ, mit ihnen seine gnädigen groben Späße zu treiben. „Und dazu eine solche Hitz’!“ fuhr er fort. „Als wenn’s auf die Hundstäg’ losging und net auf den October! Und weil ich grad so nah’ dran vorbei ’kommen bin, hab’ ich auch noch einen Umweg gemacht und bin auf den Steinberg hinauf in den Grundnerhof und hab’ gedacht, ich werd’ ein paar ordentliche Kalbeln erwischen, und hab’ richtig einen wirklichen Metzgergang gemacht…“
„Ja warum denn? Seid’s nit handeleins ’worden?“ fragte Einer.
„Nein,“. sagte der Metzger und lachte schon voraus über den Spaß, den er wieder auszusprechen im Begriff war; „ich hab’ den Grundner gar nimmer angetroffen, er ist selber schon verhandelt gewesen mit Haut und Haar – grad’ am Abend zuvor hat er’s gar gemacht und ist gestorben…“
„Was? Gestorben? Der alte Grundner?“ rief es aus dem Munde der Zunächstsitzenden wie mit Einem Laut und wie der Funken am Zündfaden durchrannte die Nachricht die ganze ländliche Versammlung; Worte des Bedauerns, Ausdrücke der Verwunderung antworteten von allen Seiten und zeigten, daß der Geschiedene nicht blos ein vielbekannter, sondern auch ein biederer Mann gewesen sein mußte, dem die Achtung und Liebe Aller gehörte, die ihn kannten. Ein paar ältere Männer warfen sich bedeutsame verstohlene Blicke zu, als wollten sie sagen: wir wissen es am besten, was für ein deutscher Mann er war und was die ganze Gegend an ihm verloren hat und wie so bald Keiner zu finden sein wird, der ihn ersetzen kann. Das Gespräch summte eifriger; man wollte wissen, wie das geschehen und was so in der Geschwindigkeit über den noch so rüstigen Mann gekommen sei, dem man trotz des fast erreichten Siebzigers weder das Alter angesehen, noch ein Abnehmen der Kraft. Andere aber meinten, er sei in der letzten Zeit doch nicht mehr so recht der alte baumfeste und gemüthliche Grundner gewesen, wie vor einem Jahre; schon im letzten Auswärts sei eine Schwäche über ihn gekommen, von der er sich nicht mehr zu erholen vermocht – er habe sich eben niemals Ruhe gegönnt und habe geschafft und gearbeitet früh und spät, und wenn Jemand auf ihn angestanden und auf seine Hülfe, so sei er bereit gewesen jede Stunde in der Nacht.
Und wieder blickten die Alten sich bedeutsam an und nickten, als wollten sie sagen: wenn wir reden dürften, wir wüßten es wohl am besten, was er Alles gethan.
„Aber wie ist denn das,“ rief Meister Staudinger, das ihn nicht anziehende Gespräch unterbrechend, und schlug mit seinem Stecken über den Tisch, daß die Krüge hüpften und die Teller klangen; „bekomm’ ich gar kein Bier in dem Haus? Kruzitürken, die Kellnerin überstaucht sich die Füß’ nicht auf der Kellerstiegen. Wenn ich der Wirth an der Kreuzstraßen wär, der wollt’ ich das Springen lernen…“
„Noch ist Keiner verdurst’t an der Kreuzstraßen,“ erwiderte ruhig die Gerufene, welche eben, einen einzelnen Krug in der Hand, die Eingangsstufen herabkam und die letzten Worte vernommen hatte, „und was das Lernen angeht, dazu gehören allemal Zwei…“
Das Mädchen war eine eigenthümlich schöne, in dieser Umgebung und der bäurischen Tracht fast überraschende Erscheinung; der kräftigen und doch feinen Gestalt entsprachen vollkommen die füllreichen und doch zierlichen Formen. Die Farbe des von reich geflochtenen lichtbraunen Zöpfen umrahmten Gesichts war beinahe bleich, aber ein Hauch der Frische, der darüber hinging, zeigte, daß das nicht Kränklichkeit war, sondern nur ungewöhnliche Feinheit und Zartheit. Um den kleinen, zum Lächeln bereiten Mund schwebte etwas wie anmuthige Schalkheit, aber darüber in den braunen Augen wohnte als Hüter ein so entschiedener Ernst, daß sie nicht auskam und der Gesammtausdruck zwar auf den ersten Blick freundlich gewinnend anzog und dennoch gleichzeitig mit strenger Unnahbarkeit wieder von sich stieß. Es war beinahe, als ob ein an feinere Verhältnisse gewöhntes Wesen nothgedrängt sich in die rauhere Hülle und Umgebung geflüchtet und nun, ganz in sich zurückgezogen, mit scheuer Vorsicht darüber wache, daß kein Störer entweihend eindringe in das Heiligthum ihres Geheimnisses.
Sie wandte sich mit dem Kruge der Stelle zu, wo der Ausgestoßene saß.
„He da!“ schrie der Metzger, der sie verblüfft betrachtete und anhörte, „hat die Person keine Augen im Kopf? Auf meinen Tisch, da zu mir her gehört das Bier…“
„Der Mann da hat früher bestellt,“ erwiderte ruhig das Mädchen, indem es dem Einzelnen neben dem Pferdestall mit dem üblichen ‚Gesegn’ es Gott’ den Krug hinstellte.
„Na, der hätt’ wohl warten können!“ knurrte der Meister; „ich mein’, wenn Unsereins da ist …“
Er vollendete nicht, denn das Mädchen hielt jetzt, den Fuß auf die erste Stufe setzend, unmittelbar vor ihm an und blickte ihn mit den großen dunklen Augen so fest und ernst in’s Gesicht, daß er darüber den Faden seiner Rede verlor.
„Warten?“ sagte sie. „Warum etwa? Der Sechser von dem armen Menschen ist accurat so viel werth, als der von jedem Andern und wenn’s der reichste Viehhändler und Kornkipperer wär’ – und bei mir daheim heißt’s allemal, wer zuerst kommt, der mahlt zuerst!“
Damit verschwand sie im Hause und überließ den Metzger, der mit offnem Munde und aufgesperrten Augen da saß, seiner Verwunderung. „Kruzitürken!“ stieß er endlich beinahe stammelnd hervor, „das ist ja wieder was ganz Neues! Die Person hat der Kreuzwirth wohl eigens eingestellt als Zuwider-Wurzen, damit sie den Leuten über’s Maul fährt und den Gästen Grobheiten macht? Wie heißt denn das Schatzerl, das nette? Wo ist sie denn her, damit man doch weiß, wo die Sorten wachst?“
[579] Die Kellnerin kam zurück und brachte den lang ersehnten Krug mit Zubehör; freundlich, als ob nichts vorgefallen, schenkte sie das Glas aus dem schäumenden Kruge voll und sprach dazu ihr offenes „Gesegn’ es Gott“. Der Metzger aber that, als gewahre er sie nicht, er saß abgewendet und unterließ es auch, den Gruß durch die übliche Aufforderung zu erwidern, sie solle durch Antrinken Bescheid thun und so den Gast nach altem Brauche willkommen heißen.
„Die Franzel,“ sagte der schnauzbärtige Alte, nachdem sie sich gleichmüthig entfernt hatte, „ist eine gute Person und eine brave dazu – es kann Niemand nichts Unrechtes von ihr sagen, aber dasselbe ist wohl wahr, daß sie ein bissel von der wilden Seiten ist… Es wird sich bald jahr’n, daß sie da als Kellnerin eingestanden ist an der Kreuzstraßen – aber wo sie eigentlich her ist, das darf ich nit verrathen…“
„Warum nicht?“ rief der Metzger neugierig; der Bauer aber, vergnügt ihm auch etwas hinausgeben zu können, erwiderte zu großem Gelächter der Bauern: „Weil ich’s selber nit weiß!“
„Mir ist alleweil,“ fiel ein Anderer ein, „als hätt’ ich einmal ’was läuten hören von dem Madel … ist sie nit ein ledig’s Kind, das niemals keine Eltern g’habt hat? … Auf dem Aichhof ist sie aufgezogen worden? … Nit?“
„Wir wollen den Schullehrer fragen,“ sagte der Erste, „er legt eben die Karten hin und stopft sich seine Tabakspfeifen – bis zu einem neuen Labet ausgegeben ist, könnt’ er wohl erzählen, der muß Alles wissen aus dem Kirchenbuch, denn der Aichhof gehört in seine Gemeind’ und die Franzel muß bei ihm in die Schul gegangen sein… Fragen wir einmal.“
Dem Lehrer, einem rüstigen Fünfziger, dem man die Mühen und Entbehrungen seines Standes nicht ansah, schien es nicht unangenehm, in dem Zwickspiele, das harmlos genug um Bohnen gespielt wurde, eine kleine Pause zu machen und durch eine Erzählung auszufüllen, bei welcher er seine Vertrautheit mit Allem glänzen lassen konnte, was die Angehörigen seines Schulsprengels und Alle betraf, die einmal vor ihm auf der Schulbank gesessen. „Ihr habt ganz recht,“ sagte er auf die Anrede des Bauers, indem er näher trat, mit langem Papierstreifen seine Pfeife anbrannte und einige starke Rauchwolken von sich blies, „daß Ihr gleich vor die rechte Schmiede kommt und mich fragt. Mir sind die Kinder in meiner Schule, wie die Obstbäumchen, die ich im Schulgarten ziehe und pfropfe und oculire – wenn die Stämmchen auch herangewachsen sind und werden herausgenommen und in einen andern Garten versetzt, der oft Stunden weit entfernt ist, so werden sie mir doch darum nicht fremd; ich beobachte, wann und wo ich kann, wie sie gedeihen und wie sie sich auswachsen, und wenn es auch nur über den Zaun hinein geschah, hab’ ich doch schon manchem auch in dem neuen Garten die Wasserschößlinge ausgeschnitten, damit die Fruchtkrone nicht verkümmern soll, oder ich habe ihm einen Pfahl beigebunden, daß er fein hübsch gerade geblieben ist… So mach’ ich’s mit den Kindern auch, ich geh’ ihnen nach und behalte sie im Auge, wenn sie auch schon groß gewachsene Leute und Dienstboten oder gar selber schon Väter und Mütter sind: ich hab’ es auch schon hier und da versucht, mit dem Gartenmesser nachzuhelfen und nachzuputzen – aber leider sind die Menschen nicht so geduldig und willig wie meine Bäumchen…“
Meister Staudinger hatte eben einen tüchtigen Zug aus dem Kruge gethan, jetzt klappte er den Deckel zu und rief mit ärgerlichem Lachen: „Ja, um uns noch einmal Schul’ halten zu lassen, dazu sind wir zu alt…“
„Werden Sie nicht ungeduldig, Herr,“ sagte der Lehrer und maß den Dicken mit dem Kennerauge des Gärtners, der einen aus der Art gerathenen knorrigen Baumstamm betrachtet, „es ist nichts so Besonderes an der Geschichte, daß Sie so sehr darauf gespannt sein dürften – so etwas kommt überall und alle Tage vor und ich rede auch nur, um übler Meinung und falscher Nachrede vorzubeugen, die aus halbem Wissen entstehen und dem Mädchen Schaden thun könnte, denn die Franzi ist ein braves, rechtschaffenes Mädchen, wie sie in der Schule ein gutes, fleißiges Kind gewesen, an dem man seine Freude haben konnte. Aufgewachsen aber ist sie auf dem Aichbauernhof – Sie kennen ja wohl das schöne, reiche Einödgut, das im Seewinkel so stattlich von der Anhöhe herunter sieht, wie ein kleines Schloß… Der Aichbäurin, Gott habe sie selig, war es gar nicht nach dem Sinn, daß sie nur zwei Söhne hatte und keine Tochter, und je mehr die Buben heranwuchsen und tüchtig wurden und anstellig, je mehr that es ihr leid, daß sie nicht auch ein Mädchen um sich hatte, das ihr an die Hand gehen und sie unterstützen und bei ihr bleiben sollte, wenn die Söhne einmal aus dem Hause oder verheirathet sein würden… Sie ließ nicht nach und brachte es beim Aichbauer dahin, daß sie beschlossen, sie wollten fremder Leute Kind in’s Haus nehmen, und wenn es von guter Art sei und bleibe, wollten sie es halten wie ihre eigenen. So fuhren sie in die Stadt und gingen in’s Waisenhaus und besahen sich die armen Kinder alle, die da auf Kosten der Gemeine ernährt und erzogen werden und an denen gerade damals kein Mangel war, denn den Winter zuvor hatte die Cholera in der Stadt übel gehaust und hatte der Waisen gar viele zurückgelassen. Da sahen sie die kleine Franzi und sie gefiel der Bäuerin, weil sie ihr so gerade und offen in’s Gesicht sah und sich auf die Frage, ob sie mit ihr gehen wolle, gleich zutraulich an ihre Schürze hing, und so nahmen sie das Mädchen, das so ein fünf Jahre alt sein mochte, mit sich, und die Herrn von der Gemeinde und die barmherzigen Schwestern, die den Dienst und die Kinderpflege versehen im Waisenhaus, waren alle froh über das Glück, das dem Kinde zu Theil geworden – von seinen rechten Eltern aber war nicht viel mehr zu erfahren, als daß sie arme, aber ehrliche Leute gewesen – wenn ich nicht irre, ist der Mann ein Handwerksgeselle gewesen, ein Kunsttischler oder Kunstdrechsler: die beiden Leutchen sind in einer Nacht an der Cholera gestorben, und da keine Verwandten sich meldeten und zu erfragen waren, mußte sich der Magistrat um das verlassene Kind annehmen und that es in’s Waisenhaus…“
„Wenn Sie nichts Gescheideres zu erzählen wissen,“ rief unmuthig der Metzger, „so lassen Sie es lieber ganz bleiben! Waisenhaus, Cholera – ist das ein Discurs, wenn man im Wirthshaus ist – da schmeckt Einem zuletzt das Bier nicht mehr!“ Er hob lachend den Krug und setzte an, wie zu einem starken Trunke, aber das Lachen klang nicht mehr so übermüthig laut und nachdem er nur genippt, stellte er den Krug wieder zurück – es war wirklich, als ob das Bier zu munden aufgehört. „Das ist der Mühe werth,“ fuhr er fort, „daß man so viel Aufhebens macht wegen einer solchen Person! Wenn Sie auch noch so sehr sie loben und herausstreichen, es kommt zuletzt doch auf das heraus, was ich mir gedacht hab’, daß sie nicht weit her ist und daß sie den Aichbauernleuten, die sie zu sich genommen und aufgezogen haben, mit Undank und weiß Gott was, vergolten hat, sonst wär’ sie gewiß noch auf dem Aichhof und müßt’ nit herumfahren unter den Leuten als Kellnerin.“
„Sie thun ihr auch hierin Unrecht,“ sagte kopfschüttelnd der Schullehrer, „man muß nie ein Bäumchen so kurzweg ausreißen – manches, das dürr scheint auf den ersten Anblick, kann um Johanni noch ausschlagen, wenn der zweite Trieb kommt! Die Franzi ist immer fleißig gewesen und brav und hat wacker ausgehalten bei den Aichbauernleuten; und die haben sie auch lieb gehabt und gehalten wie ihr eigenes Kind, wenn es auch ein bischen anders gegangen ist, als sie sich’s eingebildet hatten. Es war, als ob der Himmel sie auf die Probe setzen wollte, denn nach einer Weile kehrte ganz unverhoffter Weise der Storch noch einmal auf dem Aichhof ein und ein Spätling von Mädchen in der Wiege erfüllte den einzigen Herzenswunsch der Bäuerin – sie ließ es aber das angenommene Waisenkind nicht fühlen, daß es nun eigentlich überflüssig geworden war, und so blieben sie friedlich und einträchtig beisammen, die zwei Brüder und die zwei Mädchen, die es fast nicht anders wußten, als daß sie Schwestern seien, bis eben die Zeit kam, wo die beiden Alten rasch hinter einander das Zeitliche segneten, noch dazu, ohne daß sie Ordnung gemacht hatten, wie es einmal mit Haus und Hof gehalten sein sollte, wenn sie nicht mehr da sein würden… Da mag’s zu Streit und Unfrieden gekommen sein und gewiß ist nur, daß das Band, das die vier Menschen bisher zusammen gehalten, gelöst war und daß sie auseinander stoben, wie die Körner einer aufplatzenden Samenkapsel, nach allen vier Himmelsgegenden. Der jüngere Bruder, der Waldhauser, der ein paar Jährchen studirt hatte, ließ sich seinen Antheil herauszahlen und zog in die Stadt, wo er einen Holzhandel angefangen; die Tochter war eine Zeitlang bei einer Schwester der Mutter, die kinderlos ist und auch einen schönen Hof besitzt, da, wo es zum Müller am [580] Baum hinüber geht; später hat sie sich verlocken lassen und ist zum Bruder Holzhändler in die Stadt gezogen. Die Franzi hat den Aichbauern-Leuten im Grab gedankt dafür, daß sie ihr die Lieb’ gethan und sie auferzogen haben in Zucht und Arbeit, und hat den Bündel geschnürt, um sich in Dienst zu verdingen; der ältere Bruder aber, der Sixt, hat den Hof behalten und haust und wirthschaftet darauf, daß es nur eine Freude ist, es zu sehen. … Das ist eines von den Stämmchen aus meiner Baumschule, an dem ich mein ganzes Vergnügen habe, und wenn es auch ein tüchtiger Marsch ist, kann ich mir’s doch nicht versagen, sondern wandere alle paar Wochen einmal hinauf auf den Aichhof und ergötze mich daran, wie Alles auf dem ganzen Gut aussieht, als wär’s aus dem Ei geschält, und wie da Alles in einander greift und ein Sinn und Schick ist in Allem, daß man wohl sagen kann, es ist eine wirkliche Musterwirthschaft …“
„Hoho,“ lachte der Metzger, der in seiner Gereiztheit es nicht vertragen konnte, Jemand gelobt zu hören, „Sie sind freigebig mit Ihrem Lob, Herr Schullehrer – Sie streichen ihn ja heraus über den Schellenkönig!“
„Jaja,“ sagte nickend der weißbärtige Alte, „das ist auch nit anders, Herr. … Der Sixt, der junge Aichbauer, das ist Einer, wie sie nit dick gesät sind im Land; ein ganzer Bauer, wie sein Vater einer gewesen ist, und ein kernfester Mann dazu, der einen richtigen Kopf hat unterm Hut und unterm Brustfleck ein richtiges Gemüth – Alles, wer ihn nur kennt, hat ihn gern und hat Respect vor ihm – Keiner im Dorf thut was Wichtig’s, wo er nit zuerst den Sixt um die Meinung fragt, und wenn wieder die Wahl ist in der Gemeind’, wird kein Anderer Vorsteher als wie er, das ist so gewiß, als wenn er’s schon unterschrieben im Sack hätt’! Und wenn’s ihm einfallt, eine Bäurin auf den Aichhof zu führen, denn jetzt lebt er alleweil noch einschichtig und allein, da wird dem Hochzeitlader gewiß überall die Thür sperrangelweit aufgemacht, denn wenn er auch nicht trutzig dareinschauen kann, ist er doch ein so sauberer Bursch, als nur Einer zu finden ist von der Leizach bis hinüber an die Mangfall!“
„Meinetwegen laßt ihn gleich in Gold fassen,“ grollte der Metzger, „Euer Wunderthier, den Aichbauern, und das Schatzerl von einer Kellnerin dazu! Wird sich ein bischen was abhandeln lassen von der Glorie, und wird bei ihm seinen Haken haben, wie bei ihr! Ich bleib’ dabei, sie ist nicht weit her, und jetzt, nachdem ich Alles weiß, sag’ ich’s erst recht – wenn sie eine richtige Person wär’, so wäre sie auf dem Aichhof geblieben, als ein ordentlicher Dienstbot, aber wie sie die Freiheit erlitzt (ergattert) hat, ist sie halt fort – das gespür’ ich, als wenn ich dabei gewesen wär’! – da ist sie davon, weg von der Arbeit, zu dem Herumschwenzen und zu der Lustbarkeit!“
Der Lehrer hatte seine Pfeife ausgeraucht und klopfte die kaltgewordene Asche auf den Boden; er schwieg einen Augenblick, indem er wieder den dicken Meister wie prüfend und mißbilligend ansah. „Sie sind offenbar gegen das Mädchen erbittert,“ sagte er dann, „und sollten deshalb nicht so hart urtheilen, auf den ersten Anblick hin, und auf den Schein … ich weiß aus Erfahrung von meinen Bäumen her und von den Früchten, die sie tragen: Diejenigen Aepfel, die eine matte Farbe haben und eine rauhe Schale, sind meist die reichsten an Saft und Duft – in den großen glänzenden aber, in den schönen vollbackigen sitzt meistens mitten im Kerngehäuse der Wurm …“
„Damit wandte er sich und ging seinem Platze zu, das Spiel um Bohnen fortzusetzen; der Metzger erwiderte nichts und starrte, die Hände auf den Stock stützend, in die blaue Luft empor, als habe er etwas Hochwichtiges zu bedenken; auch die Andern schwiegen, Niemand wußte recht, wie er die eingetretene Pause allgemeiner Befangenheit am besten unterbrechen könne.
„Die Geschichte mit den Leuten vom Aichhof,“ sagte endlich Einer, „ist aber damit noch lange nicht aus. Der jüngere Bruder, der Waldhauser, ist ja wieder da. …“
„Hab’ auch davon gehört,“ erwiderte der Weißbart, „er soll im Sinn haben, sich irgendwo einen Hof zu kaufen, und will wieder ein Bauer werden – ich glaub’ aber kaum, daß er’s zuwege bringt. Bin neulich in die Stadt hineingefahren, weil ich was zu verhandeln gehabt hab’ wegen der Holzabfuhr auf dem Salinenforst – da ist er mir begegnet mit sammt seiner Schwester, der Susi; sie sind alle Zwei schier ganze Stadtleut’ worden und werden wohl nimmer gut thun bei uns Bauern auf dem Land! Aber grausam reich soll er ’worden sein in der kurzen Zeit, das hab’ ich erzählen hören, – er hat mit Häusern gehandelt und hat sich auf’s Geldausleihen verlegt und dabei soll Einem in der Stadt das Geld nur so zum Fenster hereinfliegen. …“
„Und wie ist’s mit der Susi? Die bleibt wohl in der Stadt?“ fragte ein junger Bauer.
„Beileibe nit,“ antwortete der Alte, „sie ist auch wieder da und sie muß wohl! Ihre Basen, ihre Mutterschwester, bei der sie schon früher gewesen war, die ist jetzt steinalt und wird’s nimmer lang machen, heißt’s; die hat nach ihr verlangt und wenn die Susi auch nit viel Freud’ hat dabei, so kann sie doch nit anders, ein solches Erbtheil läßt man nicht gern hinten und da muß man schon ein bissel was über Macht thun!“
Das Geräusch von heran rollendem Fuhrwerk unterbrach das Gespräch; der Alte hob die Hand über die Augen und sah scharf darnach hin. „Da kommt auch ’was Städtisches gefahren,“ sagte er, „das wird wohl der Herr Bezirksamtmann sein, der kommt wegen der Waldvermessung und Grenzbegehung.“
„Nein,“ sagte ein Anderer, „das ist nichts von einem gestickten Kragen – der Herr sieht eher wie geistlich aus und ein Weiberleut ist auch dabei …“
„Da haben wir’s!“ sagte der Alte wieder. „Jetzt erkenn’ ich sie: wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt! Das ist der Waldhauser vom Aichhof und seine Schwester, die Susi … wie kommen denn die daher?“
„Sie werden wohl mit dem Bruder, dem Sixt, zusammentreffen wollen!“ rief der Lehrer, dessen Aufmerksamkeit ebenfalls rege geworden, vom Spieltisch herüber, indeß er die Karten mischte. „Der ist ja Einer von den Größt-Begüterten und kommt sicher auch her wegen der Grenzvermarkung.“
„Das ist wahr und so wird’s auch sein,“ entgegnete der Alte, „und weil dem Herrn Staudinger doch einmal so viel daran gelegen ist, kann er die ganze Freundschaft vom Aichbauernhof gleich auf einem Fleckel beieinander sehen!“
[593] Der Metzger erwiderte nichts und wandte der Richtung, wo der Wagen immer näher heran rollte, den Rücken zu. Die Meisten der Anwesenden aber sahen den Kommenden mit desto größerer Aufmerksamkeit entgegen und flüsterten einander ihre Bemerkungen über Gespann und Wagen und dessen Besitzer zu.
„Sie sind’s wahrhaftig!“ sagte der junge Bauer wieder. „Das ist die Aichbauern-Susi – ich bin ihr manch’ liebes Mal zu Gefallen gegangen, aber ich hab’ sie nit wieder erkannt! Was ist das noch vor anderthalb Jahren ein lebfrisches Bauernmadel gewesen und jetzt …“
„Ja,“ erwiderte der schnauzbärtige Alte, „die hat die Stadt einmal hergericht’ auf den Glanz, – man meint, sie müßt’ sterbenskrank sein, sie thut ordentlich leuchten, so blaß ist sie …“
Inzwischen war das Fuhrwerk herangerollt und hielt vor dem Wirthshause an; ein feiner ungarischer Korbwagen, mit einem Paar schöner Schweißfüchse bespannt, welche unter Stampfen und Schnauben der sicheren Lenkung des Mannes im Wagen gehorchend anhielten. Er war ganz schwarz gekleidet, und dieser Umstand sowohl, als der schmale weiße Hemdkragen, der sich über die ebenfalls dunkle Halsbinde legte, machten es wohl erklärlich, daß die Bauern von seinem geistlichen Aussehen sprachen, zumal wenn er den Hut wie zum Gruße abnahm, und das kurz geschorene Haar zeigte. Sein Gesicht war wohlgeformt und von einem freundlichen Lächeln belebt; aus den blauen Augen blickte ungemeine Sanftmuth, wenn sie auch vermieden, lang auf einem Gegenstande zu verweilen, und ein rasches Blinzeln nach der Seite hin manchmal dem ganzen Ausdruck etwas Tückisches und Lauerndes gab. Auch die Erscheinung des neben ihm sitzenden Mädchens widersprach den Bemerkungen nicht, welche die Landleute schon bei ihrem Herannahen ausgetauscht hatten, – von den Kleidern, die sie trug, war nicht viel mehr als der städtische Zuschnitt zu gewahren: die ganze anscheinend sehr schlanke Gestalt zwar in ein großes faltiges Umschlagetuch eingehüllt, als habe sie trotz der Sonnengluth das Verlangen, sich vor Frost zu schützen; sie lag in die Wagenecke gelehnt, und das schön geformte bleiche Antlitz, von pechschwarzem Haar umrahmt, war in das Kissen zurückgesunken, mit geschlossenen Augen, als wäre sie von der Fahrt bis zur Erschöpfung angegriffen oder zum Tode krank.
Der Mann stieg ab, reichte dem herbeigeeilten Hausknecht die Zügel hin und rief dabei mit süßem Lächeln und in einem so gerührt zärtlichen Tone, als gälte es der Begrüßung des ältesten und vertrautesten Freundes: „Schau, schau, der alte Dick’l ist auch noch auf der Welt! Ist das eine Freude, wenn man so einen alten Bekannten wieder sieht! Versorg’ mir fein die Fuchsen gut – Du weißt ja, daß es geschrieben steht, der Gerechte soll sich auch des Viehs erbarmen! Lauter alte bekannte Gesichter,“ fuhr er fort und blickte im Kreise umher. „Das thut Einem wohl – man meint gar nicht, daß man fort gewesen. … Ah, sieh da, der Herr Lehrer auch hier … das ist noch das größte Vergnügen … ein Mann, dem ich so Vieles verdanke! Sie kennen mich wohl gar nicht mehr, Herr Lehrer?“ rief er hinzutretend und faßte nach den Händen des Begrüßten.
„Wie sollt’ ich nicht?“ erwiderte derselbe, aber er konnte Augen und Hände von der Pfeife nicht losbekommen, die er eben zu stopfen begonnen hatte.
„Freilich, freilich, wie sollt’ er nicht, der Herr Lehrer!“ rief der Metzger. „Hat er uns doch erst vorhin Schul’ gehalten und hat uns erzählt, daß er jeden Baum aus seiner Baumschul’ beobachtet und kennt, und wenn er sich auch noch so krumm ausgewachsen hat …“
Ein scharfer Seitenblick des Angekommenen streifte nach dem Spötter hinüber, aber im Augenblick war das alte freundliche Lächeln wieder da. „Schau, schau, der Herr Staudinger auch da!“ rief er etwas gedehnt. „Immer gesund und wohlauf, wie ich sehe – und auch immer der Alte, immer voll Spasseteln! Sie haben sich ja langmächtig nicht mehr sehen lassen in der Stadt … Sie sind wohl …“
Er vollendete nicht, denn seine Augen blieben an Franzi haften, welche eben vom Hause herankam, nach dem Begehren der neuen Gäste zu fragen; er war so überrascht, daß ihm das Wort im Munde stecken blieb, und aus seinen Augen funkelte etwas, was nicht übereinstimmte mit dem sonstigen mild gelassenen Auf- und Niederschlag derselben. „Franzi,“ rief er auf das Mädchen zueilend, „bist Du’s denn wirklich? Da hätt’ ich mir ja eher des Himmels Einfall erwartet, als daß ich Dich in der Kreuzstraßen finden thät, als Schenkkellnerin! Du bist aber schön geworden, seit ich Dich nimmer gesehen hab’ … laß Dich doch nur recht anschau’n und Dir herzhaft Grüß Gott sagen!“
Damit war er ihr näher getreten und wollte ihr in vertrauter Weise den Arm um die Hüften legen, aber ehe er recht wußte wie, war sie ihm entschlüpft. „Ich dank’ schön,“ rief sie, „wünsch’ auch meinerseits wohl zu leben, Herr Aicher!“
„Herr Aicher!“ rief er etwas verdutzt. „Red’st Du so mit mir und thust so fremd? Sind wir denn nicht mit einander aufgewachsen, bist Du denn nicht meine Ziehschwester und meine Spielcameradin gewesen?“
[594] „Das wißt Ihr noch?“ sagte sie, an ihm vorübergehend, kurz und kalt. „Habt Ihr doch so manches Jahr darauf vergessen, wie kommt es Euch jetzt auf einmal in den Sinn? … Das Spiel ist ausgespielt – und ich mein’, dort ist Jemand, Herr Aicher, der mich nothwendiger brauchen kann, als Ihr…“
Damit war sie schon bei dem Wagen, der Zurückgewiesene stand einen Moment unschlüssig und betroffen – es schien, als ob der Gleichmuth ihn verlassen wolle, aber es war nur ein Zucken, das über sein Antlitz fuhr, wie Wetterleuchten über einen heiteren Abendhimmel; so schnell, als es verschwunden gewesen, kam das stehende freundliche Lächeln zurück und mit einer Miene, wie man etwa die Untugenden eines geliebten verzogenen Kindes mißbilligt und doch entschuldigt, wandte er sich achselzuckend den übrigen Anwesenden zu.
„Müssen sich nicht wundern oder gar ärgern, Herr Aicher!“ sagte mit höhnischer Genugthuung der dicke Metzger, indem er so weit zur Seite rückte, daß der schmale schwarze Mann allenfalls zur Hälfte neben ihm hätte Platz finden können. „Sie brat’t Ihnen eben auch keine andere Wurst – das ist schon so die Manier von der groben Dirn’!“
„Wundern? Aergern?“ erwiderte Aicher milde. „Ich denke nicht daran – weiß man doch, Jugend hat nicht Tugend! Sie weiß eben, daß sie ein sauberes Gesichtl hat, um das ihr Mancher viel verzeiht … sie bedenket nicht, was da geschrieben steht … daß die Schönheit vergeht, wie Gras, so da am Morgen frisch und prangend steht und abgemähet wird und verwelkt noch vor dem Abendroth. Ist es nicht wahr, heißt es nicht so, Herr Lehrer?“ Ohne jedoch die Antwort des Angeredeten abzuwarten, wandte er sich dem Wirthe zu, der sich zur Begrüßung des ansehnlichen Gastes eingefunden hatte, und die grüne Schlegelhaube in den Händen drehend, nach den Befehlen desselben bezüglich des Mittagessens fragte. „Wo denken Sie hin, Herr Wirth?“ rief Aicher, als ihm derselbe die Zartheit seiner Hühner anpries und ein Stück saftigen Hirschbratens empfahl, der sich mit der Zunge zerdrücken lasse. „Halten Sie mich für einen so schlechten Christen, der an einem gebotenen Fasttag, am heiligen Quatember-Mittwoch, Fleisch ißt? Nein, nein – kochen Sie nur etwas Leichtes, etwas Weniges…“
„Vielleicht Erbsensuppe mit gebackenen Markknöderln?“
„Meinetwegen … ja und einen Eierfladen dazu und wenn sich vielleicht ein kleines Fischchen im Kalter verkrochen hat …“
„Leider nicht, Fische kommen bei uns da mitten im Wald gar zu hart an … aber ein Widel (Bündel) Moosschnepfen ist da, die hat der Jagdgehülf’ gestern ganz frisch gebracht…“
„Nun seh’n Sie, Herr Wirth, das trifft sich ja prächtig … mit Speck belegt und langsam in Citronensaft gedämpft, sind sie ein ganz annehmbares Gericht, und Moosschnepfen sind ja eine Ausnahme vom Geflügel, die haben kein Fleisch, weil sie selber nur Fische fressen, die darf man am Charfreitag essen… Und wenn es dann, so zum Zuspitzen, noch eine kleine Mehlspeise giebt …“
„Vielleicht Dampfnudeln? Meine Wirthin backt sie ausgezeichnet…“
„Meinetwegen… Seh’n Sie, Herr Wirth, so behalten wir unser Gewissen von einer so schweren Sünd’ frei und können uns mit dem bissel Fasttag begnügen… Darf ich den Herrn Metzgermeister dazu einladen? Und Sie vielleicht auch, Herr Schulmeister?“
Der Dicke lehnte nicht ab, aber der Lehrer dankte für die Freundlichkeit. „Ich habe meine Mahlzeit schon eingenommen,“ sagte er mit gutmüthigem Lächeln, „auf mehr und gar auf so kostbare Dinge ist der Magen eines Landschullehrers nicht abgerichtet, ich will ihn nicht aus der Uebung bringen…“
Indessen war Franzi an den Wagen getreten, wo, von dem Bruder vergessen und unbeachtet, das bleiche Mädchen aus ihrem krankhaften Halbschlummer erwacht war und träumerisch umblickend sich aus dem Umschlagtuch loszumachen begann. Ihr Staunen, als sie Franzi’s zum Gruße dargebotene Hand vor sich sah, als sie ihr in das offene blühende Angesicht, in die dunklen treuherzigen Augen blickte, war nicht minder lebhaft, als das des Bruders, aber es war von reinerer, von hellerer Art. Die Todtenfarbe ihrer Wangen ward augenblicklich von einer glühenden Röthe, die Stirn und Nacken überflammte, verdrängt, aber nur, um mit dem nächsten Pulsschlage desto siegreicher wiederzukehren; ihre Augen wuchsen fest in dem befreundeten Angesicht, auf den halbgeöffneten Lippen erstarb, von innerer Wallung zurückgehalten, das grüßende Wort. Franzi mußte zuerst das Schweigen brechen.
„Ist es denn möglich?“ sagte sie herzlich. „Susi, bist Du’s denn, oder ist’s Dein Geist? Du bist wieder auf dem Land – nimmer in der Stadt?“
Susi konnte noch nicht reden, ihre stürzenden Thränen verhinderten sie daran – sie schüttelte nur heftig mit dem Kopfe zur Erwiderung.
„Aber jetzt seh’ ich erst, wie blaß Du bist,“ begann Franzi theilnehmend wieder. „Dir ist heilig nicht recht gut – Du kannst das Fahren nit vertragen…“
„Ja, ja …“ preßte Susi endlich heraus, „es wird wohl so sein … es war so kühl diesen Morgen, und diese Luft – ich kann die freie Luft nicht mehr vertragen, Franzi … es thut mir so weh, da drinnen in der Brust, zu tiefst drinnen… O so unendlich weh…“
„So komm’ herunter, Du armer Narr,“ sagte Franzi innig, indem sie die an sie gelehnte schlanke Gestalt mit kräftigem Arm umschlang und wie eine Feder zur Erde hob, „komm mit herein in’s Haus … ich führ’ Dich in meine Kammer auf mein Bett – da ruh’ Dich aus und schlaf ein bissel; im Schlaf da werden die rothen Backen schon wieder kommen, die ich alleweil gewohnt gewesen bin an Dir…“
Die Kranke sah sie noch einmal mit einem Blicke an, der wie eine innige Klage und Frage der Sehnsucht in ihre Seele dringen zu wollen schien; sie athmete tief auf und fuhr mit der magern feinen Hand über die Stirne, als sinne sie auf etwas, das sie vergebens gesucht… „Ja,“ flüsterte sie dann, indem sie Franzi innig die Hand drückte, „führ’ mich wohin Du willst, Franzi … das ist ein gutes Zeichen, daß Du mir da begegnest … Ja, Franzi, mit Dir geh’ ich…“
Bald waren die beiden Mädchen im Hause verschwunden; die Landleute wieder zu ihren Plätzen, Krügen und Gesprächen zurückgekehrt; zwischen dem Metzger und dem Holzhändler, die sich rasch verstanden zu haben schienen, hatte sich eine anscheinend ebenso wichtige wie vertrauliche Unterhaltung entsponnen – der Mittag machte seine erschlaffende Wirkung fühlbar, Mancher nickte über dem Kruge ein; es gab wenig zu thun, als Franzi nach einer Weile wieder kam, den Mittagstisch für die Herrengäste zu decken und zu beschicken.
Fast zu gleicher Zeit kam auch der Nußbichler wieder zum Vorschein.
Das Gespräch mochte ihm unerträglich geworden sein, er hatte bald seinen Krug fast auf einen Zug ausgestürzt und war dann hinter der Hecke des Obstgartens verschwunden; dort im Schatten der Schlehenstauden und Hagrosen, an denen schon die Beeren blau zu werden und die Fruchtknospen sich zu röthen begannen, warf er sich rücklings in’s Gras und schien im Schlafe Grimm und Gram seines Lebens vergessen zu wollen. Hätte Jemand sich um den Mann gekümmert, so wäre ihm nicht entgangen, daß der Schlafende manchmal sich regte und aus seinem Lumpenbündel eine ansehnliche Korbflasche hervorzog, um daraus einen tiefen Schluck zu machen. Die Spuren davon waren unverkennbar, als er um die Hausecke bog; mit starren Augen und geröthetem Angesicht, trunkene Worte vor sich hinlallend, wankte er seinem früher innegehabten Sitze zu.
Er traf eben mit Franzi zusammen, die, aus dem Hause tretend, auf den Stufen stehen geblieben und vor sich hinsah, das Erlebte zu überdenken oder zu überblicken, wo etwas zu thun sein könnte. Mit stumpfsinnig verschmitztem Lachen schlich der Lumpensammler hinter sie und faßte sie rasch um die Mitte. „Herzkäferl,“ lallte er, „was studirst’ aus? Machst’ Kalender und suchst Dir ein’ Tag zu der Hochzeit aus?“
Das Mädchen war mit leichtem Aufschrei zusammengefahren und suchte mit einem Ruck Arm und Hand des Betrunkenen fortzuschleudern, aber er war stärker als sie, weil er roher war, und den Versuch abwehrend, hielt er sie nur noch kräftiger umfaßt. „Spreiz’ Dich nit so ein, Schatzerl,“ rief er mit heiserem, widerlichem Lachen, „ich will mich ja nur bedanken, daß Du Dich so angenommen hast um mich! Meinst, der Nußbichler hat nicht auch Ehr’ im Leib’ … ich lass’ mir nichts schenken und will Dich vor alle Leut’ mit ein’ Bussel bezahlen!“
„Lass’ mich los, Nußbichler, oder es wird nit gut …“ [595] keuchte das Mädchen, indem es fortwährend vergeblich rang sich von der unsaubern Umschlingung zu befreien. Es gelang ihr nicht, denn ihr Widerstand reizte den Trunkenbold nur noch mehr. „Spreiz’ Dich nit,“ schrie er wieder, „je zuwiderer Du Dich anstellst, desto mehr bin ich versessen drauf … ich muß wissen, wie ein Bussel von dem Göschel schmeckt, das so curagirt reden kann. Und wenn ich mit dem Teufel drum raufen müßt’, ein’ Bussel muß ich haben…“
Die Stellung des hinterrücks und unvermuthet überfallenen Mädchens war eine sehr ungünstige und der Nußbichler nahe daran, sie niederzuzwingen. „Schämt Ihr Euch nicht?“ rief sie glühend vor Entrüstung den Bauern zu, welche dem Ringen und Zerren, an dem sie nichts Besonderes finden mochten, mit lachender Gleichgültigkeit zusahen. „Seid Ihr Männer und helft einem Madel nit gegen einen solchen Wildling?“
Die Bauern rührten sich nicht; der fromme Herr Waldhauser war einige Schritte seitwärts gegangen, um den Gräuel nicht mit ansehen zu müssen; der dicke Metzger lachte höhnisch vor sich hin und rief: „Helfen?! Was nicht gar! Wer wird sich in die Cameradschaft mischen! Wirst Dich doch vor Deinem guten Freund nicht fürchten, um den Du Dich so angenommen hast!“
Der Einzige, der hinzutrat, war der Lehrer, aber der bejahrte Mann konnte nicht daran denken, es körperlich mit dem unbändigen, vom Trunke erhitzten Menschen aufzunehmen, er mußte sich auf gütliches Zureden beschränken. „Schäme Dich, Alisi,“ sagte er und faßte ihn am Arme, „Du hältst Dich immer darüber auf, wenn die Leute gering und schlecht von Dir denken; es ist kein Wunder, daß sie es thun, wenn Du Dich so aufführst…“
Die begütigenden Worte hatten keine andere Wirkung, als Wassertropfen in lodernde Flammen gespritzt; der Nußbichler wurde nur noch wüthender, er stieß den Lehrer zurück, daß er taumelte. „Wer hat mir was einzureden?“ schrie er. „Wir Zwei haben’s allein auszumachen miteinander … den will ich sehen, der sich dreinmischen will…“
Schon hatte er das vom Widerstande fast athemlose Mädchen fest in die Arme geschlossen, als er, von kräftiger Faust geschleudert, zusammenstürzte und unter den Tisch kollerte, als ob er nie auf den Füßen gestanden wäre. Ein junger Bauer stand zwischen ihm und Franzi, eine schöne schlanke Männergestalt, frisch und kräftig wie eine junge Eiche. Die Faust über dem Liegenden erhebend, den Fuß auf seine Brust, stand er wie ein siegreicher Ringkämpfer vor dem bezwungenen Gegner da und rief: „Da lieg, Du Loder, Du nichtsnutziger, und rühr’ Dich nicht mehr, oder ich vergeß’ mich und schaue Deinen wüsten Schädel für eine Trommel an! Wenn Du unter Leuten sein willst, so lern’ erst, wie man sich aufführt unter den Leuten … bis dahin kriech’ in den Stall, wo Du hingehörst, und schlaf’ Deinen Rausch aus…“
Eingeschüchtert und beinahe nüchtern geworden krümmte sich der Lumpensammler vom Boden auf und kroch hinweg, wie ein bissiger Hund, der minder dem empfangenen Fußtritt gehorcht, als er das fest und klar auf ihn gerichtete Auge des Mannes scheut, in dem er seinen Herrn und Meister gefunden. Die Andern saßen und standen ohne Laut und Bewegung, wie sie bei dem unvermutheten Erscheinen des jungen Mannes gesessen und gestanden waren; das Auftreten und die Gestalt desselben war auch ganz dazu angethan, als sei er gewillt, wegen jedes unpassenden Wortes oder vorlauten Lachens sich ganz ernsthafte Aufklärung zu erbitten. Verlegen machte Meister Staudinger sich an seinem Geldgurt zu schaffen; der Holzhändler suchte nach den passendsten Worten, den Bruder zu begrüßen, aber mit innigem Wohlbehagen ruhte das Auge des Lehrers auf dem Ankömmling. Auch Franzi’s Augen hingen an ihm, aber was aus ihnen leuchtete, war nicht mit Worten zu bezeichnen – es war nicht Ueberraschung, denn sie fand es ganz natürlich, daß er so recht wie ein Engel vom Himmel dazwischen getreten war; es war nicht Freude zu nennen, denn Freude sagt zu wenig – es war nicht Entzücken, denn das ist überschwenglicher … es war die stille, innige Glückseligkeit, die, selbstlos und bescheiden, an einem verehrten Wesen hängt, fast ohne Wunsch und völlig ohne Hoffnung, nur befangen in der stillen Verehrung seiner Vortrefflichkeit.
Mit brennenden Wangen und leuchtenden Blicken stand sie und hielt die Arme über die Brust gekreuzt, als warte sie der Befehle eines gebietenden Herrn, sich ihnen zu beugen; Worte fand sie nicht, auch als der Retter, ein leichtes, freundliches, etwas herablassendes Lächeln in den Mienen, vor sie hintrat.
„Dasmal bin ich ja gerad’ recht gekommen,“ sagte er mit tiefer, volltönender Stimme. „Grüß Gott, Franzi, bist noch recht verschrocken? Komm’ nur zu Dir, der Loder wird Dich wohl in Frieden lassen künftig und ich denk’, mancher Andere auch…“
„Grüß Gott, Sixt,“ erwiderte sie, hielt aber gleich inne, sich zu verbessern. „Grüß Euch Gott, Herr Aicher, will ich sagen.“
„Das laß unterwegs,“ sagte er kurzweg. „Ich bin kein Herr, ich bin ein Bauer und will nichts Anderes sein, also laß es nur bei dem Sixt bleiben.“
„Wenn ich nur wüßt’, was ich sagen und thun müßt’, um Euch … um Dir zu danken, Sixt…“
„Der beste Dank wär’, wenn Du mir folgen thätst. Das ist kein Platz für Dich, Du bist viel zu gut für eine Kellnerin, die jeder Lump für ein Handtuch hält, an das er mit seinen schmierigen Tatzen hinlangen darf…“
Franzi schlug die Augen nieder; sie begann sich von ihrer Verwirrung zu erholen. „Man kann in jedem Stand brav und ordentlich sein,“ sagte sie halb leise, aber bestimmt.
„Dasselbige ist wohl wahr,“ entgegnete er, „und ein richtiges Leut, wie Du, die bringt’s auch zuwegen, aber Du hast es just geseh’n, wie’s doch gehen kann, und wenn ein Weg um den Berg herum in die Kirchen führt, ein guter und ein gerader Weg, warum sollt’ ich nachher den schlechten und steinigen aussuchen und übern Berg hinüber steigen? Es ist mir ein Stich durch’s Herz ’gangen, wie ich g’hört hab’, daß Du beim Gruber ausgestanden bist und Dich als Kellnerin verdungen hast – warum hast das gethan, Franzi?“
Sie schlug die Augen nieder und erröthete. „Das kann ich nit sagen,“ erwiderte sie mit sichtbarem Widerstreben, „keinem Menschen nit – und Dir auch nit,“ setzte sie hinzu, als ob sie den Eindruck ihrer Worte mildern wollte, „… ich hab mir’s vorgenommen, es soll ein Geheimniß bleiben, bis ich das ausgeführt hab’, was ich im Sinn hab’…“
„Das muß ja was ganz Besonderes sein,“ sagte er, „aber ich wundere mich nicht, daß Du schweigst … bist alleweil so gewesen, ich weiß ja noch nicht einmal, warum Du vom Aichhof fort bist, so Knall und Fall und wie der Tod kommt mitten in der Nacht… Oder ist das auch ein Geheimniß?“
„Nein,“ sagte sie und sah ihm mit festem Blick in’s Angesicht, „gern sag’ ich’s nicht, aber da ist nichts Geheim’s dabei und wer gewollt hätt’, der hätt’s leicht schon erfahren können, die Zeit her – ich bin nit freiwillig fort vom Aichhof, ich hab’ müssen…“
„Müssen?“ fragte er und trat staunend zurück.
„Denk’ an den Tag, Sixt, wo ich das letzte Mal auf dem Aichhof war … Du und der Bruder und die Susi, Ihr wart mit einander am Landgericht gewesen von wegen der Erbschaft und wegen der Vertheilung und seid in der Stuben am Tisch bei einander gesessen und habt gerechnet und getheilt und mit dem Vorsteher und den Beiständern geredt über dies und das… Ich war in der Kammer nebenan, wie Ihr ’kommen seid, und hab’ denkt, Ihr werdet nit lang bleiben, und so hab’ ich gewartet, damit Ihr mich nit herauskommen sehen und glauben solltet, ich hätt’ etwa horchen wollen … aber Ihr seid nimmer fort, und so bin ich gewesen wie eine Gefangene, und wenn ich auch den Schurz übern Kopf genommen hab’ und hab’ mir alle Müh’ gegeben, daß ich nichts verstehen sollt’ … ich hab’s doch hören müssen, wie der Vorsteher gefragt hat, wie es nun wohl mit mir sei und werde – und wie’s darauf hieß, davon sei gar nit zu reden, das verstünde sich ja von selbst … die Eltern, die mich wie eine Bauerntochter aufgezogen und gehalten hätten wie das Kind vom Haus, die wären jetzt todt – ich könnt’ wohl bleiben auf dem Aichhof – aber die Glorie hab’ ein End’ und ich müßt’ eben auch sein wie jeder andere Dienstbot …“
Der junge Aichbauer war sehr ernsthaft geworden. „Ja freilich,“ sagte er, „wenn Du das gehört hast, aber dann weißt Du auch, wer es gesagt hat! Der Waldhauser …“
„Ich weiß wohl,“ unterbrach sie mit abwehrender Geberde, „… es hat sonst Niemand so was gesagt, aber es hat auch Keins dawider g’redt … die Susi nit und auch Du nit, Sixt! Und wie ich fort bin in der Nacht mit meinem Bündel, wie ein wandernder Dienstbot’, da hat mich auch kein Mensch geholt und kein Mensch hat gefragt, warum ich wohl fort bin…“
[596] „Hast Recht, Franzi,“ entgegnete der Bauer, „ich hab’ Dir nit nachgeschickt – ich hab’ mir denkt, wer so leicht und so geschwind und so ohne B’hüt Gott fortgeht aus dem Haus, in dem er auf’zogen worden ist, der will eben nit bleiben und wird wohl wissen, warum er nit will, und den muß man nit aufhalten… Aber nachgefragt hab’ ich Dir wohl und hab’s erfahren, wie Du Dich als Dirn’ beim Gruber verdingt hast, und jetzt, daß Du … Aber das laßt sich jetzt Alles gut machen und ändern… Gieb’s auf, eine Kellnerin sein … werd’ wieder eine richtige Bauerndirn’ und komm wieder zu mir auf den Aichhof…“
Sie sah wieder zu Boden und sagte nichts, aber sie schüttelte den Kopf so entschieden, als gelte es, etwas von sich abzuweisen, wovon schon der bloße Gedanke sie erschreckte.
„Mußt nit trutzen und nachtragerisch sein,“ fuhr Sixt fort, „auf eine ehrliche Red’ gehört sich eine redliche Antwort… Komm’ wieder auf den Aichhof, er ist ja doch Deine Heimath…“
Der Ton des Redenden war etwas herzlicher geworden; Franzi zögerte mit der Antwort, die ihr schwer zu werden schien. „Gewiß, gewiß ist dort mein’ Heimath, mein’ liebe gute Heimath,“ sagte sie, ihre Bewegung niederkämpfend, „aber wieder hingeh’n … nein, das geht einmal nit an … ich kann nit, Sixt…“
„Hat Dir Jemand sonst noch was zu Leid gethan?“
„Keine Menschenseel…“
„So sag’ doch wenigstens, warum? Warum willst nimmer auf den Aichhof?“
„Ich kann nit und ich kann’s auch nit sagen!“
„Aha, wieder ein Geheimniß! Na, so behalt’s, ich will mich nit eindrängen in Deine Heimlichkeiten, ich hab’ das Meinige ’than und hab’ Dir die Hand hingestreckt; wenn Du nit einschlagst, ist es Deine Sach’, Du wirst wissen, was Du auf dem Herzen hast, so schau auch, daß Du allein fertig wirst damit… Mir wär’s eine Freud’ gewesen und ist mir jetzt ein großer Verdruß! Es ist kein Verlaß mehr mit den Dienstboten und Ehhalten … auf einem so großen Hof thät mir eine vertraute Person Noth, die eine solche Hauserin und tüchtige Schafferin wär’, als wie Du…“
Der freundliche Ton und das Drängen des Bauers hatten schon angefangen, Franzi’s Herz zu erweichen; die letzten Reden stählten es wieder, wie im Frühling ein kalter Windhauch den vor einem einzelnen Sonnenblick geschmolzenen Schnee mit einer neuen Eiskruste überzieht. Schon hatte sie angefangen zu glauben, es sei irgend ein wärmeres Gefühl, was den Bauer bewege, in sie zu dringen – eine Erinnerung an den Willen der guten alten Pflegeeltern, ein Andenken aus den Tagen der Kinderzeit – da verriethen ihr seine letzten Worte: nur der Eigennutz hatte ihn hergeführt; nicht der Jugendfreund war es, der nach der Ziehschwester verlangte, sondern nur der reiche Bauer, der die tüchtigste Magd suchte.
„Ich kann nit, Sixt,“ sagte sie, um Vieles kühler und entschiedener, „ich kann Dir auch nit sagen, warum … mußt mich nit plagen…“
„Plagen?“ rief er auffahrend und auf der Stirn schwoll ihm die Zornader unter dem braunen Kraushaar. „Fallt mir nit ein! Wenn’s Dir wie eine Plag’ ist, sobald Du vom Aichhof hörst, dann ist’s das letzte Wort gewesen, das Du von mir gehört hast – betteln thut der Aichbauer bei kein’ Menschen, und wenn’s der König wär!“
[609] Sixt wandte sich rasch und unwillig ab, Franzi stand einen Augenblick, die Hand an’s Herz gelegt, und ihre Lippen öffneten sich, wie zu einem Worte, das ihn begütigen und zurückrufen sollte, aber das Wort blieb ungesprochen, nicht einmal ein Seufzer entrang sich der beklemmten Brust; mit einer Geberde des Entschlusses wandte sie sich wieder dem Geschäfte zu und schritt bedienend zwischen den Gästen hin und her.
Der Aichbauer wurde indessen vom Lehrer mit treuherzigem Handschlag, von dem Metzger mit vertraulichem Nicken, von Bruder Waldhauser mit einem Schwall freundlicher Worte begrüßt, die er ziemlich unwirsch und kurz angebunden erwiderte. „Das ist schön von Euch, Aichbauer,“ sagte Staudinger, als er am Tische Platz nahm, „daß Ihr Euch um die Dirn’ so angenommen habt … sie bleibt doch immer Eure Ziehschwester, wenn sie’s auch nicht verdient, daß Ihr ihr geholfen habt, denn im Grund’ ist sie doch selber schuld.“
„Selber schuld? Wie wär’ das?“ fragte Sixt finster und der Meister ließ sich die willkommene Gelegenheit nicht entgehen, das Vorgefallene mit den entsprechenden Bemerkungen und Zuthaten zu erzählen.
„Ist das wahr, Franzi, was der Herr Staudinger erzählt?“ rief Sixt, nachdem er Alles gehört. „Hast Du das gethan? Und Du weißt, daß bei dem Nußbichler Haberfeld getrieben worden ist?“
Das Mädchen blieb hart am Tische vor ihm stehen und antwortete ein klares, festes Ja; aus Miene und Blick war jede Erregung entschwunden, die Augen Beider waren ruhig und entschlossen aufeinander gerichtet, es war, als ob ein paar von ihren Standplätzen losgerissene Felsstücke von Wildwassern gegen einander geführt würden, um im engen Rinnsale, wo kein Ausweichen möglich ist, zusammentreffend sich zu zerschmettern oder, durch den Gegendruck festgehalten, mitten im Wassergetose liegen zu bleiben und ein Inselchen zu bilden, auf dem allmählich Moos sich ansetzt und Erde sich ansammelt, bis daraus Gras und Blumen und lustige Erlenbüsche aufsprossen können, die Spuren des Kampfes und der Zerstörung mit friedlichem Grün überdeckend und mit neuem Leben.
„Und Du weißt auch,“ fuhr er fort, „was das sagen will, wenn bei Einem Haberfeld getrieben wird? Daß er ein veracht’ter und verlorner Mensch ist, der nirgends mehr eine Heimath hat, als wenn ihm, wie in der alten Zeit, ein Brandmal eingebrannt worden wär’ auf der Stirn? Weißt, was er gethan hat, der Nußbichler? Er hat abgewirthschaftet gehabt und hat Geld haben wollen von seine Befreund’ten, und weil ihm Niemand eins gegeben, hat er seinem eignen leiblichen Bruder das Haus über’m Kopf angezündet, daß es nieder’brennt ist bis auf die Grundmauern und ist alles Vieh mit verbrannt und hat an ein’ Haar gehangen, so wären auch die alten Austragsleut’ verloren gewesen, die droben unterm Dach g’schlafen haben …“
„Wie sollt’ ich das nit wissen?“ erwiderte Franzi. „Ist lang genug herum’zogen worden in der Untersuchung und in der Gefängniß, bis sein Gütel schier ganz drauf’gangen ist und bis sein Weib mit den paar Kinderln in’s Hüthaus hat einziehen müssen, aber ich weiß auch, daß ihn das Gericht freigesprochen hat als unschuldig, aber freilich, da war’s zu spät, wie er heraus’kommen ist aus der Frohnvest, da war das Gütl verkauft und Weib und Kind hat die Noth umgebracht gehabt und das Elend …“
„Unschuldig?“ rief Staudinger dazwischen. „Das wär’ mir die saubere Unschuld! Hinaus gelogen hat er sich, weil er’s so fein angestellt gehabt hat, daß ihm kein rechter Beweis hat gemacht werden können – da haben sie ihn freilich freisprechen müssen, die Herrn vom Gericht, aber deswegen weiß und glaubt doch kein Mensch anders, als daß er’s gethan hat …“
„Ja,“ sagte der Holzhändler, „das war die allgemeine Meinung, und eben deswegen ist ihm Recht geschehen, denn dafür ist das Haberfeldtreiben da, daß die heimlichen Sünder, denen man offen nichts anhaben kann, sich nicht in die Faust lachen und leer ausgehen. Ich hab’ es immer sagen hören, was das Volk sagt, das ist eine Stimme von Gott.“
„Und ich sag’,“ rief Franzi mit leuchtenden Augen, „wenn das Gericht, das eingesetzt ist über Leben und Tod, Einen freigesprochen hat, der in bösem Argwohn gestanden ist, das ist auch eine Stimm’ von Gott, das ist ein Zeichen vom Himmel, daß unser Herrgott es sich vorbehalten will, mit ihm einmal selber abzurechnen in der Ewigkeit, und wenn ich ein Mannenleut wär’, ich möcht’ ihm nit in den aufg’hobnen Arm fallen! Ich thät’s für eine Schand’ halten, an einer solchen Sünd’ und einem solchen Frevel Theil zu haben, wie das Haberfeldtreiben ist …“
„Das Haberfeld,“ sagte der Aichbauer, der Franzi’s Eifer mit Verwunderung betrachtete, „ist kein Frevel und keine Sünd’; wir Bauern da herinnen in den Bergen, wir haben das Recht, daß wir selber auf diese Weis’ Gericht halten, und das Recht ist so alt wie unsere Berg’.“
„Wenn’s ein so gutes Recht ist,“ fragte Franzi, „warum übt [610] Ihr’s dann nit aus frei vor aller Welt, in offenem Sonnenschein? Warum kommen die Richter heimlich in der Nacht und ’trauen sich nit, ihre Gesichter zu zeigen? Es sollt’ kein Frevel sein und keine Sünd’, wenn Eins zu Grund gericht’ wird, auf sein ganzes Leben – und vielleicht doch unschuldiger Weis’? Wer ’traut sich’s zu verantworten, wenn das Gered’ unter den Leuten doch nit wahr wär’, wenn die Volksstimm’ sich irren thät…“
„Das ist unmöglich,“ entgegnete der Holzhändler, „man weiß, daß die Haberer Keinem was zu Leid thun, bevor nicht ein unbescholtener, hausgesessener Mann mit Leib und Leben, mit Ehr’ und Wehr dafür eing’standen ist, daß das wahr ist, was dem Beschuldigten vorgeworfen wird.“
„Das ist aber doch merkwürdig,“ rief höhnisch der Metzger, „wie sich die Jungfer gegen das Haberfeld einlegt und wie sie besorgt ist, daß ja einem schlechten Kerl ein Bissel zu weh’ geschehen könnt’!“
„Ja wohl,“ rief Waldhauser wieder, „ich mein’, es braucht sich kein Mensch vor dem Haberfeld zu fürchten, der ein gutes Gewissen hat.“
Franzi sah ihn durchdringend an, daß er davor die Augen niederschlagen mußte. „Das ist wahr,“ sagte sie, beinahe feierlich, „ein gut’s Gewissen ist das beste Kissen, auf dem sich’s am ruhigsten schlaft! Damit es aber lind bleibt und sich nit abliegt mit der Zeit, ist es gut, wenn man manchmal in sein Herz hineingreift und sich das Kissen aufrüttelt, und wer das richtig thut und dabei find’t, daß er mit sich selber nichts auszumachen hat … der kann sich bücken und den Stein auf ein’ Andern werfen!“
Sie ging; die Zurückbleibenden sahen einander an und schüttelten die Köpfe. Sixt war bei den letzten Worten aufgestanden und seitwärts getreten; ihm war wie Einem, dem in dunkler Gewitternacht ein Blitz auf einmal eine unbekannte, in Finsterniß begrabene Gegend enthüllt; Franzis Entfernung vom Aichhof, das Verlassen des Bauerndienstes, ihre Weigerung, die Gründe dafür anzugeben, ihr ganzes geheimnißvolles Wesen – Alles war ihm mit dem einen Feuerstrahl klar geworden, sie war sich einer geheimen Schuld bewußt, vor deren Entdeckung sie bangte; eine befleckte, vielleicht verbrecherische Vergangenheit lag hinter ihr. „Was es nur sein mag, was sie druckt,“ murmelte er in sich hinein, „es ist doch schad’ um das Madel, so bitterlich schad’, daß es mir fast leid thun könnt’! Aber sie hat sich von uns los gemacht, sie selber … was kümmr’ ich mich denn noch um sie? Sie ist mir eine wildfremde Person, die mich nichts mehr angeht, mein Leben lang … und wenn sie neben mir auf dem Weg liegen thät’ und ich sollt’ ihr helfen, nicht einen Finger thät ich rühren wegen ihr!“
Ein scharfer Pfiff gellte vom Walde her über den Plan; Alles fuhr auf und blickte nach der Richtung, von welcher das Zeichen kam; an der Waldesecke unter einigen weiter vorgeschobenen Wettertannen stand ein Mann, der, die eine Hand an den Mund haltend, auf den Fingern pfiff, mit der andern sein Hütlein winkend schwenkte, wie zum Zeichen, daß man zu ihm kommen solle.
„Das ist ja der Holzknecht, der Taxen-Veitl,“ sagte, unter der emporgehaltenen Hand scharf hinüberblickend, der Weißbart. „Was will denn der Lapp? Er thut, als wenn wir Alle zu ihm hinüberkommen sollten… Es ist ihm aber nicht zu trauen, es wär’ nicht das erste Mal, daß er Einen in April geschickt hat!“
„Er hat zu uns her keinen weitern Weg, als wir zu ihm,“ sagte der Aichbauer und kehrte an seinen Platz zurück. „Hat er uns wirklich was zu sagen, so wird er wohl herüber kommen, wenn er sieht, daß wir uns um sein Pfeifen und Winken nicht kümmern!“ Ton und Geberde des jungen Mannes hatten etwas so Ruhiges und Entschiedenes, daß seine Worte auch gleich einer Entscheidung wirkten und Alle lachend sich wieder setzten. Lachend sahen sie hinüber, wie der Mann an der Waldspitze sich noch eine Weile abmühte, dann aber, von der Nutzlosigkeit seines Treibens überzeugt, sich gegen das Kreuzwirthshaus in Bewegung setzte.
„Er muß doch eine Botschaft auszurichten haben, und eine wichtige dazu,“ rief der Metzger, „er fangt ja gar zu laufen an. Vielleicht bringt er etwas wegen der Waldbegehung, von der ich etwas gehört habe.“
„Da könntet Ihr wirklich Recht haben,“ rief der Aichbauer, „ich wundere mich schon lange, daß sich der Herr Amtmann noch nicht sehen läßt und daß auch von unserm Widerpart, von den Westerbrunnern, sich noch kein Einziger eingefunden hat. Sollte ein Hinderniß eingetreten sein?“
„Es ist wirklich kein anderer Mensch, als der Taxen-Veitl,“ sagte der Weißbart, als der Laufende schon nahe genug herangekommen war, um genau erkannt werden zu können. „Und wie er ausschaut! Was giebt’s, Veitl, daß Du so auf der Schneckenpost daherkommst? Was bringst mit?“
„Fragt nit lang,“ erwiderte keuchend der Holzknecht, indem er ohne Bedenken nach dem nächststehenden Kruge griff, sich die ausgetrocknete Kehle anzufeuchten. „Reißt nit lang die Augen auf,“ fuhr er dann fort, „und nehmt den Weg unter d’ Füß’! Ich komm’ wie ein Wiesel daher gerennt vom untern Seekahr. Der Herr Amtmann ist dort und wart’ auf Euch, schon ein anderthalb Stunden lang, von wegen der Waldbegehung.“
„Das muß ein Irrthum sein,“ sagte der Aichbauer und zog ein Papier aus der Tasche. „Hier ist einer von den Verschaffzetteln, wie sie das Amt ausgeschickt hat, da steht es deutlich, Schwarz auf Weiß … daß heut’ die Waldbegehung stattfinden soll, daß die Osterbrunner und Westerbrunner zu Mittag im Wirthshaus an der Kreuzstraßen sein müssen und daß dann der Amtmann auch daher kommt und mit uns die ganze strittige Waldgrenze abgehen soll.“
„Was kümmert mich der Wisch!“ entgegnete der Holzknecht. „Derentwegen ist es doch so, wie ich sag’, und wird nit anders! Der Herr Amtmann hat sich halt anders besonnen … der Revierförster hat ihm sagen lassen, daß er einen schönen Bock wüßt’, der immer herüber wechseln thät, am untern Seekahr … da ist der Herr Amtmann halt ein Bissel auf den Anstand gegangen.“
„So?“ sagte der Alte und zog den weißen Schnauzbart in die Höhe. „Und uns bestellt man daher und laßt uns warten? Der Herr Amtmann geht auf die Jagd und unsere Angelegenheit, die das Wohl und Weh von zwei ganzen Gemeinden ausmacht, die wird auf die Seit’ geschoben und nur so nebenher abgemacht, so bei der Gelegenheit und unter der Hand?“
„Immerhin, Nachbar,“ sagte dazwischen tretend der Aichbauer, der indessen mit einigen Andern und mit dem Lehrer gesprochen, „aber wir verlieren die Zeit mit dem Geplauder, wir haben eine tüchtige Stunde, bis wir an den Seekahr kommen. … Wie wird es aber mit unsren Gegnern, mit den Westerbrunnern sein?“
„O die wissen Alles,“ sagte Veitl, „die sind schon lang an Ort und Stell’ – wie der Herr Amtmann in der Früh auf die Jagd gefahren ist, hat er ja bei Westerbrunn vorbei gemußt, es liegt ja kaum einen Büchsenschuß abseits von der Straß’ – da hat er hinein geschickt und hat ihnen die Bestellung ausrichten lassen!“
Der Schnauzbart des Alten kam in immer größere Gefahr, so grimmig wurde daran gezerrt. „So?“ knurrte der Mann. „Es kommt ja alleweil schöner! Also ist unser Widerpart schon an Ort und Stell’ mit dem Amtmann und plauscht ihm die Ohren voll? Gehört sich das? Alle beide Parteien müssen dabei sein, damit keine was vor der andern voraus hat – so gehört sich’s vor Gott und vor der Welt!“
„Freilich, so gehört sich’s,“ riefen Andere, „aber wir haben’s schon gehört, daß der neue Herr Amtmann ein gar eigener Heiliger ist.“
„Nun, nun, Nachbarn,“ sagte Sixt, „es ist eben auch ein neuer Besen – die kehren alle scharf! Besser wär’s ja, wir wären Alle beieinander gewesen und den Wald zusammen abgegangen – es wär’ vielleicht viel unnützer Rederei und Streiterei vorgebaut – aber das Unglück ist zu ertragen; wir werden auch das Maul aufmachen und wenn die Westerbrunner einen noch so großen Vorsprung haben, die Bäum’ und Felsen, die die Grenz’ machen, plauschen sie doch nit weg.“
„Aber wir sind derweil’ zum Narren gehalten,“ rief der Alte, der sich nicht beschwichtigen lassen wollte, „wir müssen da her sitzen und versäumen die Zeit.“
„Sei nit gar so harb und widerhaarig, Grubhofer,“ lachte Sixt, „so genau muß man’s nit nehmen! Mußt dem gestrengen Herrn das Bissel Jagdvergnügen nit so hoch anrechnen! Und Du wenigstens hast die Zeit nit versäumt; man sieht’s Deiner [611] rothen Nasen an, daß Du fleißig Stein gehoben hast … es kann Dir nit schaden, wenn Du ein Bissel marschiren und ausdampfen kannst.“
Mit kräftigem Schwung hob er das schwere langstielige Holzbeil, das sein Begleiter war, über die Schulter, warf die Joppe darüber und schritt dem Walde zu; wie auf Befehl folgten die Andern, der Weißbart mit, obwohl er es nicht lassen konnte, vor sich hin zu brummen und zu gesticuliren. Bald war es an der Kreuzstraße so einsam, als es vorher belebt gewesen; nur Metzger Staudinger und der fromme Holzhändler blieben bei der Mahlzeit zurück, welche der Wirth eben aufzutischen begann, während er den Fortgehenden nachrief, auf dem Rückwege doch wieder einzukehren und noch eine „Unterleg“ zu machen, und dabei auf Franzi die säumige Kellnerin schmähte, die nirgends zu sehen war und ihm Bedienung und Arbeit allein überließ.
Auch der Nußbichler hatte sich aus dem Winkel, in den er sich verkrochen, aufgerafft und wankte in bescheidner Entfernung den Bauern nach, dem Walde zu.
Bald hatten die rüstig ausschreitenden Männer den neu bezeichneten Treffungspunkt erreicht.
Es war ein schmales, von üppigem Alpen-Graswuchs bedecktes Waldthälchen, an beiden Seiten von schroffen schwarzgrauen Felswänden eingefaßt, über welche ein abschüssiger Steig herunterführte, nicht breiter, als daß Mann für Mann hinter einander niederklettern konnte. In der Mitte, nur von ein paar roh behauenen Baumstämmen überbrückt, vertiefte sich ein neuer Einschnitt in das Gestein: das Rinnsal eines Wildbachs, der in der Urzeit die Schlucht ausgewühlt, nun aber sich ein zweites noch tieferes Bett gegraben hatte, in welchem er dumpf aufrauschend und mit weißschäumenden Sturzwellen dahin schoß. In einer leichten Ausbiegung des Thals war das Steingeschröfe nach unten zu wie ausgehöhlt, nach der Höhe hin wie überhangend; vor einigen Jahrzehnten war ein Theil der gelockerten Felsen herabgestürzt und lag nun in reizender Unordnung durcheinander gestreut. Die kleinern Trümmer waren unter Riedgras und rankendem Brombeergesträuch zierlich versteckt, die größern hatten sich mit dichten grünschwellenden Moosdecken überzogen, daß sie wie ebenso viele Ruhesitze aussahen. Dazwischen hob hier und da eine jung angeflogene Tanne den dunklen Zackenwipfel empor, und in der Nähe der Wand hatte ein vielleicht von einem nistenden Vogel vertragenes Samenkorn einer Buche den anmuthig kühlen Standort gefunden, so daß über das größte Felsstück das grüne Laubdach sich wie ein künstlich gespanntes Zelt ausbreitete, während der graue flechtenbewachsene Stamm des Baumes sich als bequeme Rücklehne darbot. Gegenüber, nach der Seite zu, öffnete sich dem Blicke die verengerte Felsschlucht, in deren Hintergrunde, wie in einer Klamm zusammengepreßt, der Wildbach von Steinstufe zu Steinstufe heruntergesprungen kam. Sträucher und grüne Baumwipfel neigten sich wie der Erfrischung begehrend in den kühlen Spalt herab und herein; drüber aber stieg ein gewaltiges Berghaupt mit eisbedecktem Scheitel empor, wie das vom Ernste des Lebens gefurchte und versteinte, doch mit dem Silberkranze ruhiger Weisheit gekrönte Angesicht eines treuen fürsichtigen Greises, der hütend und wachend hereinblickt in die wunderbare weltflüchtige Einsamkeit.
Das anmuthige Landschaftsbild war von einer nicht minder hübschen Staffage belebt. Auf dem moosigen Hauptfelsstück unter der Buche war ein blüthenweißes Tuch wie über einen Tisch ausgebreitet; Tassen, Kannen und Teller standen darauf und zeigten, daß eine feine gewandte Hand es wohl verstanden, bei Bereitung des Nachmittagkaffees das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. An der einen Seite des Felsens saß eine junge Dame in modisch-feinem Anzuge, der wohl besser in einen Gesellschaftssaal als in die Waldwildniß gepaßt hätte, so sehr auch der Feldblumenstrauß auf dem kleinen Hütchen und die Schürzung des Kleides zeigten, daß die Trägerin es darauf abgesehen hatte, der städtischen Toilette einen ländlichen Anhauch zu geben. Sie hatte eine breite Mappe auf dem Schooße aufgeschlagen und war eben beschäftigt, mit kunstgeübten Strichen das hübsche Waldbild vor ihr nachzuzeichnen. Gegenüber saß ein Mann in ausgesuchter grüner Jägertracht, vornehm nachlässig an den Buchenstamm gelehnt und den Ringelwölkchen einer Havannacigarre nachblickend, welche in der regungslosen Luft langsam emporstiegen und nur zögernd verflatterten. Er schien aufmerksam der Rede eines ehrerbietig neben ihm stehenden Bauers zuzuhören; nur manchmal fuhr er mit der feinen reich beringten Hand über die kahle, den Lebemann verrathende Stirn oder strich sich die breiten röthlichen Flügel des sorgsam gepflegten Bartes in die Höhe.
„Da haben wir den Teufel schon,“ sagte der Grubhofer, als er mit seinen Gefährten zuvörderst auf der Höhe des Felsensteiges angekommen war. „Da steht der Finkenzeller, der alte Feinspinner, richtig schon neben dem Amtmann und red’t und disputirt in ihn hinein, als wenn er sich davon nähren müßt’! … Aber das muß man sagen, verstehen thut’s der gestrenge Herr, wie man sich’s commod’ macht, daß Ein’ das Warten nit verdrießt.“
Unter solchen und ähnlichen Gesprächen kamen sie im Thale an und stellten sich mit ehrerbietig entblößten Köpfen in der Nähe des Amtmanns auf; der Finkenzeller trat zu den übrigen Westerbrunnern, die in einiger Entfernung im Grase gelagert gewesen waren. „So, da wären wir halt jetzt,“ sagte der Grubhofer, der vorangeschoben worden, „wir machen unser Befehl (Empfehlung), g’streng’ Herr!“
„Wer ist man?“ fragte der Beamte mit flüchtigem Seitenblick leicht die Cigarre absetzend.
„Wir sind die Vollmächtigen von der Osterbrunner Gemeind’ und wir wären halt da von wegen unsres Handels mit den Westerbrunnern und wegen …“
„Seid Ihr der Vorsteher?“ unterbrach ihn der Amtmann.
„Nein. Der Vorsteher ist gestorben und der neue ist noch nit gewählt, und der Pfleger hat sich einen Eggenspitz in’ Fuß eingetreten und kann nit von der Liegerstatt … da sind wir halt miteinander her, wir Vollmächtigen und haben ’denkt, wir werden’s wohl auch ohne Vorsteher und Pfleger ausmachen können…“
„Ihr seid lang ausgeblieben,“ rief der Amtmann, „ich bin es nicht gewohnt, daß man mich warten läßt; an Euch, an den Unterthanen ist es, auf das Amt zu warten.“
„Aber wir haben ja …“ wollte der Alte erwidern, konnte aber seinen Satz nicht zu Ende bringen, da ihm der Amtmann unwillig dazwischen fuhr.
„Schweigt,“ rief er, „ich will keine Ausflüchte hören! Ich habe schon in Erfahrung gebracht, daß bei Euch Osterbrunnern die Ordnung fehlt in der Gemeinde und die Zucht – ich werde aber sorgen, daß das anders wird: ich werde sogleich die Nachwahl anordnen und sorgen, daß Ihr einen Vorsteher bekommt, der widerspenstige Köpfe nieder zu halten versteht.“
Die Osterbrunner standen betroffen da, sahen sich mit verlegenen Mienen an und ließen die Hüte in den Händen tanzen. Der Grubhofer schien sich den Schnauzbart ausreißen zu wollen; dem Aichbauer war die Röthe über’s Gesicht geflogen, er wollte eben erwidernd vortreten, als ihm der Grubhofer noch zuvor kam.
„Das hat Ihnen kein aufrichtiger Freund gesagt, gestrenger Herr!“ rief er. „In der Osterbrunner Gemein’ ist es alleweil ordentlich hergegangen und richtig, wir lassen uns finden darum, wo bei uns eine Unordnung sein soll! G’streng’ Herr müssen nit Jedem glauben, der Ihnen das Maul macht, und keinem Westerbrunner schon gar nit! Wir haben’s schon geseh’n, wie der Finkenzeller in Sie hinein discurirt hat, aber wenn er so was gesagt hat, hat er’s gelogen… Die Westerbrunner sind uns spinnefeind, das weiß ich schon von meinem Vater her…“
„Weil Ihr Osterbrunner es uns immer darnach gemacht habt!“ rief der Finkenzeller entgegen, der eilig mit seinen Gemeindegenossen herzu trat und sich mit ihnen gegenüber stellte. „Wir haben Euch nie was zu Leid gethan, das weiß ich auch von meinem Vater her – wir haben uns immer nur gewehrt gegen Euch!“
„Gelogen, wer das sagt!“ schrie der Grubhofer entgegen. „Die Westerbrunner sind’s gewesen, welche die ganze Feindschaft angefangen und uns Alles zum Tort gethan haben, was sie nur haben ausstudiren können. So ist’s gewesen, seit ich denk’ … aber Ihr sollt nit aufkommen über uns. Wir wehren uns auch, und es müßt’ keine Gerechtigkeit mehr geben im Land, wenn wir nit Recht behalten thäten.“
Der Amtmann hatte die Tasse ergriffen und behaglich einen Zug des kühl gewordenen Mokka geschlürft. „Was sagen Sie dazu, ma mie?“ rief er seiner Frau zu, indem er die Cigarrenasche abstreifte. „Welfen und Ghibellinen in der Joppe – wie finden Sie das?“
[612] Die Dame erwiderte nichts; sie zuckte nur mit den etwas stark entblößten Schultern, verzog den hübschen Mund zu einem unsäglich geringschätzigen Lächeln und fuhr in ihrer Zeichnung fort. Der Amtmann zog aus der Westentasche das an einer Schnur hängende Lorgnon von Schildpatt hervor, zwängte es in’s Auge und musterte die Bauern, die drohend und wie kampfbereit einander gegenüber standen. „Ich verbitte mir das Geschrei und diese Rohheiten,“ sagte er streng, „ich sehe schon, wo der Fehler sitzt – es mangelt der gehörige Respect, das macht Euch vergessen, vor wem Ihr steht und mit wem Ihr sprecht. … Ich bürge Euch dafür, in einem Jahre soll’s anders sein! … Und wer sind Sie?“ fuhr er fort, gegen den Lehrer gewendet, der in bescheidener Entfernung seitwärts stand, „gehören Sie auch zu den Osterbrunnern?“
„Ich bin der Schullehrer des Orts,“ erwiderte der Angeredete, „zugleich Gemeindeschreiber und als solcher verpflichtet, bei heutiger Verhandlung das Protokoll zu führen.“
„Dann bedaure ich, daß Sie einen vergeblichen Spaziergang gemacht haben,“ entgegnete der Amtmann; „das Amt, das die Verhandlung führt, hat auch für das Protokoll zu sorgen – ich habe meinen Actuarius mitgebracht…“
„Entschuldigen Sie, Herr Amtmann,“ sagte Sixt vortretend, während der Lehrer verschüchtert zurücktrat und die Bauern einander wieder wie vorher rathlos betrachteten, „es war nicht so gemeint, als wollten wir in die Befugnisse des Amts eingreifen – es geschah in gutem Glauben, denn noch ist es nicht eine eigentliche Amtsverhandlung, weßwegen wir da sind, sondern eine Vermittlung zwischen zwei benachbarten Gemeinden, bei der das Amt anwesend ist … wir wollten auch dem Gemeindesäckel die Kosten ersparen, und dann – die Hauptsache, es ist immer so der Brauch gewesen und kein Mensch weiß und denkt es anders, als daß bei Gemeindesachen der Gemeindeschreiber auch das Protokoll führt…“
Der Amtmann schien bei Beginn dieser Rede nicht übel Lust zu haben, aufzuspringen und unwillig zu antworten, aber die ruhige Haltung, der sichere Ton des Aichbauers hatten etwas in sich, was dem aufwallenden Unmuth einen Dämpfer aufsetzte. Er hielt an sich, maß die stattliche Gestalt des jungen Bauers vom Wirbel bis zur Sohle und fragte kühl und abstoßend: „Wer ist es, der sich da zum Sprecher und Wortführer aufwirft?“
„Ich bin der Aicher von Aich,“ entgegnete Sixt, „der Herr Amtmann kennen mich schon, wenn auch nicht von Person – Sie haben mir einen Befehl zugeschickt, wie ich den Fruchtwechsel einrichten soll auf meinem Gute…“
„Ah, das seid … das sind Sie?“ rief der Beamte während der Rede seinen Satz verbessernd. „Ihr … Sie haben sich geweigert, dem Rathschlage zu folgen – denn nur ein solcher war es, was ich Ihnen zuschickte – Sie scheinen ein widerspenstiger Kopf zu sein.“
„Ich hab’ mir die Freiheit genommen, ja, Herr Amtmann,“ erwiderte Sixt, „aber widerspenstig bin ich darum nicht! Ich meine nur, Sie würden sich von mir nichts einreden lassen, wenn ich in Ihre Kanzlei kommen und sagen wollte, wie Sie Ihre Protokolle machen und Ihre Acten einrichten sollen – d’rum will ich mir auch in meinem Gut, auf meinen Feldern nichts drein reden lassen… Es mag Manches gut und gescheidt sein draußen in der Eben, auf einem andern Grund und Boden, aber bei uns hierinnen, auf unsern Bergen, da ist das ein ganz andres Ding … da hilft das Nachmachen nichts, da muß man selber die Augen aufthun…“
„Auch bei der Differenz wegen der Waldgrenze stehen Sie an der Spitze…“
„Das gerad’ nicht – aber Einer muß sich doch um die Sach’ annehmen, damit den Andern die Arbeit erspart wird; also hab’ ich mich darüber gemacht, habe den Flurplan hergenommen und Alles hineingezeichnet, was nöthig ist…“ Dabei zog er ein großes vielfach zusammengelegtes Blatt aus der Tasche und schlug es, das Kaffeegeschirr unbedenklich bei Seite schiebend auf dem moosigen Felsblock auseinander. Es war das betreffende Blatt aus der allgemeinen Landvermessungskarte, aber der Wald, um den es sich handelte, war mit seinen Grenzen, Höhen und Senkungen, Felspartien und Baumarten so genau und mit solch’ zierlicher Sauberkeit eingezeichnet, daß das Ganze einen ungemein freundlichen und gefälligen Eindruck hervorbrachte.
„Sieh da, ein förmlicher Plan!“ rief der Amtmann gedehnt. „Man versteht also auch zu zeichnen? Was sagen Sie dazu, ma mie? Die zweite Ueberraschung in einer halben Stunde … ein Quintin Messis unter Bauern!“
Die Dame hatte schon beim Erscheinen des Aichbauern ihre Arbeit unterbrochen und nach ihm hinüber gesehen; jetzt warf sie einen flüchtigen Blick auf die Zeichnung, einen etwas aufmerksameren auf den Zeichner. „Nicht übel,“ sagte sie dann und kehrte wieder zu ihrer Beschäftigung zurück, ohne daß sich sagen ließ, welchem von Beiden die Bemerkung gegolten.
„Ich hab’ geglaubt,“ begann der Aichbauer wieder, „ein solcher Plan könnt’ bei der Waldbegehung sehr diensam sein – man könnte gleich Alles an Ort und Stelle vergleichen, jeden Einspruch vormerken und so für alle Zeit einen Anhalt bekommen, der gar nit mehr streitig sein könnt’…“
Der Beamte hatte sich von seiner Ueberraschung erholt und den alten Ton wieder gefunden. „Es ist nur zu bedauern,“ sagte er, „daß so viel Mühe, Fleiß und Zeit so unnöthig aufgewendet wurde. Bei den Anordnungen über den Fruchtwechsel wäre sie besser am Platze gewesen, denn daß man bei seinem Leisten bleiben soll, ist ein Spruch, der nicht ausschließlich vom Schuster gilt. … Ich bedarf keines Planes mehr, die Grenze ist bereits begangen…“
„Aber ohne uns, Herr Amtmann,“ sagte Sixt mit Nachdruck, „wir sind eigens dazu geladen und unsere Schuld ist es nicht, wenn man Knall und Fall einen andern Treffungsort bestimmt hat…“
„Gleichviel, sie ist nicht mehr nöthig jetzt … das Amt ist bereits vollständig informirt…“
„Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Amtmann,“ entgegnete Sixt, dessen Stirn sich immer krauser faltete. „Es sind einmal zwei Parteien da, die sich über die Grenze streiten – die Begehung hat den Zweck, an Ort und Stelle zu hören, was jede einzuwenden hat! Sie haben die Erinnerungen von der einen gehört, Sie müssen auch –“
[625] Der Amtmann brauste auf. „Ich muß?“ rief er. „Wer will sich erdreisten, mir Vorschriften zu geben?“
„Aber, Herr Amtmann …“
„Herr Amtmann und immer Herr Amtmann!“ fuhr der Beamte auf, der die ruhige Fassung immer mehr zu verlieren schien. „Ich bin der Baron von Lanzfelt … dem Aicher von Aich würde keine Perle aus der Krone fallen, wenn er den schuldigen Respect nicht aus den Augen setzen und mir den Titel geben würde, der mir gebührt!“
„Ich wüßt’ nit, daß ich’s je am schuldigen Respect hätt’ fehlen lassen,“ erwiderte Sixt und fuhr sich, wie um sich seiner Besonnenheit zu vergewissern, über Stirn und Kraushaar. „Ich nehm’ Ihnen auch von Ihren Titeln nichts, gestrenger Herr, aber nichts für ungut, mit dem Herrn Baron von Lanzfelt, mit dem hab’ ich nichts zu thun, sondern nur mit dem Herrn Bezirksamtmann, mit dem darf ich reden, weil er mich selber hieher hat rufen lassen, und deswegen dring’ ich darauf, daß die Waldbegehung noch vorgenommen oder, wenn’s dazu schon zu spät sein sollt’, ein anderer Tag gleich jetzt festgesetzt wird! Ich kann gar nit begreifen …“
„Und ich begreife nicht,“ sagte der Amtmann mit einem Lächeln, welches zeigte, daß er nun den Weg gefunden zu haben glaubte, den stolzen Bauer empfindlich seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen … „ich begreife nicht, wie Sie überhaupt dazu kommen, hier das Wort zu nehmen.“
„Ich bin ein Angehöriger der Gemeinde Osterbrunn … der Aichhof ist eines der größten Güter in der Gemeinde – ich bin also Einer von denen, die bei der ganzen Sache am meisten betheiligt sind!“
„Das ist hier sehr gleichgültig,“ sagte der Baron mit immer boshafterem Lächeln, „die Größe des Grundbesitzes ist es nicht, worauf es hier ankommt … die Mitglieder der Gemeindeverwaltung und die Bevollmächtigten allein sind hieher berufen worden. Gehören Sie zu diesen?“
„… Nein …“ stieß der Aichbauer mühsam hervor, indem er mit der einen Hand sich wieder durch das Haar fuhr, mit der andern wie tastend um sich griff, als suche und bedürfe er etwas, sich daran zu stützen. „Ich hab’ gemeint, ich hätte doch auch ein Recht …“
„Gemeint!“ entgegnete der Amtmann höhnisch. „Gemeint! Wenn sich nur nicht mit dem Meinen abgeben wollte, wer nicht dazu berufen ist! Wenn es darauf ankäme, hätte der dort auch ein Recht, hier zu sein, denn nach seiner Meinung ist er noch immer Herr seines längst verkauften Anwesens.“ Er deutete dabei nach dem Waldrande, wo der Nußbichler im Schatten einer Haselstaude auf seinem Lumpensack lag und seinen Rausch vollends ausschlief.
„Was?“ rief Sixt knirschend und wollte mit geballten Händen vorstürzen. „Sie vergleichen mich mit einem solchen …“ Er konnte nicht vollenden, denn die Osterbrunner Nachbarn hatten augenblicklich einen Ring um ihn gebildet und drängten ihn seitwärts, einem Ausbruche vorzubeugen, der unter allen Umständen nur zum Nachtheile des allgemein beliebten Mannes ausfallen konnte. Der Grubhofer blieb mit Einigen bei dem Amtmann zurück.
„Es wird am End’ so weit nit gefehlt sein,“ sagte der Alte, „wenn der Aicher auch noch nicht bei der Gemeindeverwaltung ist! Es muß ja ohnedem in der nächsten Zeit die neue Wahl sein – und daß kein Anderer Vorsteher wird als er, das ist so viel als wie gedruckt!“
„So?“ fragte der Amtmann, ohne die Gruppe der Anderen einen Moment aus den Augen zu verlieren. „Ist das schon so gewiß? … Nun, das Amt wird seine Pflicht thun und untersuchen, ob er die nöthigen gesetzlichen Eigenschaften zu diesem Posten [626] besitzt … Einstweilen aber werdet Ihr gut thun, liebe Leute, Euch um die Zukunft noch nicht zu kümmern, sondern ruhig Eurer Wege nach Hause zu geh’n. Ihr habt mitunter einen ziemlich weiten Weg zu machen und werdet das Weitere schon zu hören bekommen …“
„Die Bauern sprachen durcheinander, daß es wie Murren klang; besonders die Osterbrunner steckten die Köpfe zusammen. Der Aichbauer hatte sich von ihnen getrennt und war in die Nähe des Wildbachs getreten; eine herniederrieselnde Wasserader fing er in der hohlen Hand auf und benetzte sich die Stirn, das ungestüm anstürmende Blut zurückzutreiben.
„Aber,“ sagte endlich der Grubhofer halblaut, „nun möchten wir doch auch wissen, woran wir sind! Wir möchten doch nicht gern so völlig für nichts und wider nichts hergesprengt sein!“
„Wie ist es denn jetzt mit dem Wald?“ riefen Andere. „Kriegen wir jetzt eine neue Waldgrenze und wer hat denn Recht behalten von den zwei Gemeinden?“
„Still!“ rief der Amtmann mit strenger Würde. „Ich gebiete Ruhe und werde meinem Gebote Gehorsam zu verschaffen wissen. Die Sache ist vom Amte in gehöriger Form eingeleitet und wird ihren gesetzlichen Gang gehen, die Erklärungen und Erinnerungen der Gemeinde Westerbrunn sind zu Papier gebracht und sollen der Gemeinde Osterbrunn zur Gegenerinnerung mitgetheilt werden… Das Amt wird dann die Acten schließen und nach reiflicher Erwägung dessen, was dem Wohle einer jeden Gemeinde am angemessensten ist, die Entscheidung treffen…“
„Dann sind wir in fünfzig Jahren auch noch am alten Fleck!“ riefen die Osterbrunner unwillig durcheinander, auch unter den Westerbrunnern waren Viele, denen der Ausspruch, wenn er auch augenblicklich zu ihren Gunsten war, wegen der darin liegenden Verzögerung beschwerlich erschien. „Wir wollen keine lange Schreiberei!“ hieß es immer lauter. „Wir wollen’s nicht auf die lange Bank schieben lassen! Jetzt sind wir bei einander, jetzt soll’s ausgemacht werden!“
„Oho,“ rief einer unter den Westerbrunnern den gegenüberstehenden Angehörigen der feindlichen Gemeinde zu. „Ihr könnt’s wohl gar nicht erwarten, bis der Spruch kommt? Das kommt davon her, Ihr habt ein schlecht’s Gewissen und eine schlechte Sach’!“
„Und Ihr solltet gleich das Maul nit aufmachen, Ihr Westerbrunner Hungerleider,“ rief der Grubhofer entgegen. „Ihr solltet Euch schämen, daß Ihr die Sach’ so überrumpeln wollt!“
„Wer kann uns das nachreden?“ schallte es wieder von drüben. „Ein schlechter Mann, der so ’was sagt!“
„Ich sag’s, der alte Grubhofer sagt’s! Aber wer mich ein’ schlechten Mann schimpft, der ist selber nicht werth, daß ihn die Sonn’ anscheint!“
Der Amtmann gebot wiederholt Ruhe und Stille, aber sein Ruf besaß weder die Kraft, den wachsenden Lärm zu übertönen, noch hatten seine Worte die Macht, sich wie eine Schranke zwischen die feindlichen Bauern zu legen, welche in immer steigender Erbitterung sich hantirend und schreiend immer näher aneinander drängten, so daß im nächsten Augenblick ein Zusammenstoß und wirkliches Handgemenge zu befürchten war.
Da trat mit einem Male der Aichbauer dazwischen, stieß mit kräftigen Armen die Ungestümsten und Vordersten nach rechts und links zurück und hatte bald eine freie Gasse gebildet, in deren Mitte er stand, dem Amtmann gegenüber, der sich vor dem Gedränge in bescheidene Entfernung zurückgezogen hatte; er war wieder gelassen, wie bei der Ankunft im Waldthal, nur schien aus dem früher glühenden Angesicht das Blut bis auf den letzten Tropfen zurückgewichen zu sein.
„Was soll’s geben, Grubhofer, alter Rebeller?“ rief er. „Wirst nit einmal lernen, ein’ Fried’ geben? Und Dich, Finkenzeller, hätt’ ich auch für gescheidter gehalten für einen so alten Kampel und noch dazu einen Gemeindevorsteher! Was wollt Ihr denn? Ist es Euch noch nicht genug, daß Ihr schon einen Proceß vor der Thür habt, von dem die eine Hälfte das End’ gar nit erlebt und an dem derweil’ die andere Hälfte zu Grund’ gehen kann? Wollt Ihr auch noch eine Untersuchung dazu haben und einander blutige Köpfe schlagen? Wollt Ihr’s beweisen daß die Selbigen Recht haben, die sagen, wir können uns selber nit regieren und vertragen, man müßt’ uns überall einen Vormünder stellen und uns das Recht vorschneiden, wie den Kindern das Fleisch, fein kleinweis, daß sie nit daran ersticken? Ich kann’s nit glauben von Enk, Nachbarn! Sein doch unsere Ahn’ln in den zwei Dörfern alleweil in Frieden miteinander aus’kommen und in der Einigkeit … erst seit die letzten dreißig Jahr’ ist der Unfrieden da und die Feindschaft…“
„Ganz natürlich,“ entgegnete der Finkenzeller, „gerad’ so lang’ ist es, daß Ihr Osterbrunner uns den Staudinger Forst abstreiten wollt!“
„Weil wir ohne die Laubstreu’ nit hausen können,“ sagte Sixt, „und weil der Staudinger Forst unser gehört von Gott’s und Rechts wegen! G’rad’ so gut kann ich sagen, Ihr habt die Feindseligkeit angefangen, weil Ihr die Achazi-Point verlangt und meint, sie g’hör’ Euch!“
„Sie gehört uns auch!“ rief der Finkenzeller wieder, „und sie muß uns gehören, es ist die Weidenschaft, die wir brauchen, wenn wir nit zu Grund’ gehen sollen, und wir können’s auch beweisen, daß sie unser gehört, wir haben alte G’schriften dafür gehabt und Brief’ mit einem großmächtigen Siegel daran, aber wir haben sie vor zwanzig Jahren auf’s Amt hinein getragen…“
„Ja,“ begann der Aichbauer wieder, „so ist’s mit unsern Hausbriefen auch gewesen, aber das Amt ist abgebrannt und all’ die alten Schriften und Urkunden sind mit in Rauch auf’gangen. Kein Mensch kann mehr sagen, wie’s einmal gewesen ist … wollen wir die Narren sein und deswegen unser gut’s Geld verstreiten … wär’s nit g’scheidter, wir thäten nimmer darnach fragen, sondern thäten frischweg ausmachen, wie’s in Zukunft sein soll?“
„Ja, ja,“ riefen viele Stimmen und ein Gemurmel des Beifalls ging durch die beiden feindlichen Parteien; nur der Amtmann zuckte geringschätzig mit den Schultern und lachte.
„Ja, wenn das so leichthin ginge! Auch ist zu Derlei hier nicht der geeignete Ort!“
„Auf den Ort, Herr Baron von Lanzfelt, kommt’s wohl nit an,“ sagte Sixt, „und wenn man nur recht ernstlich will, geht Manches, das oft gar nit den Anschein dazu hat. Kommt einmal da her, Nachbarn und Landsleute, schaut Euch den Plan da an, den ich aufgerissen hab’ … wenn er auch sonst für nichts gut ist, dazu wird er doch taugen, daß Ihr’s seht, wie die Grenzen laufen, wo unsere Gemeindemarkungen aneinander stoßen. Es hat schon dazumal, bei der Landesvermessung, Niemand recht gewußt, wie die Grenz’ lauft, drum hat sich’s der Geometer leicht gemacht, hat das Lineal genommen und schier einen g’raden Strich mitten durchgezogen… Rechts von dem Strich liegt der Rantinger Forst, auf den Ihr spitzt, links weiter unten ist die Achazi-Point, die wir Osterbrunner gern haben möchten… Jetzt schaut einmal her! Das grüne Band da, das sich so curios windet, das ist der Wildbach die Grünach … wie wär’s, wenn wir den Geometer mit sammt seinen Strich ausmerzen thäten und thäten dafür die Grenz’ nehmen, die unser lieber Herrgott selber hinein gezeichnet hat in’s Land? Die Grünach macht da einen Bogen und geht um den Forst herum und da unten weicht sie nach links aus und laßt die Point liegen… Ihr laßt uns von der Point, was über’n Bach herüber fällt, wir geben Euch das Stück Forst, das der Bach abschneidet – so wär’ uns allen Zweien geholfen: Ihr habt Streu, wir Weidenschaft – wir haben eine richtige Grenz’, die keine Abmachung braucht und über die es keinen Streit geben kann in ewigen Zeiten, wir haben keinen Proceß mehr vor der Thür und was das Schönste ist, die Feindschaft ist aus, und die Osterbrunner und Westerbrunner können wieder gute Nachbarn und Freund’ sein, wie alleweil…“
Der Bauer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen; es bedurfte nur ein paar Augenblicke, während deren die Männer den Plan auf dem Felsblocke betrachteten, und Alle waren einig: der Vorschlag war so einleuchtend und klar und dabei nach allen Seiten befriedigend, daß es unbegreiflich erschien, wie man nicht längst schon auf diese Auskunft verfallen war. Der Beifall gab sich in lärmendem Zuruf der allgemeinen Zustimmung kund. Die Bauern drängten sich der Reihe nach heran, Sixt die Hand zu bieten; der Finkenzeller aber, der Vorsteher von Westerbrunn, war ganz gerührt, wie er vor ihn hintrat. „Geh’ her, Sixt,“ sagte er, „Du bist ein ganzer Kerl! Du bist das richtige Konterfei von Dein’ Vater … Gott tröst’ ihn! Geh’ her, ich muß Dir ein’ Schmatz geben!“
Damit faßte er ihn mit beiden Händen am Kopf und drückte [627] ihm ein paar herzhafte Küsse auf Mund und Wangen. „So soll’s sein, wie Du gesagt hast!“ rief er wieder. „Die Grünach soll die Grenz’ sein von heut an! Wem’s nit recht ist, der hat’s mit mir zu thun – der soll’s nur sagen, daß ich’s ihm recht mach’ …“
In der allgemeinen Freude hatte Niemand mehr auf den Amtmann geachtet, der ingrimmig bei Seite getreten und seiner Frau, die längst in voller Entrüstung ihr Skizzenbuch zugeklappt hatte, das Kaffeegeschirr zusammen zu stellen behülflich war. So sehr er innerlich vor Wuth bebte, besaß er doch Weltklugheit und Schliff genug, es zu verbergen; er fühlte, daß er sich eine Blöße gegeben, daß er in Ton und Benehmen etwas einlenken müsse, um die Scharte wieder auszuwetzen, die dem amtlichen Ansehen in empfindlichster Weise geschlagen war. Der Bediente mit der Meldung, daß der Wagen zur Heimfahrt bereit sei, bot eine willkommene Gelegenheit, einzulenken und den unangenehmen Vorfall abzuschließen. „Nun, meine lieben Leute,“ sagte er, an ihnen vorüberschreitend, mit herablassendem Nicken und sauersüßem Lächeln, „mich rufen die Geschäfte, überlegt immerhin den Vorschlag dieses jungen Mannes, es soll mich sehr freuen, wenn er sich zur Basis für eine gütliche Ausgleichung eignet. Das Amt wird seinen Bericht darnach einrichten und eine hohe Kreisbehörde nicht anstehen, einen solchen Vergleich von Curatel wegen zu genehmigen…“
„Gewiß, Herr Baron von Lanzfelt,“ erwiderte Sixt, „und wenn wider Vermuthen sich noch ein Stein’l im Weg finden sollte, giebt’s über der Kreisbehörde noch einen Herrn, bei dem wir sicher nit vergebens anklopfen!“
„Ja wohl, ja wohl,“ murmelte der Amtmann zwischen den Zähnen und fuhr dann, seiner Frau den Arm bietend und zu ihr gewendet, fort: „… es war immerhin eine angenehme unterhaltende Partie – es gab vielerlei Gelegenheit zu Studien über Land und Leute… Nicht wahr, ma mie? Dieser junge Bauer ist ein Stück Volkstribun, ein ländlicher Gracchus oder Rienzi … was sagen Sie dazu, ma mie?“
Die Dame machte mit dem feinen spitzenbesetzten Battisttuch eine abwehrende Bewegung, als wollte sie sich reine Luft zufächeln. … „Fi donc,“ sagte sie, „der Volkstribun duftet nach dem Kuhstalle!“ –
Die Dämmerung brach ein, herbstlich früh und kühl; hinter den Tannen zerfloß blasser goldgelber Abendschein in einen duftig dunklen Himmel, welcher vermuthen ließ, daß der Morgen die Fluren mit dem Vorläufer des Winters, mit weiß schimmerndem Reife bedeckt finden werde. Es war nicht mehr gut möglich, im Freien zu hausen; von außen war es daher sehr still und einsam um das Wirthshaus an der Kreuzstraße, aber die hell erleuchteten Fenster des Erdgeschosses sandten ihren rothen Schein weit hin in das Dunkel und verkündeten, daß ziemlich viele von den Bauern der Einladung des Wirths Folge geleistet und noch einen kleinen Halt an dem gastlichen Hause gemacht hatten; galt es doch, das große Ereigniß des Tages, den unerwarteten Friedensschluß der zwei Gemeinden, noch hinterm Bierkruge gehörig zu verarbeiten und auf sein Bestehen mit den Westerbrunnern anzustoßen, von denen einige in der ersten Freude der Aussöhnung den Umweg nicht gescheut hatten und mit den wieder gewonnenen Nachbarn der Schenke zugewandert waren.
In dem dunklen Giebel des Hauses war ein einzelnes kleineres Fenster von schwachem Lichtschimmer erhellt; es kam aus dem Stübchen, in welches Franzi die kranke Susi geleitet und wo sie sich mit ihr eingeschlossen hatte. Vergeblich war der Wirth mehrmals an die Thür gekommen, hatte ihr gerufen und sie aufgefordert, die Gäste zu bedienen; Franzi öffnete nicht und rief nur heraus, der Wirth solle für heute nur einmal zusehen, wie er allein zurecht komme, sie könne die Kranke nicht mehr allein lassen, weil sie dringend ihrer Pflege bedürfe. Wüthend stolperte der Wirth wieder die Stiege hinab, aber er wagte nicht, auf seinem Rechte zu bestehen und zu befehlen, des Gastes wegen, der unten eine tüchtige Rechnung anwachsen ließ; da die Kranke dessen Schwester war, mußte er wohl ein Auge zudrücken.
Waldhauser und Meister Staudinger hatten den ganzen Nachmittag über getafelt und gebechert, dazwischen auch so viel vertraulich und eifrig geplaudert, hatten sich so oft treuherzig die Hände geschüttelt und mit den Gläsern angeklungen, daß es offenbar war, da hatte sich ein ebenbürtiges Paar von seltener Gleichheit der Gesinnung zusammengefunden. Der dicke Metzger war ungemein redselig geworden und ermüdete nicht, wenn auch mit immer schwererer Zunge, von den Ränken und Pfiffen zu erzählen, durch die es ihm gelungen, manchen vortheilhaften Kauf, manches gewinnreiche Geschäft abzuschließen. „Siehst Du, Brüderl,“ lallte er, „so muß man’s machen, wenn man auf ein’ grünen Zweig kommen will! … stoß’ an mit mir! Pfiffig muß man sein!“
„Freilich, freilich,“ lachte Waldhauser mit seinem Glase anklingend, „steht es denn nicht sogar in der heiligen Schrift, daß man fromm sein soll, wie die Tauben, aber auch klug wie die Schlangen? Ich bin mit dem ganzen Plan vollkommen einverstanden – noch schaut immer etwas heraus bei dem Handel mit Holz und Vieh – aber Zwei müssen zusammen stehen, ohne daß ein Mensch eine Ahnung davon hat; dann geht es und Einer jagt dem Andern die Gimpel in’s Garn! Aber jetzt muß ich doch hinauf, muß nach meiner Schwester umseh’n – nach dem zimperlichen Ding…“
Der Metzger sah ihn mit lauerndem Seitenblick listig an. „Ist ja recht krank, das arme Geschöpf,“ sagte er mit erkünsteltem hämischem Gelächter, „da kann man sich wohl denken, warum Sie sich seiner annehmen – die treibt es wohl nimmer lang und wer sich um sie angenommen, dem wird wohl auch die reiche Erbschaft nicht auskommen! Das ist ein schönes Bröcklein und wenn erst noch das von der Base dazu kommt – die soll ein schönes Körnd’l beisammen haben…“
„Pfui,“ unterbrach ihn Walthauser mit scheinheiliger Miene, „was denken Sie von mir! Wer wird bei einer leiblichen Schwester so unchristliche Gedanken haben … da müßt’ ich mich ja schwerer Sünden fürchten!“
„Na, das versteht sich,“ sagte der Metzger wieder; „aber wer könnt’ sich denn dagegen auflehnen, wenn es halt einmal so des Himmels Wille wäre…”
„Das wäre freilich etwas Anderes,“ erwiderte Waldhauser, die Hände faltend, „freilich, in den müßte man sich ergeben als ein guter Christ – aber ich kann mich wirklich nicht mehr länger aufhalten, ich muß hinauf und zur Abfahrt drängen – ich will mit meinem Bruder, der wohl kommen wird, nicht mehr zusammen treffen – er ist mir zu ernsthaft…“
„Und mir zu vornehm, obwohl er nur ein Bauer ist,“ sagte Meister Staudinger vor sich hin, während Waldhauser eilig das Zimmer verließ. Dann griff der Metzger nach seinem Glase, leerte es auf einen Zug und faltete, gedankenlos vor sich hinstarrend, die Hände über dem stattlichen Bauche. Nach wenig Augenblicken fielen ihm die schweren Augen zu, und mit vorgebeugtem Haupte versank er in tiefen schnarchenden Schlaf. Er hörte nicht, daß draußen der Amtmann angefahren kam und sich in das für ihn bereitete Zimmer auf der andern Seite der Hausflur begab, das bestellte Abendmahl einzunehmen, er gewahrte nicht einmal das Eintreten des Wirths, welcher die beiden Leuchter mit Stearinkerzen vom Tische nahm, um sie gegen ein schlechtes Unschlittlicht zu vertauschen. Die Zecherei war vorbei, darum war es auch mit der Achtung zu Ende, der alte Gast war über dem neuen, der geringere über dem ansehnlicheren vergessen.
Inzwischen war Waldhauser in dem dunklen Gange des obern Stockwerks angekommen, in welches nur von der Treppe her ein schwacher Lichtschimmer drang – ein heller Streifen am Boden, der durch die übel schließende Thür drang, verrieth die Kammer, in welcher die Mädchen sich eingeschlossen hatten. Mit leisen Katzentritten schlich er näher, an der Wand sich fort tastend, bis er das Thürgerüst gefunden hatte. Dann beuge er sich horchend zu dem Schlüsselloche nieder; durch die Lücke eines ausgesprungenen Astes konnte er, wenn er sich etwas streckte, bequem das ganze, von einem Oellämpchen nur trübe beleuchtete Gemach übersehen. Susi saß auf dem ärmlichen Bett und hatte sich über die vor ihr knieende Franzi gebeugt, ihr Kopf ruhte auf deren Schulter, das Gesicht war in den aufgelösten Strähnen des reichen schwarzen Haares verborgen. Beide waren regungslos; Susi schien eingeschlummert und Franzi verharrte in der unbequemen Stellung, die Leidende nicht zu wecken, welche von der kurzen Ruhe schon so sehr erquickt zu sein schien.
„Was sie nur mit einander haben, die empfindsamen Narren!“ dachte der Lauscher, während sein Blick zugleich gierig an Franzi’s von der Lampe voll beschienenem Angesicht oder an dem blüthenweißen Nacken hing, der durch die gebeugte knieende Stellung aus dem verschobenen Tuche hervortrat.
[628] Nach einer kleinen Weile erhob sich Susi, fuhr sich wie besinnend über die Stirn und blickte dann Franzi mit einem Lächeln voll unendlicher Liebe und innigen Zutrauens in’s Angesicht, sie öffnete schon den Mund, als Waldhauser in seinem gierigen Streben, ja kein Wort des Gespräches zu verlieren, an die Schwelle tappte und ein Geräusch verursachte, das, so leise es war, Franzi’s feinen Sinnen nicht entging. Im Nu erhob sie sich, trat zur Thür und hatte sie geöffnet, eher Waldhauser Zeit gefunden hatte, sich zu entfernen. Betroffen stand er vor ihr und antwortete auf die Frage nach seinem Begehren nur stotternd, es sei hohe Zeit wieder aufzubrechen; er habe bei der Schwester nachsehen wollen, ob sie noch nicht bereit sei.
„Ich komme,“ sagte Susi, die Haarflechten zurecht steckend, „geh’ nur voran, Bruder – in einigen Minuten bin ich reisefertig …“
Er schien noch zögern zu wollen, vielleicht in der Absicht noch etwas von den Anliegen der beiden Mädchen zu erfahren; aber Franzi wich nicht von der Schwelle und rief, nach der Treppe deutend: „Auf was warten Sie noch, Herr Aicher? Was wir Ihnen sagen wollen, werden Sie schon noch erfahren und zu horchen giebt es nichts!“
Zornig, ohne Erwiderung rannte er fort, Susi aber zog die Freundin an sich und sank an ihre Brust. „Ich muß fort von Dir,“ flüsterte sie, „aber mein Herz bleibt bei Dir zurück! Wie froh bin ich, wie glücklich, daß mich unser Herrgott daher geführt hat zu Dir … nicht wahr, Franzi, Du wirst mich nicht verlassen?“
„Niemals – so lang’ ich ein offnes Aug’ hab!“
„Und was wir geredet haben, das bleibt ein Geheimniß zwischen mir und Dir?“
„Bis ich in der Gruben lieg’ – und was ich Dir versprochen hab’, das halt’ ich auch – darauf kannst leben und sterben!“
„O Franzi – wenn Du das möglich machen könntest, dann wär’ Alles gut, dann wollt’ ich glückselig sein, wie ein Engel im Himmel!“
„Verlaß Dich darauf, Susi! Schau, ich hab’ mein Mutter früh verloren, wie ich noch ein ganz kleines Dirnl war – so früh, daß ich mir gar nimmer recht einbilden kann, wie sie ausgeschaut hat; nur manchmal im Schlaf, im Traum, da seh’ ich sie vor mir, als thät sich ein liebes gutes bekanntes Gesicht auf mich herunterneigen … und doch ist mir meine Mutter das Heiligste, das Liebste auf der Welt! Ich kann Dir’s drum nit heiliger versprechen, – aber so gewiß als ich mein’ liebe gute Mutter gern hab’, so gewiß halt’ ich auch und führ’s aus, was ich Dir versprochen hab! … Nimm Dich zusammen,“ fuhr sie fort, da Susi in Thränen ausbrechend ihr wieder die Arme um den Nacken schlang, „ich hör’ schon den Wagen vorfahren; Niemand darf sehen, daß Du geweint hast, Du mußt Dich couragirt zeigen, sonst machen wir uns die Sach’ nur selber schwer.…“
Sicher, ruhig und fest faßte sie der Freundin Hand und geleitete sie hinunter an den schon bereitstehenden Wagen; kein Wort ward mehr zwischen ihnen gewechselt; sie sahen einander nochmals in die Augen, reichten sich die Hände, und das Gespann sauste hinweg, um in wenigen Augenblicken in der Nacht zu verschwinden. Eine Weile noch blieb Franzi stehen, horchte dem Verhallen des Wagengerassels und sah in die Mondsichel empor, die silbern über den Tannenwipfeln herauf stieg und diese mit noch tieferem Dunkel übergoß. Die Begebnisse des Tages zogen an ihrer Seele vorüber, bis ein Rauschen in den Büschen sie aufschreckte: im ungewissen Mondlicht glaubte sie eine Gestalt aus denselben hinweghuschen zu sehen. „Ist wer da?“ rief sie entschlossen hinzutretend, aber Alles blieb still und reglos, nur ein paar Zweige schwankten noch gegen einander. … „Es wird ein Nachtvogel gewesen sein, den ich aufgeschreckt habe,“ sagte sie und schritt dem Hause zu, „vor solchem Gezücht fürchten wir uns nit!“
Im Flur kam ihr der Wirth entgegen und schnurrte sie zornig an. „Ist das auch eine Aufführung für einen Dienstboten, für eine Kellnerin? Die Frau kann keinen Schritt aus der Kuchel fort, alle Stuben sind voll von Leuten, und Du läßt mich allein wirthschaften und setzest Dich in den oberen Stock hinauf, in den Heimgarten und auf den Ratschmarkt?“
Franzi nahm dem Scheltenden Geschirr und Krüge ab, die er eben trug, und sagte gelassen: „Ich kann dem Wirth nit Unrecht geben – aber es geht halt nit anders und so wird’s wohl das Gescheidteste sein, wir gehen auseinander … in vierzehn Tag’ hat der Wirth eine bessere Kellnerin und ich geh’ meiner Weg’.…“
Verblüfft sah ihr der Wirth nach, als sie auf der Kellertreppe verschwand. Dieser Ausgang war ihm unerwartet und auch unerwünscht, denn trotz alles Scheltens mußte er sich doch selbst gestehen, daß er zu suchen haben werde, bis er einen Ersatz von gleicher Verlässigkeit und Redlichkeit gefunden habe. „Was ist das jetzt wieder?“ brummte er. „Wie man ein Wort sagt, hat man den Strohsack vor der Thür – der Kuckuk kennt sich aus in der verruckten Person!“
[641] Franzi hatte indessen angefangen, in den verschiedenen Zechstuben das Versäumte nachzuholen; sie bediente und räumte ab, und bald war nicht zu verkennen, was eine gewandte sichere Hand auch in kurzer Zeit vermag. In dem Cabinet, in welchem Meister Staudinger noch immer schlafend lehnte, war es dunkel geworden; das Unschlittlicht qualmte erlöschend auf, durch die Fensterscheiben aber quoll das Mondlicht herein, daß sie glitzerten und auf dem Boden widerschienen. So fest der Schlaf des Meisters war, schien er doch nicht ruhig zu sein, denn er regte sich manchmal schwerfällig, als liege er unter einer Last, die er abzuwälzen nicht vermöge, und unverständliche Worte kamen von den heißen Lippen. Franzi nahm die ausgebrannte Kerze hinweg, sie durch eine neue zu ersetzen; über der Bewegung oder von dem helleren Lichtschein erwachte der Schläfer – sein erster Blick fiel auf das Mädchen, er machte eine Bewegung, als wolle er erschrocken aufspringen, aber er vermochte es nicht und fiel schwer in seine erste Stellung zurück. Die Augen aber standen weit offen und hingen mit dem starren Ausdruck des Schreckens an Franzi, während der Mund sich lange vergeblich bemühte, ein Wort hervorzubringen. „Weg … weg mit Dir!“ stößt er endlich mit Anstrengung hervor. „Ich kann das Gesicht nicht seh’n … thut mir das Gesicht weg … ich kann’s nicht, ich will nichts wissen davon! Die Augen stechen mich … sie bohren mir mitten durch die Brust …“
Franzi hob verwundert das Licht empor und leuchtete ihm fest in’s Gesicht; der traumhaft verworrene Zustand, in dem er sich befand, verschwand darüber und er blickte das Mädchen mit geringschätziger Miene an, aus welcher unverhohlen der alte Groll hervorbrach. „Was thut Sie hier? Was will Sie?“ fuhr er sie an. „Ist das eine Art, die Leut’ so ihm Schlaf zu erschrecken?“
„Ich, glaub’, es träumt Ihnen noch,“ erwiderte sie, seinen Blicke fest aushaltend. „Ich hab’ Sie nit erschreckt, Herr … aber wenn Sie vor einem ruhigen Menschen und vor einem einfachen Licht so erschrecken, müssen Sie mit sich selber abraiten (rechnen), nit mit mir. …“
Sie trat an’s Fenster, wie allabendlich die äußeren Läden zu schließen; dem Meister war es unheimlich geworden, er ging in die große Stube, wo es noch Gesellschaft gab. „Was das nur gewesen sein muß!“ murmelte er in sich hinein, während es ihm wie fröstelnd über den Rücken lief. „Ich wollte darauf schwören, daß ich hellauf wach gewesen bin und sie so deutlich vor mir gesehen habe, als wie am lichten Tag. …“
Im Begriffe, das Fenster wieder zu schließen, hielt Franzi inne. „Da ist jetzt das Ding wieder vorbei gehuscht,“ flüsterte sie, „was soll das nur bedeuten? … Da schleicht was am Haus unter den Fenstern hin …“ Sie verstummte und hielt den Athem an, denn der Mond, der eben aus einem starken Gewölke hervorzubrechen begann, ließ sie ein paar Männergestalten erkennen, welche in dunklen Gewändern, die Gesichter unter großen Hüten verbergend, sich am Gemäuer niederduckten und mit einander zu flüstern begannen. „Drinnen ist er nicht,“ sagte der Eine, „ich habe vom Fenster aus die ganze Zechstube übersehen können.“
„Und hast Du auch gehörig aufgepaßt?“ fragte der Andere. „Vielleicht hast Du ihn nicht gesehen oder nicht erkannt …“
„Lehr’ Du mich den Aichbauern kennen,“ begann der Erste wieder,“ „im Haus ist er nicht, darauf kannst Du schwören. … Aber er wird wohl noch kommen und soll uns nicht entwischen. … Da schau,“ unterbrach er sich und zeigte gegen den Eingang, „was kommt da daher? Er ist’s – das ist unser Mann … geschwind, daß wir ihn nit verfehlen!“
Die Männer verschwanden; Franzi brachen fast die Kniee bei dem, was sie gehört, aber die Anwandlung ging rasch vorüber, denn es war ihr klar, daß Sixt, dem Jugendfreunde, etwas Außergewöhnliches bevorstand, daß ihn vielleicht eine schwere Gefahr bedrohte … sie konnte nicht unthätig bleiben und zusehen, und war er auch in grollendem Unfrieden von ihr gegangen, sie mußte ihn warnen, mußte, wenn das nicht mehr möglich war, wenigstens in der Nähe sein, für ihn zu wirken, ihm zu helfen, wie sie es vermochte. Geflügelten Schritts eilte sie durch die große Stube über die Hausflur, die Eingangsstufen hinab, aber – sie kam bereits zu spät: der Aichbauer war den beiden Vermummten schon begegnet und mit denselben in offenbar wichtiger, aber auch gefahrloser Unterredung begriffen.
„Geh’n wir etwas bei Seite,“ sagte Sixt, „damit uns Niemand belauscht …“ Die Männer traten näher in das Haus und Franzi, wenn sie nicht gesehen sein wollte, blieb nichts übrig, als hinter den Stufen in der Ecke nieder zu kauern.
Wurde das Gespräch auch noch so leise geführt, kein Wort konnte ihr entgehen.
„Es ist nit anders,“ sagte der Eine, „und Du mußt schon schauen, wie Du Dich darein findest! Du weißt, der alte Grundner ist gestorben …“
„Ich hab’ davon gehört …“ entgegnete der Aicher.
[642] „Du weißt auch, daß er Habermeister gewesen, ist und daß der Habermeister das Recht hat, vor sein’ Tod den zu bestimmen, der nach ihm kommen und Habermeister sein soll…“
„Das weiß ich wohl – aber was hab’ ich damit zu schaffen?“
„Frag’ nit so überzwerch! Bist nit ein Haberer, so gut wie wir Zwei, und willst Dich g’stelln, als wenn Du uns nit versteh’n thätst? Der alte Grundner schickt uns zu Dir…“
„Zu mir? Ich soll …“
Du und kein anderer Mensch sollst jetzt Habermeister sein. … Wie’s zum Sterben ’gangen ist, hat der alte Grundner uns Zwei und die vier andern Alten rufen lassen, die miteinander das Habergericht ausmachen, und hat uns gesagt, er wüßt’ kein Bessern und Richtigern, der nach ihm kommen sollt’, als den Aicher – Sixt von Aich – wir haben’s ihm in die sterbende Hand versprechen müssen, daß wir zu Dir geh’n und Dir die Botschaft bringen wollen, und wie wir das gethan gehabt haben, ist er ruhig ’worden, hat sich zurückgelegt und ist bald darauf gottselig verschieden. Wir aber haben Dich jetzt aufg’sucht…“
„Nein, nein!“ rief Sixt abwehrend, „dazu taug’ ich nit … dazu bin ich viel zu jung!“
„Das geht uns nichts an,“ sagte der Haberer, „der Meister hat das Recht, seinen Nachmann zu wählen, und sonst Niemand – Dich hat er gewählt, also bist Du der Habermeister und kein Mensch kann was dagegen haben, wenn Du Dir’s recht überlegst! Mach’ nit viel Umständ’, Aicher – der Haber ist abgeräumt überall, der Wind geht schon über die Stoppeln von der Leizach und von der Mangfall her … es ist Zeit, daß das Treiben ang’sagt wird… Also sag’ Ja und nimm den Stab in Empfang!“
„Was für ein’ Stab?“
„Wie Du redst und thust! Was sonst für einen, als den der Habermeister führt und der das Abzeichen ist von sein’ Amt, so lang als das Habergericht besteht? Der Kaiser Karl hat ihn dem ersten Habermeister selber gegeben und seitdem hat er sich heilig fortgeerbt von Hand zu Hand…“
Der Mann zog unter dem Mantel den Stab hervor und bot ihn dem Aichbauer, der ihn wie mit einer Geberde des Schreckens zurückwies; es war ein unscheinbarer Stab von altem, schwarzgebräuntem Holze, dünn und lang, einem Scepter nicht unähnlich; der Griff war in Form einer Kugel geschnitzt, am obern Ende eine Hand mit empor gehobenen Schwurfingern angebracht.
„Laßt mich in Ruh, Ihr Männer,“ sagte Sixt fast ängstlich, „das kommt über mich, wie vom Himmel gefallen … ich muß mich erst besinnen…“
„Besinnen? Ob Du die größte Ehr’ annehmen sollst, die Dir zu Theil werden kann in Dein’ ganzen Leben? Bist Du nit auch ein Haberer und willst Dich besinnen, ob Du den alten Brauch, das alte Recht bewahren willst, auf das wir stolz sind, und das nur wir haben in unserm Gau?“
Nahende Schritte und Stimmen wurden hörbar.
„Es kommt wer,“ flüsterte Sixt, „macht, daß man Euch nicht sieht … aber bleibt in der Näh’ … ich sag’ Euch später noch Antwort…“
Die Haberer verschwanden im Dunkel, Sixt wandte sich der Treppe zu – als er sie betreten wollte, stand Franzi vor ihm.
Sie war in hohem Grade ergriffen und erregt; sie vermochte nicht zu sprechen und hob nur wie innig bittend die gefaltenen Hände zu ihm empor.
„Du bist da? Wie kommst Du daher?“ rief er sie unwillig an. „Du verlegst Dich ja überall auf’s Horchen, wie’s scheint…“
„Gott ist mein Zeug’,“ erwiderte sie hastig, „ich hab’ nit horchen wollen – ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß ich die Zwiesprach mit ang’hört hab’, aber ich will glauben, mein Schutzengel hat’s gethan und hat mich hergeführt gerad’ zu der rechten Zeit…“
„Was willst von mir? Geh’ mir aus dem Weg Du – Heimliche! Ich verlang’ nichts zu wissen von Deine’ Geheimniss’ … was willst Du Dich mir aufdringen?“
„Aufdringen? Ich Dir? .. Ich will ja nur ein einzig’s Wort sagen, nur eine einzige Bitt’… Laß’ Dich nit bereden, Sixt … thu’ das nit, was sie von Dir begehren!“
„Und warum nit? Ist es etwan was Unrecht’s?“
„Verzeih’s mir’s Gott’, wenn ich’s nit begreif’ … aber ich kann mir nit helfen. Ja, ich halt’s für ein Unrecht, wenn Einer sich zum Richter aufwerfen will über die Andern – wir sind alle schwache Menschen! Sixt, laß Dich nit verführen von der Eitelkeit… Ich hab’ Dir’s ja heut’ schon gesagt, was ich von dem Haberfeld denk’…“
„Und Du kannst auch wissen, was ich davon denk’ … meine Gedanken sind so viel werth wie die Deinigen, warum sollt’ ich gerad’ Dir nachgeben?“
„Weil ich eine Ahnung hab’, daß’s zu kein’ guten End führt!“ rief Franzi mit immer dringenderem Tone. „Foder’ unsern Herrgott nit heraus … laß’ das Richten und Strafen ihm über. … Thu’s nit, Sixt … es ist Dein Unglück!“
„Und wenn’s so wär’, was kümmert’s Dich? Was ist Dir an mir gelegen, ich bin für Dich ein wildfremder Mensch!“
„Du sollst so ’was nit sagen, Sixt,“ sagte sie so recht innig, daß man dem Tone anhörte, wie tief er aus dem Herzen kam. „Du sollst es nit einmal denken – wenn Du auch nichts mehr wissen willst von mir, so werd’ ich doch nie vergessen, daß ich auf dem Aichhof eine Heimath g’funden hab’ und Vater und Mutter und …“ sie stockte etwas, „einen Bruder, der alleweil gut gewesen ist mir…“
„So beweis’ mir’s!“ rief der Aichbauer, ebenfalls etwas erwarmend. „Zeig’s, daß das Alles nit blos ein leeres Gered’ ist! Du bittest mich … ich hab’ Dich auch gebeten, ich will Dir nachgeben, will thun, was Du verlangst – aber Du mußt auch mein’ Bitt’ erfüllen…“
„Was für eine Bitt’?“ fragte sie unsicher.
„Hast es schon vergessen? daß Du wieder zurückkommen sollst auf den Aichhof und zu mir!“
Er hatte, ohne selbst zu wissen, wie es gekommen, ihre Hand ergriffen, sie erbebte vor der unerwarteten Berührung, wie vor dem Worte, das er gesprochen.
„Nun,“ sagte er gedehnt, „ist das so was Fürchterlich’s? Du erschrickst ja ordentlich!“
Sie nahm sich zusammen und zwang sich zu sprechen. „… Auf den Aichhof zurück? … Nein, das – das kann ich nit…“
„Kannst nit?“ rief der Bauer in Unmuth auflodernd. „So sag’ wenigstens warum. … „Du mußt mir’s sagen! Ich muß wissen, was in meinem Hof ist, was Du so scheust, als wär’ der Aichhof eine Räuberherberg oder sonst ein unrichtiges Haus…“
„Frag’ nit …“ stammelte das Mädchen und suchte sich von seiner Hand, die sie immer fester hielt, zu befreien, „und wenn Du mich fragen thätst bis zum jüngsten Tag … ich kann nit!“
„Und wenn ich Dich halten müßt’ bis auf den jüngsten Tag … jetzt muß, jetzt will ich’s wissen…“
Er schlang den Arm um die ängstlich sich Losringende. Im Augenblicke öffnete sich die Thür des Seitenzimmers, in welchem der Amtmann seine Abendmahlzeit eingenommen hatte; heller Lichtschein fiel in den dunklen Vorplatz und beleuchtete das Paar, das für die Heraustretenden wohl den Anschein haben mochte, als wäre es aus einer Umarmung aufgeschreckt worden. Es war der freiherrliche Amtmann, der sich, vom Wirthe ehrerbietigst begleitet, seine Gemahlin am Arm, eben in den Wagen begeben wollte.
„Sieh da,“ sagte er mit triumphirendem Hohne, „unser junger Zeichner und Volksredner von heut Nachmittag! Bedaure, wenn ich gestört habe… Der Aicher von Aich braucht sich seines Geschmacks nicht zu schämen… Was sagen Sie dazu, ma mie … wird nicht eine stattliche Bäurin werden aus dieser hübschen Kellnerin?“
„Das ist nit so, Herr Baron,“ rief Sixt, mit Zorn und Beschämung ringend, „die Franzi ist meine Ziehschwester und mit mir aufgewachsen … was wir Zwei miteinander zu verhandeln haben, ist ganz was Anderes und das ist auf alle Fälle gewiß – eine Kellnerin wird niemals Bäurin auf dem Aichhof!“
Der Amtmann schien die Erwiderung gar nicht zu beachten; mit vornehmem Nicken war er schon vorübergeschritten und aus dem Hause getreten.
Franzi stand seitwärts wie betäubt. Auch Sixt hatte Mühe, nur einigermaßen seine Fassung zu behaupten; das Blut stieg ihm wieder wie kochend zum Gehirn, bei dem Gedanken, wie er dem Manne, der ihn so sehr gekränkt, gegenüber gestanden. Er schien unschlüssig, was er zu thun und zu sagen habe, als einer der Vermummten vorsichtig zur Thür hereinsah.
[643] „Nur herein!“ rief er ihm, plötzlich leicht aufathmend, zu und faßte nochmals Franzi’s Arm. „Das hab’ ich Dir zu verdanken!“ zwängte er zwischen den Zähnen hervor. „Und ich sollt’ thun, was Du von mir begehrst? Soll Dich unterstützen und gewähren lassen in Deinem versteckten Wesen? Nein, ich will Allem ein End’ machen, was heimlich ist, wo ich’s nur kann! Ich will’s nit leiden, wenn ich ein Unrecht seh’, und will nit rasten, bis es an’s Sonnenlicht kommt und sein Recht erhalten hat und sein Straf! … Kommt nur herein, Ihr Alten! Gebt mir den Stab … jetzt hab’ ich mich besonnen – jetzt will ich Habermeister sein!“
Es dämmerte schon stark; aus dem tiefen Bergeinschnitt, in welchem die Mühle am Baum sich an den brausenden Mangfall hinschmiegt, leuchtete bereits der Lichtschein des Heerdfeuers gegen die Straße hin, die zu beiden Seiten in starker Senkung niedersteigt. In der Thür stand der Müller und sah mit kundigen besorgten Blicken in das dunkle treibende Gewölk empor; neben ihm, den Lumpensack über’m Rücken, in der Hand ein kleines Glas Kirschgeist, womit der gastliche Müller ihn bewirthet hatte, stand der Nußbichler, bereit, seine Wanderung noch fortzusetzen.
„Sei gescheidt, Alisi,“ sagte der Müller „und bleib’ da! Der Wind geht so schneidig kalt, daß es mich gar nit wundern sollt’, wenn’s zu schneien anfangt… Du thust mir leid, wenn Du in dem Wetter noch so herumlaufen sollst; kannst Dich in’ Stall hinaus legen, jetzt kriegst Du doch keine Hadern mehr und hebst nirgens eine Ehr’ auf, wo Du auch hinkommst!“
Der Nußbichler schlürfte mit zurückgebeugtem Kopfe, daß ja kein Tropfen des köstlichen Getränks in dem Gläschen zurückbleiben solle; sein Gesicht war stark geröthet, vor innerer Erregung und wohl auch, weil er das Gläschen schon öfter geleert haben mochte; es hatte fast den Anschein, als ob er wieder nicht fest auf den Beinen stände.
„Mag nit im Stall schlafen,“ sagte er lallend, „in den Stall g’hört das Vieh … der Aicher hat’s gesagt, aber ich werd’s ihm schon ’denken, und werd’ ihm zeigen, daß ich auch eine Heimath hab’ und ein Bett, wenn ich auch kein reicher Bauer bin! Thut mir nit noth, daß ich im Stall’ schlaf’, Müller … da über’n Berg hinauf, noch ein Stündl … nachher bin ich daheim …“
„Wie? Sei doch nit thörisch, Alisi,“ sagte der gutherzige Müller und faßte ihn am Arme, um ihn in’s Haus zu ziehen. „Komm herein, der Sturm wird immer ärger, es wirft wahrhaftig schon Flocken, ich muß die Hausthür zumachen. Komm herein, sag’ ich … weißt es schon wieder nimmer, daß Dein’ Heimath verkauft ist und Dir nimmer gehört; willst wieder hingehen und Dich von dem, der jetzt darauf haust, hinauswerfen lassen, wie das letzte Mal?“
„Wer kann mir das nehmen, was mein gehört?“ schrie der Nußbichler, sich losreißend. „Ich will’s dem Schelmen zeigen, ich will’s ihnen zeigen, Allen miteinander, daß sie mir mein Eigenthum nit nehmen können! Ich werd’ den Stiel umkehren, ich werd’ ihn hinausjagen aus meiner Heimath … es ist gerade recht bei dem kalten Wetter, da kann man das Einheizen vertragen…“
„Na, wenn Du’s nit anders haben willst, so geh’ zu,“ entgegnete der Müller, trat in’s Haus und schlug die Thür fest in’s Schloß. „Er ist und bleibt halt doch ein Lump,“ fuhr er, mit sich selber redend, fort, „aber es ist schier, als wenn ihm das Concept ein bissel verrückt wär’ im Kopf; man sollt’ ihn fast nimmer so allein herumziehen lassen, sonst giebt’s noch einmal, ein Unglück…“
Alisi stand noch eine Weile nach Art solcher Leute vor dem Hause und schrie und polterte gegen die verschlossene Thür hin; dann machte er sich unsicheren Schrittes gegen die ansteigende Straße auf. Der Müller hatte seinen Zustand nicht ganz unrichtig erkannt; der Lumpensammler wußte in der Regel recht wohl, was er sagte und that, aber ein einziges Wort genügte, in ihm einen Gedanken, eine Vorstellung hervorzurufen, welche sich dann ganz seiner bemächtigte und ihm alle Fähigkeit nahm, klar zu denken und ruhig zu handeln. Der Gedanke an die ihm widerfahrene Schmach, die Vorstellung von dem Verluste seines Gütchens waren es, die ihn nicht losließen und die Verbitterung und Verbissenheit seines Gemüths fortwährend steigerten. Er hatte kein anderes Mittel, sich aus diesem qualvollen Zustande zu befreien, als die völlige Betäubung durch vieles und starkes geistiges Getränk; allein in den letzten Tagen wollte auch das nicht mehr verfangen, der Branntwein wirkte nicht mehr so dauernd wie früher, die abgestumpfte Natur schien sich daran gewöhnt zu haben.
Das war heute um so mehr der Fall, da der eisige Wind, je höher der Nußbichler den Berg hinan kam, ihn desto wilder umsauste und ihm den nassen, erkältenden Schnee in’s Gesicht warf. „Es thät mich fast frieren,“ fing er weinerlich mit sich selbst redend an und suchte die von der Kälte erstarrenden gerötheten Hände durch kreuzweises Anschlagen am Körper zu erwärmen. „Keinen Hund jagt man hinaus bei einem solchen Wetter … warum muß ich draußen sein? Bin ich schlechter als ein Hund? Und ich bin doch unschuldig! Ich hab’ kein’ Menschenkind was zu Leid’ gethan … sie haben gelogen, ich hab’ das Haus nit an’zünd’t, ich bin nit schuld, daß der Ahnl schier verbrunnen ist. Sie haben mir mein Gütl nit nehmen dürfen … sie müssen mir’s wiedergeben und mein’ ehrlichen Namen dazu, und sie müssen! … Und wenn ich’s hab’,“ fuhr er nach einer Weile leiser und mit innerlichem Behagen fort, „dann will ich schinden und scharren, bis ich auch reich bin … der Reichste von Allen muß ich werden und dann will ich’s ihnen gedenken … Allen, die mich wie ein Vieh in den Stall g’schafft haben und die mich hinaus jagen in das Wetter, wie einen Hund! Dann müssen sie arm werden und schlecht und müssen zum Alisi kommen – vor dem nichtsnutzigen Alisi sein Haus müssen sie kommen und müssen betteln… Hahaha, da will ich’s mir gut sein lassen und will’s ihnen eintränken, den Haberern und dem übermüthigen Bauern, dem Aicher-Sixt, zum Dank für den Fußtritt, den er mir ’geben hat … und ihr, der hoffärtigen Dirn’, die vor mir einen Scheu und ein Grausen g’habt hat, als wenn ich eine Krott’ wär’ oder ein giftiger Wurm …“
Während des Selbstgesprächs hatte er den letzten Abhang erreicht und von dem Sträßchen abweichend den Seitenweg betreten, der zu den zerstreuten einzelnen Berghöfen führt. Weit dahinter, etwa eine Stunde, gegen den Wald zu, lag das Gütchen, das einst sein Eigenthum gewesen.
Das Unwetter ward immer ärger; wie rasend stürmte der Wind um eine Hügelschneide und wirbelte die immer dichter fallenden Schneeflocken durcheinander, daß es unmöglich war, weiter als ein paar Schritte vor sich zu sehen. Der Schnee war schon reichlich gefallen, er fing an, auf dem Grasboden liegen zu bleiben und die Laubbüschel der Bäume mit weißen Ueberzügen zu bedecken. Ein noch weit stärkerer Windstoß sauste heran, riß Alisi den Hut vom Kopfe und wirbelte denselben den Berg hinunter. „Oho,“ rief er und schlug wieder ein gellendes Gelächter auf, „flieg’ davon, du alter Deckel, ich mach’ mir nichts aus dir! Jetzt kann mir der Wind gar nichts mehr anhaben, das bissel Haar muß er mir wohl stehen lassen! Wenn ich nur erst in meinem Haus bin, dann lach’ ich drüber … dann zieh’ ich die nasse Joppen aus und setz’ mich an den warmen Ofen und trocken’ mich und mein Weib bringt mir die Suppen und giebt mir meinen Buben her, daß er mit mir spielt… Oho, mein Alisel, mei’ Bub’, das ist ein ganzer Kerl…“
Ein ferner, wimmernder Ton drang leise und doch vernehmbar durch das Sturmgetöse; der Nußbichler stand still und horchte hoch auf.
„Das ist aber g’spaßig,“ sagte er, „jetzt ist mir gerad’ gewesen, als wenn ich seine Stimm’ gehört hätt’… Ich weiß nit, wie das ist, aber manchmal ist es gerad’, als wenn in meinem Kopf nicht mehr Alles recht aufeinander ging… Es wird wohl der Wind gewesen sein, der so besonders in den Bäumen saust und pfeift!“
Er ging ein paar Schritte weiter, dann hielt er wieder an. Wahn und Rausch begannen allgemach vollständig von ihm zu weichen – das war keine Täuschung, das Wimmern ließ sich wieder hören, bestimmter, näher, deutlicher als zuvor…
„Das kann der Wind nit sein,“ fuhr der Lumpensammler fort, „das ist eine wirkliche, leibhaftige Kinderstimm’ … es ist doch auf eine halbe Stund’ Wegs kein Hof und kein Haus, da giebt’s heilig ein Unglück ab… Es ist fast schon ganz finster, aber ich mein’, dort am Zaun in den Stauden, rührt sich was…“
Mit thierischer Schlauheit duckte er sich, hart an einen Baumstamm gedrängt, auf den Boden nieder und lauschte mit geschärften [644] Sinnen nach der Heckenumzäunung hin; er gewahrte deutlich, daß die Zweige sich regten, daß sie wie vorsichtig auseinander geschlagen wurden, ein Kopf und dann der Obertheil eines Körpers kamen spähend und langsam aus dem Gebüsche hervor.
Es war eine weibliche Gestalt, stark aufgeschürzt, Kopf und Schultern in dem hoch aufgeschlagenen Rocke verhüllt und drüber noch mit einem weiten Umschlagtuche verdeckt … die Gestalt schritt sachte und behutsam vor, sie schien etwas in dem Tuche und auf den Armen zu tragen.
„Was soll denn das bedeuten?“ fragte der Nußbichler in sich hinein … „von dort her geht ja gar kein Weg … wo will denn die Dirn’ hin und was hat’s denn in ihrem Tuch versteckt?“
Das Gewimmer traf wieder an sein lauschendes Ohr.
„Das kommt richtig von dort her,“ dachte er halblaut, „das ist eine leibhaftige Kinderstimm’ … die Dirn’ hat ein weinendes Kind im Arm … wo will die damit hin in dem Mordwetter? Da geht was Unrecht’s vor – ich muß wissen, wer die Person ist…“
Leise und gebückt schlich er an dem Heckenzaune in der Richtung hin, daß sie, quer über den schneeigen Bergesabhang heranschreitend, mit ihm zusammentreffen mußte; mit einmal aber schien sie den Lauscher zu gewahren, wandte sich mit einem halb unterdrückten Ausruf der Ueberraschung und huschte mit beschleunigten Schritten in der entgegengesetzten Richtung davon.
„Halt!“ rief der Nußbichler. „So kommst Du mir nit aus! Und wie ist mir denn auf einmal? Der Gang, die Stimm’, die ganze Figur … die Person sollt’ ich ja kennen… Das ist ja gar … na, Dich will ich wohl fangen und Dir in’s Gesicht sehen…“ Damit hatte er den Sack abgeworfen und rannte in angestrengtem Laufe hinter der Gestalt her, welche ebenfalls Alles aufzubieten schien, ihm durch noch vergrößerte Schnelligkeit zu entrinnen. Die Last in ihren Armen aber war ihr vielfach hinderlich und zwang sie nicht selten, der Sicherheit wegen einen Augenblick langsamer zu gehen oder einen weiteren Weg zu machen, weil er der verlässigere war. Bald kürzte sich die Entfernung zwischen ihr und dem Verfolger immer mehr, schon war er ihr so nahe, daß sie das Keuchen seines Athems zu fühlen, seine Hand schon im Nacken zu spüren glaubte, da machte der Verfolger in seiner Hast einen verfehlten Tritt, er glitt aus auf dem mit nässendem Schnee bedeckten schlüpferigen Boden und unfähig, sich irgendwo anzuklammern, kollerte er fluchend ein beträchtliches Stück des Berggeländes hinab. Als er sich unten wieder aufgerafft, hatte die Fliehende im Dunkel der vollends eingebrochenen Nacht Vortheil und Vorsprung wohl zu benutzen verstanden, sie war verschwunden und trotz des emsigsten Forschens und Suchens nirgends Spur oder Laut zu entdecken. „Meinetwegen!“ rief der Lumpensammler und hob die Faust drohend empor. „Du kommst mir doch nit aus, ich muß wissen, was das bedeutet und wer Du bist! … Aber wie dahinter kommen? Ich will in die Mühle zurück, will doch in den Stall kriechen und morgen in aller Früh’ die Spur aufsuchen und verfolgen… Aber nein, das hilft nichts! Bis morgen ist Alles verschneit oder es wird warm Wetter und Alles schmilzt durcheinander… Wie wär’s, wenn ich mich auf die Füß’ machte? Ich bin zwar müde zum Umsinken, ich brauche wenigstens eine gute Stunde, bis ich hinkomme, aber sie hat auch nicht näher… Ja, ich will hin! Will nachsehen, ob sie daheim ist, und wenn nicht … dann freu’ Dich, Alisi, dann hast Du sie in der Hand, dann ist es kein anderer Mensch gewesen, als sie…“
Er barg den Lumpensack möglichst unter einer dicht überhängenden Haselstaude und verschwand im Dunkel, als wäre er es selbst, der zu entfliehen genöthigt sei.
[657] Das Innere eines nahen Bauernhauses bot indessen ein volles Bild des Friedens und der Behaglichkeit; wer es gesehen, ahnte wohl nicht, wie nahe Sorge und Angst daran vorüber hasteten. Vergebens rüttelte der Sturm an den Läden, die so fest verschlossen waren, daß kaum ein Lichtstrahl durch die Ritzen zu dringen vermochte, das sichere Haus in der Umwallung einiger mächtiger Lindenbäume wehrte ihm den Eingang und nur gegen die Rückseite hin, wo über eine Balkenlage wie über eine Brücke die Auffahrt zu Stadel und Tenne emporstieg, ließ sich zuweilen ein knarrender Ton vernehmen, als ob das Scheunenthor nicht fest in Schloß oder Angeln liege oder ein nicht ganz wohl befestigtes Brett allmählich dem stets erneuten Anprall des Windes zu weichen und in den Fugen sich zu lockern beginne.
Es war der Oedhof, das stattliche Besitzthum von Susi’s alter Base, die das Kind der Schwester zu sich gerufen hatte, um in den letzten Tagen, deren Herannahen sie fühlte oder ahnte, nicht ganz allein und nicht von fremden Händen gepflegt zu sein. Das Mädchen war wenige Tage vorher eingetroffen, von Bruder Waldhauser geleitet, der sich aber nicht behaglich gefühlt und bald wieder entfernt hatte; die alte Base hatte das Mädchen mit all’ der überströmenden Liebe und Freude aufgenommen, mit welcher man die endliche Verkörperung eines lang gehegten Lieblingswunsches begrüßt, sie war so ausschließend mit Susi beschäftigt und hatte nur für sie Sinn und Gedanken, daß er die Hoffnung bald als eine trügerische erkennen mußte, als könnte es ihm durch Freundlichkeit oder Anschmiegen gelingen, ein Stück der reichen Erbschaft zu erschleichen. Er gab daher den Versuch um so rascher auf, als die Base gegen ihn ebenso kalt und schroff abweisend war, wie sie das Mädchen mit Beweisen ihrer Zuneigung überschüttete. Rasch entschlossen änderte er deshalb seinen Plan und wandte all’ seine Liebenswürdigkeit der Schwester zu, damit sie, da bei ihrer steten und schweren Kränklichkeit ihr Ende doch unmöglich fern sein konnte, demjenigen ihrer Brüder einen Vorzug einräumen solle, der ihr ja im Leben ebenfalls so sehr den Vorzug gegeben.
In der Wohnstube, die wie gewöhnlich die Ecke im Erdgeschosse des Hauses bildete, war es gar behaglich, denn der große dunkle Kachelofen war nach der Sommerruhe zum ersten Male wieder geheizt, die Feuerstrahlen spielten aus dem halbgeschlossenen Thürchen auf dem Boden hin und wieder, als wollten sie mit der hängenden Oellampe wetteifern, welche gegen die sonstige Sitte und Gewohnheit des Landes über dem Tische in der Ecke aufgehangen war – die Besitzerin des Hofes hatte die Neuerung eingeführt, als das Erdöl sich überall zu verbreiten begann, weil sie an den Augen litt und es ihr angenehm war, das Licht nicht vor, sondern über sich zu haben. Aus demselben Grunde war auch das Licht auf den geringsten Grad zurückgeschraubt und verbreitete nicht viel mehr als eine schwache Dämmerung, eben zureichend, um die Umrisse der Stube, die dunklen Balken und Tafeln der Decke und das an den Wänden herumlaufende Holzsims erkennen zu lassen. Ueber dem Tische fehlte nicht der aus allerlei bunten Täfelchen, alten Büscheln künstlicher Blumen und einem Kreuzbilde gebildete Hausaltar; daneben in der breiten Fensternische unter dem aufgehangenen Kalender lagen die wenigen Bücher, welche das kleine Lesebedürfniß der Hausbewohner erforderte, eine alte großgedruckte Bibel mit Holzschnitten, ein Evangelienbuch, die Geschichte von Isidor, dem wackern Bauern zu Ried, die Märlein von der schönen Magellone, einer Königstochter aus Britannia, und von den vier Haymonskindern. Auf der Ofenbank lag ein schlichtes Kissen zum Lager für den Bauer, wenn er naß und erkältet von der Arbeit heimkam und des Trocknens und Erwärmens bedurfte am mächtigen Ofen; es war schon in die zehn Jahre, daß der Bauer sich ganz zum Ausruhen von der Arbeit niedergelegt hatte, aber das Kissen war noch da und harrte sein, als sei es gestern gewesen, daß er darauf geruht, als müßte es heute sein, daß er Schnee und Tropfen vom Hute schüttelnd in die Stube trete. Längs der Sitzbank an der Wand standen die Spinnräder für die Mägde bereit; darüber an der einen Seite des Thürgerüstes hing das zinnerne Weihwasserkesselchen mit einem Paar lockiger und flügelschlagender Engel; gegenüber an der andern Seite ragte das braune Holzgehäuse der alten Standuhr empor, ein Erb- und Prachtstück des Hauses, denn zu oberst auf dem wie ein Dach geformten Deckel der Uhr saß ein künstlich geschnitzter Hahn, der bei jedem Stundenschlage die Flügel regte und laut krähend mit dem einen Fuße einen fliegenden Zettel empor hob, auf dem geschrieben stand:
O Mensch, so oft der Gockel schreit,
Bedenk’s, es wart’t nach dieser Zeit
Auf dich die große Ewigkeit!
Vor dem Ofen, in dem alten schwarzbraunen Lederstuhle saß die Bäuerin, die Herrin des Hofes, eine hagere hohe Gestalt mit nicht unfreundlichen, aber ernsthaften Gesichtszügen, deren Ausdruck durch das vollständig silberweiße Scheitelhaar und durch den starren Blick der alterstrüb gewordenen Augen nur noch mehr hervorgehoben wurde. Die ungelenken, immer frierenden Beine waren [658] mit einer Decke verhüllt, aber die Haltung des Körpers war trotz der vielen Jahre, die auf dem Nacken lasteten, hoch aufgerichtet und fest; die Frau war ungebrochen im Gemüth und saß aufrecht, als wollte sie dadurch den Augen nachhelfen, die stündlich immer mehr den langgewohnten strengen Dienst nicht mehr zu leisten gesonnen schienen. Auf dem Schooße der Alten lag eine grobe Wollenstrickerei mit starken hölzernen Nadeln, wie auch die halb Erblindete sie zu gebrauchen vermochte – in den Händen hielt sie eben den großen Rosenkranz und ließ unter leise gemurmeltem Gebete die schwarzen Kugeln daran abwärts gleiten – sie mußte beide Geräthe in der Nähe haben, um in ihre einsame Abgeschiedenheit noch einen Rest irdischer Abwechselung bringen zu können und die Arbeit mit dem Gebete zu vertauschen, den letzten Faden menschlicher Thätigkeit, der sie noch hienieden festhielt, anzuknüpfen an die Strahlen des hereindämmernden Jenseits.
„Wer ist da?“ fragte sie, den Kopf erhebend, als sie die Thür in den Angeln sich bewegen hörte. Es war Susi, die eingetreten; sie erwiderte nichts, leise und wie unkörperlich trat sie zu der alten Frau und glitt, deren Hände erfassend, auf den Schemel zu ihren Füßen nieder. Sie war noch feiner und zarter geworden, als damals, wo sie von der Kreuzstraße geschieden; nur die Blässe war gewichen und die Wange sogar mit lebhafter Röthe überhaucht, aber die Farbe war von fast unheimlichem Glanze, nicht wie der Strahl einer ruhig wärmenden Gluth, sondern wie der Widerschein eines verborgenen Brandes, der insgeheim fortglimmend Leben und Lebenskraft von innen heraus versengt und verkohlt. Wer das Mädchen sah, mochte wohl begreiflich finden, wie der schlaue Waldhauser darauf verfiel, die Susi noch gegönnten Tage voraus zu berechnen, wie das Brennen einer Lampe, der von karger Hand die nährenden Tropfen zugezählt worden.
„Du bist’s, mein Dirnl’,“ sagte die Greisin mit gütigem Tone, „Du kommst und gehst ja daher, so still wie ein Geist … sag’ mir nur einmal, was es denn mit Dir ist? Du lachst nit, Du weinst nit; Du hast kein Leid und kein’ Freud’ – das ist nichts für ein Madel von Deine Jahr’! Du bist ja doch sonst anders gewesen, – haben Dich denn die paar Jahrln in der Stadt so ganz und gar umwenden können? Was ist Dir denn gescheh’n? Ich hab’ Dich schon so oft gefragt – aber Du sagst halt nichts!“
„Weil ich nichts zu sagen hab’, Bas’l,“ erwiderte Susi, „ich bin nur krank – es thut mir so weh, da drinnen, zu tiefst’ in der Brust und im Herzen …“
„Du sündigst halt auf meine alten halbblinden Augen,“ sagte kopfschüttelnd die Alte; „hätt’ ich mein Augenlicht noch, daß ich Dir in’s Gesicht sehen könnt’, ich wollt’ Dir’s wohl sagen, ob Du aufrichtig bist oder ob Du die alte Schwester von Deiner Mutter betrügen und anlügen kannst!“
„Bas’l – sei gut mit mir!“ schluchzte Susi, auf deren Hand gebeugt, „Du kannst es nit glauben, was ich aussteh’ …“
„Ich glaub’s, ich glaub’s wohl, denn ich spür’s, wenn ich’s auch nicht seh’,“ antwortete die Greisin, indem sie ihr nach dem Gesicht tastete und streichelnd über Stirn und Augen fuhr, „aber ich muß davon reden, weil ich Dich anders haben möcht’! Weil ich möcht’, Du solltest wieder das liebe lebfrische Dirnl’ werden, wie von eh’ … Ich sorg’, es wird Dir halt zu langweilig und zu einsam sein, da auf dem einschichtigen Oedhof … vielleicht wirst anders, wenn Du eine junge Cameradin und Gesellin bei Dir hast, mit der Du ’rum laufen und plaudern kannst, wie Dir um’s Herz ist! Wie ist es denn mit der Franzi? Hat sie Dir denn nit versprochen, daß sie Dich heimsuchen, daß sie vielleicht ganz bei uns bleiben will?“
„Das hat sie,“ antwortete Susi mit einer raschen Bewegung nach dem Herzen, als habe sie dort plötzlich einen stechenden Schmerz empfunden, „allerdings, sie hat versprochen zu kommen – und mir ist manchmal zu Muth, als müßte mir wieder wohl und frei um’s Herz werden, wenn sie Wort halten thät …“
„Nun also, so sei wohl und getröst’,“ begütigte die Alte, „dann wird’s ja wieder recht werden, denn was die Franzi versprochen hat, das halt’ sie auch, für das kenn’ ich sie lang! … Und da hast wieder den groben Schalkel an,“ fuhr sie fort und tastete an Susi’s Kleidern herum, „und das Bauern-Mieder … Willst also Dein’ Stadtgewand ganz und gar den Abschied geben?“
„Ich will nichts wissen,“ rief Susi hastig und mit aufwallender Heftigkeit, „ich will nichts mehr hören und sehen von der Stadt!“
„No, no,“ erwiderte die Base lächelnd, „ich werd’ Dich nit dazu zwingen; mir kann’s recht sein – wenn’s mir nach’gangen wär’, hättst Du zuerst nichts zu thun gehabt in der Stadt! Ich bin froh, wenn Du wieder bei uns bleiben und wieder ein Bauernleut werden willst – aber wissen möcht’ ich doch, was Dir die Stadt gar so verleid’t hat; ich hab’ mir schon allerhand Gedanken d’rüber gemacht! Kannst es denn gar nit zuwegen bringen, Susi, daß Du Dir ein Herz fassen könnt’st und könnt’st aufrichtig reden mit mir? Ich bin doch die Schwester von Deiner Mutter selig; ich hab’ Dich so gern, wie sie Dich gehabt hat, denn Du bist ihr letztes und liebstes Kind gewesen. … Kommt’s Dich gar so hart an, wenn Du bei mir bist, daß Du Dir einbild’st, es ist Dein’ Mutter, die mit Dir redt?“
Ergriffen neigte das Mädchen sich vor und barg ihr verwirrtes Antlitz im Schooße der Greisin; ein weiteres Wort derselben hätte vielleicht genügt, das Band zu sprengen, das unverkennbar um Susi’s Gemüth geschlungen war – es blieb ungesprochen, denn die Thür ging auf und die Magd trat mit „Gelobt sei Jesus Christus“ ein, um den Tisch zur Abendmahlzeit zu bereiten; die andern Dienstboten, die Knechte und Dirnen folgten und reihten sich um den Tisch. Bald war das grobe Tuch ausgebreitet, die blechernen Löffel waren vertheilt, die Holzteller aufgestellt und nach kurzem von der Oberdirne vorgesprochenem Gebet ging es eifrig daran, die in der Mitte dampfende Schüssel zu leeren.
„Was meinst, Bäuerin?“ fragte der Knecht. „Ich denk’, wir sollen morgen mit dem Dreschen anfangen.“
„Ist ja noch viel zu früh,“ entgegnete die Frau, „ist um Martini noch bald genug …“
„Ja, die Jahrgäng’ sind halt nit gleich – heuer kriegen wir eben einen frühzeitigen Winter! Hörst, wie’s draußen wettert und an den Läden rüttelt! Es schneit, was nur herunter kann, es gefriert gewiß heut’ Nacht und der Schnee bleibt schon liegen für heuer!“
„Warum nit gar!“ rief in verweisendem Tone die Frau. „So geschwind thut sich die Welt nicht verkehr’n! Wir haben heut’ Sanct Galli-Tag’, – ich denk’ über siebzig Jahr und niemals noch in mein’ langen Leben ist der Schnee liegen ’blieben um Sanct Galli-Tag! Verlaß Dich auf mich, Hies – bis morgen ist es wieder hell. Der Schnee ist weg, übermorgen ist es wieder trocken und wir können noch den Haber anbauen auf der obern Breiten … nimm den Sam’ morgen her und arbeit’ ihn tüchtig durch auf der Putzmühl, daß nit so viel Wicken und Trespen drunter aufgeh’n, wie ferten – das wird gescheidter sein als das Dreschen, und so ist’s auch alleweil Brauch gewesen auf dem Oedhof und soll’s bleiben, so lang’ ich noch Herr bin im Haus … Und was ist’s denn mit dem Roßbuben, dem Wastl?“ fuhr sie fort, als von keiner Seite eine Erwiderung erfolgte. „Der ist heilig wieder nit da, weil ich ihn nit hör’. Was ist’s mit ihm? Wo ist er?“
„Weiß nit,“ sagte der Baumann mürrisch, „wird wohl nach Miesbach hinein sein, – hat alleweil schon gesagt, er müßt’ einmal hinein und sich ein Paar Stiefel kaufen …“
„Was?“ fuhr die Frau zürnend auf. „An einem Werktag lauft er von der Arbeit weg und ohne daß er mich fragt? Stiefel will er sich kaufen? Mit was denn – hat er nit sein Liedlohn schon voraus fast auf ein halbes Jahr? … Ein liederlicher Bursch ist er, der ausgedient hat auf dem Oedhof! Kannst ihm sagen, Hies, wenn er nach Haus kommt, er soll sein Bündel schnüren und mir nimmer unter die Augen kommen …“
„Hoho,“ sagte der Knecht brummend, „wer wird Einen gleich fortjagen, wegen dem bissel Ausbleiben! Wo willst gleich ein’ andern Rosser hernehmen, Bäuerin, und ein tüchtiger Schaffer ist der Wastl, das muß ihm sein ärgster Feind lassen …“
„Und wenn er der beste Knecht wär’,“ sagte die Bäuerin, wieder vollkommen ruhig mit hörbarer Festigkeit, „und wenn er der einzige auf der Welt wär’ … es ist jetzt das dritte Mal, daß er mir Sprüng’ macht – er kommt mir nicht mehr in’s Haus! Auf dem Oedhof ist es allemal richtig her’gangen, so lang’ er steht … es ist kein’ unrechte Sach’ darin gelitten worden und kein unrechtes Leut; so ist’s Brauch auf dem Oedhof und ich hab’s schon gesagt, so soll’s bleiben, so lang’ ich noch der Herr [659] bin im Haus! … Was ist Dir denn, armer Narr?“ unterbrach sie sich selbst und legte die Hand auf das Haupt Susi’s, die ihren Arm gefaßt hatte und wie krampfhaft festhielt. „Du zuckst und zitterst ja ordentlich. … Bist wieder kränker?“
„Ich glaub’ wohl,“ flüsterte Susi, „es wird so sein …“
„So leg’ Dich nieder und schau, daß Du schlafen kannst … zuvor aber sollst noch das Nachtgebet vorbeten – das ist auch ein alter Brauch und Du weißt, ich laß den alten Brauch nit abkommen. Sonst hab’ ich’s immer selber gethan … aber meine Augen, meine Augen! Wirst es können, Madel?“
„Ich denke …“ sagte Susi sich erhebend, während die Ehhalten aufstanden, die Bänke bei Seite schoben und an denselben niederknieten; Susi hatte das Gebetbuch vom Fenstersims genommen, während dessen hob die Uhr zum Schlagen aus, acht Mal regte der Hahn die Flügel und hob den Zettel mit der Mahnung an die Ewigkeit. Mit bebender Stimme sprach Susi das einleitende Vaterunser, dessen letzte Bitten von der Versuchung und Erlösung vom Uebel Alle mit gedämpfter Stimme nachsprachen. Dann folgten die Fürbitten für den verstorbenen Besitzer des Oedhofes und für Alle, die aus der Verwandtschaft und Freundschaft des Hauses schon in die Ewigkeit hinüber gegangen waren; den Schluß bildete das Gebet für die Lebenden, daß der Himmel ihnen beistehen möge, den schweren mühevollen Weg zum Heile zu vollenden. „Gieb, o Gott und Vater mein,“ hieß es dann:
„Lasse Deines Sterbens Pein
Nicht an mir verloren sein,
Decke Du mit Deiner Gnad’ …“
Susi war so ergriffen, daß es ihr unmöglich war, die letzten Worte hervor zu bringen; die alte Base vollendete statt ihrer und schloß mit fester Stimme:
„Decke Du mit Deiner Gnad’,
Mich und meine Missethat!“
Sie wollte Amen sagen, aber im selben Augenblick dröhnte die Stube von einem mächtigen Schlage, der von außen an einen der Fensterläden geführt wurde; die Scheiben klirrten, Alle sprangen verwirrt und entsetzt in die Höhe und schauten einander mit betroffen fragenden Blicken an; nur die alte Bäuerin stand da, kerzengerade aufgerichtet, als schmerzten die müden, kranken Füße nicht mehr und mit den verdunkelten Augen starrte sie nach der Stelle, von welcher der Schall kam, als gedächte sie, die doppelte Dunkelheit zu durchdringen. „Wer untersteht sich,“ rief sie zürnend, „solche Büberei zu treiben an einem ehrlichen Haus! Hinaus, Hies und Ihr andern Burschen, und fangt den nichtsnutzigen Menschen, der das Gebet und die Nachtruh’ stört …“
„Ach mein’ … was wird’s gewesen sein!“ sagte der Knecht zögernd, „vielleicht ein Betrunkener, der vom Markt heim’gangen ist …“
„Hinaus!“ eiferte die Bäuerin wieder. „Hinaus und schau’ mir nach, ob nichts am Haus passirt ist! Der Betrunkene kann mir auch den Hof über’m Kopf anzünden, wenn ich mir das gefallen lass’. … Oder hast kein Courag’, Hies, und muß ich etwan selber geh’n?“
Beschämt hatte der Knecht die Laterne vom Simse herabgenommen und lang’ an dem Docht herumgestochert, bis er ihn endlich zum Brennen brachte; langsam und unwillig verließ er dann die Stube, mit ihm die andern Knechte, neugierig und in scheuer Entfernung drängten die Mägde nach. Eine Weile lag athemlose Stille über der Stube und den darin Zurückgebliebenen, nur die Uhr pickte, das Feuer knisterte und eine aufgescheuchte Fliege stieß summend wider die Scheiben. Die Suchenden mochten beinahe das Haus umwandert haben, als von rückwärts, in der Richtung von der Scheune her, ein mehrstimmiger Ruf der Ueberraschung ertönte.
„Sie haben wirklich etwas gefunden …“ murmelte die Oedbäuerin. „was wird es sein, was sie gefunden haben …“
Schon kam eine der Dirnen, die Hände zusammenschlagend und schreiend, zurück. „Da haben wir’s!“ rief sie schon von Weitem, „das ist eine saubere Bescheerung. … Ein Kind haben sie Dir gelegt, Bäuerin … ein leibhaftiges lebendiges Kind liegt draußen auf der Tenn’ im Heu …“
Ueber das hagere Antlitz der Bäuerin schlug die Röthe des Zornes empor.
„Ein Kind gelegt? Mir? Auf dem Oedhof?“ rief sie wie außer sich. „Kann so was bei mir passiren? Wer darf mir eine solche Schand’ anthun und mein’ ehrlichen Haus?“
„Wer?“ erwiderte die Dirne lachend. „Das wird schwer zu sagen sein; aber wer’s gethan hat, der hat wohl denkt, die Oedbäuerin ist eine reiche Frau und eine gute Frau, die kann und wird das arme Kindel leichter aufzieh’n als ich …“
„Sieh Du nach, Susi!“ rief die Bäuerin, sich wieder zur alten Gelassenheit zurückzwingend, „ich will von Dir hören, was es ist …“ Aber das Mädchen regte sich nicht. Als wäre die Schwäche der Alten auf sie übergegangen, war sie zu deren Füßen in die Kniee zusammengebrochen; über ihr Antlitz zog die Blässe der Ohnmacht mit der Gluth des Fiebers wechselnd, ihr Athem flog und die Hand, die sie nach dem Stuhle streckte, sich daran aufzurichten, zitterte und vermochte nicht, etwas zu fassen. Es war auch unnöthig, daß sie ging, schon kam einer der Knechte zurück und brachte die Bestätigung des Vorgefallenen.
„Das ist eine schöne Geschichte!“ rief er lustig. „Und wie fein das ausg’studirt ist! Bei einem solchen Wetter, wo Einem, wenn man nachlaufen wollt’, der Wind das Licht in der ersten Secunden ausblast und wo es stürmt und weht, daß die Fußtritt verschneit sind, eh’ daß man eine Hand umkehrt! Es muß Jemand gewesen sein, der sich gut auskennt im Haus, denn er hat accurat g’wußt, daß hinten am Stadelthor ein Brett locker gewesen ist, da ist er hereingeschlupft und hat sich noch recht wohl Zeit gelassen, denn er hat vom Stadel eine ganze Burd’ Heu und Stroh heruntergerissen und ein Bettl gemacht, daß das Kind fein warm liegen und ihm nichts geschehen sollt’, bis man’s etwa find’t … es ist auch ganz gut eingewickelt in ein saubres Deckerl; aber da bringt’s die Dirn’ schon, da kannst Du’s gleich selber seh’n …“
„Halt!“ rief die Bäuerin, so laut und befehlend sie konnte, und wandte sich der Thür zu, wo bereits die Magd mit dem Kinde auf den Armen den Fuß auf die Schwelle setzte. „Zurück da! Tragt’s das Kind hin, wohin Ihr wollt … in mein’ Stuben kommt’s nit herein, auf dem Oedhof ist kein Platz für ein solches Sündenkind …“
Die Leute standen unschlüssig und von der Härte der Bäuerin überrascht, die trotz ihrer sonstigen Strenge und Entschiedenheit doch etwas Ungewohntes an sich trug. Alle waren mit sich und mit dem unerwarteten Ereigniß beschäftigt, Niemand achtete auf Susi, deren Aufregung den höchsten Grad fieberhafter Anspannung erreicht hatte; jetzt war sie mit Anstrengung zu der Greisin hingewankt, faßte ihre Hand und drückte sie mit wortloser Innigkeit an Stirn und Mund.
„Bist Du’s, Dirnl?“ sagte die Bäuerin. „Willst fürbitten für das elende Geschöpf, von dem seine schlechte Mutter sich losmacht und es hinauswirft in Wind und Wetter, ob vielleicht ein Mensch barmherziger ist als sie und hebt es auf? … Ich will noch nichts sagen; ich will mir’s aufbehalten. … Schaut erst einmal nach, ob das Kind nichts bei sich hat, woran man’s erkennen könnt’, wem’s angehört …“
Die Mägde warteten die Wiederholung eines Befehls nicht ab, der mit der Befriedigung ihrer Neugierde so sehr zusammentraf. „Wie gut es schlaft!“ sagte die eine, während sie das auf den Tisch gelegte Kleine aus dem umhüllenden Kissen loswickelte. „Es weiß gar nichts von Allem, was mit ihm geschehen ist! … Und was es für ein feines blasses Gesichtl und was für durchsichtige Handerln hat … so zart wie ein wachsernes Christkindl. … Und da, unter den Windeln, auf der Brust – da steckt richtig ein geschriebenes Lesen …“
„Her mit dem Zettel!“ rief die Bäuerin, „Susi, nimm und lies, was auf dem Zettel steht.“
Das Mädchen fuhr sich mit der Hand über die Augen, denn es floß und schwamm ihr wie ein Nebel vor denselben. Sie las:
„Ich bitt’ gar schön’, nehmt mich auf:
Gebt mir auch die heil’ge Tauf’,
Vater und Mutter hab’ ich nit,
Um Gottes willen verstoßt mich nit!“
Alle schwiegen einen Augenblick, Susi hatte sich der Base an die Brust geworfen und weinte bitterlich. Der Hahn auf der Uhr krähte wieder und mahnte an die Ewigkeit.
„Nein,“ sagte die Greisin, indem sie näher trat, nach dem Kinde tastete, das sie nicht sah, und ihm wie segnend die Hand auf die Stirne legte, „verstoßen will ich Dich nit! Der Gockel ruft mir’s zu, wie nah mir vielleicht die große Ewigkeit schon [660] ist, – ich will das bissel Zeit, das mir noch geschenkt ist, benutzen und will gut machen, was ein Anderes verbrochen hat! Bleib’ bei mir, Du armes Würm’l’ – ich will für Dich sorgen, anstatt Deiner ehrvergessenen gottlosen Mutter …“
„Das ist schön und brav von der Bäuerin,“ sagte die Magd, indem sie sich die Augen wischte, „aber vielleicht thut sie der Mutter doch auch zu viel! Wer weiß, in was für einer Noth und Schand’ sie vielleicht ist und ihr das Herz blut’t, daß sie ihr Kind muß von sich lassen …“
„Still sei!“ rief die Alte heftig, „davon will ich nichts hören … ich will das Kind behalten, ich will dafür sorgen, daß es ordentlich und brav werden kann und dem Oedhof einmal Ehr’ macht, aber von der Mutter will ich nichts hören und seh’n … die soll sich nit blicken lassen vor mir … und wenn ihre Noth so groß wär’, daß sie bis an den Himmel langt, und ihre Schand’ so tief wie die Höll’, sie müßt’ aushalten und müßt sie ertragen, aber ihr Kind darf sie nit von sich geben und eher muß sie ihr Herz zehn Mal verbluten lassen und brechen …“
Niemand wagte und fand eine Erwiderung.
„Und jetzt,“ fuhr sie nach einer Weile fort, „jetzt geht und legt Euch nieder – es ist lang Schlafens-Zeit! Komm’ Du auch, Susi … das Kind kann da liegen bleiben, da geschieht ihm nichts und wenn es sich rührt, hören wir’s wohl hinein in die Kammer … kannst die Ampel brennen lassen, daß man gleich Licht hat, wenn man’s braucht. … Und Du, Hies,“ rief sie, an der Schlafkammer sich umwendend, noch einmal zurück, „Du hast jetzt gleich ein Geschäft für morgen … der Andrä soll den Samen-Haber putzen, Du aber gehst in aller Fruh zum Herrn Pfarrer und hinein auf’s Gericht und erzählst, was geschehen ist … und so gute Nacht!“
Die Dienstboten gingen schweigend; die Bäuerin, von Susi geleitet, verschwand in der dunklen Seitenkammer und bald verrieth die völlige Stille, daß der Schlaf seine besänftigenden Schwingen über dem Hause und seinen Bewohnern ausgebreitet hatte. Düsterer brannte die Lampe; da huschte geisterhaft, wie die Alte es bezeichnet hatte, Susi im Nachtgewande aus der Kammer hervor: auf ihre Augen allein war die Ruhe nicht herabgestiegen. Sie wankte dem Tische zu; in der Nähe desselben sank sie in die Kniee, breitete die Arme gen Himmel aus und flüsterte ein heißes, nur ihm verständliches Gebet des Danks; dann trat sie zu dem Kinde, beugte das Angesicht darauf und überdeckte es mit glühenden Küssen. –
Es war nur natürlich, daß die Kunde von dem, was auf dem Oedhofe geschehen, überall das größte Aufsehen machte und daß das Gerede von Hof zu Hof flog und von Dorf zu Dorf, als wäre es durch fernhin leuchtende Bergfeuer angezeigt oder durch sogenannte Wasserreiter verbreitet worden, welche bei außerordentlichen Wettergüssen in die tiefer gelegenen Gegenden hinaus sprengen, um, der Ueberschwemmung voran eilend, die Kunde zu bringen, daß die Gebirgsflüsse „ausgießen“ und das Hochwasser hinter ihnen darein gesaust komme. Das Ungewöhnliche der Sache an sich hätte schon hingereicht, die allgemeine Neugierde zu erregen, die vielen besonderen Einzelheiten aber waren erst recht dazu angethan, sie anziehend zu machen; mit den Gerüchten um die Wette flogen Vermuthung und Argwohn einher, von der Neugier geweckt und von der Schmähsucht getragen, welch’ beiden ein um so ergiebigeres Feld sich öffnete, je geringer die Ausbeute des gleich am andern Tage vom Gerichte vorgenommenen Augenscheins war und je unbedeutendere Anhaltspunkte sich auf den von Pfarrer und Amtmann nach allen Richtungen angestellten Erkundigungen und Nachforschungen ergaben. Der Augenschein hatte gar nichts ermittelt. Die Vorhersagung der Oedbäuerin war eingetroffen: gegen Morgens hatte der „warme Wind“ über die Berge hereingeblasen und in wenig Stunden den Schnee hinweggehaucht, als wäre nie eine Flocke gefallen; nur stellenweise, im Schatten eines Baumes oder einer Zaunhecke entlang war davon eine besonders geschützte oder dichte Ansammlung liegen geblieben. In einer solchen fanden sich allerdings die Spuren von Tritten, die von einem weiblichen Fuße herzurühren schienen, aber sie trugen ebenfalls nichts Kennzeichnendes an sich und zeigten nur den Abdruck eines Schuhes, wie er von der gesammten weiblichen Bevölkerung der Gegend getragen zu werden pflegt. Der nächste Nachbar, der Besitzer des etwas weiter abwärts gelegenen Einzelhofes, war wohl auch am fraglichen Abend durch das lärmende Bellen seines Hundes aufmerksam geworden und hatte, den Kopf durch das Schiebfensterchen steckend, eine weibliche Figur zu sehen geglaubt, welche in der Richtung vom Oedhofe her gelaufen kam, aber Wind, Gestöber und die dichte Verhüllung hatten es ihm unmöglich gemacht, sie zu erkennen. Diesem gegenüber leitete die örtliche Vertrautheit, mit welcher das Unternehmen ausgeführt worden war, sowie das völlige Schweigen des sonst sehr wachsamen Haushundes dringend darauf hin, daß der Thäter ein Bekannter des Hauses gewesen mußte, – ja, ein später auftauchender Umstand schien sogar eine Weile dazu angethan, volles Licht nach dieser Richtung zu geben, diente aber schließlich doch nur dazu, die Unklarheit und den Zweifel noch mehr zu steigern.
Einige Tage nach dem Auffinden des Kindes hatte der Hütbube des Oedhofs in der Bretterluke, durch welche eingedrungen worden war, an einem vorstehenden Nagel ein Stückchen Zeug von einem Weiberrocke gefunden, dessen Beschaffenheit und Muster so eigenthümlich und von dem sonst üblichen abweichend war, daß man wohl hoffen durfte, in der Trägerin eines solchen auch die Thäterin aufzufinden. Es ergab sich bald, daß ein einziger Krämer im nahen Markt diesen Stoff auf seinem Lager gehabt und einen Rest davon lange vergeblich feil geboten hatte, – die eine Hälfte des letztern war vor mehr als einem Jahre von der Pflegetochter des Aichbauern, von Franzi, der schönen Kellnerin an der Kreuzstraße, gekauft worden, – das andere Stück hatte wenige Wochen vorher eine Landfahrerin gekauft, eine Tirolerin, die mit kleinem Landkram in einem Rückenkorbe von Dorf zu Dorf hausiren ging und nebst ihrer Waare ein Kind darin mit sich herum trug. Nun lag die Vermuthung dringend nahe, daß diese es gewesen, die auf dem Oedhofe die Gelegenheit erspäht, sich einer Last auf gute Art zu entledigen; auch das Alter des Kindes stimmte damit überein, denn dasselbe war immerhin ein paar Monate alt, mußte also, da es noch ungetauft war, in völlig unbegreiflicher Weise irgendwo verborgen gehalten und der Kenntniß der weltlichen wie der geistlichen Behörden entzogen worden sein. Auch das war durch das Herumziehen der Mutter am einfachsten erklärt.
So kam es, daß von Allem nichts auf die Spur der Thäterin leitete; das kleine Mädchen blieb wohl behütet und bewahrt auf dem Oedhofe und von dem ganzen Gerede nach einiger Zeit nichts übrig, als der Umstand, daß Franzi’s Name in der Sache genannt und in bedenklicher Weise in dieselbe verflochten worden war. Obwohl nun Franzi’s Benehmen überall und zu jeder Zeit tadellos gewesen, obwohl Niemand auch nur das Entfernteste über Beziehungen oder Verhältnisse zu sagen wußte, welche zur Bestätigung einer solchen Annahme dienen konnten, kam das einmal laut gewordene Gerücht doch nicht wieder zur Ruhe: es pflanzte sich fort, wie ein giftiger Wurm ungesehen unter dem hohen Grase dahin kriecht. Manche, denen Franzis herrische und entschiedene Art mißliebig gewesen, glaubten daran mit jenem Behagen, das gemeine Seelen immer als eine Art von Rachegenuß empfinden, wenn sie eine edlere Natur, der sie ihrer Begabung wegen gram sind, straucheln oder gar einen Schritt thun sehen, welcher geeignet ist, sie zu ihnen hinunter zu ziehen.
Die günstiger Gesinnten zuckten die Achseln; sie glaubten die Sache nicht, aber unmöglich erschien sie ihnen doch nicht: es war der eigen gearteten Person bei ihrem entschlossenen Wesen und ihrer stillen Gemüthsart wohl zuzutrauen, daß sie es verstanden habe, das Unternehmen mit solcher Schlauheit durchzuführen und noch obendrein in so gelungener Weise den guten Schein zu wahren. Nur wenige Orte waren, wohin das Gerücht nicht drang, wenige Menschen, die es nicht beschäftigte – zu den wenigen gehörten einmal Susi und die Oedbäurin, denen Niemand etwas davon sagen wollte, weil, wenn der Verdacht begründet war, der Gedanke an ein vorhergegangenes Einverständniß unabweislich nahe lag, und dann Franzi selbst, welche ruhig und unbekümmert dem Geschäft nachging und ihre Arbeit verrichtete, bis die Zeit heran kommen sollte, den Dienst an der Kreuzstraße mit einem andern zu vertauschen. Vielleicht hatte das Gericht die Sache nicht aus dem Auge verloren, bedachte sich aber, bei Franzis völligen Unbescholtenheit vor der Zeit mit einer Bezichtigung hervor zu treten; von den Gästen aber, die im Wirthshause einsprachen, kam Niemand dazu, der gewandten Kellnerin gegenüber eine Andeutung zu machen, denn man wußte, daß sie zu antworten verstand und daß sie nicht Lust und Geduld hatte, auch nur ein schiefes Wort ohne Abwehr hinzunehmen.
[673] Franzi hatte nur noch wenige Tage an der Kreuzstraße auszuhalten, als unerwartet eines Abends Waldhauser angefahren kam, der sich seit dem ersten Zusammentreffen nicht mehr hatte blicken lassen, der aber inzwischen, wie die Einkehrenden bei Trunk und Imbiß vielfach erzählt, sich wirklich ein an der Straße und in der Nähe eines Flüßchens günstig gelegenes Anwesen gekauft und die verabredete Handelsgemeinschaft mit Meister Staudinger eifrig begonnen hatte. Sie konnte nicht umhin, nach seinem Begehren zu fragen und ihn zu bedienen, aber sie beachtete nicht, wenn sie es auch gewahrte, daß er gleich beim Eintreten sie mit besonderer Vertraulichkeit grüßte und ihr wie zum Zeichen stillen Einverständnisses zublinzte. „Geschwind,“ rief er, „nur ein Glas warmen Wein, aber tüchtig gewürzt, denn der Nordwind bläst einem durch den Mantel bis auf die Haut! Ich kann mich nicht aufhalten, bin nur so im Vorübersausen da und hab’ dem Hausknecht gesagt, er soll die Pferde nur gleich angeschirrt in den Stall führen. Setz’ Dich zu mir her, Franzi, und laß uns ein gescheidtes Wort reden miteinander …“
„Ich will nit stören, Herr Aicher,“ sagte sie, „Sie könnten sonst auf Ihre wichtigen Geschäfte vergessen!“
„O, ich vergesse nichts, was ich einmal im Sinn habe!“ sagte er, indem er sich setzte und zugleich dem herantretenden Wirthe für seine Begrüßung dankte. „Laß mir auch den Herrn unterwegs, das schickt sich nicht für so gute, alte Bekannte, wie wir Zwei sind; wenn es die Leute hören, könnten sie am Ende gar glauben, ich sei in die Sünde des Hochmuths verfallen! Was sagst Du dazu, ich hab’ diese Tage ein gutes Geschäft gemacht und hab’ mich verlobt, daß ich eine Capelle bauen will! Nicht wahr, das hast Du von mir nicht erwartet?“
„Wahrhaftig nicht,“ erwiderte Franzi höhnisch, auf einen Wink des Wirthes am Tische verweilend, aber die Handbewegung nicht beachtend, mit welcher Waldhauser bei Seite rückte und sie einlud, neben ihm Platz zu nehmen.
„Ja, ich bin nun einmal so!“ fuhr er fort. „Wenn mir etwas glückt, muß ich immer gleich darauf denken, wie ich mich dem lieben Gott für seinen Segen erkenntlich zeigen kann. … Habe zuerst gedacht, ich wollte eine ganz neue Capelle bauen, und hab’ unter der Hand schon immer nach einem Platze umgesehen, wo sie stehen könnte, daß man sie von allen Seiten und recht weit sieht …“
„Und von dem frommen Herrn Aicher reden soll, der sie gebaut hat …“ schaltete Franzi wie zuvor in höhnendem Tone ein.
Ein finstrer, lauernder Seitenblick streifte aus Waldhauser’s Augen nach ihr hinüber, er besann sich aber augenblicklich und fuhr mit seinem ruhig stehenden Lächeln fort: „Warum nicht? Das wäre nichts Unrechtes … Es steht ja geschrieben, daß man sein Lichtlein nicht unter den Schäffel stellen, sondern soll leuchten lassen vor den Menschen … Indessen hab’ ich mich wieder anders besonnen. Kennen Sie die alte, baufällige Wallfahrtscapelle im nahen Forst, Herr Wirth?“
„Gewiß,“ erwiderte der Gefragte, „mit dem wunderthätigen Muttergottesbild zu den sieben Schmerzen … es ist alle Jahr’ einmal große Wallfahrt dahin, aber die übrige Zeit steht sie ganz verlassen, drum ist sie schier dem Einfallen nahe …“
„Drum hab’ ich mir gedacht, es wär’ schade um den schönen, alten Bau … und will das Kirchlein wieder herrichten lassen. Ob ich eine neue Capelle baue, oder eine alte neu herrichte, kommt ja doch auf eins heraus …“
„Jedenfalls ist’s wohlfeiler,“ sagte Franzi trocken.
„Ja, ja – man kennt Dich schon,“ rief Waldhauser, an sich haltend, aber bitter getroffen, „Du bist immer mit spitzigen Reden bei der Hand, aber ich glaube, das ist es gerade, was mir neben Deinen schönen Augen so wohl an Dir gefällt …“
„Ich kann mit mehr aufwarten!“ erwiderte sie, während der Wirth in die Küche ging, nach dem Würzwein zu sehen.
„Das sollst Du auch,“ sagte er, traulich näher rückend, „und daß ich’s nur gleich heraus sage … deswegen bin ich da, es ist blos Deinetwillen, daß ich heut gekommen bin … Ich hab’ mir einen hübschen Hof gekauft, aber ich hätte noch ganz Anderes im Sinn … drinnen im Markt ist eine Wirthschaft feil, die möcht’ ich kaufen, aber dann muß ich eine tüchtige Hauserin und vor Allem eine schöne Kellnerin haben, mit der die Gäste sich gern unterhalten. Drum bin ich da; sag’, daß Du zu mir gehen willst, und morgen in aller Früh fahr’ ich zum Notar und mach’ den Kauf richtig …“
Franzi maß ihn mit finsterem Blick. „Nein,“ sagte sie, sich zum Gehen wendend, „zur Leimstang’ und zum Fliegenstäkel geb’ ich mich nit her … Daß Sie mir ein’ solchen Antrag machen, Herr Aicher, das wundert mich kein Bröserl, aber angehört hab’ ich’s nur, weil ich d’ran denk’, wie viel Gut’s ich von Ihre braven, redlichen Eltern genossen hab … das Andenken d’ran hab’ ich in mein’ Herzen aufgehoben, wie man ein Amulet aufhebt oder sonst ’was Heilig’s … aber Ihnen gegenüber ist das Andenken jetzt aufgewogen durch die heutige Red’ … Sie haben [674] jetzt nichts mehr bei mir gut und wann wir wieder z’samm’ kommen, geht’s gleich für gleich auf in unserer Rechnung…“
„So sei doch nicht so überspannt,“ rief er, mit gierigen Augen an den von der Röthe des Unmuths belebten und verschönten Zügen des Mädchens hangend und sie am Arme festhaltend. „Was hab’ sich denn so Besonderes gesagt? Sei gescheidt, Mädel, und komm’ zu mir … Du kriegst keinen bessern Platz, und wenn Du die Welt ausgehst!“
„Brauch’ keinen,“ sagte sie unwillig, „ich hab’ mich schon verdungen…“
„Habe schon davon gehört,“ fuhr er in zäher Zudringlichkeit fort, „Du willst in die Stadt, bist eben eine kluge Person und weißt, wo Barthel den Most holt! Aber bei mir bekommst Du es doch noch besser, als in der Stadt… Schau, ich denk’ nicht daran, zu heirathen; wenn Du vernünftig sein willst, hast Du bei mir ein Leben, wie im Himmel … Du sollst Alles haben, was ich Dir nur an den Augen absehen kann… Ziere Dich doch nicht so, früher ist Dir das ganz gut angestanden, aber jetzt …“
Franzi war bei jedem Worte bleicher und starrer geworden; mit weit geöffneten Augen und athemlos hing sie an den Mienen des Redenden. „So?“ stieß sie kaum hörbar heraus… „Und jetzt?“
„Jetzt glaub’ ich Dir’s nicht mehr,“ sagte Waldhauser mit schlauem Triumphe, „jetzt kennen wir uns besser und das ist ja das Zweite, was mir so sehr an Dir gefällt… Du siehst ein, daß es nichts braucht, als vor den Leuten den Schein zu wahren und der dummen Welt Sand in die Augen zu streuen, und daß man dabei in der Stille doch thun kann, was man will!“
„So? Seh’ ich das ein?“ stammelte das Mädchen.
„Gewiß!“ lachte er, sein Spiel schon für gewonnen haltend. „Meinst Du, ich wisse nicht, daß Du, so ehrbar Du Dich anstellst, Dich heimlich doch auch auf’s Naschen verstehst? Hahaha, wie hab’ ich für mich gelacht, wie pfiffig Du es angestellt und Dir die uncommode Zeugschaft vom Halse geschafft hast… Wenn ich mich nicht schon in Dich vergafft hätt’, ich müßte es jetzt thun seit dem kostbaren Stückchen mit dem Oedhof…“
In Franzi’s Wangen kehrte das Blut, in ihre Glieder die Bewegung zurück. „Und wer …“ rief sie glühend, „wer ist es denn, der so was von mir denkt und sagt? Wer untersteht sich denn …“
„Nun, wie stellst Du Dich denn an?“ fragte Waldhauser, sich halb erhebend, und versuchte, den Arm um sie zu schlingen. „Als wenn nicht alle Welt davon zischelte! Jedermann sagt’s und ich, der Dich jetzt ganz kennt, ich sag’ es auch… Gieb es auf, Dich zu verstellen, vor mir wenigstens nimm die Maske herunter und gieb mir Antwort auf meinen Antrag…“
„Ich kann nit vor Jedermann hintreten,“ erwiderte Franzi, „und kann nit mit aller Welt reden, aber wer einmal mit mir red’t, der soll auch seine Antwort haben… Ein altes Sprüchwort sagt: ‚Auf eine Lug gehört ein Schlag!‘ … So sag’ ich auch und – das ist mein’ Antwort!“
Im nämlichen Augenblick brannte ein schallender Schlag auf dem Gesichte des Heuchlers, daß die in der großen Gaststube anwesenden Gäste aufsahen und verwundert nach dem Nebenzimmer blickten, aus welchem Franzi völlig gelassen heraustrat und sich an das Schwenkschaff stellte, um mit dem Spülen des Geschirrs fortzufahren, in welchem die Ankunft des Gastes sie unterbrochen hatte. Waldhauser stand eine Weile wie vom Blitz getroffen, bebend, mit den Zähnen knirschend, mit geballten Fäusten und rollenden Augen – ein Bild entlarvter Bosheit und ohnmächtiger Wuth. „Warte, Canaille, das büßest Du mir!“ stöhnte er dann, seine Sachen zusammenraffend, und stürzte aus dem Hause, an dem verblüfften Wirthe vorüber, der eben mit dem verspäteten Glase Würzwein herantrat; in einigen Secunden sauste sein Gespann, von wüthenden Peitschenhieben getrieben, wie unsinnig in die Nacht hinein.
Eine gute Strecke war er in dem Walde dahin gefahren; zwischen den finstern Tannenbäumen, welche hoch und schwarz sich zu beiden Seiten der grauweiß hinziehenden Straße drängten, blickte zuweilen der kaum aufgegangene abnehmende Mond herein und jagte mit den niedergebeugten Aesten und Wipfeln ein unheimliches Spiel von Licht- und Schattenbildern am Boden dahin. Es bedurfte geraume Zeit, bis der Nachtsturm das wallende Blut des Zürnenden so weit abgekühlt hatte, daß er wieder einen klaren, ruhigen Gedanken zu fassen und wahrzunehmen vermochte, was um ihn her vorging. Verwundert und überrascht gewahrte er, daß über seinem Sitze von hinten ein Schatten hereinragte, der sich nicht veränderte und nicht von den Bäumen oder Wolken zu kommen schien – eben wollte er sich vollends darnach umwenden, als der Ton einer männlichen Stimme ihn weiterer Untersuchung überhob. Ein Mann saß hinten auf das Wagenbret gekauert.
„Ich meine,“ sagte derselbe mit gleichgültiger Ruhe, „jetzt dürften Sie die Schweißfuchsen schon ein Bissel verschnaufen lassen. … Sie sind ja gefahren, daß ich alle Augenblick geglaubt hab’, es müßt’ ein Rad wegfliegen… Schau’n S’ mich nur nit so verwundert an, Herr Waldhauser, ich bin schon der, für den Sie mich anschau’n, der Nußbichler Alisi…“
„Kerl,“ fuhr ihn Waldhauser an, „wie kommst Du daher? Und was willst Du von mir?“
„Wie ich daher komm’?“ rief Alisi lachend. „Mit Ihnen, Herr Waldhauser … ich bin vor dem Kreuzstraßen-Wirthshause hinten aufgesessen auf Ihrem Wagen und hab’ mich von Ihnen heraus kutschiren lassen als blinder Passagier… Was ich will? Das können Sie auch erfahren … ich möcht’ mein Güt’l wieder haben, das sie mir abgestohlen haben, und dazu muß ich Geld haben, und das Geld, das sollen Sie mir geben…“
„Hinunter von meinem Wagen,“ schrie Waldhauser, als der Lumpensammler sich erhob und Miene machte, sich über ihn zu beugen, „bist Du betrunken, Kerl, oder was hast Du sonst im Sinn?“ Er stieß nach ihm und suchte ihn von dem Tritte hinab zu drängen, aber Alisi klammerte sich so fest an den Wagen, daß er den Versuch bald aufgeben mußte.
„Betrunken?“ rief der Bursche. „Wenn man betrunken werden kann von Gift und Gall’ und von Kummer und Herzleid, dann kann’s sein, daß ich es bin – Andres hab’ ich seit acht Tagen schier nicht mehr in den Mund gebracht… Ich weiß recht gut, was ich sag’ und thu’, Herr Waldhauser, es ist mir nur immer so eigen und so schwer im Kopf, daß es den Leuten vorkommt, als hätt’ ich einen Dusel… Die Zeit ist’s vorbei, es greift nimmer an, das schlechte Zeug, das sie jetzt brennen… Ich will mein Güt’l wieder haben, ich hab’s Ihnen schon erzählt: es heißt, der jetzt darauf sitzt, hat schon wieder abgehaust, es ist kein Glück und kein Segen bei dem unrechten Gut – es soll ihm wieder verkauft werden, da will ich’s kaufen, und Sie, Herr Aicher – es bleibt dabei, Sie müssen mir das Geld dazu geben…“
„Ich? Und müssen auch noch?“ rief Waldhauser ungeduldig. „Und warum etwa? Geh’ Deiner Wege, sag’ ich, wenn Du nicht betrunken bist, so bist Du verrückt, oder hältst mich dafür. … Fort, halt’ mich nicht auf; ich kann wegen Dir nicht eine halbe Stunde auf der offenen Landstraße in Wind und Nacht anhalten. … Mach’, daß Du vom Wagen hinunter kommst, sag’ ich, oder ich brauche Gewalt!“
„Da müßten wir erst seh’n, wer dem Andern Herr werden thät …“ rief Alisi lachend, „es hat nit Jeder eine Faust, wie der Aichbauern-Sixt, und wenn er auch auf dem nämlichen Baum gewachsen wär’! Warum soll ich denn fort? Anhören können Sie mich ja doch… Sie helfen mir, dafür kann ich Ihnen auch wieder helfen…“
„Du mir?“ sagte Waldhauser geringschätzig. „Und wobei etwa?“
„Bei dem, was Sie jetzt im Sinn haben,“ sagte der Lumpensammler und beugte sich näher zu ihm, als besorgte er, selbst in der Nacht und Einsamkeit belauscht zu werden, „bei dem, was Sie jetzt im Sinn haben müssen … Sie werden mich schon versteh’n, wenn ich Ihnen sag’, daß ich am Wirthshaus herumgestrichen bin und hab’ so zufällig zum Fenster hinein geschaut und hab’ geseh’n, wie die Franzi … Mir ist das Weibsbild zuwider,“ fuhr er fort, da Waldhauser wie bei Berührung einer Wunde zuckte und sich auf die Lippen biß, „zuwider wie Gift und Opperment – ich gebet’ einen Finger aus der Hand, wenn ich meine Wuth an ihr auslassen, wenn ich ihr so was Rechtes anthun und sie untertauchen könnt’, daß sie so geschwind nit wieder in die Höh’ käm’ … den Fußtritt, den ich ’kriegt hab’ wegen ihr, den möcht’ ich ihr wieder geben – und ich bild’ mir ein, Ihnen muß gerad’ so sein…“
Waldhauser schwieg noch einige Augenblicke, als Alisi geendet. „… Steig’ herein in den Wagen und setze Dich neben mich,“ [675] sagte er dann, „das können wir im Weiterfahren am Besten bereden…“
„Ah, das ist ein Wort, das ich mir gefallen laß’!“ rief der Lumpensammler und war im nächsten Moment wie eine Katze über den zurückgelegten Kasten auf den Wagensitz geklettert, auf dem er sich behaglich niederließ. „Da kann sich’s Unsereiner doch auch einmal commod’ machen!“
„Aber was denkst Du?“ begann Waldhauser. „… Wenn ich wirklich das im Sinn hätte, was Du meinst, wie würdest Du es anstellen, ihr zu vergelten, was sie mir … was sie Dir gethan hat?“
„Nichts leichter als das,“ flüsterte Alisi. „Eine rechte Schand’ muß ihr angethan werden, die sie hinunter zieht, als wenn man ihr einen Mühlstein an den Hals gehängt hätt’ … etwas, daß sie ruinirt ist auf ihre Lebtag, und kein Hund mehr ein Stück’l Brod von ihr nimmt… Es muß ihr geh’n, wie’s mir gegangen ist, durch’s Haberfeld muß sie ’trieben werden, wie ich … daß kein Mensch sie mehr anders anschaut, als über die Achsel, wie mich … daß man ihr Fußtritt’ geben darf, wie mir…“
„Freilich, freilich,“ erwiderte Waldhauser rasch und mit dem Ausdruck unverhehlter tückischer Freude. … „Das wäre die beste Rache… Kerl, Du bist klüger, als ich Dich geglaubt habe… Freilich, das würde sie am Empfindlichsten treffen – der Schein der Unbescholtenheit geht ihr ja in ihrem Stolze über Alles… Aber Du thust mir doch Unrecht, wenn Du mich nach Deinem Maße missest! Ich denke nicht an Rache – das wäre unchristlich, denn man muß ja seinen Feinden verzeihen … aber um ihres eigenen Heiles, um ihrer Besserung willen, könnte ihr eine kleine Lehre gar nicht schaden, wenn ihr die Maske vom Gesicht gerissen werden könnte, das würde sie vielleicht zwingen, in sich zu gehen und ihre Hoffahrt abzulegen. … Aber was Du sagst, lieber Freund, ist schwer zu machen, das Haberfeld kommt nicht so leicht, und verlangt Beweis…“
„Oho!“ rief Alisi, „davon könnt’ Mancher ein Lied singen … aber, wenn es weiter nichts fehlt, den Beweis, den schaff’ ich…“
„Du?“ entgegnete Waldhauser mit gieriger Hast. „Du könntest … Höre, Kerl, wenn Du das zu Stande bringst, dann – dann sollst du das Geld haben und Dein Güt’l wieder kaufen…“
„Hab’ ich’s nicht gesagt, wir werden handelseins? Die Hand darauf und eingeschlagen – es gilt!“
„Aber was weißt Du? Wär’ es wirklich wahr, was die Leute sagen?“
„… Wahr! In der Galli-Nacht hab’ ich sie selbst gesehen, keine zwei Büchsenschuß weit vom Oedhof – mit dem Kind, das sie gelegt hat, im Arm … ich hatt’ darauf schwören können, daß sie’s gewesen ist…“
„Also weißt Du es nicht gewiß? Was soll es dann nützen.“
„Ich bin gestürzt, darüber ist sie mir entwischt – aber ich war doch feiner als sie. Wenn es die Franzi ist, hab ich mir gedacht, kann sie jetzt nicht in ihrem Dienst sein, wenn ich ein Stück Lunge d’ran setz’, komm’ ich auf jeden Fall eher hin als sie – und wenn sie nicht daheim ist, dann ist sie’s gewesen, die ich mit dem Kind gesehen hab’… Ich bin durch die Nacht über Stock und Stein dahin geschossen wie ein Fuchs … aber es hätt’ die Eil’ nit nöthig gehabt: die Franzi war nit im Wirthshaus und ist auch die ganze Nacht nit heim ’kommen – der Wirth hat gesagt, sie sei in aller Früh fort, auf die Eisenbahn und nach München hinein, weil sie sich um einen Platz umschauen wollt’… Ja, um einen Platz hat sie sich auch umgeschaut – aber für ihr Kind, das sie bei ihren Helfershelfern versteckt gehabt hat… Und d’rum sag ich, die Franzi ist’s gewesen, und dafür leg’ ich die Hand in’s Feuer!“
„Ja, ja, es ist klar – ganz klar! Es greift Alles ganz natürlich ineinander!“ murmelte Waldhauser mit boshaftem Behagen. „Das wird mehr als genug sein, sie zu demüthigen und zu strafen. … Aber, warum hast Du das nicht schon lange gesagt?“
„Weil ich die rechte Zeit hab’ abwarten wollen,“ erwiderte der Nußbichler, „sie ist jetzt um desto sicherer und ich hab’ ihr aufgelauert, wie eine Spinn’ im Netz, die ihre Fäden nach allen Ecken hin ansetzt … es ist kein Tag vergangen und keine Nacht, wo ich nit um die Kreuzstraßen herumg’strichen bin, wie ein Jäger in seinem Revier… Und wenn ich hätt’ reden wollen, was hätt’s genutzt? Einem Lumpen – einem schlechten Kerl, wie ich einer bin, hätt’ man doch nicht geglaubt … sie hätten gesagt, ich wär’ ihr aufsässig wegen dem Fußtritt und wollt’ ihr was anthun, oder ich sei ein Narr oder hätt’ wieder einmal zu tief in’s Glas geschaut… Nein, Herr Waldhauser, wenn da ’was eine Kraft haben und ausgeben soll, da muß ein ganz Anderer das Maul aufmachen und vor den Riß stehen!“
„Recht, recht!“ rief Waldhauser eifrig. „Es ist Alles ganz vortrefflich, wie Du es ausgedacht hast. … Du bist ein durchtriebener Bursch! Aber was hilft das Reden und die ganze Vorbereitung? Es heißt ja, das Haberfeld soll schon in den nächsten Tagen getrieben werden. … Wie soll man das machen, daß es auch zu ihr kommt? Wie und wo soll man auch die Haberer finden?“
„Da kann ich auch wieder aus der Noth helfen,“ sagte der Nußbichler pfiffig, „das wird Alles gar geheim gehalten und verschwiegen, – aber auf einen halb verruckten Menschen, wie mich, da wird nicht Acht gegeben; da red’t Mancher von der Leber weg, als wenn ein Hund auf der Bank läg’ oder unterm Tisch, der nichts weiter sagen kann … nun, wenn ich doch schon sein soll wie ein Hund, hab’ ich wenigstens das Gute davon, daß ich allerhand inne werd’, was kein anderer Mensch erfahrt. … Lassen S’ einmal mich fahren, Herr Waldhauser, da geht gerad’ ein Seitenstraßel in’s Holz; sorgen S’ Ihnen nit, ich kenn’ jeden Baum im Wald. Ich weiß, wo man die Haberer zu finden hat und wie man’s macht, daß man zu ihnen kommt … Folgen S’ mir nur …“
Ohne die Zustimmung abzuwarten, nahm er Waldhauser die Zügel aus der Hand und lenkte das Fuhrwerk quer durch den Graben in ein sogenanntes G’ramb’, eine gerade durch den Forst gezogene Lichtung, aus der alles Holz abgeräumt war und wo der Wagen auf dem moosigen Waldboden beinahe geräuschlos dahin rollte. Auch die Beiden sprachen nichts mehr, es war eine unheimliche Fahrt zwischen den eng heranrückenden Tannen dahin, von denen manchmal eine sich weiter vorneigte, als sei sie neugierig, die nächtlichen Wanderer näher zu beschauen und zu erkennen; der nur schmale Mond war hinter Wolken versteckt, und der Himmel zog sich nur wie ein schwarzgrauer sternloser Streifen über der finsteren Waldgasse hin – nichts war zu hören, als manchmal aus weiter Ferne das Bellen eines Hundes in einem Bauernhause, oder das Schlagen der Kirchenuhr aus einem weit hinter dem Walde eingeschlafenen Dörfchen, oder manchmal das Krachen oder Brechen im Gebüsch und Gestäng, wenn ein aufgescheuchtes Wild vor den Nahenden die Flucht ergriff.
Endlich mündete die Lichtung in eine große rasenbedeckte Waldblöße aus, zu welcher auch von anderen Seiten hellere festgetretene Pfade heranführten und bei dem Kirchlein zusammenliefen, dessen verwittertes farbloses Gemäuer nur durch seine mattere Färbung sich von dem schwarzen Waldgrunde abhob und dadurch sichtbar wurde. In einiger Entfernung davon hielt der Nußbichler an und lenkte das Gespann in eine niedrige, nach allen Seiten offene Bretterhütte. … „Das ist die Schenk’, die sich der Wirth gebaut hat, auf Maria-Namen, da ist große Wallfahrt zu der Capellen … der Tag tragt ihm, wenn es noch ein bissel gutes Herbstwetter ist, allein so viel, daß er den Winter über feiern könnt’ … es geht gar sehr andächtig zu und das viele Beten macht die Lippen und die Gurgel sperr (trocken). … Seh’n Sie, dort ist das Kirchel … ich bin in der Näh’, wenn Sie mich brauchen. …“
Sie flüsterten noch einige Zeit; dann schritt Waldhauser der Kirche zu; die Thür war verschlossen, aber von innen heraus erklang es wie das Murmeln gedämpfter Stimmen und an den hohen Spitzbogen der Fenster hinan spielte ein matter Lichtschein, als brenne drinnen die ewige Ampel.
In der Kirche war es beinahe vollständig dunkel; ein schwacher, vom Altare her kommender Schimmer reichte eben nur aus, um zu erkennen, wie an den verwitterten Wänden, von denen der Kalkbewurf abgefallen, der Schimmel sich angesetzt hatte und das grüne Moos daran emporstieg, das auf den zerbröckelnden und feuchten Ziegelplatten des losen Pflasters wuchernd dahin kroch. Die Halbsäulen und Gurten der Wände waren nur durch die schwarzen Schlagschatten hinter ihnen in etwas erkennbar und [676] verloren sich in dem undurchdringlichen Dunkel des darüber aufsteigenden Spitzgewölbes. Das Holzwerk der Seitenaltäre war feucht und hatte klaffende Risse, die zum Chor empor führende Stufe von Stein war ausgetreten und wie zerschlagen; am Hochaltare hing die eine Seite des Flügelaltars in den schadhaft gewordenen Angeln sturzbereit herab, die Schnitzerei und die Figuren daran waren mit Staub und Spinnwebe überdeckt, die Farben verblichen und die Vergoldung matt geworden. Ueber dem Altare oder vielmehr in dessen Mitte stand ein holzgeschnitztes Bild der Gottesmutter, welche sieben Schwerter in der Brust stecken hatte und mit gerungenen Händen und thränenden Augen zum Himmel empor sah. Das Licht der Laterne, welche auf der Stufe des Hochaltars stand, reichte eben bis zu dieser Gestalt und ihrem schmerzvollen Angesicht empor; es erlosch an dem schwarzen Stamme des über ihr riesig in die Nacht emporragenden Kreuzes.
Um das Licht auf der Altarstufe waren acht Männer versammelt, im Halbkreise auf Stühlen und Schemeln aller Art sitzend, die sie aus der Kirche zusammen getragen, alle in dunkle Mäntel gehüllt, die Gesichter mit schwarzen Tüchern verbunden und große dunkle Bauernhüte darüber herabgezogen. Ein Neunter saß in der Mitte, an Körpergröße Alle überragend, auch ohne den etwas erhöhteren Stuhl, auf dem er saß. In der rechten Hand hielt er einen Büschel Haberähren.
„So ist’s beschlossen, Ihr Alten von der Leizach, Mangfall und Schlierach,“ sagte er mit verstellter, dumpf klingender und doch voll verständlicher Stimme, „es soll wieder ein Haberfeld getrieben werden, wie’s Recht und Brauch ist in unserem Gau, und ich geb’ Euch auf, daß Ihr die Boten ausgeh’n laßt, in des Kaisers Namen zwischen heut’ und dem ersten Tag im Neumond, daß alle Missethat gerügt und gestraft wird, die heimlich getrieben wird, dem ganzen Gau zur Schmach. … Niemand darf erfahren, wen das Gericht bedroht, denn es soll kommen nach der alten Satzung, wie das Feuer um Mitternacht … wahret Zeichen und Losung, bei Eurem Eid! Und also, wenn Ihr nichts dawider habt, Ihr Alten, so steh’ ich auf und sag’ in des Kaisers Namen – das Gericht ist aus! …“
Er wollte sich erheben, aber einer der Männer winkte und rief: „Vergiß nicht, Meister, erst muß das Aufgebot kommen und die Ladung … Wenn auch Niemand erscheint, es ist die Satzung so!“
„Du hast Recht,“ erwiderte der Meister, „müßt halt Nachsicht haben, Ihr Alten, ich bin noch gar neu im Amt! Und so,“ fuhr er mit erhobener Stimme fort, „ruf’ ich Aufgebot und Ladung in alle vier Winde der Welt – und rufe, wer zu klagen hat vor dem Kaiser und vor dem Habergericht, der soll erscheinen und seine Klag’ fürbringen und seinen Beweis stellen, bevor ich mit meinem Stab drei Mal niederschlage auf den Boden. …“
Er hob und senkte den Stab und die beiden ersten Schläge tönten dumpf auf dem Steinpflaster des Chores, nur ein schwacher Nachhall an Gewölbe und Wänden antwortete; beim dritten Schlag pochte es an der Thüre der Kirche und eine ferne Stimme rief: „Macht auf … Herr Richter, ich klag’, ich klag’, ich klag’!“
Einer der Alten ging, das Thor zu öffnen, und geleitete den Eintretenden bis an das Chorgitter, wo er ihm stille zu gehen befahl.
Es war Waldhauser. Bei seinem Anblick gerieth der verhüllte Meister in große Bewegung; er schien sich erheben zu wollen, aber die Alten wandten wie fragend die verhüllten Häupter nach ihm, daß er es vermochte, sich zu fassen und, auf den Meisterstuhl zurückgleitend, mit feierlich ruhigem Tone die Frage auszusprechen nach des Klägers Klage, Namen und Begehr.
Er gewann es sogar über sich, die Bewegung zu bemeistern, als der Kläger antwortete und Franzi als diejenige nannte, gegen welche ein Spruch des unerbittlichen Gerichts über Sitte und Ehre gefordert wurde.
Waldhauser wurde auch jetzt von der ihm eigenen Keckheit nicht verlassen, wenn er sich auch des feierlich mahnenden Eindrucks nicht erwehren konnte, den die Versammlung der unbekannten Richter in ihrer mächtig wirkenden Einfachheit, so wie der Ort der Versammlung, unwillkürlich auch auf ihn hervorbrachte – er trug seine Klage mit fester Stimme vor: bei dem unsichren schwachen Licht der Laterne war es unbemerkbar, daß eine flüchtige Blässe über sein Antlitz zuckte.
„Ich klage sie an,“ sagte er, „daß sie vor der Welt den Schein einer ehrbaren sittigen Jungfrau erheuchelt, insgeheim aber sündliche Buhlschaft gepflogen mit einem unbekannten Buhlen – daß sie die Frucht ihres Verbrechens geheim gehalten mit verborgenen Helfershelfern, daß sie ihrem Kinde sogar den Segen der Kirche vorenthielt und es zuletzt, um sich seiner zu entledigen, als Findling von sich legte und verstieß …“
„Das Gerücht zeiht sie dessen,“ sagte der Habermeister, „das Gericht verlangt den Beweis!“
„… Sie war in der Nacht der That nicht zu Hause – ich stelle den Zeugen, der sie zur selbigen Zeit geseh’n, am Oedhofe, mit dem Kinde auf den Armen …“
„Weißt Du auch, daß ein unbescholtener hausgesessener Mann für die Klage einsteh’n muß, als Bürge und Pfand?“
„Ich weiß es – ich will selbst der Bürge sein, wenn Ihr mich dafür annehmen wollt.“
Fragend blickte der Meister nach den Beisitzern – sie willigten mit stummem Nicken ein.
„So frag’ ich Dich, Balthasar Aicher, noch einmal,“ begann der Meister wieder und erhob sich; die Alten thaten desgleichen. „Ich frag’ Dich vor unserm Herrgott und in des Kaisers Namen – Kläger, bleibst Du bei Deiner Klag’?“
„Ich bleibe.“
„Wenn sie falsch ist – bürgst Du dafür mit Haut und Haar, mit Gut und Blut, mit Ehr’ und Wehr?“
„Ich bürge.“
„So frag’ ich zum Dritten, ob Niemand ist im Gericht, der ’was vorzubringen hat für die Verklagte.“
Alles schwieg.
„So ist sie geurtelt und dem Haberfeld verfallen,“ schloß der Meister und seine Stimme zitterte. „Rugmeister, ich übergeb’ sie Dir, wie ich diese Haberähre los reiße und zu Boden werfe; sorg’ daß sie der Straf’ nit entgeht. Und jetzt auseinander mit Euch nach den vier Winden … führt den Kläger weg und zerstreut Euch … das Gericht ist aus …“
Er erhob den Stab und stieß das Licht in der Laterne aus; lautlos und unsichtbar schritten die Alten aus der völlig verfinsterten Kirche in den nächtlichen Wald und verschwanden wie Schatten unter den Bäumen. Auf den Stufen des Hochaltars verweilte allein der Meister sitzend, den Arm auf’s Knie gestützt und die Stirn auf die Hand gesenkt: es war nächtlich in seinem Gemüthe, wie in dem Heiligthume, das ihn umgab. „Also ist’s doch wahr gewesen!“ murmelte er vor sich hin, „sie ist so schlecht – so grundschlecht und hat sich doch so zu verstellen gewußt! Das böse Gewissen hat aus ihr geredet … drum ist sie so aufgebracht gewesen über das Haberfeld … sie soll auch haben, was ihr gehört … aber daß sie die Erste sein sollt’, über die ich urteln muß, das hätt’ ich mir doch nicht träumen lassen … das ist hart, bitter hart … aber es muß sein!“
Er erhob sich rasch – als er die Kirche verließ, dämmerte es bereits und der Morgenstern hing wie ein thränenschimmerndes Auge der Liebe über den finstern Waldwipfeln.
„Schaut mir nach, ob die Läden überall im ganzen Haus gut verschlossen sind und die Thüren wohl verwahrt,“ so rief der Wirth zur Kreuzstraße, indem er in dem leeren dunklen Gastzimmer hin und wider lief und an den Läden selbst versuchte, ob die Schließhaken, an welchen sie von innen festgemacht waren, gut anlagen. „Schaut auch, ob das Feuer auf dem Heerd ganz ausgelöscht ist, und daß mir nirgends kein Licht brennt!“
Die Dienstboten gingen nach verschiedenen Seiten, den Befehl zu vollziehen, nur der Hausknecht zögerte ein wenig und machte sich mit seiner Stalllaterne zu schaffen, deren Docht durchaus nicht brennen zu wollen schien. „Aber wegen was ist denn der Herr gar so besorgt?“ fragte er. „Was fürchtet er denn? Was soll’s denn geben heut’ Nacht?“
„Was es geben soll? Stell’ Dich nit an, Dick’l, als wenn Du’s nit wissen thätst! Wenn wir auch keine Haberer sind, wir zwei, das weiß man ja doch, daß heut Nacht Haberfeld ’trieben werden soll …“
„Was ist’s nachher?“ erwiderte der Knecht phlegmatisch. „Zu uns kommen s’ nit und wenn s’ kommen, thun s’ uns nichts, wir haben ein gut’s Gewissen …“
„Alles recht und gut,“ sagte der Wirth unbehaglich, „aber der Teufel kann wissen, was den verfluchten Kerlen vielleicht nit recht ist – und wenn das auch nit ist, es wär’ mir schon genug, wenn sie vorbeizieh’n und thäten etwa einkehren bei mir! Ist mir schon einmal gescheh’n, vor drei Jahr’n, wie sie nach Holzkirchen hinein sind und haben beim Stecherbräu’ ’trieben, weil er Tollwurz zum Biersieden g’nommen hat, anstatt dem Hopfen! Da ist auf einmal die ganze Rott’ im Haus herinn’ gewesen, lauter kohlschwarze Teufelskerl’ mit Sabel und Büchsen und großmächtige’ Bärt’ als wie man den bairischen Hiesel abgemalt sieht oder den Schinderhannes! Sie sind da gewesen, wie ein Impen-Schwarm einfallt, und eine halbe Stund’ bin ich nimmer Herr gewesen im Haus … sie haben sich ein paar Fass’l Bier aus’m Keller herauf geholt, haben Kuchel und Speis’ ausg’räumt und haben keine Köchin ’braucht und kei’ Kellnerin, – in einer halben Stund’ sind s’ wieder dahin gewesen, wie der Imp’ wenn er wieder davon fliegt, oder wie’s hohe Wasser versitzt, daß man nit sagen kann, wo’s hin ’kommen ist. … Aber was wahr ist, muß man sagen, sie haben für jeden Eimer einen Gulden mehr gezahlt als er kostet, und für jedes Stück Brod haben s’ das Geld richtig hingelegt und sogar für ein paar Krüg’, die s’ zerschlagen haben in der Eil’!“
„Na also!“ meinte Dick’l. „Was wär’ nachher dabei? Das Geld ließ sich ja mitnehmen, sollt’ ich denken!“
„Das wohl, aber ich dank’ doch dafür!“ antwortete der Wirth. „Der Bräuer selbigesmal, der hat einen Vetter gehabt, der ist ein großes Thier gewesen drinnen in der Stadt, und da haben s’ durchaus heraus bringen wollen, wer denn die Haberer waren und wer dabei gewesen ist. Da haben s’ erfahren, daß sie bei mir eingekehrt sind, und mir schaudert noch die Haut, wenn ich daran denk’, wie viel Zeit ich hab’ versäumen müssen, wie oft sie mich auf’s Landgericht hineingesprengt und ausgefragt haben, die Kreuz und Quer, weil ich durchaus die Leut’ hätt’ kennen sollen, die bei mir eingekehrt waren …“
Der Knecht lachte. „Da wird ihnen wohl der Schnabel sauber geblieben sein,“ meinte er.
„Freilich, freilich – sie waren ja so vermummt und vermacht, ich glaub’, wenn mein leiblicher Vater drunter gewesen wär’, ich hätt’ ihn nicht erkannt! Ich hab’ nichts sagen können und sie haben auch sonst nichts erfragt, so viel ich weiß!“
„Und wenn sie auch Einen heraus gebracht hätten, was hätt’s ihnen geholfen? Das ist eine alte Sach’, daß kein Haberer den andern verrath’, und wer’s thät, der wär’, glaub’ ich, schon die längste Zeit mitgelaufen …“
„Drum will ich mein’ Ruh haben und will nichts wissen von Allem,“ sagte der Wirth und ergriff seinen Leuchter, weil eben die Bursche und Mägde allerseits von ihren Rundgängen zurück kamen. „Wenn’s auch sonst nichts abgeben thät, die Schererei ging doch wieder an und diesmal erst recht, denn der neue Amtmann, der Herr Baron, das ist Einer, der alle Krummen auf einmal gerad’ machen möcht’! Der thät mir’s in ein Wachs’l drucken, wenn ich in so was hinein käm’, und gerad’ jetzt muß ich ihn gut erhaltenm … Der Haselsteff, draußen am Eingang vom Wald, möcht’ eine Wirthschaft einrichten in seiner Gifthütten – wenn was heraus käm’ gegen mich, der Herr Amtmann gebet’ ihm die Concession, daß es nur so kracht, und leget’ mir das halbe Geschäft nieder mit ein’ einzigen Federstrich …“
„Ja wohl,“ sagte der Hausknecht, indem er mit pfiffigem Lächeln umhersah, ob Niemand zuhöre, „und das Mal kann’s doppelt schlimm werden … der Herr hat gewiß auch schon davon gehört …“
„Von was soll ich gehört haben?“
„Bei wem das Mal Haberfeld trieben werden soll … der Herr Amtmann soll auch d’runter sein!“
[690] „Mich trifft der Schlag! Und wegen was denn?“
„Das weiß ich nit recht … aber sagen hab’ ich hören, es wär’ wegen dem Waldstreit von der Osterbrunner Gemeind’ und von den Westerbrunnern…“
„Die Sach’ ist ja aus; sie haben ja einen prächtigen Vergleich geschlossen, der Aichbauern-Sixt hat ihn zuwegen ’bracht…“
„Just wegen dem Vergleich geht’s her … der Herr Amtmann hat an die Regierung einbericht’ und hat zu den Bauern gesagt, er hätt’ den Vergleich sehr gelobt und hätt’ dafür gesprochen, daß er genehmigt werden sollt’; die Bauern aber, denen viel d’ran gelegen ist, daß die Sach’ recht geschwind’ geht, haben gemeint, es könnt’ allemal nit schaden, wenn ein Bissel nachgeschoben würd’, und so haben sie eine Deputation in die Stadt hinein geschickt; da sind s’ aber schön an’kommen auf der Regierung, da wär’ ihnen bald der Kopf abgerissen worden: da hat’s geheißen, sie wären rebellische Unterthanen, und da ist’s heraus ’kommen, daß der Bericht gegen den Vergleich gelautet hat…“
„Wär’ nit übel, die G’schicht,“ sagte der Wirth immer unbehaglicher, „wenn so was passiren thät, da wollt’ ich schon gleich, ich wüßt’ ein Mausloch, daß ich mich drein verkriechen könnt’ die nächsten acht Tag’… Aber jetzt einmal fort,“ schloß er, zu den Uebrigen gewandt, „daß wir in’s Bett kommen, so lang die Sach’ noch gut ist … laßt’s Euch gesagt sein, daß mir Keins ein Licht brennt und Jedes eingesperrt bleibt in seiner Kammer… Wo ist denn die Franzi, die Kellnerin, daß man sie nicht zu Gesicht kriegt? …“
Auf die Erwiderung einer der Mägde, daß dieselbe längst in ihrer Stube sich eingeschlossen habe, schickte sich der Wirth zu gehen an, als der letzte der Knechte vom Stalle hergehuscht kam. „Pst!“ rief er, „ich glaub’ sie kommen, Herr … ganz schwarz zieht’s vom Wald da herüber…“
„So halt’ Euch still und macht mir Keins ein’ Schnaufer – vielleicht zieh’n s’ vorbei.“
„Ich glaub’ nit, Herr … sie kommen auch von der andern Seiten: es ist, als wenn sie auf’s Haus zu wollten!“
„Was?“ rief der Wirth und sank rathlos auf die Bank. „Mir fallen all’ meine Todsünden ein! Zu mir kommen s’? Das ist ja gar nit möglich!“
„Ob’s möglich ist, weiß ich nicht,“ sagte der Knecht, „aber da sind sie schon…“
Im Augenblick brach vor dem Hause wie mit Einem Schlage ein so betäubender Lärmen los, daß er wohl geeignet war, das verstockteste Gewissen aus dem Schlafe zu reißen und auch ein verhärtetes Gemüth erbeben zu machen. In das wüste Geschrei von ein paar hundert rauhen Männerstimmen mischte sich das Dröhnen von Eisenbecken und Blechdeckeln, die wie Heerpauken geschlagen wurden; Schellen klingelten, Glocken läuteten, Kuhhörner brüllten; Schuß auf Schuß krachte darein, als wäre in der Nacht ein wildes Gefecht entbrannt, und über das Klirren und Klappern und Rasseln hinaus schrillte ein so helles markdurchdringendes Pfeifen, daß es wohl begreiflich war, wenn das Landvolk vermeinte, die Hölle habe eine Schaar Teufel losgelassen und feiere eines der Feste, welche Pater Kochem im „Goldenen Himmelsschlüssel“ so auferbaulich beschreibt. Ueber der tobenden Schaar lag die vollständigste Finsterniß; eine einzelne Laterne schimmerte in der Mitte: nach allen Seiten hin aber war das Haus und der Platz mit Wachen besetzt, welche mit scharf geladenen Büchsen gespannten Hahns jeden Ankommenden zurückwiesen und deren Aufruf sich wohl Niemand widersetzt haben würde, denn es war bekannt, daß sie kein Bedenken trugen, dem Zudringlichen statt der Worte eine Kugel entgegen zu schicken.
Das Geschrei hatte zuerst nur in unarticulirten Rufen bestanden; allmählich wurden bestimmte Laute hörbar, verständliche Worte ließen sich vernehmen und bald brüllte es deutlich aus hundert Kehlen: „Heraus, Franzi ’raus! Kellnerin ’raus!“ Ein scharf gellender, Alles übertönender Pfiff erscholl; plötzlich verwandelte sich der Lärmen in die tiefste Grabesstille und eine mächtige, weithin klingende Stimme rief:
„Die Haberer sind da zum Haberfeldtreiben,
Ein Jedes im Haus soll ruhig bleiben:
Habt Acht auf’s Feuer und auf’s Licht,
Dann Niemanden ein Schaden g’schicht,
Zuvor aber wollen wir verlesen,
Ob Alle richtig da gewesen!“
Dem alten Brauche gemäß wurden nun die Anwesenden alle aufgerufen, aber unter lauter fremden, meist berühmten und angesehenen Namen, vermuthlich, um durch die Bedeutsamkeit der Geladenen der Versammlung selbst ein größeres Ansehen zu geben. Es waren Namen aus den ältesten Zeiten wie aus der Gegenwart, aus der Nachbarschaft wie aus den entlegensten Ländern und Orten; der Landrichter von Tölz, der Verwalter von Benedictbeuren, der Forstner von Bayerbrunn wurden aufgerufen und jedesmal antwortete ein kräftiges „Hier!“ Das Volk erzählt sich, wenn auf einen der aufgerufenen Namen das „Hier“ ausbliebe, wäre das ganze Treiben ungesetzlich und die Schaar würde augenblicklich, ohne einen weiteren Laut, auseinander stäuben; dennoch weiß es damit die andere Sage zu verbinden, daß immer um Einen mehr anwesend seien, als verlesen würden, und dieser Eine sei Niemand Anderes, als der Teufel selbst. Der Prälat von Weyarn, einem längst säcularisirten Kloster, kam an die Reihe, dann der Prinz Eugen, Kaiser Joseph und der Schmied von Kochel, Napoleon und der Frühmesser von Garching; zuletzt kam noch die Aufforderung an Kaiser Karl, auch zugegen zu sein und schließlich das Protokoll mit zu unterschreiben. Ein neuer Ausbruch des Lärmens und Schreiens folgte, wie ein Tusch einer höllischen Musik, vermischt mit neuem, verstärktem Rufen nach der Verfehmten, welcher das Strafgericht gelten sollte.
Franzi war indessen schon lange ruhig in ihre Schlafkammer gegangen, hatte sich ausgekleidet, ihr Nachtgebet gesprochen und war eben daran, das geweihte Wachsstöcklein auszulöschen und zu Bett zu gehen, als das Getöse losbrach. Erst horchte sie verwundert auf, aber sie konnte nicht lange im Zweifel sein, weder was es zu bedeuten habe, noch wem es vermeint war. Dennoch war ihr Anfangs zu Muth, als habe sie schon geschlafen und sei aus einem wüsten Traume aufgefahren und wisse sich eben nicht zurecht zu finden, ob sie wache oder jetzt noch in den Bildern des Traumes befangen sei. Bald aber kam ihr das klarere Besinnen und mit ihm ein so tiefes Gefühl unsäglicher Kränkung, des tiefsten Schmerzes und der vollsten Hülflosigkeit, daß ihr die Kniee brachen; sie knickte am Bette nieder und drückte das thränenüberströmte Angesicht schluchzend tief, tief in die Kissen. Aber in einem starken Gemüthe, wie das ihre, konnte die Wehmuth nicht von langer Dauer sein – der in ihre Seele gestoßene Stachel hatte die weiche Umhüllung durchdrungen und glitt ab an dem innern festen Kern, an dem Bewußtsein der Unschuld und der unverdienten Schmach. Der Gedanke schnellte sie mit Federkraft empor und stählte ihr das Herz; die Wehmuth wurde zum Groll und das leidende Gefühl der Kränkung zum aufflammenden Zorn. Sie stürzte aus der Kammer auf den Gang und hatte im Nu die Thür entriegelt und aufgerissen, welche zu dem kleinen Altane im Hausgiebel führte. Sie fühlte nicht, wie ihr die eisige Nachtluft entgegenströmte und sie am Gewand erfaßte und an dem halb aufgelösten Haar; sie kam eben recht, zu hören, als der Rugmeister beim Scheine der emporgehaltenen Laterne zu lesen begann:
„Bei ein’ Madel woll’n wir Haberfeld treiben
Und ihr das Sünden-Register schreiben;
Wir wollen’s der Gemeind’ und dem Gau erzähl’n,
Wie sie lügen kann und sich ehrbar g’stell’n:
Kaum daß sich ein Bub ’traut, sich an sie z’ wag’n,
Thut sie wie die Katz’ ihre Jungen vertrag’n,
Sie denkt sich, der Kuckuck versteht’s auf’s Best’,
Und legt ihre Eier ein’ Andern in’s Nest…“
Länger vermochte Franzi nicht, an sich zu halten, das Blut schoß ihr in’s Gehirn und vor die Augen, daß es um sie brauste wie Wassersturz und wie ein rother Flor ihren Blick umzog. „Was wollt’s von mir?“ rief sie mit schallender Stimme hinab, daß der Vorlesende verblüfft inne hielt. „Wer ist da, der was von der Franzi will? Ist das Eure ganze Kunst, daß Ihr hundertweis’ daher kommt, zu ein’ einschichtigen, armen Madel, das nichts hat, als sein’ Ehr’ und sein’ guten Namen? Wenn Ihr ’was habt gegen mich, so kommt nit bei der finstern Nacht und mit verstelltem Gesicht, kommt offen beim hellen, lichten Tag und wie Euch Gott g’schaffen hat! Ist Keiner unter Euch, der die Schneid’ hat dazu und das Herz? Dann seid Ihr Lügner alle miteinander und Verleumder! Dann geb’ ich’s Euch auf Euer Gewissen, was Ihr mir anthut, und wenn’s auf der Welt kein Recht mehr giebt und kein’ Gerechtigkeit … so verklag’ ich Euch bei unserm Herrgott, so sollt Ihr mir am jüngsten Tag Antwort geben, als ungerechte Richter…“
Bis hierher hatte das Staunen und die Ueberraschung der [691] Haberer vorgehalten, seit Menschengedenken hatte Niemand die Kühnheit gehabt, den unsichtbaren Richtern so entgegen zu treten und ihr Urtheil zu schelten, auch waren Franzi’s Worte und die Art ihres Auftretens bei Einzelnen nicht ohne Wirkung geblieben, bei der Mehrzahl aber machte das Staunen bald dem Zorne Platz, gesteigert durch die stille Beschämung, die Jeder mehr oder minder sich selber eingestehen mußte. Der Lärmen begann auf’s Neue wüster, wilder, vernichtender als zuvor…
In den Tumult hinein kreischte Franzi’s verhallende Stimme.
„So geht heim!“ rief sie. „Geht zu, Ihr Schandbuben! Und wenn bei Euch die Gewalt für Recht geht, kann ich mir auch selber helfen! Gebt mir ordentlich Red’ und Antwort oder ich schieß’ den nächsten Besten nieder, daß ich wenigstens Einen hab’, an den ich mich halten kann…“ Wie außer sich, sprang sie in den Hausgang zurück, riß das dort aufgehängte Jagdgewehr des Wirthes von der Wand und wollte auf den Altan zurück, aber während sie daran war, den Hahn aufzuziehen, fiel ihr von rückwärts der Wirth in den Arm, der wie ein Wahnsinniger heraufgepoltert kam, um dem unerhörten Vorfall ein Ende zu machen; ein paar Knechte stürmten hinterdrein.
„Das Gewehr her!“ rief er, mit der Widerstrebenden ringend. „Das ginge noch ab! … Ist die Keckheit noch nicht genug, daß Du die Haberer herausforderst und schimpfst – schießen willst Du auch noch, Du verfluchtes Leut? Willst Du, daß meine Kinder Bettelleut’ werden sollen wegen Deiner? Willst haben, daß sie einbrechen und anzünden und mein Haus dem Erdboden gleich machen in ihrer Wuth? … Riegelt die Thür nach der Altan’ zu, daß sie’s drunten sehen und wissen, daß wir nichts zu schaffen haben mit der nichtsnutzigen Person!“
Während die Knechte thaten, was ihnen geheißen war, drängte der Wirth mit roher Gewalt Franzi gegen die Treppe hin, um sie hinab zu zerren oder zu stoßen, wenn es nicht anders anginge, das entsetzliche Schicksal abzuwenden, von dem er sein Haus schon bedroht sah. „Marsch – hinunter mit Dir!“ keuchte er, „Hinaus aus mein’ ehrlichen Haus … wenn Du draußen bist, dann kannst reden mit die Haberer, so viel Du willst, aber bei mir herinn’ bleibst Du kein’ Viertelstund’ länger…“
Es war wohl nur zu begreiflich, wenn Franzi’s Erregung und Verwirrung sich immer mehr steigerte und nahe daran war, ihre sonst so klare Besinnung zu trüben. „Was – auch das noch?“ stammelte sie, im Ringen ermattend. „Hinaus soll ich? Mitten in der Nacht? Und warum? Auch wegen dem ehrlosen Gesindel, den Ehrabschneidern? … Nein, ich geh’ nicht, Du hast kein Recht, Wirth, mich wie einen Hund aus dem Haus zu jagen … ich bin ein ehrlicher Dienstbot’ …“
„Raisonniren willst auch noch?“ schrie der Wirth, während von draußen das Abschiedsgebrüll der Haberfeldtreiber hereintönte, welche inzwischen ihr Geschäft zu Ende geführt hatten und sich zum Abzuge anschickten. „Ein ehrlicher Dienstbot’ willst Du sein? Ein liederliches Weibsbild bist Du, eine schlechte Mutter, die ihr Kind weglegt … im Zuchthaus sitzen Bessere, als Du bist…“ Ein gellender Pfiff rief die Knechte von oben herbei… „Geht in ihre Kammer,“ fuhr er fort, „packt ihre Sach’ und ihr Gewand in ein’ Bündel zusamm’ … dann kommt ’runter, werft die schlechte Person aus der Thür und ihren Bündel hinterdrein! Das Wirthshaus an der Kreuzstraßen ist ein ordentlich’s Haus – da find’t Niemand seines Bleibens, bei dem Haberfeld ’trieben worden ist!“
Den rohen Burschen, die sich mitunter auch schon von Franzi’s unzugänglichem Wesen verletzt gefühlt haben mochten, war eine solche Gelegenheit, ihren Groll auszulassen, nur willkommen; das Bündel war bald gestopft und geknüpft – dann faßten sie mit derben Fäusten das Mädchen, das, von dem Ungeheuren, das über es hereinbrach, überwältigt, wie blöd und in halbem Wahnsinn sie gewähren ließ, als wisse es gar nicht, was mit ihm vorgehe. Mit beiden Händen in den losgegangenen Haarflechten zerrend, taumelte Franzi die Stufen des Hauses hinab in die Nacht, aus der ihr ein eisiger Nordwind entgegen blies und geschäftig das ferne Gejohle der abziehenden Haberer noch mit sich herüber trug.
Mit vergehenden Sinnen brach sie auf, den Bündel mit ihren Habseligkeiten zusammenraffend, und erst der immer schärfer andringenden Kälte des Nachthauchs gelang es, die Ohnmacht zu verscheuchen und sie allmählich zum Bewußtsein ihres Zustandes zurückzuführen.
„Ja – wo bin ich denn eigentlich?“ rief sie auffahrend. „Was ist denn mit mir geschehen? Ist denn das Alles wahr oder bin ich im Begiff ein Narr zu werden und bild’ mir das Alles nur so ein? … Nein, nein, es ist wahr, mein ganzes Elend ist wahr – sonst thät ich nit da liegen, mitten in der Nacht, auf dem offnen Feld … ich bin zu Grund gericht’, verschimpfirt auf mein Lebenlang … Und Er …“ fuhr sie weicher werdend im Tone des tiefsten Schmerzes fort, „er ist auch darunter unter meinen Feinden – er glaubt auch so was von mir, er kann’s glauben … er ist sogar der Anführer von Allem … o, das ist eine harte Nuß! Aber, muß es denn so sein? Muß ich das Alles über mich so hingehen lassen, wie den Wind da, der mich schier in Stück’ reißen will?“ – Sie sprang auf. „Nein, ich muß nit!“ sagte sie ermuthigt. „Ich muß mir’s nit gefallen lassen, daß man mich unterdrucken und untertauchen will… Sie müssen mich anhören und müssen mir meine Ehr’ wieder geben … und gleich jetzt, wo sie noch Alle beieinander sind, müssen sie’s thun … noch bin ich ja lebendig, noch kann ich mich rühren … noch ist’s zu früh zum Verzweifeln!“
Mit raschem Griffe faßte sie ihre Habseligkeiten zusammen, ordnete flüchtig das sturmgelöste Haar, warf ein Tuch über Kopf und Schultern und rannte in die Nacht hinein. Nach einer Weile hielt sie an, auf den Lärm zu horchen, der immer ferner verhallte. „Sie ziehen auf den Markt zu, scheint’s,“ flüsterte sie vor sich hin, „da hol’ ich sie nicht mehr ein, sie haben einen zu großen Vorsprung .., aber sie ziehen der Straß’ nach; wenn ich den Feldweg über die Hügel einschlagen thät und durch das Buchet hin … dann schneid’ ich ihnen die Reib’ ab … da kommen sie mir nit aus, da müssen sie mich hören …“
Wie gejagt vom Winde, der ihr nun in Rücken und Nacken blies, flog sie quer durch die Waldspitze, dann über moosiges Tiefland hin, nicht achtend, daß der Fuß nicht selten kaum so viel festen Boden unter sich fand, um flüchtigen Trittes hinüber zu kommen. Endlich war ansteigender Hügelgrund erreicht und keuchend eilte sie auf dem kurzen Grase eines Feldrains zwischen leeren Stoppelfeldern dahin, während seitwärts die Zweige eines Haselzaunes rauschten und schwankend die ersten dürr gewordenen Blätter verstreuten. Es ward allmählich heller, denn die Zeit kam heran, zu welcher der Mond aufgehen sollte, und wenn er auch hinter dem schwarzen jagenden Sturmgewölk nicht durchzudringen vermochte, zitterte doch ein ungewisser bleicher Lichtschein wie Dämmerung durch die Nacht. Immer mit ihren Gedanken beschäftigt, nicht selten einzelne Worte in ihrer Erregung vor sich hinmurmelnd, dachte sie daran, sich zurecht zu legen, wie sie sprechen wolle, mit welchen Worten sie am besten und schlagendsten den Beschuldigungen entgegenzutreten vermöge, – darüber hielt sie inne, wie unwillkürlich stockten die Füße, minder von der gemachten Anstrengung, als von dem lähmenden Eindruck eines plötzlich auftauchenden Gedankens.
Sie war stark und andauernd gelaufen; bereits war die letzte Hügelfläche erreicht, eine gemauerte Feldcapelle leuchtete ihr mit dem weißen Gemäuer entgegen; von drüben senkte sich der Weg in den tiefer gelegenen Markt hinab, von dort öffnete sich der erste Blick in die Welt der Berge, und das Bänkchen unter den beiden jetzt fast entblätterten Vogelbeerbäumen neben dem Capellchen hatte nicht blos vielen Andächtigen, sondern auch manchem Lustwandler gedient, der heraufgestiegen war, um Auge und Sinn zu erfrischen und zu erholen an dem herzerfreuenden Anblick. Die Thür war nur angelehnt. Franzi trat hinein, einen Augenblick der Rast und der Sammlung zu suchen und Schutz zu finden vor dem Winde, der auf die offene Hügelschneide mit doppelter Heftigkeit und doppelt erkältend hinwegsauste.
Am Altare kniete und kauerte sie nieder; ein grob geschnitztes Marienbild stand auf demselben, unter dem leeren Kreuze sitzend, den vom Stamme abgenommenen Leichnam des Erlösers im Schooße haltend. „Es geht doch nit!“ flüsterte sie in sich hinein, „ich bring’s nit zuwegen, wie ich’s ihnen sagen soll … ich kann’s nit, wenn nit Alles verrathen sein soll, und das darf ich nit und will ich nit … ich hab’s ja versprochen…“ Sie rieb sich die Stirn, als vermöchte sie, einen helfenden Gedanken daraus hervorzuholen; dann faltete sie, sich ergebend, die Hände über den müden aufgezogenen Beinen und blickte zu dem Bilde durch das Dunkel empor. „Ich mein’, ich werd’s wohl aushalten müssen,“ sagte sie leise. „O heilige Mutter da drohen, ich hab’ ja schon [692] so oft meine Zuflucht zu Dir genommen … Du hast ja viel Schrecklicheres ausgehalten, heb’ Deine Hand auf mein arm’s Herz, daß ich’s auch aushalten kann …“
Geräusch herannahender Tritte unterbrach sie; dazu war es, als ob Gewehre klirrten. Horchend richtete sie sich auf; eine Hand drückte an die Thür; sie ging nicht auf und eine Männerstimme sprach: „Das ist dumm – das ganze Jahr durch ist die Capellen offen bei Tag und bei Nacht … gerade heut’ muß sie verschlossen sein; es wär’ ein prächtiger Unterstand gewesen, denn der Wind blast einem wirklich durch Mark und Bein …“
Unhörbar, auf den Zehen tappte sich Franzi zu dem Eingang, um besser zu hören, dem Zufall dankend, der hinter ihr die Thür, die sich nur von innen öffnen ließ, in Schloß geworfen hatte. Durch einen schwachen Spalt in der alten wetterverzogenen Thür gewahrte sie die Umrisse zweier Gensd’armen, welche in ihre dunklen Mäntel gehüllt sich in die Eingangsnische drängten, einen Augenblick vor dem Unwetter Schutz zu finden.
„Zum Glück wird das Passen nicht lange dauern,“ begann der Eine wieder; „wenn sie überhaupt kommen, können sie nicht mehr lang’ ausbleiben.“
„Ich weiß nicht,“ antwortete der Andere, „mir ist immer, als wenn die ganze Passerei umsonst wär’. Die Haberer haben überall gar zu viel’ gute Freund’; gewiß ist ihnen schon Alles verrathen und sie kommen gar nicht. …“
Franzi lauschte athemlos mit immer höher steigender Spannung.
„Sonst mag es wohl so gewesen sein,“ begann der Erstere wieder, „aber diesmal sind wir ihnen doch zu schlau geworden – es weiß nur ein einziger Mensch darum, der es verrathen könnte, und der wird nicht eher losgelassen, als bis Alles vorbei ist!“
„Und wer ist das?“
„Der Nämliche, durch den wir Alles erfahren haben, der Nußbichler Alisi!“
„Der Haderlumper?“ rief der Zuhörende geringschätzig. „Wenn die Nachricht von dem herstammt, ist sie nicht viel werth – der Alisi ist ja ein Capitallump, bei dem selber schon Haberfeld getrieben worden ist; die Haberer sind doch sonst so stolz und es heißt, daß nur ganz ordentliche Männer und Bursche unter ihnen aufgenommen werden … ich kann mir’s nicht zusammenreimen, daß sie einen solchen Menschen in die Karten schauen lassen sollten, daß er etwas verrathen könnte!“
„Ich glaube das auch nicht,“ war die Antwort, „aber gewiß ist, daß er darum weiß; wie er es erfahren haben kann, mag der Himmel wissen. Vorgestern hat ihn der Brigadier im Neuwirthshause erwischt, wo er ein paar Tage nicht in’s Bett hinein und nicht mehr aus dem Rausche herausgekommen war. Dem Brigadier fiel das auf, er befragte und untersuchte ihn, konnte aber nichts Zusammenhängendes aus ihm herausbringen, dafür fand er in seiner Tasche eine Hand voll Doppelgulden … wie soll der Bursch’ zu dem vielen Gelde gekommen sein, wenn er es nicht etwa von den Haberern bekommen hat, daß er ihren Spion macht? … Er gab keine rechte Antwort darauf und stellte sich an, als ob er nicht recht bei Sinnen wäre, und erst wie er erfuhr, daß er eingesteckt werden sollte, da löste sich ihm die Zunge in etwas. Er that ganz wild und wollte durchaus losgelassen werden, denn er müsse auch dabei sein, er müsse sehen, wie es denen eingetränkt werde, die ihn mit Füßen getreten hätten … und aus seinen verwirrten Reden und halben Worten hat man es ihm herausgelockt, daß es diesmal auch auf den Herrn Amtmann gemünzt sein soll…“
„Freches Gesindel!“
„Nun, diesmal finden sie ihren Lohn; der Herr Amtmann ist nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt! In aller Stille hat er die Mannschaft von den umliegenden Stationen herbeigerufen, hat die Gerichtsdiener bewaffnet und die Bürgerwehr aufgeboten… Wenn sie es wirklich wagen, zu kommen, werden sie ganz ruhig heran gelassen, bis sie auf dem Platz neben dem Amt, wo sie allein in die Nähe kommen können, Alle beieinander sind, dann sind sie von allen Seiten umstellt und sitzen wie die Maus in der Falle oder das Wild im Netz – man braucht nur zuzuziehen…“
„Mir soll’s recht sein,“ rief der Andere wieder, indem er sich über die Mauer vorbeugte. „Ich habe schon lang’ einen Pik auf dies Bauernvolk, das jetzt überall den Herrn spielen möchte; ich bin dabei, wenn’s gilt, ihnen einmal das Handwerk zu legen… Aber horch … da drüben kommt es wirklich gegen den Markt heran; ganz schwarz zieht sich’s aus dem Buchenschlag hervor… Sie sind’s, sie kommen wirklich… Wir wollen zurück und melden …“
Wie versteint stand Franzi in ihrem Versteck, bis der letzte Ton der Fußtritte in der Ferne verhallt war, dann öffnete sie rasch die Thür und trat tiefathmend in’s Freie. Auf der Schwelle wendete sie sich noch gegen den Altar zurück und rief wie betend, mit vor der Brust gefalteten Händen: „So bin ich halt wieder nit umsonst bei dir gewesen, heilige Mutter … du hast mir den Zorn aus dem Herzen genommen und die Verwirrung … morgen, in aller Fruh’, geh’ ich in die Stadt, und wenn’s dort auch nit sein sollt’, irgendwo in der Welt wird’s doch ein Platzl geben, wo mich und meine Schand’ Niemand kennt, wo ich mich verstecken kann, und einmal wird ja doch die glückselige Stund’ schlagen, wo Alles aufkommt… Bis dahin will ich’s halt in Geduld ertragen, wie du deine traurige Last … ich will meine gestorbene Lieb’ auch so auf mein’ Arm nehmen und wie einen Todten an’s Herz pressen; ich will’s ausführen, was ich mir vorgesetzt, ich will aushalten, was ich übernommen hab’… Jetzt weiß ich, was ich zu thun hab’!“
An den Büschen des Feldsträßchens huschte sie niederduckend dahin, bis sie in die Nähe des schloßartigen Gebäudes kam, in welchem sich der Sitz des Amtes befand. Eine hohe Mauer umgab dasselbe und zog sich die schluchtartige Senkung entlang, zu welcher das Sträßchen hinabstieg; gegenüber war freies Land, in geringer Entfernung von Wald und Baumgärten eingehegt. Nach allen Seiten hin waren einzelne Bewaffnete vertheilt; der Amtmann sprach über die Mauer mit einigen, welche noch Meldungen gebracht hatten; die eine bestand darin, daß die Haberer eben an der andern Seite des Orts Halt gemacht, um vor dem einzeln stehenden Hause des reichen Meisters Staudinger demselben eine Rüge zu ertheilen, weil er sich hatte beigehen lassen, gefallenes Vieh auszuhauen und das Fleisch zu verkaufen. „Nun, ich denke, der Unfug soll wohl heute zum letzten Male stattfinden!“ sagte der Amtmann. „Die Rebellen, die Landfriedensbrecher verdienen keine Schonung … ich habe mir vorgenommen, der Sache ein Ende zu machen, und ich setze es durch, und wenn ich die Verkündung des Standrechts beantragen müßte! Gehen Sie nur Alle an die Ihnen angewiesenen Plätze und thun Sie pünktlich, wie Ihnen befohlen ist…“
Das Gebrüll des Haberfelds klang stärker heran; der Amtmann sah zu einem Fenster des ersten Stockwerks empor, an welchem, dicht in Pelz eingehüllt, eine weibliche Gestalt sichtbar war. „Hören Sie nur dieses infernalische Geheul!“ sagte er, „diese modernen Vehmrichter gehen sehr laut zu Werke – was sagen Sie dazu, ma mie?“
„Daß ich mich ennuyire,“ erwiderte die Dame; „die Sache ist einfach roh – ohne alle Romantik – das läßt mich kalt und ist den Schnupfen nicht werth, den man sich dabei holen kann …“ Sie schloß das Fenster und verschwand.
In Todesangst hatte Franzi am Anfang der Mauer im Gebüsche gelauert, sie durfte sich nicht regen, ohne durch das Rauschen der Zweige verrathen zu werden – jetzt endlich, da Alle sich entfernten, ward es ihr möglich, ihren Weg zu verfolgen. Sie faßte nach den Ranken eines überhängenden Hagdornstrauchs und achtete der Stacheln nicht, die sich blutig in ihre Hände drückten; es gelang ihr, daran hängend in den Graben nieder zu gleiten, der, ein Ueberrest früherer Befestigung, sich noch an der Rückseite des Schlosses hinzog, und dieses umgehend auf einem Umwege die äußern Häuser des Marktes zu erreichen.
Sie kam eben im rechten Augenblick; der Zug der Haberer bewegte sich schon die Anhöhe herab – trotz der Entfernung und des Dämmerdunkels fand sie den Gesuchten mit scharfem Aug’ sogleich heraus; hätte sie auch nicht gewußt, wer der Habermeister war, seine hohe ragende Gestalt hätte ihn für sie auf den ersten Blick kenntlich gemacht.
Er schritt allein, etwas den Uebrigen voraus, während der Vortrab und die Späher wieder in verschiedenen Entfernungen sich vertheilt hatten. Sein Gang war nicht so ruhig, seine Haltung nicht so gemessen, wie sonst; er blieb manchmal einen Augenblick stehen, wie Jemand, der sich auf etwas Vergessenes besinnt und schwankt, ob er zurückkehren soll, dasselbe zu holen; dann schritt er wieder vorwärts, rascher als zuvor, wie von innerer Hast und Unruhe gedrängt.
[705] Der Vorgang an der Kreuzstraße hatte Sixt in hohem Grade ergriffen und aufgeregt; wenn auch beklommenen Gemüths, war er doch mit gelassenem Entschlusse daran gegangen, sein schweres Amt an der Jugendgenossin zu üben, für die noch immer ein Rest alter Zuneigung sprach, so sehr er sich selber darüber zürnte und so eifrig er bemüht war, das zarte Pflänzchen wie immer nachwachsendes Unkraut aus seinem Herzen zu reißen. Was sollte er nun von dem Vorgefallenen denken? Wie konnte er es in Einklang bringen mit seinem grollendem Unwillen, wie mit dem unberufenen Mahner, der immer wieder in ihm leise Worte der Vertheidigung sprach? War es denkbar, daß Jemand mit schuldbeladenem Gewissen den Anklägern so entgegenzutreten vermochte? Konnte es der Schuld gelingen, so ergreifend, so täuschend Ton und Stimme der Unschuld, das Gebahren selbstbewußter Entrüstung [706] und tugendhafter Aufwallung zu erheucheln? Und doch mußte es so sein – konnte nicht anders sein – die Anschuldigung war zu bestimmt, der Beweis in Verbindung mit den allgemeinen Gerüchten, mit verschiedenen Anzeichen, mit dem sonstigen geheimnißvollen Benehmen des Mädchens war zu klar und unwiderleglich, als daß ein vernünftiger Zweifel dagegen zu bestehen vermochte. Hatte nicht der eigene Bruder, der ja auch ihr Jugendgenosse und Kindheitsgespiele gewesen, wie er, die schwere Anklage gegen sie erhoben? War er auch von anderer, versteckter Gemüthsart, die ihm nicht gefiel und die Brüder von jeher einander entfremdet hatte, so schlecht, ein solch’ heuchlerischer Bösewicht konnte er nicht sein, wissentlich ein falsches Zeugniß abzugeben, oder einen Zeugen dafür zu gewinnen. Früher oder später mußte dann die Unwahrheit doch an den Tag kommen, und dann hätte er, der für die Anklage Bürge geworden mit Haut und Haar, mit Gut und Blut, mit Ehr’ und Wehr, die furchtbarste Rache und Vergeltung von Seite des Gerichts zu erfahren gehabt, das er zur Verurtheilung eines Unschuldigen verleitet.
In solchem Zweifeln und Schwanken, immer bemüht, den glimmenden Unwillen in sich selbst zu neuer Flamme zu schüren, schritt er dahin … da rauschte es in dem Gebüsche neben ihm, ein Arm erhob sich aus den Zweigen und eine Hand winkte ihm zu, stille zu stehen.
„Halt!“ rief es halblaut dazu, „geh’ nit weiter, Habermeister, Du bist verrathen!“
„Wer da?“ rief er entgegen.
„Frag’ nit, das ist ja gleich; aber mach’ kein’ Schritt weiter … Du gehst in eine Falle!“
„Brauchst Dich nit zu nennen!“ rief er hinwider und aller verhaltene und kämpfende Groll loderte in ihm auf, „die Stimm’ kenn’ ich, wenn Du sie auch verstellst, wie Dich selber… Aber ich glaub’ ihr so wenig, als Dir! Meinst wohl, weil Du keck genug bist zum Leugnen, damit wär’s abgemacht? Wer das Andre gekonnt hat, wie Du, wird auch das zuweg’ bringen! … Was stellst Dich mir wieder in’ Weg? Ich hab’ nichts zu schaffen mit Dir … und wenn ich verrathen wär’, ich fürcht’ mich nicht davor und will’s von Dir nicht wissen! Und wenn ich von da aus schnurgerad’ hineinging’ in den Tod … ich thät’ nit umkehr’n, wenn ich’s Dir verdanken müßt’! Ich geh’ meinen Weg für mich allein … und wenn Du mir ein’ Gefallen thun willst, so mach’, daß ich Dich nimmer d’rauf antreffen muß…“
Die Schaar der Haberer kam nachgerückt, mit ihnen eilte er dem Schlosse zu gegen den Hohlweg.
Das Gebüsch hatte sich längst wieder geschlossen; unbeachtet und ungesehen war die Warnerin darin zusammengesunken. Es kam wieder über sie wie vor wenigen Stunden, als sie auf dem Altane des Wirthshauses an der Kreuzstraße stand; sie faßte wie unwillkürlich an die Stirn, als könnte sie die tobenden Bilder und Gedanken ergreifen und festhalten, die wie Boten des nahenden Wahnsinns durcheinander schwankten. „Er hat Recht, ganz Recht,“ murmelte sie, „daß er mich von sich stoßt … und ich hab’ auch das Herz nit, daß ich gerad’ heraus zu ihm red’, wenn er so zornig ist … aber ich kann doch nit fort, ich kann nit – das giebt ein Unglück…“
Indessen war der Zug, da die Wachen nichts Verdächtiges gewahrt hatten, in die Hohlgasse eingerückt und begann sich lautlos auf dem Platze an der Schloßmauer auszubreiten; eben wollten die Letzten herankommen, als ihnen plötzlich von allen Seiten Halt! Zurück! und Wer da? entgegen tönte; überall tauchten ihnen im Rücken dunkle Gestalten auf und angeschlagene Gewehrläufe blinkten ihnen entgegen.
Einen Augenblick herrschte vollständige Stille; die überraschte Schaar drängte sich zu einem Knäuel zusammen. „Antwort, oder es giebt Feuer!“ rief es wieder. „Wer da?“
„Kaiser Karl und das Habergericht!“ rief der Meister laut entgegen. „Wer untersteht sich und ruft es an?“
„Der das Recht dazu hat!“ tönte es zurück. „Es giebt keinen Kaiser und kein Habergericht im Land… Gebt Euch, Ihr Friedensbrecher, Ihr seid umringt!“
„Wir haben auch das Recht,“ begann der Habermeister wieder, „und eines, das schier so alt ist wie unsere Berg’ – und so sag’ ich: Auseinander, was uns im Weg steht! … Macht freie Bahn für das Habergericht!“
Er konnte nicht weiter sprechen; ein heißblütiger Bursche, dem die Verhandlung zu lange währte, Zufall oder Ungeschick rührten an den Hahn einer Büchse und aus dem Kreise der Haberer knallte ein Schuß gegen die Feinde hinüber…
Mit der Schnelligkeit eines Pulsschlages blitzte es auch bei diesen aus einem halben Dutzend Gewehre auf; die Kugeln der übereilten ziellosen Schüsse sausten in dem Laube der Bäume, ein paar Ausrufe zeigten aber, daß nicht alle ganz vergeblich abgeschossen worden. Die Wirkung der Salve war eine entscheidende, weil sie die unvorbereiteten Bauern vollständig überraschte und entmuthigte, da es unmöglich war, die Zahl der Gegner und somit die wahre Größe der Gefahr zu erkennen… Auch waren wohl die meisten bereit, einem nächtlichen Zuge, der ihnen völlig harmlos dünkte, beizuwohnen, aber ein förmliches Gefecht in dunkler Nacht gegen einen vielleicht weit überlegenen und nicht schonenden Gegner mitzumachen, reichte weder Muth noch Lust; ohne Befehl oder Losung abzuwarten, aus freiem Antriebe rollte die erst so trotzige Schaar sich auseinander und in wenigen Augenblicken war der Platz gegen den Wald hin mit dunklen fliehenden Gestalten bedeckt, denn es war beim ersten Andrange nicht schwer geworden, mit der Wucht des Anstoßes die Linie der Gegner zu durchbrechen und eine Gasse zu gewinnen. Hinter den Fliehenden drangen die Verfolger vor, eifrig bemüht, einen der Uebelthäter zu ereilen, ehe der schützende Wald ihn aufgenommen; wenige Minuten hatten zur völligen Zersprengung der Haberer hingereicht, und nur hier und da knallten und blitzten einzelne Schüsse durch die Nacht.
Beinahe der Einzige, der unerschüttert Stand gehalten und die Flucht seiner Genossen mit Grimm und Beschämung gesehen, war der Habermeister. Vergebens hatte sein unterdrückter Ruf sie aufgefordert, stehen zu bleiben, sich in Reihen zu schließen und wenigstens die Ehre eines geordneten Rückzuges zu wahren, sie hörten nicht auf ihn; auch war seine Thätigkeit und Aufmerksamkeit völlig von einem Ereigniß in seiner nächsten Nähe in Anspruch genommen worden. Er hatte seinen Standpunkt zur Seite des Platzes auf einer leichten Erhöhung unter einem hohen Kirschbaume genommen, wo er sowohl sehen, als gesehen werden konnte – wenige Schritte von ihm traf eine Kugel einen der Flüchtlinge, daß er mit gellendem Aufschrei emporschnellte und dann wankend und taumelnd beinahe hart vor seinen Füßen zusammenbrach.
„Herrgott,“ rief der Habermeister, „was ist denn das? Die Stimm soll’ ich ja kennen … Waldhauser, bist Du’s denn wirklich? Wie kommst denn Du daher, unter die Haberer?“
„Ich bin’s …“ stöhnte der Getroffene und fuhr mit den Händen nach dem blutüberströmten Angesicht. „O Gott … o Gott, meine Augen! Ich bin blind, ich bin zum Sterben getroffen… O Sixt, Bruder … um aller Heiligen willen, verlaß mich nicht…“
Sixt warf einen flüchtigen Blick auf die Umgebung; die Bewaffneten kehrten rings von der nutzlos gewordenen Verfolgung zurück und begannen den Kampfplatz zu durchstreifen – es bedurfte nur noch einiger Minuten, so mußten sie auch ihn erreichen; ein Krampf zog ihm das muthige Herz bei dem Gedanken zusammen – aber seine Würfel waren gefallen, er mußte ausharren … er konnte den verwundeten, mit dem Tode ringenden Bruder nicht verlassen…
„Sei ruhig, Waldhauser,“ sagte er, „ich geh’ nit von Dir, vielleicht ist Deine Wunde nicht so gefährlich, wie Du glaubst, ich will versuchen, Dich auf den Rücken zu nehmen und hinweg zu tragen.“
„O … o …“ wimmerte der Verwundete, „das ist Alles zu spät … für mich ist keine Hülfe mehr und keine Rettung … ich muß sterben, Bruder, ich fühl’s, der Tod dringt mir schon an’s Herz heran…“
Unschlüssig beugte der Meister sich zu dem Liegenden herab, dessen Besinnung unter heftigen Krämpfen zu schwinden begann; da huschte eine weibliche Gestalt hinter dem Baume hervor und drängte sich dazwischen.
„Du? Schon wieder Du?“ rief er beinahe zurücktaumelnd.
„Denk’ jetzt nit dran, daß ich’s bin,“ erwiderte das Mädchen, „mach’, daß Du fort kommst, im Augenblick sind sie da, der Weg an dem großen Holzbirnbaum hinunter ist noch frei.“
„Soll ich den Bruder in diesem Zustand verlassen?“ fragte er, noch immer kaum seinen Augen trauend.
„Ich fürcht’, dem hilft kein Mensch mehr, und was ein Mensch noch thun kann für ihn, ich will’s thun, ich will bei ihm [707] bleiben… Mach’ nur, daß Du fort kommst, eh’s zu spät wird…“
„Und Du bist es nochmal, die mich retten will!“ rief er schmerzlich ergriffen, „Du, Franzi, jetzt und heut’ und nach all’ dem, was ich Dir angethan hab’?“
„Sei nit hart drüber, Sixt,“ antwortete sie hastig, „aber ich thu’s nit Deinetwegen, ich will Dir auch gewiß nimmermehr in’n Weg kommen … ich thu’s nur, weil ich an Dein’ Vater denk’ und an Dein’ Mutter und an alles Liebe und Gute, was sie mir angethan haben … aber nur fort … fort…“
„Nein, ich gehe nit,“ sagte er in trotziger Aufwallung.
„So bleib!“ rief sie schmerzlich erregt. „Bleib’ und laß Dich fangen! Mach’, daß sie Dich finden, daß sie in Dir den Habermeister erkennen; in Dir … dem Aichbauern Sixt, auf den Alles mit Respect hing’schaut hat, der so stolz gewesen ist auf seinen unbescholtenen Leumund und Namen! Laß Dich in Ketten und Banden legen, wie einen Verbrecher, laß Dir den Proceß machen, wie einem solchen, und eine schwere, schwere Straf’ anthun, daß Deine braven Eltern sich vor Schand’ und Spott und Herzleid noch im Grab’ umkehren möchten…“
Einen Moment schwankte er noch; durchdringend, mit unbeschreiblichem Ausdruck, hing sein brennendes Auge an den Zügen des Mädchens; dann ergriff er rasch und fest dessen Hand, schüttelte sie und war im nächsten Augenblick hinter dem Gebüsch verschwunden.
Es war die höchste Zeit gewesen, unmittelbar darnach schlossen die Verfolger ihre Kette auch nach dieser Richtung ab.
Franzi kniete neben Waldhauser nieder, dessen tiefe, schmerzliche Athemzüge erkennen ließen, daß der Nebel der Bewußtlosigkeit noch einmal von seinen Sinnen zu weichen begann. Die Kugel war ihm an der Schläfe in den Schädel gedrungen und hatte die Augen zerstört, es war keine Hülfe, keine Hoffnung mehr für ihn. Der Unselige hatte dem Vergnügen, seine Rache voll gesättigt zu wissen, nicht zu widerstehen vermocht, hatte sich heimlich unter die Haberer an der Kreuzstraße gemengt und dann im Uebermuthe auch den übrigen Zug mitgemacht; als einen der Ersten, welche entflohen, hatte die Vergeltung ihn selber ereilt.
„Sixt …“ lallte er, zu sich kommend, „wo bist Du? Hast Du mich auch verlassen, Bruder?“
„Ich bin statt seiner da,“ sagte Franzi leise und sanft, aber so weich der Ton geklungen, wirkte er doch auf den Verwundeten, als hätte er den Posaunenruf des Weltgerichts vernommen. Entsetzt, von Krämpfen geschüttelt, wollte er sich aufrichten, aber er vermochte es nicht mehr, er fuhr nach dem Gesicht, als wolle er seine Sehkraft unterstützen, allein die vernichteten Augensterne gehorchten nicht mehr. „Wer?“ rief er beinahe kreischend. „… Franzi … Du? … O, mein Herr und Heiland … was für Schmerzen! Sterben … ich muß sterben, und Du … Du bist die Einzige, die bei mir bleibt…“
„Warum sollt’ ich nit? Aber sei nur gelassen, ich will sorgen, daß ich Dich wegbringen kann…“
„Zu spät!“ stöhnte er. „Aus ist’s mit mir … Alles aus. … Ich muß sterben, jetzt weiß ich’s gewiß… O ewige Gerechtigkeit … die Bürgschaft, die Bürgschaft! Geh’ von mir, Franzi, laß mich allein, Du weißt nit, was ich Dir gethan hab’…“
„Sorg’ nit um mich,“ sagte sie beruhigend, „wenn Du Dich so schlecht fühlst, denk’ an Dich selber und an Deine arme Seel’! … Bet’, Waldhauser, bet’!“
„Beten …“ rief er in undeutlichem Gemurmel… „Ja, ja, beten … ich hab’ ja viel gebetet in meinem Leben … und manchmal ist es mir Ernst gewesen damit! Und jetzt – jetzt … O du gekreuzigter Heiland…“
Er stockte; ein Gefäß in dem zerschmetterten Kopfe war nachgeborsten, eine abwärts dringende starke Blutung erstickte ihn.
Eine Weile blieb Franzi noch neben ihm knieen und betete leise. „Er hat’s überstanden …“ sagte sie dann, sich erhebend, „er braucht Niemand mehr auf dieser Welt… Ich kann auch fort; es wäre das Gescheidteste, wenn sie Niemand bei ihm finden, da hätt alles Fragen ein End’…“ Sie bückte sich, hob aus dem Grase einen abgefallenen dürren Ast auf, brach ihn in zwei ungleiche Theile und knüpfte diese in Kreuzesform übereinander … dann legte sie dem Todten die Arme auf der Brust zusammen und gab ihm das Kreuz in die Hände. „Er ist mit sein’ Namen hinüber in die Ewigkeit, unser Herrgott wird’s gnädig machen mit ihm!“
Sie huschte hinweg.
Das Gericht fand außer zerstreuten Kleiderfetzen und Waffenstücken nichts als einen verstümmelten blutigen Leichnam.
„Verwünscht!“ murrte der Amtmann und stampfte vor Entrüstung. „Eine so kostbare Gelegenheit und vergebens! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, den Rädelsführer in meine Macht zu bekommen … aber immerhin, mein Verdacht trügt mich nicht, ich weiß, wo der Kopf des Wurmes sitzt, und will nicht ermüden, bis er zertreten ist!“
Die Sonne eines der letzten Octobertage stand schon hoch gegen Mittag über dem Wirthshause an der Kreuzstraße, aber auf den kurzen, vergilbten Grashalmen, wie an den morsch werdenden grauen Stoppeln hing starker, weißschimmernder Reif und nur an der östlichen Seite, wo die Sonnenstrahlen schon länger zu wirken vermocht hatten, begann er zu schmelzen und von den dunklen Tannenästen in leuchtenden Tropfen nieder zu thauen. Der Himmel wölbte sich darüber in herbstlich klarer und völlig ungetrübter Bläue, denn ein scharfer Ostwind ließ nicht ab, jedes Federchen oder Flöckchen von Dunst, das sich etwa zur Wolke gestalten wollte, hinweg zu fegen und zu blasen, wie Stäubchen von einer Glasglocke. Gegen die Straßenkreuzung hin, wo der durchhauene Wald eine Lücke frei ließ, ragte ein Ausschnitt eines mächtigen Gebirgsrückens herein, weit in einen glitzernden Schneemantel gehüllt, dessen blaue Schatten wie Falten eines königlichen Gewandes die Umhüllung noch prächtiger und reicher herniederwallen ließen. Der Spätherbst hatte ernsthaft angeklopft und ließ erwarten, daß ein strenger Winter ihm rasch in die Fußstapfen treten werde.
Trotzdem war es an der Kreuzstraße wieder lebendig und bewegt, denn die günstige Lage machte das geräumige Gasthaus so recht zum Versammlungsorte der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung geeignet; die nach vier Richtungen auseinander laufenden oder von ihnen herführenden bequemen Straßen machten den Verkehr kurz und leicht und bildeten in ihrer Kreuzung eine Art Mittelpunkt, welcher von vielen rings umher gelegenen Weilern und Ortschaften unschwer zu erreichen war, ohne daß den Bewohnern des einen zugemuthet werden mußte, einen weiteren Weg zu machen, als die eines andern zu machen hatten. Die Gesellschaft war aber diesmal im Hause versammelt; in der großen Zechstube drängte sich’s wie in einem Ameisenhaufen und summte wie in einem Bienenkorbe, der sich zu schwärmen bereit macht.
Nur ein Einziger zog es vor, trotz der empfindlichen Kühle lieber im Freien zu verweilen, als den Dampf der qualmenden Stube einzuathmen; das war der Lehrer von Osterbrunn. Gemächlich schritt er die Zaunhecke des Gartens entlang, musterte die Kronen der darüber emporragenden Apfelstämme und der vielen darunter niedriger aufstrebenden Zwetschenbäume und sah es mit Bedauern, wie viele Fruchttriebe an den erstern vom Frost verkümmert waren und wie sehr die letztern einer sorgenden Hand bedurft hätten, sie von dem überwuchernden grünen Moose und den breiten grauen Flechtenblättern zu befreien. So kam er zu der Ecke neben den Stufen des Eingangs, wo es sonnenwarm war und windstill zugleich; er ließ sich seinen Krug herausbringen, zündete die Pfeife an und sah dem Ringeln der Rauchwölkchen zu, welche in der reinen Herbstluft aufwirbelten, um zu verflattern, und so vergnügt sein Antlitz vorerst dabei geschienen, so düster ward es allgemach, denn in das Behagen an den Ringen und andern krausen Gestalten des Rauches drängte sich gar bald die Betrachtung ihrer Vergänglichkeit und es war nahe daran, daß darüber die Pfeife völlig ausging.
Gruß und Zuruf weckten ihn aus dieser nachdenklichen Stimmung; der alte Bauer mit dem weißen Schnauzbart mochte nach seinen Gäulen gesehen haben und kam vom Stalle herangegangen. „Grüß Gott, Herr Lehrer,“ rief er ihm zu, „laßt Ihr Euch auch einmal wieder sehen? Und ist es Euch nicht zu kalt im Freien?“
„Ich hab’ noch einen Gang durch’s Gau gemacht,“ erwiderte der Lehrer, „in ein paar Tagen fangt das Schulhalten wieder an – d’rum wollt’ ich zuvor noch einmal alle Gärten beseh’n und die Bäume d’rinnen, an denen mir was gelegen ist oder wo der Herr einen guten Rath annehmen will: es giebt gar viel’ Stämmchen, die man vor der Kälte einbinden oder ein Geheg von Dornhecken [708] darum hermachen muß, daß nicht im Winter die genäschigen Hasen kommen und fressen die Rinde ab; es ist, als ob es heuer bald einwintern wollte, der Schnee und die Kälte können da sein über Nacht…“
„Ja, ja, es ist merkwürdig,“ sagte der Bauer, „wie’s gehen kann und wie oft in der Geschwindigkeit ’was daher kommt, an das kein Mensch denkt! Wann ich denk’,“ fuhr er bedächtig um sich blickend fort, „daß es noch keine völligen vier Wochen sind, seit wir uns ’troffen haben und bei einander da g’sessen sind, so sollt’ man’s kaum für möglich halten! Wissen Sie’s noch, Herr Lehrer, es ist gerad’ an dem nämlichen Tag gewesen, wie die Waldbegehung hat sein sollen wegen dem Westerbrunner Grenzstreit… Was ist seit der Zeit Alles passirt und was hat sich Alles verändert seitdem! Die schöne Kellnerin, die Franzi, die wir Alle für so brav gehalten haben, hat einen Besuch gekriegt von den Haberfeldtreibern, gegen die sie selbigesmal so aufbegehrt hat; sie ist mit Schimpf und Schand’ davon gejagt worden und seitdem weiß kein Mensch, wo sie hinkommen ist…“
Dem Lehrer war die Pfeife wirklich kalt geworden. „Also ist es dennoch wahr?“ sagte er kopfschüttelnd. „Man hat nichts mehr von ihr gehört?“
„Kein Sterbenswört’l… Die Einen meinen, sie sei fort in ein anderes Land; die Andern meinen gar, sie hätt’ sich ein Leid’s angethan in der Desperation! Du lieber Gott, unmöglich wär’s gerade nit, denn es ist ihr hart genug gegangen, – aber wer hätt’s auch geglaubt, daß sie, die so schön hat thun können, ein solches schlechtes Leut’ sein könnt!“
„Ich glaub’ es immer noch nicht,“ sagte bedächtig der Lehrer, „ich hab’s wohl schon erlebt, daß ein Wildling, den ich oculirt habe, zwei-, dreimal hintereinander nicht hat anschlagen wollen und ist ein Wildling geblieben nach wie vor, aber was einmal ein richtiger Baum ist von einer Edel-Sorten, der kann zu Grunde geh’n, aber er kann nicht aus der Art schlagen und auf einmal anfangen, Holzäpfel zu tragen!“
„Ja ja, das werden Sie wohl am Besten versteh’n, Herr Lehrer!“ nickte zustimmend der Bauer. „Mich soll’s freuen, wenn Sie Recht behalten thäten … aber es ist halt doch einmal bei ihr Haberfeld ’trieben worden und das bringt sie ihrer Lebtag nimmer von sich weg, fürcht’ ich alleweil! Man irrt sich halt diemalen gar stark in den Leuten! Was ist der Herr Waldhauser für ein gesetzter und gottesfürchtiger Mann gewesen! Wer hätt’s von dem für möglich gehalten, daß er unter die Haberer wär’ und hinterm Zaun sterben thät, ohne Beicht und Absolution! … Und das ist noch nicht Alles! Selbigesmal ist ja auch noch der Herr Staudinger dagewesen, der dicke Viehhändler, der immer auf die Franzi seinen Pik gehabt hat, und der Nußbichler Alisi, der Haderlumper, wegen dem es ja eigentlich her’gangen ist!“
„Was ist’s mit diesen Beiden?“ fragte der Lehrer.
„Das wissen Sie nit?“ rief der Alte verwundert. „Bei dem saubern Herr Staudinger ist auch getrieben worden! Hat der Mann alleweil über uns gespöttelt und uns dumme Bauern geschimpft – ja, so gescheidt sind wir freilich nit, daß wir das Fleisch von verrecktem Vieh unter die Würst’ hacken lassen und für ein gutes essen! Der schlechte Mann – aber er hat sein Theil ordentlich ’kriegt und ist auch auf und davon! Er hat sein Haus und Alles zurück gelassen, wie’s geht und steht, und wird sich wohl nit getrauen, seiner Lebtag wieder zu kommen!“
„Vielleicht hat das Vorgefallene sein Gemüth erschüttert – dann hat das Haberfeld immerhin auch etwas Gutes gestiftet!“ meinte der Lehrer.
Der Bauer lachte und kraute sich unter’m Hute. „Dasselbe glaub’ ich kaum,“ sagte er, „ein bissel Erschüttern giebt bei dem nit aus, da müßt schon ein klein’s Erdbeben kommen! Da möcht’ ich noch eher glauben, daß der Nußbichler Alisi noch einmal gescheidt wird und gut thut, wenn’s auch jetzt gar nit den Anschein dazu hat! Den haben s’ jetzt hinter Schloß und Riegel gesetzt, weil er ganz unsinnig worden ist und durchaus sein ehemaliges Güt’l, das jetzt wieder versteigert werden soll, wieder haben möcht’…“
„Daran sehe ich nichts Unsinniges…“
„Freilich nit, Herr; aber sie haben heidenmäßig viel Geld bei ihm gefunden und er kann sich nit ausweisen, woher er es hat, und daß er’s geschenkt bekommen hat, wie er erzählt, das glaubt ihm Niemand – sie meinen halt, er hätt’ es irgendwo mitgeh’n lassen oder hätt’ gar Jemand’ ausgeraubt; darum haben sie ihm das Geld abgenommen, haben ihn eingesperrt und über dem ist er völlig ein Narr’ worden – ein halbeter ist er eh’ schon lang gewesen…“
Wachsendes Geräusch aus der Gaststube unterbrach den Redefluß des Alten.
„Sie rücken die Stühle,“ sagte der Lehrer, „sie scheinen mit der Vorsteherwahl zu Ende zu sein…“
„Wohl möglich,“ erwiderte der Bauer, „da kommt auch schon der Bediente vom Herrn Amtmann und läßt anspannen – sie sind wirklich schon fertig. Ja, die Westerbrunner haben’s leicht, die wählen eben den alten Finkenzeller wieder; da beißt die Maus kein’ Faden ab – aber wie’s jetzt bei uns Osterbrunnern geh’n wird… Sie wissen ja, über acht Tag’ ist die Vorsteherwahl bei uns…“
„So? Ich weiß es nicht – der Herr Amtmann hat dafür gesorgt, daß ich nicht mehr dabei zu functioniren habe; er läßt alle Protokolle von seinem Actuarius schreiben.“
Der Alte sah sich vorsichtig um; als er Niemand in der Nähe gewahrte, fuhr er leiser fort: „Ja, ja, der Herr Amtmann laßt sich nicht umsonst ein’ gestrengen Herrn heißen … aber wenn Sie mich nit verrathen wollen, Herr Lehrer, will ich Ihnen noch was Neues sagen … es soll nimmer so sicher und fest sein mit ihm, wie zu Anfang… Der Bericht wegen dem Waldvergleich und das Haberfeld dazu, die sollen die Herren von der Regierung bös verschmacht haben … es heißt gar, sie wollen einen Commissari schicken, der Alles an Ort und Stelle untersuchen und verhören soll… Da ist er richtig schon!“ rief er abbrechend. „Der hat’s ja heut’ gewaltig eilig – ich will noch geschwind in’s Haus hinein, ich mag ihm nit in die Hand laufen, er ist nit gut zu sprechen auf uns Osterbrunner von wegen der Deputation…“ Er wollte nach dem Hause zurück, aber es war schon zu spät, er mußte an seinem Platze bleiben, denn der Amtmann schritt bereits die Treppe herab, die Uniformmütze auf dem Kopfe und in einen stattlichen Marderpelz gehüllt, über welchen der gestickte Kragen der Amtskleidung emporstand; hinter ihm, den Actenbündel unter’m Arm, den Hut auf dem Kopf, schritt der Actuarius; diesem folgten in weitem Kreise mit entblößten Häuptern nachdrängend die Gemeindemitglieder von Westerbrunn.
Gleichzeitig eilte noch ein Bauer von der Straße her dem Hause zu, eine hohe Gestalt, aber mit nachdenklich gesenktem Haupte, so daß er die Anwesenden nicht eher gewahr wurde, als bis er nahe vor ihnen stand; auch diese, zu sehr mit der Abreise des mächtigen Beamten beschäftigt, bemerkten ihn nicht. Der Amtmann war bereits unten angelangt, während der Kutscher noch vollauf beschäftigt war, die Stränge der Pferde an den Wagen zu knüpfen; der Wirth, der vorausgesprungen war, hatte den Schlag aufgerissen und stand nun in unterwürfiger Haltung daneben, unter’m Arm die zerknitterte Mütze.
„Freiherrliche Gnaden eilen ja heute über die Maßen,“ sagte er mit tiefem Bückling, „es thut mir unendlich leid, daß ich nicht die Ehr’ haben soll über Mittag …“
„Es paßt nicht, Herr Wirth,“ entgegnete der Amtmann kalt, „die Spitzen der Behörden können nicht wohl außerdienstlich in einem Hause verweilen, wo so bedenkliche Dinge vorgehen. Sie werden zu thun haben, bis Sie die Scharte auswetzen und den guten Ruf Ihres Hauses wieder herstellen. … Sie werden es nur können, wenn Sie Anstifter und Theilnehmer des schändlichen Unfuges ermitteln, der auch vor Ihrem Hause verübt wurde. …“
„Aber wie soll ich…“ stammelte der betroffene Wirth.
„Ihre Sache, mein Lieber, nicht die meine,“ erwiderte der Beamte, indem er den Blick leicht im Kreise herum gleiten ließ; er gewahrte den zuletzt Gekommenen, aber keine Miene, nicht ein Zwinkern des Auges verrieth, daß er ihn erblickt. Im ruhigsten Tone sprach er weiter, halb zu den Westerbrunnern zurückgewandt. „Das Amt kann sonst nichts thun, als Andeutungen geben, als leiten, wo man sich leiten lassen will; die Ausführung selbst muß in diesen Zeiten der Selbstregierung den Unterthanen … will sagen, den Staatsangehörigen überlassen bleiben. Es ist immer gut und bequem, sich leiten zu lassen … Ihr Männer von Westerbrunn werdet es erfahren, weil Ihr meinen Andeutungen gefolgt seid und die Persönlichkeit zum Vorsteher gewählt habt, welche dem Amte als die geeignetste erschien! Ihr steht mitten drinnen und seht, so zu sagen, den Wald vor [709] lauter Bäumen nicht; Ihr seht wohl die Wurzeln und den scheinbar gesunden Stamm. Das Amt steht über Euch, auf der Höhe und sieht es schon von Weitem, wenn ein Baum anfängt, gipfeldürr zu werden. … Ich bemerke auch einige von den Osterbrunnern unter den Anwesenden; über acht Tage ist die Reihe der Wahl an ihnen und ich hoffe zuversichtlich, daß sie mir Gelegenheit geben werden, ihnen das Lob gleich guter Gesinnung zu ertheilen. Die Wahl des Vorstehers ist unbezweifelt einer der wichtigsten und entscheidendsten Vorgänge im gemeindlichen Leben … völlige Unbescholtenheit, der tadelloseste Leumund sind vor Allem das Erforderniß eines Mannes, dem mit diesem Ehrenamte das Wohl und Wehe und die Ehre der ganzen Gemeinde in die Hand gegeben werden soll. … Sie stimmen sicher darin mit mir überein, Herr Aicher von Aich?“ fuhr er fort, indem er sich plötzlich gegen den Ankömmling wandte, als habe er ihn erst in diesem Augenblick bemerkt. „Sie haben sich lange nicht sehen lassen, mindestens nicht so geradezu – es ist auch wohl begreiflich … Sie haben während dieser Zeit Gelegenheit gehabt, in Ihrer Familie recht betrübende Erfahrungen zu machen, bezüglich deren ich nicht umhin kann, aufrichtigst zu condoliren …“
„Ich danke sehr für Ihr Beileid, Herr Baron,“ entgegnete Sixt finster und kurz. „Der Tod meines Bruder hat mich allerdings schwer getroffen …“
„Natürlich! Zumal unter so befremdlichen und geheimnißvollen Umständen!“ fuhr der Amtmann im Tone eifriger Theilnahme fort. „Und dazu noch all’ die anderen unerklärlichen Ereignisse! Das räthselhafte Verschwinden Ihrer Ziehschwester, welche allgemein bezichtigt wird, das Verbrechen der Kindesaussetzung begangen zu haben! Wie schmerzlich muß Sie das Alles berühren – ich weiß ja, auf welch’ vertrautem Fuße Sie mit ihr standen! Haben auch Sie keine Spur der Vermißten?“
Dem Aichbauern schwamm es vor den Augen; er erbebte vor Grimm, die schlecht verhehlten boshaften Angriffe, die er wie Dolchstiche fühlte, abzuwehren, aber er übersah Ort und Umgebung und bemeisterte sich. „Keine,“ sagte er gelassen, „obwohl ich weder Zeit noch Mühe und Kosten gescheut! …“
„O, das glaube ich Ihnen ohne Betheuerung!“ rief der Beamte wieder. „Seien Sie auch meiner lebhaftesten Mitwirkung versichert und sehen Sie in dieser Sache ein lebendiges Beispiel, wie wenig die in unseren Tagen gepriesenen Neuerungen das wirklich leisten, was sie verheißen! Wären noch wie früher alle Fäden in Einer Hand vereinigt, dann wäre es ein Kinderspiel, den Schleier zu lüften, der über all diesen Ereignissen liegt, und den Zusammenhang herauszufinden, der ohne Zweifel zwischen ihnen besteht; seit der leidigen Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung müht sich jede in ihrem Kreise vergeblich ab; es [710] fehlt das rechte schlagende Zusammenwirken und Ineinandergreifen. Aber auch unter den jetzigen Verhältnissen werde ich Ihnen zeigen, wie sehr ich mich für einen solchen Mann und eine solche Familie interessire … ich denke Ihnen bald den Stammbaum des verlassenen Kindes auf dem Oedhofe vorlegen und auch zu der Bekanntschaft des neuen Habermeisters verhelfen zu können, unter welchem das liebenswürdige Institut einen so schönen neuen Aufschwung nimmt … Vielleicht bin ich schon über acht Tagen bei der neuen Vorsteherwahl in der Lage, darüber recht anziehende Einzelheiten mittheilen zu können …“
Während der letzten Worte hatte er den Wagen bestiegen und sich bequem darin zurecht gesetzt; dann nickte er noch herablassend, griff leicht an die Mütze und winkte dem Kutscher, abzufahren. Bald war er die Kreuzung dahin geflogen und im Walde verschwunden, aber noch immer standen die Bauern unbeweglich da, sahen einander verblüfft an und vergaßen darüber sogar die Hüte wieder aufzusetzen, so frostig es ihnen um die Köpfe blies. Erst allmählich besannen sie sich und gingen bedächtig in die Zechstube zurück.
Eine Weile noch stand Sixt allein, wie betäubt von einem Donnerschlage, der auf sein Haupt niedergerollt, vergessend, was er im Sinne gehabt und was ihn hergeführt. „Er hat’s sich vorgenommen,“ murmelte er knirschend, „er will mich zu Grund’ richten, und ich seh’s kommen, daß er nicht ruht, bis er es erreicht hat! … Sieh da, Herr Lehrer,“ fuhr er, wie zu sich selber kommend, auf, als sich derselbe theilnehmend näherte, „Sie kommen mir gerade recht … Sie haben mir oft gesagt, daß Sie etwas auf mich halten …“
Der Lehrer ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Ich sollte meinen,“ sagte er, „das brauchte ich Ihnen nicht erst zu beweisen; aber ich bin bereit dazu, wenn der Rath eines alten Baumzüchters Ihnen von Nutzen sein kann. Was haben Sie nöthig – ein Mittel gegen Raupen, welche die schöne Blätterkrone abfressen und die Blätterkeime dazu, oder gegen den Wurm, der sich durch Rinde, Bast und Holz einbohrt bis in das Mark?“
„Beides, Beides!“ rief Sixt, „rathen Sie mir, wie ich das Mittel finde, und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, der Baum und seine Frucht sollen Ihnen Freude machen; kommen Sie mit mir, wir gehen den Wald hindurch bis zur Mühle, dort wartet mein Fuhrwerk auf mich! So schnell, als manche Leute meinen, wollen wir uns jedenfalls nicht verloren geben …“
[721] Der erste November und mit ihm Allerheiligen war gekommen und hatte wieder das große alljährliche Todten- und Gräberfest mitgebracht, das vielleicht an keinem andern Orte so allgemein und mit solcher Feierlichkeit begangen wird, wie in der Stadt München. Der Himmel hatte sich in ein tiefes Grau gehüllt, als läge auch ihm daran, Zeichen der Trauer zu zeigen; die Luft war windstill und mild und trug mit den von ihr getrockneten Wegen dazu bei, die Zahl derer zu vermehren, welche Alle dem großen Kirchhofe zuströmten, Manche mit Herzen voll liebenden Gedenkens und mit Augen, die im Widerschein der Erinnerung erglänzten, die Meisten wohl, weil es die Sitte des Tages so mit sich bringt und weil das Getreibe und Gedränge so gut ein Schauspiel und eine Kurzweil abgab, wie ein anderer mehr weltlich fröhlicher Anlaß. Je mehr die Menge sich dem Gottesacker näherte, desto mehr war der Weg von großen und kleinen Laden und Buden besetzt, welche mit allem Gräberschmuck Handel trieben, vom kleinsten Kränzchen an, aus grauem Moose gewunden und mit Papierrosen besteckt, bis zum prachtvollsten Blumengewinde, das dem Pinsel eines Künstlers Ehre gemacht hätte; vom stattlichen in Stein gehauenen Denkmal mit Urne, Säule oder Sarkophag bis zum einfachen Holzkreuz, auf dessen schwarzem Anstrich nur ein gedrucktes Heiligenbildchen klebte. Drinnen aber, innerhalb der langhin gestreckten Umfassungsmauern prangten die ernsten Grabhügel und die Denkmale auf ihnen in aller Zier, welche sinnige Liebe, reiche Pracht und auch prahlender Ungeschmack zu erfinden vermögen. Während die Hügel der Aermeren sich begnügten, wenn die Erde frisch aufgeharkt, mit einem Kranze von Immergrün eingefaßt, oder mit Buchstaben und Kreuzen aus Asterköpfen oder rothen Vogelbeeren belegt ward, waren die Gräber der Reichern in prachtvolle Gärten verwandelt und manches Treib- und Gewächshaus war geleert, die Stätte des Todes unter Blumenstöcken, Blattpflanzen und seltenen Sträuchern zu verbergen. Um Kreuze und Denksteine schlangen sich Gewinde und Kränze, hier aus den kostbarsten, für die Jahreszeit doppelt seltenen Blumen gebunden, beinahe zu schön für einen so vergänglichen Schmuck, dort mit haushälterischem Sinne aus dauernden Immortellen gewunden oder wohl gar aus bemaltem Blech geformt, um mit der Zierde die Dauer zu vereinen. Dazwischen flatterten Trauerflöre oder rauschten schwarze Bänder; in farbigen Glasglocken brannten düstere Ampeln und wo diese mangelten, fehlte doch selten das Licht, so wenig wie das Kesselchen mit Weihwasser, die angezündet und ausgesprengt werden zum Troste der „Armen Seelen“, deren Andenken der Tag gewidmet ist. Zwischen den Gräbern saßen allerlei Leute, Greise und alte Mütterchen oder kränkliche Personen, welche, anderer Arbeit und andern Erwerbs unfähig, sich verdungen hatten, die Gräber und deren Putz den Tag über zu hüten und nicht abzulassen im ständigen Gebete für die „abgeschiedenen Christgläubigen“, die vielleicht noch zu büßen und zu schmachten haben in den Flammenqualen des Fegefeuers.
Nur an der einen Seite des großen Todtenfeldes sah es minder festlich aus; die Schaaren der Besuchenden zogen hier achtlos vorüber und nur selten wandelte der Fuß eines Einsamen zwischen halb eingesunkenen übergrasten Hügeln hin. Blos hier und da erhob sich ein für die Dauer berechneter Denkstein. Blos auf einigen wenigen Erhöhungen stand noch ein halbverwittertes Holzkreuz, an Einem war sogar eine Tafel angebracht, worauf verzeichnet stand, daß dieses Andenken nur ein Vorläufiges sein und nur dauern solle „bis zur Errichtung eines Monuments“, aber sei es, daß die Angehörigen dem Todten selbst unerwartet bald nachgefolgt waren, oder daß sie, von der Zeit geheilt, mit ihrem Schmerz auch ihr Vorhaben vergessen hatten … die schwarze Tafel stand noch immer verheißend da und das Monument war unerrichtet geblieben. Es war jene Abtheilung des Kirchhofs, welche, schon seit Jahren gefüllt, nun dazu bestimmt war, wieder umgegraben und mit neuen Gräbern bepflanzt zu werden.
Jenseits des Weges, an schön verzierten Gräbern saßen ein paar Grabhüterinnen, die Rosenkränze in den Händen, und ließen eifrig murmelnd die schwarzen Betkorallen daran niedergleiten; das hinderte sie jedoch nicht, auch dem, was um sie her vorging, einen beobachtenden Blick zu schenken und in ihre Andacht manchmal eine kleine Gesprächsunterhaltung einzuflechten.
„Gieb uns heut’ unser tägliches Brod … siehst Du, Schärdingerin,“ sagte die Eine, „… da kommt er schon wieder, der dicke Alte … dort beim Eisengitter am Seiteneingang steht er und schaut sich um, als wenn er auf ’was warten thät…“
„Alt ist er wohl,“ erwiderte die Andere, nach dem Eingang hinüber blickend, „aber dick ist er nicht, das Gewand hängt ihm ja nur so am Leib, wie an einem Kleiderstock. Wer ist er denn und was will er?“
„Wer er ist, weiß ich nicht, aber er war heut’ morgens schon da und hat da herumgefragt, er sucht ein Grab aus der Cholerazeit…“
„Aus der Zeit liegen freilich die Meisten da in dem Revier herum! Du lieber Gott, wie feindselig der Mensch d’reinschaut [722] und wie er daher wankt – der geht nicht irr, wenn er sich bald selber um ein Plätzel umsieht!“
Die Bemerkungen der beiden Alten waren wohl begründet, und wer den hinfälligen Mann betrachtete, der sich an das Eisengitter lehnte, um die müden schmerzenden Beine ein wenig ausruhen zu lassen, der hätte wohl Mühe gehabt, in ihm den rüstigen Meister Staudinger zu erkennen, der noch vor wenigen Wochen so kerngesund da gestanden war, wie ein Baum im Holz. Aber wie bei einem Baum hatte eine einzige Nacht hingereicht, mit ihrem Reif das Laub zu verbrennen, daß er am Morgen da stand mit rothen welken Blättern statt der grünen und daß es nur eines leisen Hauches bedurfte, sie vollends fallen zu machen. Das war die Nacht gewesen mit dem Haberfeld. In seiner sorglos übermüthigen Behaglichkeit hatte ihn der Lärm im warmen Bett und im tiefen Schlaf überrascht; das Entsetzen hatte ihn plötzlich emporgeschüttelt, die Angst hatte ihn schlecht verwahrt hinausgejagt in die kalte, windige Nacht, er fürchtete, die Rächer würden sich nicht begnügen, ihn nur verhöhnt und gerügt zu haben; er sah sie schon gegen das Haus andringen, er hörte in seiner Verwirrung schon die einstürzende Thür krachen und entfloh. Seitdem war es mit unsäglichen Leiden über ihn gekommen, der Schrecken und die Erkältung waren ihm in die Glieder gefahren, daß er sich in wenigen Tagen zum Schatten abquälte, gefoltert von den wüthendsten Schmerzen und noch mehr von innerm Grimm über das ihm Widerfahrene und dem Gefühl seiner Ohnmacht, sich dafür hinwieder Vergeltung zu verschaffen und Rache. Mit der Kraft des Körpers brach, wie er dagegen auch ankämpfen mochte, nach und nach der starre Trotz seines Gemüthes, wie der Schnee weich und mürbe wird, noch lange ehe es der Frühlingssonne gelingt, ihn zu schmelzen. So sehr er sich immer hinter die Wolken seines Zornes barg, er konnte nicht verhindern, daß auf einen Augenblick der Himmel hell ward über ihm, und wenn er sonst auf seinem Schmerzenslager von den Unternehmungen träumte, die er noch auszuführen gedachte, wenn er unter Flüchen und Verwünschungen den Frühling herbeisehnte, um in einem heißen Bade Heilung zu finden, so waren es diese Augenblicke, die ihn zwangen, wider Willen in die Jahre zurück zu schauen, die hinter ihm lagen, die er lang in sich vergraben zu haben meinte und deren Erinnerungen doch immer wieder an ihm emporwuchsen, wie Dornranken aus dem Schutt eines eingestürzten Gebäudes.
Unverwandt und mit der Geberde wartender Ungeduld blickte er jetzt in das zum Seiteneingang führende Gäßchen hinaus; er achtete nicht auf die eiligen Schritte, die, von den gewölbten Säulengängen des Kirchhofs herkommend, hinter ihm laut wurden. Ein Mädchen, in der Tracht des Oberlandes, kam rasch den Hauptweg herab, ein kleines Bündel und den Regenschirm tragend, der nicht leicht in der Hand des die Stadt besuchenden Bergbewohners fehlt.
Es war Franzi – sie war unverändert, ja, über das anmuthige Gesicht lag sogar eine höhere Röthe gebreitet, wie der Widerschein einer freudigen und doch nicht schmerzfreien Erregung, fest und klar war ihr suchendes Auge auf das halb verwahrloste Gräbergefild gerichtet. Ein Mann in schlechter Jacke, mit einem groben Schutz darüber, einen farblos gewordenen löcherigen Filzdeckel auf dem grauen Kopfe und über der Schulter die Grabschaufel, schritt gemessenen Ganges hinter ihr her.
„Wenn Du noch so laufst, Madel,“ sagte er gutmüthig, „Du findest Dich ohne mich doch nicht zurecht und mußt warten, bis ich nachkomm’ … ist es Dir denn gar so eilig?“
Ohne den Blick von dem Ziele ihrer Sehnsucht abzuwenden, stand sie still; jetzt trat der Todtengräber an ihre Seite. „Da sind wir,“ sagte er und schritt, die niedrige Einfassung übersteigend, zwischen die Hügel hinein. „Dritte Section … vierte Reihe … das fünfzehnte Grab … hier, der kleine Hügel muß es sein…“
Er deutete auf eine unscheinbare, aus grobem Kies und Erde unregelmäßig aufgeschüttete, von der Zeit fast wieder eingeebnete Erhöhung, kümmerliche Grashalme hatten darauf Wurzel gefaßt, einige lange bärtige Schmeelen hingen vergilbt und geknickt darüber – eine einzige blaue Scabiose, deren Samen vielleicht ein in den Rosenbüschen der Gräber nistender Vogel verstreut haben mochte, wiegte wie schlaftrunken ihr einsames Haupt.
Mit beiden Knieen zugleich, wie von höherer Gewalt gebeugt, sank Franzi zu Boden; sie sprach nicht, sie weinte nicht, sie hielt nur die Hände vor sich hin und faßte dann, sich niederbeugend, in Gestein und Erde, als wolle sie selbe an ihre Brust drücken.
„Was treibst, Madel?“ sagte der Todtengräber. „Wann Du das Grab willst aufgerichtet haben, mit den Händen wird’s kaum geh’n…“ Franzi blieb stumm und unbeweglich; er unterbrach sie nicht mehr, er mochte erst gewahr geworden sein, in welch’ tiefer Erschütterung sich das Mädchen befand; er hatte Herz genug, sie eine Weile gewähren zu lassen und nicht mehr zu stören – Franzi’s wortloses Selbstgespräch war nur dem verständlich, an den es gerichtet war.
„Laß’ es jetzt gut sein, Madel,“ begann der Mann nach einiger Zeit wieder, „tröst’ Dich halt und denk’, was die Erden einmal hat, das giebt sie nit wieder her. Sag’ lieber, was Du haben willst, daß jetzt geschieht … willst haben, daß das Grab aufgerichtet werden soll und verziert?“
„Ja, ja,“ erwiderte Franzi, indem sie sich besann und fast gewaltsam erhob, „das Grab soll aufgerichtet werden und verziert, so schön als es nur sein kann… Ich bin fremd in der Stadt, Todtengräber, wollt Ihr’s wohl besorgen und mir sagen, wo man bekommt, was wir brauchen, ich will’s bezahlen, ich habe Geld … es ist mir nicht zu viel…“
„Laß’ stecken, Madel,“ sagte der Todtengräber, indem er mit gutmüthigem Schmunzeln zusah, wie Franzi ein rothes, an den vier Enden zusammengeknüpftes Sacktuch hervorzog und den reichlichen Inhalt an Silbermünze zeigte, „ich hab’ schon geseh’n, daß Du Geld hast, drinnen beim Leichenaufseher, sonst hättest Du auch das Grab nicht gekauft! Bist gerad’ noch recht gekommen vor Thorschluß; in ein paar Tagen sind die fünfzehn Jahren herum, denn immer nach fünfzehn Jahren wird eine Abtheilung umgekehrt und neue Gräber gemacht…“
„Aber jetzt ist es mein?“ rief Franzi hastig. „Jetzt wird das Grab nit angerührt?“
„Nicht mit einem kleinen Finger, jetzt ist das Grab Dein, Madel, hast es ja theuer genug bezahlt, jetzt bist Du der Herr davon auf die nächsten fünfzehn Jahr’, und kein Mensch kann Dir etwas einreden…“
„Recht, recht,“ entgegnete Franzi, „jetzt führt mich hin, wo wir die Sachen zum Verzieren kaufen können, und ein schönes Kreuz möcht’ ich auch haben, von Eisen und mit einem vergoldeten Christus dran und mit einer schönen Inschrift, da muß drauf steh’n von der Auferstehung und vom Wiederseh’n in der Ewigkeit…“
„Das ist Alles zu haben für Geld und gute Wort’,“ sagte der Todtengräber, „komm’ nur, Madel, ich zeig’ Dir Alles; mir gefallt’s, daß Du Deine Todten so gern hast und Deine Sparkreuzer so hergiebst, ihnen zu Ehren! Wer liegt denn eigentlich in dem Grab? Hast gewiß einen Schatz gehabt, der hat Soldat werden müssen und ist nimmer heim ’kommen… Ja, ja, die Stadt nimmt gar Manchen mit, und oft gerade die schönsten Burschen und die kräftigsten…“
So plaudernd schritt er voran und gewahrte nicht, daß Franzi ihm nicht folgte und ihn nicht vernahm – den beiden Grabhüterinnen war ihre Freigebigkeit ebensowenig entgangen wie das wohlgefüllte Sacktüchlein, sie wollten die gute Gelegenheit zu einem Nebenverdienstchen nicht versäumen.
„Will die Jungfer nicht auch das Grab gehütet haben?“ sagte Frau Schärdinger, indem sie ihr entgegen traten. „Laß sie einer armen Wittib den Verdienst zukommen – wir thun’s billig – wir zwei miteinander, weil wir doch gerad’ so in der Nähe sind…“
„Und beten thun wir auch, so fleißig wie irgend wer,“ sagte die Andre, „da darf man uns nachfragen!“
Franzi sah Beide etwas verwundert an, unbekannt mit dem Gebrauche der großen Stadt, verstand sie den ihr gemachten Antrag nicht völlig. Sie griff in ihr Tüchelchen, drückte jeder ein Geldstück in die Hand und sagte, dem Todtengräber nacheilend: „Ich dank’ schön für die gute Meinung, liebe Frauen – nehmt’s das und wann Ihr in Eurem Gebet mich einschließen wollt, will ich’s Euch verdanken, aber das Grab da hüten und an dem Grab beten – das ist ein Geschäft, auf das ich mich schon manches Jahr gefreut hab’ – das Geschäft besorg’ ich selber…“
Sie ging, die Weiber sahen ihr brummend nach. „Das muß auch eine rechte Siebengescheidte sein und eine Zuwiderwurzen dazu!“ rief die Eine. „Das Geschäft besorg’ ich selber! Und was sie für ein Gesicht dazu gemacht hat, als wenn sie weiß Gott [723] was wär’ und thät nicht aus dem Land abstammen, wo die Holzschlegel wachsen!“
„Hat das ganze Tüchel voll Guldenstückeln,“ sagte die Andere und kehrte an ihren Posten zurück, „und giebt einer Jeden von uns einen Sechser! Meinetwegen – wie der Mann, so die Wurst! Wegen der sechs Kreuzer wird man sich das Maul nicht in Fransen beten…“
Sie kauerten sich wieder nieder und die Kügelchen am Rosenkranze rollten geschäftig wie zuvor.
Nach einer Weile kam Meister Staudinger in derselben Richtung herangehinkt; ihm zur Seite ging ein großer, stämmiger Bursche, welchen die farbenbeklexte Schürze als einen Anstreicher erkennen ließ; er trug eine schwarz angemalte Stange mit gleichfarbiger Tafel, auf welcher in mächtigen Buchstaben eine weiße Inschrift stand. Der Meister war ungehalten und schalt in grimmigem Tone auf den Gesellen hinein; die Beterinnen stießen sich mit den Ellenbogen an und nickten einander zu.
„Wie kann man nur so nachlässig sein und so lang auf die bestellte Arbeit warten lassen!“ rief Staudinger. „Mich in dem Wetter fast eine Stunde hinstehen zu lassen! Es ist himmelschreiend!“
„Ach, was da,“ entgegnete unwirsch der Geselle, „das Wetter könnte ja nicht schöner sein! Wenn die Arbeit erst heute bestellt wird, kann sie nicht früher fertig sein!“
„Aber der Meister hat mir bestimmt versprochen, daß die Tafel in einer Stunde fix und fertig ist!“
„Der Meister!“ erwiderte der Geselle grob. „Der kann leicht versprechen, der thut nichts, als daß er anschafft und das Geld einstreicht; das muß ich als Geselle besser wissen, denn ich muß die Arbeit machen! Man muß der Farbe doch ein bischen Zeit lassen, trocken zu werden, sonst rinnt ja Alles ineinander! Und dann, warum pressirt es denn dem Herrn auf einmal gar so arg? Nach der Jahrzahl, die ich habe darauf schreiben müssen, ist die Frau, der sie gehören soll, schon in die fünfzehn Jahre todt – wenn’s dem Herrn die fünfzehn Jahre her nicht geeilt hat mit der Tafel, wird’s auf die Stunde früher oder später auch nicht mehr ankommen!“
Der Meister antwortete nichts, er biß die Zähne übereinander und trat zwischen die Reihen der öden Gräberabtheilung.
„Aber meinetwegen,“ brummte der Geselle fort, „Jeder muß seine Sache am besten wissen; ich red’ auch Niemandem was ein, aber ich mag mich auch nicht hudeln und hunzen lassen… Wo ist denn das Grab, auf dem ich die Tafel aufstellen soll?“
Der Meister deutete stumm auf den Kieshügel mit den geknickten braunen Schmeelen und der einsamen Scabiose.
„Das wollen wir gleich haben,“ sagte der Geselle, „dem Grab sieht man es wohl an, daß sich noch Niemand darum gekümmert hat; das Grab wird sich wundern, wie es auf einmal und noch so spät zu solcher Ehre kommt! Aber der Boden ist zu fest, ich will nur sehen, daß ich in der Nähe einen Pickel zu leihen bekomme oder eine Schaufel…“
Er steckte die Tafel mit dem zugespitzten Ende leicht in den Grabhügel und eilte hinweg; der Meister schien zu besorgen, daß sie nicht genügend befestigt sein möchte, und trat hinzu, sie, so gut er es vermochte, etwas fester in den Grund zu bohren.
In diesem Augenblick kam Franzi zurück; sie gewahrte schon von Weitem, was an dem ihr so theuren Grabhügel vorging, und eilte mit angstbeflügelten Schritten vorwärts, wenn sie auch aus der Ferne nicht genau unterscheiden konnte, was der Mann an dem Grabe vorhatte, und noch viel weniger diesen Mann selber zu erkennen vermochte.
Jetzt erreichte sie den Hügel, die Beiden standen einander gegenüber, zum ersten Male wieder seit dem Begegnen an der Kreuzstraße, durch das gleiche widrige Geschick getrieben und doch ungleichartig wie damals, vielfach verändert, aber das Gefühl der Abneigung, mit dem sie gegenseitig sich betrachteten, war dasselbe geblieben.
Meister Staudinger war der Schwächere, er wankte beinahe und ließ die Tafel los, auf die Gefahr des Umstürzens hin; sie aber wankte blos und blieb schief geneigt stehen. „Dies Gesicht …“ murmelte er unhörbar und fast nur innerlich, „muß ich das Gesicht wiedersehen…“
Franzi fand zuerst Worte; sie trat ihm in den Weg vor den Hügel und rief: „Was wollen Sie, Herr? Was haben Sie da zu thun?“
„Und was hat Sie darnach zu fragen?“ erwiderte der Meister. „Ich will einen schönen Denkstein aus Marmor auf dieses Grab setzen lassen, und bis er fertig ist, stell’ ich diese Tafel hin…“
„Aber nicht auf dieses Grab, Herr!“ rief Franzi hastig. „Das ist wohl eine Irrung, das Grab da ist mein, ich hab’s gekauft!“
„Gekauft? Wie kommt Sie dazu?“ rief Staudinger entgegen. „Was macht Sie sich da zu schaffen? Das ist das Grab meiner Tochter…“
„Ihrer Tochter?“ erwiderte Franzi mit starr auf ihn gehefteten Blicken, indem ihr Wort und Laut beinahe auf den Lippen erstarb. „Ich hab’s ja gleich gedenkt, das muß eine Irrung sein,“ fuhr sie dann wie sich besinnend fort… „Sie sind an das unrechte Grab gekommen…“
Der Meister zog einen Zettel hervor. „Dritte Section,“ sagte er in unsicherem Tone, „in der vierten Reihe das fünfzehnte Grab…“
„Das … trifft freilich zu,“ entgegnete das Mädchen, bebend vor Erregung, „aber es muß doch eine Irrung sein, der Aufseher vom Gottesacker hat mir’s gesagt und in seinem Buch aufgeschlagen und ich hab’ es ja gekauft, denn in dem Grab’ liegt meine Mutter.“
Der Alte taumelte einen Schritt zurück, als hätte er ein Gespenst gesehen, schlug er die beiden Hände vor das erbleichende Gesicht, er sprach nicht, aber in ihm rief es, wie gräbersprengender Posaunenschall; trotz der verhüllten Augen sah er innerlich und es war, als ob die Gruft zu seinen Füßen sich aufthäte und ließe ihn hinabblicken bis auf ihren Grund und auf die Züge der Todten in dem Sarge, der vermodert drunten lag, und es waren die Züge derer, die lebend vor ihm stand.
Auch in dem Mädchen tauchte eine Ahnung auf, wie Brandröthe am nächtlichen Himmel ein fern aufloderndes Unglück verkündet. „Nein, nein,“ flüsterte sie, „es kann ja nicht so sein, es ist unmöglich, es muß sich ja gleich zeigen, daß es nicht so ist … die Schrift da auf der Tafel muß ja Alles aufklären…“ Sie trat hin und las: „Dem Andenken der ehr- und tugendgeachteten Frau Franziska Wall, Privatierstochter…“ Sie kam nicht weiter, denn Blick und Ton versagten ihr und es währte eine Weile, eh’ sie die Worte herausstoßen konnte: „… Es trifft zu … es ist der Nam’ von meiner Mutter…“
Der Meister hatte die Hände vom Gesicht genommen und starrte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen an, in denen es wie Licht und Nacht durcheinander kämpfte. „Du?“ sagte er leise, „deswegen also hat mich das Gesicht immer so angegriffen? Du – Du wärst …“
„Ich bin die Tochter von der Frau,“ sagte Franzi ihn unterbrechend, in entschiedenem Tone, „die da begraben liegt, weiter nichts! Es ist doch eine Irrung, denn die Todte da drunten ist keine reiche Privatierstochter gewesen, sondern eine gemeine, blutarme Frau, die Frau von einem geringen Tischlergesellen … als das hat sie sich kümmerlich durchgebracht, als das hat sie mir das Leben gegeben, als das ist sie gestorben in Armuth und in der Niedrigkeit…“
Der Alte vermochte seine Erschütterung noch immer nicht zu bewältigen, er wiederholte nur immer, zwischen Grimm und Rührung schwankend, das staunende und fragende „Du? Meiner Tochter Kind … meine Enkelin?“
„Es hat den Anschein so,“ erwiderte Franzi, die sich allmählich ganz wiedergefunden, „aber kränken Sie sich darum nit. Herr, ich verlang’s nit, daß Sie mein Großvater sein sollen; ich trag’s Ihnen auch nit nach, daß Sie mich angefeindet haben und herunter gesetzt … das ist die beste Straf’, daß es Ihr eigenes Fleisch und Blut war, das Sie schlecht gemacht haben aus eitlem Hochmuth… Ich hab’s nur mit meiner armen Mutter da drunten zu thun! … So lang, als ich mein eigner Herr bin, hab’ ich kein’ anders Gedenken gehabt und kein’ andern Wunsch, als den, sie aufzusuchen, da hab’ ich’s erst so recht gespürt, was es heißt, keine Mutter haben! Deswegen hab’ ich mich als Kellnerin verdungen, um mir den großen Lohn zu ersparen, deswegen hab’ ich mit jedem Kreuzer gehaust, bis ich so viel beisammen gehabt hätte, als ich gemeint hab’, daß es brauchen wird zu alle denen Nachforschungen und Erkundigungen … deswegen hab’ ich das Grab da gekauft, daß die arme Kreuztragerin, die da eingescharrt ist, ein christliches Kreuz auf ihrem Hügel haben soll, und deswegen [724] soll die verlogene Tafel auch nit drauf zu stehen kommen, denn das Grab ist mein!“
Dem Trotze des Mädchens gegenüber fand auch der Meister die alte Starrheit wieder. „Das wollen wir einmal sehen!“ rief er. „Ich will Dir zeigen, daß ich als Vater auch ein Recht habe…“
„Ein Recht als Vater?“ rief Franzi. „Und auf das wollten Sie sich stützen? Wollten sich darauf berufen, hier an dem Grab der nämlichen Tochter, die Sie verstoßen haben?“
„Sie hat sich von mir losgesagt,“ erwiderte Staudinger. „Warum ist sie meinem Willen nit gefolgt und hat sich an den Tischlergesellen gehängt, der nichts gehabt hat und nichts gewesen ist…“
„Nichts,“ fiel Franzi ein, „nichts hat er gehabt, als ein paar fleißige Arm’ und einen offenen Kopf, nichts ist er gewesen, als ein redlicher, fleißiger Arbeiter und ein braver Mann… Er muß es gewesen sein, sonst hätt’ ihn meine Mutter nit so gern gehabt, das spür’ ich an mir selber, drum lass’ ich auf ihn so wenig ’was kommen, Herr, wie auf mein’ arme Mutter… Wenn Sie einmal drüben in der Ewigkeit mit ihr zusammen kommen, dann können Sie mit ihr abrechnen vor Gottes Angesicht … aber hier unten, auf der Welt, mit dem, was noch von ihr übrig ist, mit dem sollen Sie nichts mehr zu schaffen haben … Sie sollen ihr keinen Stein auf’s Grab setzen, sie hat schon an dem genug, der ihr das Herz abgedruckt hat, das Grab ist mein! … Gehen Sie Ihren Weg und lassen Sie mich den meinigen gehen … es ist am besten, wenn wir Zwei so weit auseinander bleiben, wie möglich…“
„Und hab’ ich denn schon nach Dir verlangt?“ erwiderte der Alte grimmig. „Ja, ich leugn’ es nicht, das Herz ist mir weich geworden in den letzten Tagen … ich hab’ viel an meine Tochter denken müssen, ich hab’ mit ihr abrechnen wollen und mit meinem Gewissen … drum hätt’ sie auch ein äußeres Zeichen davon haben sollen! Wenn’s nicht sein soll, so kann ich’s inwendig auch mit ihr abmachen, ohne Grabtafel und Denkstein, aber Dich hab’ ich nicht gesucht und will’s nicht wissen, daß ich Dich gefunden hab’! Dich kenn’ ich nicht und will Dich nicht kennen, meiner Tochter hab’ ich mit Ehren verzeihen können, wenn ich will, sie war doch ein ehrliches Weib … Du aber …“
Er vollendete nicht, denn Franzi stand schon hart vor ihm, starr wie ein Steinbild und doch mit dem flammenden Antlitz eines Racheengels. „Sprich das nit aus, alter Mann,“ rief sie mit unterdrückter Stimme, „sprich nit aus, was Du jetzt auf der Zunge hast… An diesem heiligen Ort, am Grab meiner braven, seligen Mutter sag’ ich Dir und ruf’ sie zum Zeugen an in der Ewigkeit, daß ich nichts gethan hab’, über was ich roth werden müßt’ vor ihr… Wenn es aber so wär’,“ fuhr sie noch leiser flüsternd fort und faßte den Alten hart am Arme, „… wenn ich schlecht geworden wär’, wär’s etwan meine Schuld? Auf wen thät’ die Verantwortung fallen, als auf den, der seine Tochter in’s Grab g’stoßen hat und sein Enkelkind in’s Findelhaus…“
Der Todtengräber, der mit Kränzen und Blumen reich beladen zurückkam, unterbrach sie. „Da bin ich schon, Madel,“ rief er schon von ferne, „ich hab’ die schönsten Sachen ausgesucht, Du sollst Deine Freude dran haben, wie wir das Grab aufrichten und zieren wollen!“
Gleichzeitig kam auch der Anstreicher mit Schaufel und Pickel zurück, Staudinger deutete ihm nach der Tafel. „Nehmen Sie das nur wieder mit,“ sagte er, indem er sich gleichzeitig zum Gehen wandte, „das ist jetzt nicht mehr nöthig…“
Verwundert sah ihm der Geselle nach, indem er die Tafel auflud. „Dem fällt auch alle Finger lang etwas Andres ein,“ sagte er, „aber ich hab’ mir’s gleich gedacht, den hat gewiß das Geld zu dem Monument wieder gereut!“
Der Todtengräber schickte sich an, den Hügel aufzugraben. Eh’ er es that, pflückte Franzi ein paar von den Schmeelen und die einzelne Scabiose und steckte sie in’s Mieder. –
Ein Bild anderer Art war es, das der Allerseelen-Vorabend auf dem einsamen Oedhofe entfaltete, minder farbenreich, aber mit nicht minderem Schattendunkel.
Es war noch in den ersten Stunden des Nachmittags, in der Wohnstube fing es jedoch schon an, düster und dämmerig zu werden, denn die kleinen Fenster mit den noch kleineren runden Scheiben ließen wenig Licht ein, und das Licht, das heran kam, war kärglich, weil die mächtigen Linden, die den Hof umgaben, noch viele ihrer Blätter behalten hatten und weil der Hof auf der Schattenseite des Gebirges lag, für welche die Sonne um einige Stunden früher untergeht, als für die andere Welt. Es war einsam in dem Gehöfte; die Dienstleute waren nach der Mahlzeit alle fort, zu Rosenkranz und Vesper in der weit entlegenen Pfarrkirche und zum Gang an die Gräber der Befreundeten und Angehörigen, die alte Herrin des Hauses mit einer Magd war allein zu Hause, die Sonntagswache zu halten, aber sie saß in der Stube nicht allein, sie hatte Nachmittags unerwarteten und selten gesehenen Besuch bekommen. Sixt saß der Base auf der Bank gegenüber, den Ehrenplatz am Tische hatte der Lehrer inne, der mit ihm gekommen war.
Sie pflegten lange und angelegentliche Zwiesprache miteinander, so eifrig, daß sie es nicht gewahrten, wie es immer dämmeriger wurde um sie her, und des Hahns auf der Uhr nicht achteten, der getreulich mahnte, wann wieder eine Stunde näher gerückt war an die Ewigkeit. Sixt war es gewesen, der hauptsächlich die Unterredung geführt, er hatte Vieles mitzutheilen gehabt, was ihn selbst und Andere betraf, nur Eines blieb unerwähnt, was ja nicht sein Geheimniß war, sondern das des Bundes, an dessen Spitze er stand.
„Es geht nit anders, Base,“ sagte er, eine längere wiederholte Erörterung schließend, „es muß etwas geschehen in der Sache, wir müssen was thun, damit das Gerede und das Gezischel ein Ende nimmt und der Schein nit noch schlimmer wird, als er schon ist. Ich hab’ es mit dem Herrn Lehrer nach allen Seiten überlegt und betrachtet, und er ist auch meiner Meinung, wir müssen Alles thun, um die Franzi her zu schaffen, und wenn sie sich noch so gut versteckt hält oder noch so weit fortgegangen wär … sie ist die Einzige, die Licht in die Sache bringen kann … und haben wir sie nur erst da, wird sie wohl dazu zu bringen sein, daß sie Red’ und Antwort giebt…“
Die Alte schüttelte den Kopf. „Ich weiß nit,“ sagte sie, „ob Du Dir nit zu viel einbildest … die Franzi ist alleweil ein besonderes Leut gewesen und wenn sie einmal ihren stützigen Kopf aufgesetzt hat, glaub’ ich kaum, daß irgend was sie zum Reden bringt …“
„Ich hoff’s doch,“ erwiderte Sixt, „es ist wahr, sie hat einen trutzigen Kopf, aber auch ein gutes Gemüth und sie ist den Eltern selig in’s Grab hinein dankbar für Alles, was sie ihr gethan haben – sie bringt’s nit über’s Herz, daß wir in unrechten Schein kommen und wegen ihr leiden sollen! – Warum sollt’ sie auch nit reden?“ fuhr er, da er vergeblich eine Erwiderung erwartet hatte, wie sich selbst beruhigend fort. „Was hat sie zu fürchten? – Es ist wahr, wie ich sie gehört und gesehen hab’, ist es mir eine Zeit lang gewesen, als wär’ ihr wohl gar Unrecht geschehen – wie ich mir aber Alles so bei ruhigem Blut wieder zusammengestellt hab’ und zusammengereimt, da hab’ ich’s nimmer denken können … und so hart es mich ankommt, denn ich hab’ allemal viel gehalten auf das Madel, so muß ich’s doch sagen … sie und keine Andere ist die Mutter von dem Kind und Niemand als sie hat es auf den Oedhof gebracht. … Wenn sie also sieht, daß das Leugnen nichts nutzt, daß es doch alle Welt schon weiß, dann wird sie’s auch eingestehen, wird sagen, wer der Vater ist, und Alles kommt wieder in Ordnung. …. Eine Straf’ wird sie freilich wohl kriegen, aber dem Kind ist ja nichts Leids geschehen und so wird die Straf’ nit so schwer ausfallen, denk’ ich … sie werden wohl nachsichtig sein mit ihr, denn das ist gewiß, ausgestanden hat sie genug und die ärgste Straf’ ist doch schon über sie ’kommen.“
„Alles richtig,“ sagte der Lehrer bedächtig, „wenn die Voraussetzung es ist, wenn sie wirklich schuldig ist.“
Sixt war aufgestanden und durchschritt die Stube. „Ja, ja, ich weiß,“ sagte er, „Sie haben den Glauben noch immer nit aufgegeben. … Es ist eine Zeit gewesen, da hätt’ ich auch einen Finger aus meiner Hand verwettet, daß es nicht so sein könnt’ … aber dadurch wird’s doch nicht anders und wir werden ja sehen, daß ich Recht behalt’, wenn wir sie nur erst gefunden haben.“
„Wenn wir sie aber nicht finden?“ fragte der Lehrer. „,Du weißt, ich habe nach München geschrieben, wo wir sie zunächst vermutheten, – ich habe einflußreiche Bekannte dort, aber Niemand hat ihre Spur aufzufinden vermocht.“
[726] „Weil die Zeit zu kurz war,“ rief Sixt, „und weil fremde Leute sich’s doch nie so angelegen sein lassen. Ich will selber hin, gleich in den nächsten Tagen, und ich, Herr Lehrer, darauf können Sie sich verlassen, ich find’ sie, und wenn kein Mensch sie find’t! Ich muß sie auch finden … ich hab’ abzurechnen mit ihr! Sie hat mir einen großen Dienst gethan … sie hat mich aus einer Gefahr gerettet, die über mir zusammengeschlagen wär’, wie das Moos über dem, der drinn’ versinkt … ich muß ihr das vergelten, ich muß es gleichen zwischen mir und ihr … ich kann nit der Schuldner sein von einer … Aber,“ fuhr er sich selber unterbrechend und mäßigend fort, „bis dahin muß wenigstens etwas geschehen, was den Leuten das Maul stopft … und dazu giebt’s nur ein einziges Mittel – das Kind muß fort …“
„Der arme Narr!“ seufzte die Base. „Warum muß denn das sein?“
„Ich hab’ es Euch schon gesagt, Base,“ erwiderte Sixt, „weil das Gerede dadurch immer neue Nahrung bekommt, wenn das Kind bei Euch bleibt! Weil es die Leute sich nicht nehmen lassen, daß Ihr das Kind niemals aufgenommen, wenn Ihr nicht im Voraus gewußt hättet, woher es stammt! Weil sie steif und fest glauben, es sei ein abgekarteter Handel, das Geschöpf in’s Haus herein zu bringen … weil wir damit Alle in üble Nachrede kommen; ich, Base, und Ihr vor Allen, denn Jedes weiß, wie viel Ihr darauf gehalten habt, daß auf dem Oedhof nichts Platz hat, was sich nit frei und offen sehen lassen darf vor Gott und der Welt …“
„Und darauf will ich auch halten,“ sagte die Greisin entschlossen, „ich will’s, so lang ich noch kann, und will’s den Leuten zeigen, daß die Oedhoferin sich nit in ihren alten Tagen zum Deckmantel hergiebt! Du hast Recht, Sixt, das Kind muß fort … obwohl … es wird mich hart ankommen, ich hab’s lieb gewonnen, das arme Geschöpf!“
„Es soll ihm ja auch nichts Leides geschehen! Es soll ihm so gut werden, wie tausend solche Kinder es nicht haben! Ich will es an einen Ort bringen lassen, wo ihm gewiß nichts abgeht … ich hab’ es mit dem Herrn Lehrer Alles schon beredet …“
„Aber – es geht doch nicht!“ sagte die Bäuerin mit einigem Zögern. „Die Susi giebt das Kind nicht her, es ist ihr wie ihr zweites Leben!“
„Darauf kann es nicht ankommen,“ entgegnete Sixt, „die Schwester muß sich eben darein finden und darf nit verhindern, was wir wegen ihr so gut vorhaben, wie wegen uns selber!“
„Freilich wohl – aber es wird einen harten Strauß geben, Sixt … sie wird bald nach Haus kommen, und wenn’s doch einmal geschehen muß, dann ist’s besser, Du bringst es zuvor hinweg, das arme Kind …“
„Ein guter Einschlag, Base!“ rief Sixt eifrig, „damit ist die Sache am kürzesten abgethan. Jetzt ist es an Ihnen, Herr Lehrer, daß Sie halten, was Sie mir versprochen haben … Sie nehmen mein Fuhrwerk, die Magd soll mit Ihnen, soll das Kleine tragen … fahren Sie fort, in einer Stunde, noch eh’ der letzte Zug abgeht, können Sie an der Eisenbahnstation sein … fahren Sie in die Stadt und bringen Sie das Kind an den besprochenen Ort … Morgen in aller Frühe gehe ich dann selber zum Amt und zeige an, was wir gethan haben … ich denke, das soll der Sache schnell ein anderes Licht geben!“
Der rasch gefaßte Entschluß ward eben so schnell vollführt.
Die verwunderte Magd holte das sorglos schlummernde Kind in seinem Winkelbett herbei, packte etwas Wäsche dazu und vergaß, nach der Ursache des unvermutheten Wechsels zu fragen, über dem nicht minder unverhofften Vergnügen, die Stadt zu sehen. Die alte Frau ließ sich das Kind noch hinreichen und legte ihm wie bei der Ankunft tastend die Hand auf die Stirne: „Ich verstoß’ Dich nit, Du armer Wurm,“ sagte sie, „ich will doch sorgen für Dich, wie ich es versprochen hab’; aber ich kann nit dafür, daß Deines Bleibens auf dem Oedhof nimmer ist …“
Bald verhallte das Gerassel des hinweg rollenden Wagens; schweigend, am Fenster stehend vernahm es der Aichbauer, in ihrem Lehnstuhle mit gefalteten Händen die Greisin: sie betete für das Heil des zum zweiten Mal verstoßenen Kindes …
„Sixt! …“ rief sie nach einer Weile, als wollte sie die athemlose Stille los werden. „Wo bist Du? Komm’ zu mir her – und gieb mir Deine Hand …“
Er that es. „Sixt,“ sagte sie wieder, „ich habe Dich wohl verstanden und kann es Dir jetzt sagen, wo uns Niemand hört, als unser Herrgott … Du weißt mehr, als Du sagst – Du weißt auch um Deines Bruders gähen Tod, – aber ich will’s nit wissen, was für ein Ende der Scheinheilige genommen hat, denn er hat’s mit unserm Herrgott auszumachen, den er angelogen hat seiner Lebtag’, – ich frag’ Dich um gar nichts, Sixt, denn ich weiß, Du hast eine feste Hand, Du lassest keine Schand’ über Dich kommen und über uns Alle …“
Er erwiderte wortlos den Händedruck der Greisin; rasche Schritte nahten sich der Thür und die Alte flüsterte: „Sie kommt heim – das ist die Susi … Ich wollte, der Sturm wär’ überstanden! …“
Das Mädchen trat eilfertig ein, sie hatte sich kaum Zeit genommen, draußen das Umschlagtuch abzuwerfen und die Wanderschuhe von den Füßen zu streifen. Als sie den Bruder erblickte, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen, die Ampel, die sie in der Hand trug, warf den vollen Schein über Gesicht und Gestalt. Eine freundliche Veränderung war mit dem Mädchen vorgegangen; sie war noch immer bleich, aber die Blässe hatte das Schreckhafte verloren, das Roth, das sie bei der unerwarteten Begegnung überflog, glich dem Hauche frischen gesunden Lebens; in den Augen glänzte etwas wie Freude und um die Lippen sproßte es gleich einem aufblühenden Lächeln des Glücks. Sie begrüßte den Bruder mit flüchtigem verwundertem Gruß; ihre Aufmerksamkeit schien auf Anderes gerichtet – es fühlte und hörte sich durch, auch als sie der Base von dem Kirchgang erzählte, von dem sie eben zurück kam, von den Gräbern der Eltern und des seligen Vetters, und wie sie geschmückt gewesen, schier als die schönsten auf dem ganzen Friedhof der Pfarrkirche. „Was macht das Mariele?“ fragte sie dann und hielt die Hände an den Ofen. „Hat sie nicht nach mir verlangt? Es geht ein scharfer schneidiger Wind draußen … ich muß mich wärmen, eh’ ich nach dem Kinde seh …“
„Das hat ja Zeit,“ sagte die Alte unsicheren Tones, „sieh’ erst, daß Du ein Nachtmahl bereitest für Sixt und richte die Gaststube her; er will übernachten bei uns …“
„Gleich, Base, gleich – erst muß ich doch nach der Kleinen sehen … sie wacht immer auf um diese Zeit, und Ihr wißt ja, sie will bei Niemand bleiben als bei mir…“
Sie eilte in die Kammer.
[737] Nachdem Susi in die Kammer gegangen war, wandte die alte Oedhoferin beklommen das Antlitz in die Richtung, wo sie des Aichbauers hin und wieder wandelnden Schritt vernahm, als könne sie ihn sehen und in seiner Miene Beruhigung finden vor der Sorge, die sich plötzlich wie mit Krallen an ihr Herz klammerte …
Ein wilder durchdringender Schrei ertönte aus der Kammer – dann kam Susi wieder heraus gestürzt, zitternd, bleich, ohne Haube, mit losgegangenem, wild herabfallendem Haar … „Jesus Maria,“ keuchte sie, dem Umsinken nahe, „das Bett’l ist leer und kalt … wo ist das Mariele? Was ist’s mit dem Kind?“
„Was wird es sein!“ entgegnete Sixt mit erzwungener Kaltblütigkeit; der Schmerz der Schwester war so unverkennbar groß, daß er sich abwenden mußte, um nicht erschüttert zu werden. „Es ist gut aufgehoben, Du brauchst keine Sorge zu haben wegen des Kinds …“
„Sei nit so wild, Susi, und so außer Dir,“ rief die Base milder, „es ist nichts – komm’ her zu mir und laß Dir sagen …“
„Nichts, nichts laß ich mir sagen …“ rief Susi mit bebenden Gliedern und rollenden Augen … „nichts, eh’ ich nicht weiß, was es mit dem Kinde ist … Redet, Bas’, habt Barmherzigkeit mit mir – sagt’s und stoßt mir nur gleich das Messer in’s Herz … dem Kind ist ein Unglück gescheh’n – es ist todt …“
„Was für ein unvernünftiges, überspanntes Betragen!“ rief Sixt unwillig. „Hast Du das übertriebene Wesen in der Stadt gelernt, so wollt’ ich, Du wärst nie hineingekommen! Das Kind lebt und ist frisch und gesund, aber es ist fort …“
„Fort? Aus dem Haus’?“ rief Susi, indem sie wie erleichtert aufathmete und doch wieder von einer neuen Bergeslast bedrückt. „Bas’l, was soll das heißen? … Habt Ihr das Kind nit auf- und angenommen, wie Euer eigenes? Wie kann’s fort sein aus dem Haus, wo es hingehört?“
„Ich hab’s angenommen,“ sagte die Bäuerin, „und ich bin meinem Wort noch nie umgestanden … aber im Oedhof hab’ ich’s nimmer behalten können … Es ist einmal zu viel Gered’ wegen dem Kind in der ganzen Gegend, man kann’s nit mehr länger ruhig mit anseh’n …“
„Das Amt, die Gerichte sind neuerdings hinter der Sache her,“ sagte Sixt bestätigend, „sie wollen durchaus dahinter kommen, wer das Kind gelegt hat und wem es angehört …“
„Das Gered’!“ murmelte Susi und preßte beide Hände vor die Stirn. „Ja, ja, was thut man nicht Alles, um dem Gerede der Leute auszukommen … man will sich nicht mit Nadeln stechen lassen und rennt sich lieber selbst den Dolch in die Brust! Aber das kümmert mich Alles nicht … soll das arme Kind leiden müssen unter dem boshaften Gered’? …“ fuhr sie wieder in der vorigen Leidenschaftlichkeit auf. „Ich will wissen, wo das Kind ist! Ich will hin zu ihm, ich will bei ihm bleiben … wo habt Ihr das Kind hingebracht?“
„Das geht Dich nichts an,“ entgegnete Sixt strenge, „Du wirst Vernunft annehmen und Dich beruhigen, oder ich, als Dein Bruder, ich werd’ dafür sorgen, daß Du durch Deine überspannte Thorheit nicht wieder verdirbst, was ich gut gemacht habe … Das Kind bleibt, wo es ist, und Du giebst Dich damit zufrieden, wenn ich Dir sage, daß es in den besten Händen ist, und wirst ruhig sein! …“
„Nein, nein, ich werde es nicht sein,“ rief Susi in immer wachsender Erregung, „ich kann es nicht! Ich muß das Kind um mich haben, muß es warten und pflegen … O, es ist so an mich gewöhnt, es wird sich zu Tode weinen, wenn es mich nicht sieht. … Wo ist das Kind, Sixt … ich habe es so unendlich lieb – ich kann nicht leben ohne das Kind …“
„Du wirst es lernen müssen …“
„Niemals, niemals! Glaube nicht, daß das Uebertreibung ist, was ich sage … es ist mir an’s Herz gewachsen … reiß es nicht hinweg, wenn ich nicht verbluten soll! Sag’ mir, wo das Mariele ist! Gieb es mir wieder! Wenn Du wirklich mein Bruder bist, so zeig’s und habe Barmherzigkeit mit mir … Gieb mir das Mariele wieder, ich muß sterben ohne das Kind …“
Sie hatte des Bauern Hand gefaßt und wollte vor ihm in die Kniee sinken; er riß sich zürnend los und rief: „Thorheit – man stirbt nit so leicht … auf das hin will ich’s wagen …“
„Also ist keine Gnade?“ rief sie wild. „Nun, wenn Bitten nichts hilft, dann will ich anfangen zu fordern … Wo ist das Kind, Sixt? Sag’ es mir – gieb es mir zurück! Du darfst es mir nicht verweigern … es ist – mein Kind, ich bin seine Mutter!“
„Dein Kind …“ schrie der Bauer auf und stand wie versteint.
„… Susi,“ stammelte die Base; sie stand hoch aufrecht vor ihrem Stuhle, wie emporgeschnellt von unsichtbarer Gewalt.
Susi lag auf den Knieen; mit dem entscheidenden Worte [738] waren Zorn und Entrüstung von ihr gewichen – sie war ganz dem Schmerze dahin gegeben, der in zahllosen schweren Thränen aus ihren Augen strömte. „Es ist gesagt,“ schluchzte sie, „das Wort, von dem ich geglaubt habe, daß es nie über meine Lippen kommen würde, … ich habe es ausgesprochen. … Ja, es ist wahr!“
„Wahr!“ rief Sixt und knickte kraftlos auf die Bank zusammen. „Meine eigene Schwester! … O, welche Schand’“ Auch die alte Frau sank wieder zurück. … „Ich weiß nit, mir wird so übel,“ lallte sie, „ich glaub’ es ist … aus … mit mir…“
„Die Stadt, die Stadt,“ fuhr Susi fort, „die ist an Allem schuld … ich sag’ auch, ich wollt’, daß ich nie hinein gekommen wär’! In unsrem Hause war ein junger Mensch – ein Student – der Bruder ging den ganzen Tag seinen Geschäften nach, ich war mir selber überlassen … der junge Mann hat sich an mich gemacht, hat mir Schönheiten gesagt, hat mir alles Mögliche versprochen und geschworen, bis er mir Kopf und Herz verdreht hatte… Aber einmal, an einem Morgen, da war er fort, heimlich fort, war abgereist, Niemand wußte wohin, und wie ich in meiner Todesangst, die ich doch Niemand verrathen durfte, nach ihm fragen ließ, wie ich mich zu spät nach seiner Herkunft, nach seiner Heimath erkundigte … da …“
„Nun?“ rief Sixt in athemloser Spannung, da sie eine Secunde, mit einer Ohnmacht ringend, inne hielt.
„Da – da erfuhr ich … daß er nirgends zu finden war … daß er ein Abenteurer war, der … unter einem falschen angenommenen Namen in die Stadt gekommen…“
„Auch das noch!“ jammerte Sixt, sich in die Haare fahrend. „O mein Kopf, mein Kopf!“ Die Greisin in ihrem Lehnstuhl vermochte nur zu ächzen.
„… Niemand,“ begann Susi sich zusammenraffend wieder, … „Niemand wußte um mein Geheimniß und um meine Schmach … Niemand, als eine Frau, die im Hintergebäude wohnte und sich mit Näharbeiten fortbrachte, mit Gängen für die Leute im Hause und mit Pfänderversetzen… Bei ihr hatte der Verführer gewohnt; von Eigennutz verlockt, hatte sie unsere Zusammenkünfte befördert und geduldet… In meiner Verzweiflung drohte ich mit Selbstmord; um der Strafe zu entgeh’n, mußte sie mir weiter behülflich sein … sie behielt mein Kind … um sein Dasein zu verbergen, nahm sie ein anderes Kind in Pflege und Kost; es mußte zum Deckmantel für das meinige dienen, und während sie in ihrer abgelegenen Wohnung das ihr anvertraute Kind zeigte und ernährte, ahnte Niemand, daß sie noch ein zweites verbarg…“
„Entsetzlich!“ rief Sixt. „Welch’ ein Abgrund von Verderben und die eigene Schwester in der Tiefe des Abgrunds!“
„In der tiefsten der Tiefen!“ rief Susi schmerzlich. „O wie ich gerungen, was ich gelitten habe, allein mit mir selbst und dem Bewußtsein meiner Verworfenheit … verzehrt von glühender Sehnsucht nach dem unseligen Wesen, dem ich das Leben gegeben, und doch ohne Muth, meine Schande bekennend es offen an mich zu zieh’n – gemartert von den immer steigenden Zumuthungen meiner Genossin und doch an sie gekettet durch die Unmöglichkeit eines andern Auswegs! … Das immerwährende Schwanken zwischen Hoffnung und Angst; der Wechsel von Entzücken, wenn ich bei meinem Kinde sein konnte – von Verzweiflung, wenn ich es lassen mußte, überwältigte zuletzt meine Kraft – ich erkrankte, und als ich genesen, war das Erste, was ich vernahm, der Entschluß des Bruders, die Stadt zu verlassen und wieder auf’s Land zurückzukehren… Ich weiß noch nicht, wie ich mich losgerissen, wie ich meine Mitschuldige beschwichtigte und vertröstete … in einem Zustande des Taumels und der Sinnlosigkeit … eine halb Sterbende verließ ich die Stadt und der Schmerz hätte mich sicher getödtet, hätte mir der Himmel nicht einen Engel entgegen geschickt … Franzi!“
„Franzi!“ rief Sixt und sprang auf. „O Gott, woran mahnst Du mich! Und an sie – an die Unglückselige denk’ ich erst jetzt…“
„Sie kam mir liebevoll und mit all’ der alten Güte entgegen,“ sagte Susi, unter sanfterem Weinen. „… Zum ersten Male begegnete mir in der vertrauten Jugendgefährtin ein mildes wohlwollendes Gemüth … ich hatte den Muth nicht, vor ihr ein Geheimniß zu bewahren … in ihrer einsamen Kammer warf ich mich vor ihr auf die Kniee und habe ihr Alles gestanden… Sie schalt mich nicht – sie redete und fragte nicht viel, aber sie gab mir die Hand und sagte: ‚Ich will Dir helfen, Susi … ich weiß, was das heißt, keine Mutter haben … der arme Wurm soll nit so aufwachsen … er soll bei Dir sein, der liebe Gott wird mir wohl ein Mittel einfallen lassen, daß Du das Kind bei Dir haben kannst und das Geheimniß doch bewahrt bleibt…‘ Und sie hat’s redlich gehalten, was sie versprochen hat! Sie ist hinein in die Stadt und hat das Kind geholt bei der Frau, die zu Tod froh war, die Angst und das Geheimniß los zu werden … sie hat sich, damit sie Niemand mit dem Kind sehen sollt’, auf der Eisenbahn auf einem Packwagen hinter den Kisten und Fässern versteckt und hat’s auf den Oedhof getragen… Sie hat einer Mutter das eigne Kind gelegt… Das ist Alles, was ich zu sagen hab’. … Jetzt thut mit mir, was Ihr wollt, ich will’s Alles ertragen … bring’ mich um, wenn ich’s verdient hab’, Bruder, aber dann sorg’ für mein liebes, liebes Kind, oder gieb mir’s wieder, wenn Ihr mir verzeihen könnt!“
„Verzeihen? Dir?“ rief die Alte und suchte vergebens, sich in ihrem Stuhle aufzurichten. „Niemals!“ kreischte sie auf, um den Ruf des Hahnes auf der Uhr zu überbieten, der wieder an die Ewigkeit mahnte. „Niemals, in Ewigkeit! Dein Kind will ich wieder zu mir nehmen, ich will’s Deine Schlechtigkeit nicht entgelten lassen, will’s nicht statt Deiner strafen – aber Dich kenn’ ich nit mehr und will nichts mehr wissen von Dir! Du sollst von mir nichts mehr hören und haben als meinen …“
Sie vollendete nicht; ohnmächtig, einer Sterbenden gleich, glitt sie in den Stuhl zurück.
„Verzeihen?“ rief Sixt, indem er hinzutrat und die Knieende am Arme empor zerrte. „Weißt Du denn auch, was Alles auf Dir liegt? Die Franzi ist unschuldig durch Dich in Schand’ und Spott gekommen … der eigene Bruder hat sie fälschlich angeklagt und sie ist ungerecht verurtheilt … ungerecht, sie, der ich so viel zu danken hab’, die vor mir dasteht leibhaft wie ein guter Geist und wie ein Schutzengel! … Schau’ zu, Schwester, ob Dir unser Herrgott verzeiht … ich, ich kann es nicht!“
Er stürmte in die Nacht hinaus, unbekümmert um die wie leblos zusammen Stürzende – es war kein stilleres Haus in dem ganzen Gebirg, als der Oedhof.
Es hatte völlig eingewintert in den Bergen.
Wenn man die enge Dorfgasse von Osterbrunn hinabsah, gewahrte das Auge nichts als den weichen, frischgefallenen Schnee, der ringsum sich hinzog, gleich einer ungeheuren Decke Alles verhüllend und doch den Formen der Dinge sich anschmiegend, daß sie in verschwommenen Umrissen noch immerhin erkenntlich waren. Die Dächer der Häuser waren in Hügel verwandelt, unter welchen die braunen Holzwände ernsthaft hervorblickten und doch errathen ließen was für ein trauliches Versteck sie boten vor Winter und Wetter und Frost. An den Dächern hin glitzerten Eiszapfen in allen Längen und Formen, wie eine eigens aufgehangene und kunstvoll gearbeitete Verzierung, und wo die Rinnen vollends gegen die Mitte der Gasse zu und einander gegenüber die Drachenmäuler aufsperrten, waren die phantastischen Thierköpfe mit einem noch phantastischeren Eisbarte geziert, der in langen, starren Krystalllocken herniederhing. Das Steigrohr des Dorfbrunnens hatte sich eine mächtige Haube übergestülpt und die große Linde, unter deren Schatten sonst das Wässerlein so frisch hervorplätscherte, hatte an jedem Aste den Schnee wie einen wärmenden Aermel aufgestreift, und stand so starr und ernst, als traure sie um das junge Leben unter ihr, das nun wie versiechend tropfenweise an dem aufgethürmten Eisstocke herniederschlich. Darüber hinaus, am Ende der Gasse, über die Schneehügel und durch die kahlgewordenen Baumwipfel der Gärten, ragten wie die Eisriesen der Sage die Berge herein und ließen ihre Häupter im Widerschein der Sonne erglänzen, welche sich eben anschickte, die kurze Bahn des winterlichen Nachmittags zu beenden. Nichts regte sich in dem weiten, weißen Bilde, als hie und da ein verwunderter Spatzenschwarm, welcher die gewohnte reichliche Nahrung nicht zu finden wußte, oder ein Rabe, der mit glänzendem Gefieder krächzend über das Dorf hinwegstrich; alles andere Leben hatte sich nach innen gezogen und ließ sich in den tactmäßig abwechselnden Schlägen erkennen, welche von den Dreschtennen aus den Stadeln und Scheunen stark und scharf durch die klare, kalte Luft ertönten.
[739] Der rund vorspringende Erker des Osterbrunner Wirthshauses bot ein Plätzchen zur gemüthlichen Betrachtung des Wintergemäldes, wie es kaum geschützter und behaglicher gedacht werden konnte. Die Stube war leer, in dem Erker aber saß der alte Grubhofer verkehrt auf dem hölzernen dreibeinigen Stuhl und drehte den weißen Schnauzbart oder sah, die Hände mit der glimmenden Stummelpfeife um die Stuhllene gekreuzt, in den Winterabend hinaus. Manchmal sprach er auch einige Worte, welche der am großen grünen Kachelofen eingenickten Wirthin gelten sollten, von dieser aber so wenig beachtet wurden, wie er von ihr ernstlich eine Antwort darauf erwartete.
„Die Sonn’ geht ganz roth ’nunter,“ sagte er, „und der Bach rauscht ordentlich; die Kälten wachst tüchtig, man merkt’s wohl, daß es auf Martini zugeht, ich werd’ mich auch auf den Weg machen, sonst gefrier’ ich an, bis ich auf die Gruben hinunter komm’… Aber schau, da kommt noch Einer um das Schulhaus herum … wer muß denn der sein? Er muß ordentlich waten im Schnee, es ist halt noch nirgends eine Bahn geschaufelt … mir scheint, er kommt auf’s Wirthshaus zu und will mir noch gar Gesellschaft leisten; dann kostet’s noch ein Maß’l! Es ist schon so,“ rief er lauter und klappte mit dem Krugdeckel, daß die Wirthin aus ihrem Halbschlummer auffuhr. „Einschenken, Frau Wirthin … das ist kein Mensch, als der Vorsteher von Westerbrunn, der alte Finkenzeller … was mag der noch so spät in Osterbrunn suchen?“
Während der Alte sich erhob und neugierig der Thür zuwandte, war der Finkenzeller schon auf der Schwelle, stampfte sich den Schnee von den Schuhen und schaute verwundert in die Stube. „Ja, wie wär’ mir denn das?“ sagte er, indem er den Reif von Haar und Bart schüttelte. „Ich lauf’ noch im Zwielicht den Weg von Westerbrunn herüber und denk’ mir nit anders, als ich werd’ die ganze Stuben noch voller Leut’ finden, und derweil ist Alles leer und der einzige Grubhofer hockt in der großmächtigen Stuben, wie ein dürrer Nußkern in seiner Schalen! Bin ich denn irrig? Ist denn heut’ nit die Vorsteherwahl in Osterbrunn?“
Die Wirthin kam mit Bierkrügen die Stiege herauf, die gleich von innen in den Keller führte. „Was meinst’, Finkenzeller?“ sagte sie. „Glaubst, ich hab’ mein Holz gestohlen, daß Du da mitten unter der offenen Thür stehen bleibst und Dein Disputat abhalt’st? Du lass’st mir ja so viel Kälten h’rein, daß ich gleich einen ganzen Wald in den Ofen nachschieben darf!“
„Ist ja kein Wunder, wenn man ganz versteinert stehen bleibt,“ sagte der Finkenzeller, indem er eintrat und die Thür mit spöttischer Behutsamkeit hinter sich schloß. „Das ist ja so gut wie ein Mirakel! Ich hätt’ mir eingebild’t, man müßt’ vor Völle Thür und Fenster aufreißen, damit ein frischer Luft in die Stuben kommt; statt dessen ist’s da so licht, wie in ein’ Stadel um Jacobi! Brauchst Dich aber meinetwegen nit zu giften, Wirthin, wie ich wiederkomm’, nehm’ ich einen Mantel voll Wärm’ mit von daheim und bring’ Dir’s, dann gleicht es sich aus! Zeh bin nur froh, daß doch ein Christenmensch da ist, der Einem ’was erzählen kann… Grubhofer, alter Rebeller, da, setz’ Dich her zu mir und hilf mir aus dem Traum… Ist denn nit heut’ die Vorsteherwahl?“
„Gewesen, alter Spezi!“ erwiderte der Alte mit pfiffig vergnügtem Lächeln. „Ist Alles schon in Ordnung – Alles vorbei!“
„In Ordnung? Vorbei? Aber wie, das ist die Hauptsach’! Es hat mir keine Ruh’ gelassen daheim, ich hab’s nit erwarten können, bis ich’s morgen fruh durch die Botengret’l erfahren hält’, ich hab’s heut’ noch wissen müssen, denn Du weißt, was ich auf Denselbigen halt’, den ich mein’, und wenn ich denk’, was das die letzte Zeit her für ein Gezischel gewesen ist und für ein Gewisper, da ist mir oft völlig heiß ’worden im Kopf… Also h’raus mit der Farb’! Wer ist Vorsteher von Osterbrunn? Muß ich schelten oder darf ich juchezen?“
„Du darfst, Finkenzeller,“ lachte der Alte, „wenn Dir der Stimmstock noch nicht umgefallen ist … kein Anderer ist Vorsteher von Osterbrunn, als Derselbige, den Du meinst!“
„Juchhe!“ rief der Finkenzeller, indem er auf den Tisch schlug, den Ton so frisch und kräftig hielt und zog, als wär’ er ein lediger Bursch, der auf’s Wildern ausgegangen und von der Bergschneide herunterjodelt zu den Sennhütten und der wartenden Almerin davor. „Da sollt Ihr schon gleich leben, Ihr Osterbrunner! Das ist ein gescheidtes Stück’l von Euch, daß Ihr Euch die Courage nit habt abkaufen lassen! Ich hab’s alleweil g’sagt, der Aichbauern-Sixt ist ein ganzer und ein richtiger Bursch und an dem ganzen Gered’ ist nit ein Sterbenswörtl wahr!“
Der Alte machte wieder ein pfiffiges Gesicht und hatte viel mit dem Schnauzbart zu schaffen. „Na, na,“ sagte er, „was die Courage anbetrifft, so wollen wir uns nit schöner machen, als wir sind. Es hat bei uns auch Niemand recht an alles das Zeug ’glaubt, aber Du weißt ja, wie das mit so einer Sach’ geht: wenn der Regen auch noch so fein fallt, wenn er halt nit nachlaßt, geht er zuletzt durch das dickste Laub; etwas bleibt halt doch allemal hängen, und wenn man sich noch so stark dagegen spreizt! Zudem hat der gestrenge Herr, der Amtmann, nit aus’lassen und hat immer wieder hineingestochen in das Wespennest, und ich möcht’ nit gut stehen, was zuletzt doch noch geschehen wär’, wenn der Sixt nit ’kommen wär’ und selber das Maul aufgemacht hätt’!“
„Aber wie denn? Erzähl’ doch …“ drängte der Finkenzeller, indem sich Beide wieder in den Erker setzten, durch dessen Fenster der Abend immer kälter und glanzloser hereindämmerte.
„Es ist geschwind geschehen gewesen,“ sagte der Grubhofer, „und wird auch geschwind erzählt sein! Die Männer von der Gemeind’ waren alle da, bis auf den Einzigen, auf den Alles am meisten gespitzt hat, bis auf den Aicher-Sixt … das ist aber dem gestreng’ Herrn ganz recht gewesen und da hat er eine Ansprach’ gehalten, was der Vorsteher für ein großes Thier sei in der Gemeind’ und daß er ein Mann sein müßt’, dem man nit so viel nachsagen könnt’, wie das Schwarze unterm Nagel ausmacht, und hat uns den alten Binder recommandirt und herausgestrichen, das wär’ ein richtiger und christlicher Mann, noch einer von der alten Welt, und den sollten wir wählen, und einen bessern Vorsteher könnten wir gar nit kriegen. Der Binder, der schon bald seinen Siebziger auf dem Buckel hat, hat sich dagegen gewehrt mit Händen und Füßen und hat gesagt, daß er nimmer recht fort könnt’, daß er mit’m Lesen und Schreiben seiner Lebtag über’s Kreuz g’standen ist – es hat Alles nichts geholfen, der Herr Amtmann hat schon anfangen lassen wollen mit der Abstimmung … da ist auf einmal die Stubenthür auf’gangen und der Aichbauer ist herein’kommen…“
„Der Blitzbursch!“ sagte der Finkenzeller und vergaß den Krug, dessen Deckel er schon geöffnet hatte, zum Munde zu führen.
„Du weißt, was er sich für ein Ansehen geben kann,“ fuhr der Alte fort, „gerad’ als wie einer von den Herrischen oder aus der Stadt, und so ist er herein und ‚Grüß’ Gott‘ hat er gesagt, ‚Grüß’ Gott, Nachbarn alle miteinander, und seids nit harb auf mich, wenn ich erst jetzt komm’ und wenn ich Euch jetzt auch noch aufhalten muß … aber ich hab’ Euch was zu erzählen …‘ ‚Erzählen?‘ hat der Gestreng-Herr gesagt und hat dazu ein Gesicht gemacht, wie ein Feld voller Teufel. ‚Die guten Leut’ sind jetzt beieinander wegen der Vorsteherwahl und nicht um Ihre Erzählungen anzuhören… Derlei fremdartige Dinge gehören nicht in die Amtshandlungen hinein…‘ Der Sixt aber hat sich nicht irr’ machen lassen und hat sich mitten in die Stuben hingestellt und hat gesagt, die Geschicht’, die er zu erzählen hätt’, die gehörte auch zu der Gemeindewahl; ‚Sie selber, Herr Baron, haben das letzte Mal gesagt, Sie wollten Alles aufbieten, daß Sie uns bei der heutigen Zusammenkunft den Stammbaum von dem Kind sagen könnten, das bei meiner Bas’ auf dem Oedhof gelegt worden ist, und wer das Kind dahin gebracht hat … also muß die Sach’ doch auch zu der Gemeindewahl gehören.‘ Der Gestreng-Herr hat’s wohl noch einmal probirt, dagegen zu reden, und hat gesagt, das wären Familiensachen, die der Gemeind’ nichts angeh’n … aber die Bauern sind schon unruhig worden und haben gesagt, sie wollten zuvor, eh’ sie wählen, den Sixt anhören, und so hat er denn richtig zu erzählen angefangt.“
„… Aber was denn? Ruck’ nur einmal heraus mit der Farb’!“
„Was sonst, als daß er’s jetzt heraus’bracht hätte, wer die Mutter ist von dem Kind und wer’s auf den Oedhof vertragen hat… ‚Es ist freilich eine harte Buß’‘, hat er gesagt, ‚wenn man so was erzählen und sich selber in’s Gesicht schlagen muß, aber wenn’s darauf ankommt, daß man einem Unschuldigen helfen kann, der drunter leiden muß, dann muß man reden, dann wär’ das Schweigen [740] noch eine viel größere Schand‘ … Darauf hat er erzählt, daß seine eigene Schwester, die Susi, ihm einbestanden hat, daß ein fremder Herr drinnen in der Stadt sie verführt hat, daß sie die Mutter ist von dem Kind und weil sie das Herz nit gehabt hat, sich dazu zu bekennen, und hat doch nit leben können ohne das Kind, hat sich die Franzi um sie angenommen, hat es heimlich aus der Stadt geholt und auf den Oedhof ’tragen. …“
„Also hat sich die Mutter das eigene Kind als ein fremdes vor die Thür legen lassen!“ rief der Finkenzeller verwundert. „Was man nit Alles erlebt auf der Welt, wenn man alt wird! Und die Susi ist die Mutter davon. … Schau, schau, wie sich das Alles zusammenreimt … darum hat sie immer ausgeschaut wie das böse Gewissen und wie die theure Zeit miteinander! Aber die Franzi, das ist auch ein richtiges und ein kreuzbraves Leut … wie ihr das nur so eingefallen ist! Und was sie Alles hat ausstehen müssen deswegen! Und sie hat’s ausgestanden und hätt’ nur den Mund aufmachen und nur einzigs Wörtl’ sagen dürfen! Ich könnt’ gleich noch einmal juchezen vor Vergnügen, daß es doch noch ein solches Leut giebt auf der Welt, – aber eine solche Perl’, die lass’ ich nit aus; gleich morgen in aller Fruh spann’ ich mein Schweizerwagl an und hol mir die Franzi und bring’s meiner Bäuerin heim, und wenn ich das ganze Landl auf und ab fahren müßt’ um sie …“
„Ja, wenn man wüßt’, wo sie wär’,“ entgegnete der Grubhofer bedenklich, „da wär’ Einer, der wär’ Dir schon zuvor ’kommen, denn der Aicher-Sixt hat keinen andern Gedanken, als wie er sie finden kann und kann das gut machen, was sie wegen seiner Schwester unschuldiger Weis’ ausgestanden hat! Aber das ist eben das Kreuz, daß sie nirgends zu finden ist, und wenn sie nit bald gefunden wird, weiß ich nit, was aus der Geschicht’ noch werden soll, – mir kommt’s vor, als thät er sich’s zu Gemüth ziehen und thät völlig vom Fleisch fallen. …“
„Wir wollen suchen helfen Alle miteinander! Aber wie ist’s mit dem gestrengen Herrn gewesen, mit dem Herrn Amtmann? Was hat der gesagt zu der Geschicht’?“
„Das kannst Dir denken!“ rief der Grubhofer lachend. „Der hat alle Farben gespielt vor Aerger, doch was hat er machen wollen! Er hat gezahnt wie der Holzfuchs, dem die Trauben zu hoch gehängt sind … aber er ist auf den Aichbauern zu’gangen und hat ihn auf die Achseln geklopft und hat gesagt: ‚Das ist schön von Ihnen, Herr Aicher, daß Sie Alles so frei und offen selbst erzählen … da sieht man, daß die alte Treue und Biederkeit doch in den Bergen wenigstens nicht ausgestorben ist‘ …“
„Und daß es nachher mit der Wahl kein Zureden mehr gebraucht hat, das kann ich mir einbilden!“
„Versteht sich; der Gemeindevorsteher ist fertig gewesen, eh’ man eine Hand umgedreht hat, und wenn noch fünfzig Stimmzettel da gewesen wären, es wär’ auf keinem was Anderes gestanden, als der Aicher von Aich!“
„Darum ist Alles schon so früh auseinander! Aber der Herr Amtmann, ist der auch so geschwind fort?“
„Noch bälder als die Bauern, die sich doch erst haben ein Bissel ausschwatzen müssen! Er hat nicht einmal das End’ abgewartet und hat dem Schreiber gesagt, er soll nur das Protokoll fertig machen und damit nachkommen, und dazu hat er eine gute Ausred’ gehabt – ein Expresser ist gekommen vom Amt, der hat ihm wichtige Neuigkeiten gebracht. … Der Nußbichler Alisi, der Haderlumper, den sie alleweil noch eingesperrt haben, weil er ihnen hätt’ verrathen sollen, wie’s beim letzten Haberfeld zugegangen ist und wer Habermeister ist, der hat das Gitter von seiner Keuchen ausgebrochen und ist davon …“
„Ist ihm auch nit zu gut, dem armen Kerl! Sie sollten ihn einmal in Ruh’ lassen … er soll ja ganz übergeschnappt sein, seit er in Arrest sitzt …“
„Das ist’s nit allein gewesen; die zweite Neuigkeit, die war noch viel wichtiger. … Weißt ja, Finkenzeller, es hat alleweil schon geheißen, die Regierung drinnen in der Stadt wär’ nicht zufrieden mit dem gestreng’ Herrn wegen dem Bericht über den Waldproceß und wegen dem Haberfeld und wegen allerhand, und es sollt ein Commissari geschickt werden, der Alles an Ort und Stell’ untersuchen sollt’ und verhören …“
„Hab’ auch schon davon ’was läuten hören!“
„Na also … der Nußbichler ist aus’kommen und der Commissari ist an’kommen, das ist die zweite Neuigkeit gewesen …“
„Und die ’langt just mit auf den Weg,“ sagte der Finkenzeller und leerte seinen Krug, „drum wollen wir machen, daß wir auch weiter kommen … Ich will mich auf die Füß’ machen, damit ich die Westerbrunner noch beieinander treff’ und meine Neuigkeiten gleich auspacken kann … es ist schon völlig finster draußen und wenn der Schnee nit leuchten thät’, müßt man den Weg mit den Händen greifen …“
„Es ist so gefährlich nit,“ sagte der Grubhofer, indem er sich ebenfalls erhob und die angelaufene Fensterscheibe abwischte, um in die Nacht hinaus sehen zu können, „es wird bald licht werden, wenn der Mond herauf kommt …“
„Der Mond?“ lachte der Finkenzeller. „Wenn wir auf den warten wollten, könnt’s ein Bissel spat werden … der kommt nit vor Mitternacht …“
„Warum nit gar!“ rief der Grubhofer wieder. „Da drüben zwischen den Häusern über’n Waldspitz hin kommt es schon ganz licht herauf …“
„Wahrhaftig,“ sagte der Andere, hinzutretend, „aber das ist kein Mondschein, Grubhofer … dafür ist’s viel zu breit auseinander und zu unruhig …“
„Hast Recht, Finkenzeller,“ rief der Grubhofer hastig, „das ist Feuer … da brennt’s! Aber wo kann das sein? Ich mein’, das wär’ in der Richtung gegen Miesbach hin …“
„Und ich mein’, wir machen, daß wir fortkommen,“ sagte der Finkenzeller, „wir geh’n dem Schein nach, da werden wir schon seh’n, wo das Feuer ist, und können ein Bissel löschen helfen … Meinst nit auch, alter Rebeller?“
Sie gingen eilig; draußen im Dorfe wurde es laut, man vernahm Stimmen und das Anschlagen an den Glocken, das zum üblichen Feuerzeichen dient. Schauerlich tönten die hallenden Schläge durch die Nacht; die nickende Wirthin fuhr wieder aus ihrem Schlummer empor, rannte zum Fenster und beschaute den immer heller und breiter über dem schwarzen Tannenwalde auflodernden und die Schneeflächen weithin beleuchtenden Feuerschein. „Ein hartes Unglück,“ murmelte sie, sich Stirn und Brust bekreuzend, „bei der Kälten doppelt hart, wer’s auch ist, den es trifft!“ Dann trat sie zu dem Wandschränkchen, in welchem die Krüge und Gläser aufbewahrt waren, und holte einen zierlich gewundenen rothen Wachsstock hervor; sie zündete ihn an und stellte ihn auf den kleinen Hausaltar vor das geschnitzte Bild eines Heiligen, der in römischer Kriegertracht, eine rothe Fahne in der einen Hand, mit der andern einen Kübel Wasser über ein zu seinen Füßen stehendes Haus ausgoß, aus dessen Fenstern die geschnitzten und bemalten Flammen schauerlich emporschlugen. Dann nahm sie gegenüber ruhig Platz und betete zu Sanct Florianus, daß er ihr Haus und Gehöfte vor gleicher Heimsuchung bewahren möge.
[753] Die beiden Männer eilten, so gut es in dem tiefen Schnee auf wegloser Bahn anging, dem Scheine zu, sich in Muthmaßungen erschöpfend, wo denn das Feuer ausgebrochen sein könne. Von allen Seiten kamen andere dunkle Gestalten über den Schnee heran; aus jedem Hause eilte die Bewohnerschaft herbei, dem vom Unglück betroffenen Nachbar so viel wie möglich beizuspringen; Einzelne kamen auf halbgezäumten Pferden heran, um die Nachricht des Unglücks in die entlegeneren Orte zu tragen, bis zu welchen der Feuerlärm nicht zu dringen vermochte. An den Eilenden vorüber sauste ein Gespann von vier vollständig angeschirrten Pferden, ein Reiter auf dem vordersten, der es wie im Fluge gegen das Dorf hinan jagte.
„Aha,“ sagte Einer der Männer, „der neue Gemeindevorsteher zeigt sich schon … war das nicht der Aicher, der so dahin sprengt?“
„Gewiß!“ rief der Grubhofer in dem anstrengenden Schneelauf etwas inne haltend. „Der hat von seinem Hof aus das Feuer gesehen und hat gleich wieder den Nagel auf den Kopf getroffen! Er reit’t in’s Dorf hinein, um die Feuerspritzen zu holen, und weil’s sonst allemal schier eine Stund’ her’gangen ist, bis man gewußt hat, an wem der Umgang ist zum Vorspannen, und bis richtig eingeschirrt gewesen ist, hat er gleich seine eigenen Ross’ mitgebracht!“
„Ich hab’ mir’s gleich von Anfang gedacht,“ sagte der Finkenzeller, während sie wieder vorwärts eilten, „es muß das Feuer in irgend einer Waldhütten oder sonst einem einschichtigen Haus sein, denn es liegt keine Ortschaft in der Richtung und so hoch, daß man den Brand so sehen könnt’, und Ihr werdet auf meine Red’ kommen, es ist nirgends anders als auf dem kleinen Einödgütl, das über der Mangfallhöh’ liegt, in dem Winkel vor’m Rantinger Forst …“
„Das wär’ ja dasselbe, das einmal dem Nußbichler gehört hat, dem Haderlumper!“ erwiderte ein Anderer. „Die Richtung könnt’s wohl sein, aber das täuscht gar sehr bei der Nacht – das Gütl ist ja leer, es wohnt kein Mensch darin, weil’s nächstens wieder versteigert werden soll … wie soll denn da ein Feuer auskommen?“
Eben bogen die Eilenden um die letzte Waldspitze vor, welche ihnen den Anblick verwehrt hatte, und standen auf die Entfernung von ein paar Schußweiten dem brennenden Gebäude gegenüber.
„Der Finkenzeller hat Recht behalten,“ sagte der Grubhofer, „es ist wirklich das Nußbichler-Gütl! Wie kann denn da ein Feuer aus’kommen sein? Das müssen rein fremde Schelmenleut’ angezünd’t haben …“
„Oder es hat’s gar der narrete Nußbichler in seiner Desperation selber gethan!“ rief der Finkenzeller. „Wenn’s wahr ist, daß er aus dem Gefängniß ausgesprungen ist, könnt’s nit unmöglich sein!“
Sie nahten bereits der Brandstelle; das Gütchen lag freundlich auf einer Wiesenblöße, welche nach drei Seiten vom Walde umschlossen, nach der vierten hin sich gegen den scharfen Thaleinschnitt senkte, in welchem die Mangfall zwischen schroffem Gestein und engen Steilen dahin braust. Die Flammen hatten bereits das ganze Haus und alle Nebengebäude ergriffen und stiegen in hohen Säulen und mächtigen Bündeln in den dunkeln Nachthimmel empor, bald sinkend, bald mächtiger ausschlagend, je nachdem ein neu ergriffener Balken oder ein vergessener Rest von Futter oder Streu neue Nahrung darbot; prasselnd und Funken streuend, daß die Sterne davor wie auslöschend erbleichten, die ganze Gegend mit unheimlicher Röthe übergießend, welche rings die schwarzen schneebedeckten Tannen erkennen ließ und die einzelnen nackten Buchenstämme unter ihnen, wie eine Schaar von dunklen Wächtern, welche das Gehöft, das sie so lange vertraulich gehütet, in starrem Entsetzen untergehen sahen! Dazu waltete tiefes feierliches Schweigen über der ganzen Umgebung; man vernahm kein Rufen oder Jammern derjenigen, deren Hab’ und Gut zu Grunde ging und welche in der Einsamkeit vergeblich um Hülfe riefen – die das Geschrei und den Lärmen der Rettung bringen sollten, eilten erst von allen Seiten heran – einsam, feierlich, wie eine riesige Opferflamme verrichtete das entfesselte Element sein furchtbares Amt.
„Da wird nimmer viel zu löschen und zu retten sein!“ rief der Finkenzeller, indem er mit seinen Gefährten vor dem brennenden Gebäude ankam. „Das alte Gebälk brennt wie ein Bündel Spähne! Gut, daß nicht viel drin sein wird, als ein Gerümpel von ein paar alten Tischen und Stühlen, um das kein Schade ist! Von Holz und Stein ist auch nichts mehr zu gebrauchen, und da das Haus so allein liegt und das Feuer nicht weiter kommen kann, ist’s wohl das Beste, man läßt den ganzen Plunder ruhig in sich zusammenbrennen …“
Einer der Männer hatte sich dem Gebäude etwas genähert, so weit es bei dem Herabfallen des Feuers vom Dache und dem drohenden Einsturze des glühenden Gebälkes möglich war; zu gleicher Zeit kam Sixt mit seinem Viergespann angejagt, hinter sich mächtige [754] Schlittenkufen, auf welche die Spritze gesetzt worden war, die er sogleich in Thätigkeit treten ließ.
„Jesus Maria!“ rief entsetzt zurückspringend der Mann, der sich dem Erdgeschosse genähert hatte, dessen Fensterläden verschlossen waren. „Das wär’ ja schrecklich! Mir ist’s gewesen, als hätt’ sich was gerührt in der Stuben … als wenn ich ’was gehört hätt’ wie eine menschliche Stimm’ …“
Niemand hatte etwas vernommen, Alle waren einig, es für eine Täuschung zu erklären; da verstummte ihnen das Wort im Munde, der Athem stockte und Grausen sträubte ihnen das Haar.… Aus der untern Stube des flammenden Hauses drang deutlich, nicht zu verkennen der halberstickte Jammer- und Angstruf eines Menschen; aus den Spalten der Fensterläden qualmte Rauch, das Feuer schien von oben die Decke durchgebrannt zu haben.
Wildes Stimmengewirr des Schreckens antwortete. „Balken her! Einen Feuerhaken her! Rennt die Läden ein … es ist wer in dem Haus …“ Die mit der Spritze angekommenen Männer schleppten rasch einige Stangen herbei, mit mächtigen Stößen wurden sie bald gegen die Fensterläden geführt und das alte Holzwerk fiel schnell in Trümmern herab.
Der Rauch qualmte dichter heraus; in demselben gewahrte man ein neues Hinderniß des Eindringens; die Fenster waren mit starken Eisenstäben vergittert. „Drauf!“ hieß es wieder. „Die Stangen mit den Haken gefaßt! Reißt sie heraus!“ … Die Scheiben klirrten, das Holzwerk krachte im Mauergefüge – lauter, entsetzlich lauter ertönte das Angstgeschrei.
Jetzt waren die Läden nach allen Seiten beseitigt; der eingeschlossene Rauch fand überall einen Weg zum Abzug, die Luft verdrängte ihn und fachte dafür die Gluth zur Flamme an – eine helle Lohe schlug in der bis dahin verfinsterten Stube empor; Sixt war der Erste, der hinzugesprungen war, einen Blick hinein zu werfen, um zu erkennen, wer sich im Hause befinde und wie ihm geholfen werden könne.
„Es ist der Nußbichler!“ rief er und taumelte zurück, die Hände vor die gluthgeblendeten und rauchgebeizten Augen schlagend. „Er liegt am Boden und ist von Rauch betäubt, wie es scheint … auf dem Tisch aber liegt ein ganzer Haufen Silbergeld …“
„Der Nußbichler!“ rief es durcheinander. „Wie kommt der da hinein? Wenn er drinnen ist, dann hat kein anderer Mensch das Feuer angelegt als er! Dann sollt’ man ihn nur gleich mit verbrennen lassen, den Lumpen!“
„Nicht doch, Nachbarn,“ übertönte Sixt den Lärmen mit gebieterischer Stimme, „wenn er auch ein Nichtsnutz ist, ein Mensch ist er doch und ist in Gefahr – und wer ein richtiges Herz im Leib hat, der laßt sein’ Mitmenschen nit stecken in der Gefahr! Wir wollen uns was darauf einbilden, daß gerad’ wir es sind, die ihn heraus holen aus der Falle, in die er sich selber eingesperrt hat, wie mir scheint! Frisch angepackt, zugegriffen, wer ein Herz im Leib hat!“
Seine Worte und sein Wesen bewährten wieder die schon öfter erprobte Wirkung; sie waren Befehle, denen Jeder sich fügte, weil sie etwas von ächt gebieterischer Natur in sich hatten; keine Widerrede war weiter zu vernehmen, jeder Einwand war verstummt, aber Alles griff mit erneuter Thätigkeit zu Arbeit und Werkzeug. Während Einige die Haken an den Stangen einhingen und die Eisengitter loszureißen strebten, waren Andere bemüht, mit Balken die ganzen Fensterstöcke heraus zu wägen; eine dritte Schaar gebrauchte einen starken Baumast als Sturmbock, um die Thür einzurennen. Es war vergeblich; die noch wohl erhaltene, fest gefugte Thür widerstand den heftigsten Stößen, sie war offenbar von innen verrammelt; der Nußbichler mußte sich selbst eingeschlossen haben und saß nun gefangen in eigener Falle.
Die Vermuthung war auch vollkommen begründet.
Der Aufenthalt im Kerker, die stete brütende Einsamkeit hatten das Wirrsal in dem erhitzten Kopfe des Unseligen immer mehr gesteigert; er lebte im dumpfen Wahne dahin, und wie in einer ausgebrannten Feuerstätte noch ein einziger letzter rother Funken glimmt, glühte in ihm nur der eine Gedanke fort, zu entkommen und zwar zeitig genug, um sein früheres Gütchen wieder erwerben zu können. Wie schon erwähnt, war dasselbe, da der nach Alisi gekommene Besitzer es zu behaupten nicht vermocht hatte, wiederholt zum Gantverkaufe um den gerichtlich bestimmten geringen Schätzungswerth ausgeboten worden, aber in der Tagfahrt war Niemand erschienen, der ein entsprechendes Gebot gelegt hätte; es war daher bereits zur zweiten Versteigerung ausgeschrieben, bei welcher der Zuschlag um jedes, auch das geringste Gebot, erfolgen mußte. Der verhängnißvolle Tag rückte näher und näher; sollte nicht alle Hoffnung, das Gütchen jemals wieder zu erwerben, für ihn mit einmal und unwiederbringlich zerstört werden, so mußte er in den nächsten Tagen in Freiheit sein und dieser Gedanke trieb ihn unablässig wie ein glühender Stachel. Ob er demungeachtet das Gütchen erhalten, ob die Behörden ihn in den Besitz lassen würden, ob die Summe, die er nach dem, was ihm abgenommen worden, noch besaß, genügen werde: das Alles bedachte und erwog er nicht, für ihn war Alles erreicht, hatte er nur erst die Gefängnißmauern hinter sich.
Mit einem alten, mühsam aus dem Boden gewundenen Nagel hatte er begonnen, in die Wand zu graben, wo das einzige Fenster seiner Zelle eingemauert war, und nach Tagen und Nächten der unsäglichsten Anstrengung war es ihm wirklich gelungen, den Holzrahmen rings herum so locker zu machen, daß dieser noch immer festzusitzen schien, in Wirklichkeit aber nur noch lose eingesetzt war. Niemand beachtete das wochenlange mühevolle Werk, weil der Gefangenwärter sich immer begnügte, einen flüchtigen Blick durch den Raum zu werfen, und weil man das Entkommen für unmöglich hielt. Die Mauern waren fest, die Bohlen und Eisenbeschläge der Thüren undurchdringlich und das Fenster war so weit über Manneshöhe angebracht, daß man es auf den Zehen stehend und die Arme streckend kaum mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Dennoch hatte die Kraft seines Wahnes dem Gefangenen das Unmögliche möglich gemacht; das Fieber seines Gehirns hatte ihm die Muskeln gestählt, daß er es vermochte, sich an der Wandschräge wie ein Kletterer mit angestemmten Knieen emporzuarbeiten und festzuhalten und so sein langwieriges Werk zu vollenden. Am Tage vor der Versteigerung war er so weit gekommen; die Wollendecke seines Lagers, in Streifen geschnitten und aneinander geknüpft, bot ihm ein bequemes sicheres Mittel, sich draußen an dem Gemäuer herabzulassen und so mit einem nicht sehr gefährlichen Sprunge den Graben zu erreichen, der unbewacht war und wo er, zumal in der Nacht und in dem Schneegestöber, in welchem sich eben die Wolken entluden, keine Entdeckung mehr zu fürchten hatte. Mit dem Winde, der die Flocken jagte, flog er quer über Rain und Feld und machte im angestrengten Laufe nur einmal Halt, an einer Waldspitze, wo ein kleines Bächlein unter Weiden hinkroch und er in einem hohlen Stamme einen Theil seines Reichthums verborgen hatte.
Mit einem unterdrückten Schrei preßte er den Beutel mit den Münzen in der Tasche seiner Jacke fest an die Brust und rannte in doppelter Schnelligkeit, bis er dem ersehnten Ziele gegenüber stand. Da die Thür des Hauses verschlossen war, brach er, mit dessen Gelegenheit vollständig vertraut, in der Nähe des Stalles ein Brett hart am Boden aus und zwängte sich, gleich einer Natter durchkriechend, in den innern verlassenen Raum. Er tastete sich durch Stall, Küche und Fletz bis in die Wohnstube und war überglücklich, als er auf dem Ofen, wo sonst das Feuerzeug zu liegen pflegte, die dürftigen Reste eines solchen entdeckte und es ihm gelang, einige Funken hervor zu locken. Ein Bündel vergessener Spähne diente, ihm den gewohnten, einst so lieb gewesenen Raum zu beleuchten; bei dem fahlen unsicheren Schein eilte er in der Stube umher, wie ein Kind all’ die Gegenstände und Kleinigkeiten betastend, welche noch vorhanden waren, weil sie, als ein Stück des Hauses und zu demselben gehörend, in ihm verbleiben und mit ihm von Hand zu Hand gehen. Da war der alte Tisch, über demselben das in der Wand eingelassene Kreuzbild mit einem längst verdorrten staubigen Büschel von Palmweide und Dorn, das Weihbrunnkesselchen in der Thür, der mächtige Ofen mit seinen nach innen vertieften runden Kachelstücken. Lachend streichelte er denselben und fing wie mit einem alten Bekannten halblaut mit ihm zu plaudern an. „Friert Dich, alter Camerad?“ sagte er. „Geht mir auch nicht besser; aber dem wollen wir bald abhelfen … ich will ein Feuer in dir anmachen, daß es nur so wacheln (wehen) soll. … Wenn das Weib kommt mit dem Buben, wird sie nicht wenig ausgefroren sein … dann soll sie eine warme Stube finden …“
Er eilte fort. Bald hatte er einige Bündel Reisig und alte Holzstücke ausgefunden, und in wenigen Augenblicken prasselte eine lustige Flamme in dem Ofen empor. Kichernd kauerte er davor nieder und das glasig schimmernde Auge, mit welchem er in das [755] Feuer starrte, verrieth, daß der Wahn sich immer stärker und völliger seiner bemächtigte. Mit toller Geschäftigkeit schleppte er immer mehr Reisig herbei, jauchzte über das immer wachsende Lodern und Prasseln und gewahrte darüber nicht, daß der lange nicht benutzte Kamin im obern Stocke geborsten und Funken in den Dachraum immer reichlicher auszusprühen begann. Schon loderte es hell auf unterm Gebälke, als er noch in unsinniger Freude am Tische stand, die Silberstücke aus seinem Beutel darauf hin rollen ließ und sich ergötzte, wie sie im Lichtschein glitzerten und funkelten, und welche Freude sein Weib haben werde und vor Allem sein Bub’, wenn sie heim kämen und die warme heimathliche Stube wiederfänden und in ihr den unvermutheten blinkenden Reichthum. Als der von oben herabgedrückte Qualm und Rauch bereits in die Stube zu dringen begannen und in ihm die erste Ahnung einer ihn umgebenden Gefahr aufdämmern ließen, war es zum Entrinnen bereits zu spät; er riß die Thür auf, aber die Dampfwolke drang unwiderstehlich erstickend herein und schleuderte den Betäubten zu Boden.
Jetzt, mit dem Hinzutreten der Luft, mit dem Beginn einer ziehenden Strömung, fing die Wolke an zu weichen und auch dem in der Nähe des Ofens Hingestreckten kehrte die Fähigkeit des Athmens und mit ihr ein dämmerndes Bewußtsein wieder; unsicher schlug er die Augen auf, aber der erste Blick fiel in den grellen Schein der oben hereinbrechenden Gluthen und mit einem Schrei des Entsetzens sprang er jählings vom Boden auf, plötzlich vollkommen klar und deutlich der ganzen Gefahr seiner Lage sich bewußt werdend. Wie ein wildes, feuerscheues Thier, das im Käfig eingeschlossen das brennende Haus über sich gewahrt, mit einem Gebrüll der Angst und Wuth an die Eisenstäbe springt und sie durchbrechen will, so stürzte der Nußbichler in einem Satze an die äußere Thür, prallte aber taumelnd zurück, denn er selber hatte sie auf das Sorgfältigste verrammelt, und war in der Hast und Angst des Augenblicks ohne Kraft und Sinn, die Spreizen und Stangen, die er selber angebracht, schnell genug zu beseitigen; ein wüthendes Geheul drang wie unwillkürlich aus seiner Kehle, denn er hörte und sah, wie draußen die Retter Alles aufboten, zu ihm hereinzudringen, er sah über sich das glimmende und lodernde Dachgebälk, sah es sich senken und hörte es knistern und krachen und dachte der Möglichkeit, daß es einstürzen könne, ehe ihnen ihr Vorhaben gelungen war.
„Das ist schrecklich anzuhören,“ sagte draußen der Finkenzeller, „das vergess’ ich nit und wenn ich hundert Jahr’ alt werden thät’. … Frisch, Nachbarn, greift noch besser zu, daß wir den armen Menschen aus seiner Pein erlösen. … Ich mein’, dem könnt’ die Narrheit vergangen sein für alle Zeit und die Bosheit dazu …“
„Richtet den Schlauch besser auf das Gebälk’!“ rief mit mächtiger Stimme Sixt dazwischen, „vielleicht können wir’s löschen, eh’ es einstürzt. … Aber nehmt es nit geradezu, laßt den Wasserstrahl von der Seiten hinstreichen, damit die Gewalt nit erst beitragt, es umzuwerfen …“
„Geht nit, Vorsteher,“ rief eine Stimme von der Spritze herüber, „der Brunnen ist gebrochen – wir haben kein Wasser mehr …“
Darüber hinaus erscholl das Wehgeschrei des Unglücklichen aus dem brennenden Hause. „Ich muß verbrennen!“ rief er. „Ich muß ersticken! Helft, helft, Nachbarn, um Gottes Barmherzigkeit helft! Warum muß ich so ein schreckliches Schicksal haben … ich bin unschuldig … laßt mich nit verbrennen! … Jesus, die Balken da droben fangen schon zu fallen an … helft mir! Laßt mich hinaus! Wenn’s denn sein muß, so will ich es eingestehen! … Ja, ich hab’s gethan! Ich hab’ meinem Bruder das Haus über’m Kopf angezünd’t … ich bin schuld, daß er arm ’worden ist, ich bin schuld, daß der alte Ahnl schier mit verbrunnen ist … Laßt mich hinaus, ich will’s Alles bekennen … ich will die Straf’ aushalten, die mir gehört … nur verbrennen … Jesus Maria und Joseph, nur verbrennen laßt mich nit …“
„Hört Ihr?“ riefen die arbeitenden Bauern durcheinander. „Er besteht’s ein … also ist er vom Gericht doch ohne Grund freigesprochen worden und das Haberfeld hat Recht gethan …“
„D’rauf!“ tönte der gewaltige Ruf des Aichbauern. „Die Thür bricht – noch einen Stoß und wir dringen hinein …“
Zerschmettert krachte in der nächste Secunde die Thür hinein, aber zugleich, mit der Schnelligkeit des Augenblicks, vielleicht erschüttert durch die Heftigkeit des letzten Anpralls, neigten die wankenden Balken und Sparren des Daches sich gegen einander und stürzten herab – eine Funken stäubende Gluthmasse, welche Alles unter sich begrub und in welcher das Geschrei des Lumpensammlers erlosch …
Alle Arbeit hielt inne, der Gewalt des Moments gegenüber, vor welchem jede menschliche Thätigkeit in schauerlicher Nichtigkeit erlahmte. Einige begleiteten den Einsturz mit einem Ausruf des Schreckens. Andere zogen die Hüte und Mützen, falteten die Hände und sprachen ein Stoßgebet für den Unseligen, der ein schweres Verschulden in so furchtbar schwerer Weise gebüßt. Bald wich die augenblickliche Erstarrung, wie sie gekommen war, und Alle stürzten nach dem Gluthhaufen, ihn auseinander zu reißen und zu retten, wenn durch ein Wunder noch etwas zu retten sein sollte; nach Verlauf einer halben Stunde war es den vereinten Bemühungen gelungen, auf den Grund zu dringen: man fand einen fast unkenntlichen schwarzgekohlten Körper – unweit davon lagen Stücke geschmolzenen Silbers.
Am Tage darauf hielt ein Schlitten vor dem an der Landstraße weit vom Dorfe vorgeschobenen und ziemlich einsam gelegenen Wirthshause zu Haching, dem letzten Dorfe, ehe man auf der nun verwaisten Hauptstraße von Tegernsee her aus den Bergen gegen München herankommt. Es war frisch-helles Wetter mit blauem, klarem Himmel und tausend und tausend Sternen und Funken, die auf dem unabsehbar hingedehnten ebenen Schneegefilde glitzerten und schimmerten. Unbekümmert um das schöne Schauspiel, den Windzug nicht achtend, der, von Zeit zu Zeit eine kleine Partie lockern Schnees vor sich her wehend, ziemlich empfindlich von Norden her über die Fläche strich, ging der junge Aichbauer mächtigen Schritts vor dem Hause hin und wider; wer ihn lange nicht gesehen, mochte zweifeln, ob das gesunde Roth seines Angesichts etwas bleicher geworden, oder ob nur das Schneelicht es um einen Ton heller scheinen machte; nicht zu verkennen aber war, daß die Stirn, auf welche die Pelzmütze tief hereingezogen war, nicht so wolkenlos aussah, nicht so offen, wie damals, als er Franzi an der Kreuzstraße entgegengetreten war. Es mußten ernste Gedanken sein, die ihn beschäftigten, denn manchmal hielt er in seinem Wandeln wie unwillkürlich an, als besorge er sich selbst in der Bilderreihe zu unterbrechen, die an seinem Gemüthe vorüberzog; dann beschleunigte er den Schritt wieder, wie wenn es gälte, ein Entfliehendes zu halten oder sich zu rasch entschlossenem Handeln aufzuraffen. Mehrmals eilte er dann dem Stalle zu, wo das Gespann gefüttert wurde, und schien unzufrieden, wenn er zurückkehrte, daß die Weiterfahrt sich noch immer verzögerte.
Der Lehrer von Osterbrunn, der, in einen tüchtigen Bauernmantel gewickelt, von der Straße herankam, unterbrach ihn in seinen Betrachtungen.
„Nun, wie steht es?“ fragte er, näher tretend. „Ist der Braune wieder im Stande? Können wir bald wieder fort?“
„Es geht,“ antwortete der Bauer, „der Gaul ist gestern Nacht bei dem Brand etwas angestrengt worden und hat sich ein Bissel verschlagen, scheint’s … aber der warme Trunk, den ich ihm eingeschüttet habe, thut seine Schuldigkeit und in einer Viertelstunde können wir uns wieder auf den Weg machen…“
Der Lehrer that, als habe er die Rede des Bauern gar nicht vernommen; er gab sich den Schein, als sei er selbst mit dringenden andern Gedanken beschäftigt, die seine ganze Besinnung in Anspruch nähmen: ein Blick auf Sixtens erregtes Aussehen und die Unruhe seines Gebahrens mochte ihn dazu veranlaßt haben. Er hatte die Muße des unfreiwilligen Aufenthalts in dem kleinen einsamen Dorfe zu einem Rundgange durch dasselbe benützt und schien vollauf mit dem Gesehenen beschäftigt. „Man kann doch überall und immer etwas beobachten,“ sagte er hinzutretend, „wenn man nur die Augen aufmachen will! Da bin ich vor ein paar Jahren hier vorüber gereist, es war im Spätsommer, gerade zum Beginn der Erntezeit, aber mit der Ernte sah es trübselig aus, ein Hagelwetter war Tags zuvor über die Gegend gezogen und so weit man sah, war das Getreide geknickt und die Halme in den Boden hineingeschlagen, daß man nichts erblickte, als schwarze Erde und Stoppeln drinnen… Da war auch ein Apfelbaum, im Wirthsgarten über der Straße, an dem ich schon manches Jahr meine Freude hatte, ein schöner kräftiger Stamm mit einer Rinde so glatt wie Sammet und so glänzend [756] wie Seide, eine Prachtsorte, echter Winter-Stettiner und war dies Jahr wie übersäet gewesen mit der ersten Frucht … den Baum hatt’ es auch bös’ mitgenommen! Er stand gerade in der Ecke, über welche das Unwetter am ärgsten hingestrichen war… Die halbreifen Früchte lagen zu Hunderten im Grase herum unter den abgeschlagenen Blättern und Aesten, es war fast kein Laub mehr an den Zweigen, die Rinde war zerfetzt und losgeschält und die meisten von den jungen Fruchttrieben waren geknickt… So leid es mir that um den Baum, ich mußt’ ihn beinahe verloren geben! Aber er ist eben tüchtig in der Wurzel, und hat’s glücklich überstanden, ich hab’ es so eben gesehen: der Baum hat sich wieder erholt, die Rinde ist bis auf ein paar Risse und Narben wieder so glatt wie zuvor, überall hat sich neues Fruchtholz angesetzt, und im nächsten Frühjahr wird der Baum dastehen in einer Blüthenpracht, schöner als er noch jemals gestanden ist…“
Sixt war nicht dazu aufgelegt, an den Baumfreuden des Lehrers Theil zu nehmen, und beachtete noch weniger die geheime Beziehung, die ziemlich unverhohlen hineingelegt wurde; stumm war er neben dem Redenden hergeschritten und hatte auf den Ruf eines Knechts sich dem Stalle genähert, wo endlich die Pferde abgefüttert, erwärmt und zur Abfahrt bereit standen. Mit unverkennbarer Hast half er dem Knechte, dem das Anschirren nicht flink genug von der Hand ging, ebenso eilfertig ergriff er Peitsche und Zügel, und eh’ der Lehrer sich kaum recht in die grüne zottige Schlittendecke gewickelt, sauste das Gespann schon pfeilschnell mit klingelnden Schellen über die festgefrorene Schneebahn dahin. Geraume Zeit fuhren die Reisenden schweigend dem eintönig schwarzen Tannenforst zu beiden Seiten entlang; kein Gespräch kam in Schwung, wenn auch der Lehrer mehrmals versuchte, ein solches einzuleiten, und bald auf die Schneespuren aufmerksam machte, wo ein Hirsch über die Straße gewechselt hatte, bald auf eine Stelle, wo auf dem weißen Grunde die abgebissenen röthlichen Schalen, dicht aufgestreut herumliegend, erkennen ließen, wie sehr sich ein genäschiges Eichkätzchen an den harzigen Tannzapfen erlustirt hatte; der Aicher blieb schweigsam und in sich gekehrt.
Er hatte wohl auch Grund dazu. Viel war in den letzten Tagen auf ihn eingedrungen, es waren starke, einander stark widerstrebende Strömungen, die es in seinem Gemüthe zu bändigen und zu gleichmäßigem Flusse einzudämmen galt. Hatte auch die Stellung in Dorf und Gemeinde durch seine Erwählung zum Gemeindevorsteher sich wieder befestigt, daß seiner Ehre und seinem Ansehen als Mann weder Schädigung noch Gefahr drohen konnte, so war doch der Mensch von den Schauern und Ereignissen der vergangenen Nacht tief ergriffen und erschüttert worden – vergebens suchte er die Zweifel und Bedenklichkeiten über die Berechtigung seines geheimen Amtes zu beschwichtigen, welche durch diese Vorfälle in ihm hervorgerufen worden waren: er fand keine andere Beruhigung, als daß mit dem eingetretenen Winter die Zeit desselben abgelaufen sei und bis zum nächsten Herbste und zum Wiederbeginn des Volksgerichts noch genügend Raum und Gelegenheit geboten sei zu Ueberlegung und Entschluß.
Dazu war gekommen, daß auch auf dem Oedhof die Verhältnisse sich auf’s Neue bedenklich verwickelt hatten.
Die greise Bäurin und Base hatte in ihrer Unerbittlichkeit und althergebrachten Sittenstrenge, sobald sie zur Besinnung gekommen, Susi aus dem Hause gewiesen und den Himmel zum Zeugen aufgerufen, er solle ihr eher das Dach über’m Haupte in Feuer aufgehen lassen, als daß sie freiwillig noch eine Nacht mit ihr unter demselben zubringe. Um noch größeres Aufsehen zu vermeiden, hatte Sixt bereits überlegt, ob er die Unglückliche zu sich auf das väterliche Gut bringen oder eine andere Unterkunft für sie ausmitteln solle; da löste die Frage sich von selbst, denn die Aufregung der Schwester, welche so hoch gestiegen war, daß sie entweder sofort aufhören, oder in Wahnsinn übergehen mußte, brach zunächst die kaum erst wiedergesammelte Körperkraft des schwächlichen Mädchens und warf Susi so schwer auf’s Krankenlager, daß sie aus dem Hause zu bringen gleichbedeutend gewesen wäre mit einem Versuche, sie geradehin zu tödten. Ein schlechtes Gemach in einem Nebengebäude des Hofes, das hie und da den Ehehalten oder Aushülfs-Tagwerkern zur Herberge dienen mußte, war Alles, was der eiserne Unwille der Greisin der Unglücklichen zugestehen konnte, ohne mit sich und ihrem Schwur in Widerspruch zu gerathen; dort lag Susi, von einer Magd nebenher gewartet und bedient, in der Gluth eines hitzigen Fiebers, das schon am ersten Tage in höchster Stärke ausbrach und sie dem Tode so nahe brachte, daß es sich nur um die Zahl der Stunden zu handeln schien, innerhalb deren sie demselben verfallen sollte. Viele Tage war sie so gelegen und erst in den letztern hatte der Geiste der Jugend über die anstürmende Wuth der Krankheit gesiegt, es war, als ob es das Verlangen nach dem ihr entrissenen Kinde gewesen, was sie in dem Ringen aufrecht erhalten, als ob die kämpfenden Mächte eine Art Stillstand geschlossen, um nach dem Wiederfinden und Wiedersehen den Kampf mit neuer Heftigkeit und gesteigerter Erbitterung wieder zu beginnen. Sterbensmatt, unfähig, ein Glied zu regen, lag Susi, als ihr die Nebel und Fieberbilder vor der Seele verflogen waren; es war fast nur das Herz, was in ihr sich regte, aber das erste Gefühl seines Schlages war das der Sehnsucht nach dem Kinde; seiner Erinnerung gehörte der erste Gedanke, ein Ruf nach ihm war der erste lallende Laut, die erste Frage an das wiedergekehrte Leben die nach seinem Aufenthalt. Die Magd zögerte nicht, den Bruder von diesem stündlich dringender wiederholten Verlangen in Kenntniß zu setzen; auch der Doctor schrieb ihm und rieth, der Kranken den Willen zu thun. Ihre ganze Lebensthätigkeit, geistig wie körperlich, erklärte er, sei so ganz und ausschließend in dem einen Gedanken zusammengedrängt, daß die Möglichkeit der Genesung nur von diesem Punkte aus gehofft werden könne; wisse die Leidende nur erst den Aufenthalt des Kindes, so sei ihrer Sehnsucht ein bestimmtes Ziel gegeben, damit und mit den Plänen des Wiedersehens werde Gleichmaß und Ruhe in das Gemüth wiederkehren und die Heilung des Körpers anbahnen, ihr den sehnlichen Wunsch verweigern werde neue Stürme der Leidenschaft wie der Krankheit herbeiführen, denen das ohnehin in seinen Grundfasern geschädigte Leben die nöthige Widerstandsfähigkeit nicht mehr entgegen zu setzen habe.
All’ diesem gegenüber bestand für Sixt kein Grund längeren Schweigens; er gewann es über sich, der Kranken einen kurzen Besuch zu machen, und eröffnete ihr, daß das Kleine sich wohl befinde, daß für all’ seine Bedürfnisse mehr als ausreichend gesorgt sei und daß ihr gemeinschaftlicher Jugendfreund und Lehrer es gewesen, durch dessen vertraute Hand das Mädchen der Pflege und Sorge der barmherzigen Schwestern im städtischen Waisenhause übergeben worden sei.
Susi erwiderte nichts, allein von diesem Augenblick trat in ihrem Befinden und Benehmen eine entschiedene Wendung zum Bessern ein; sie ward ruhiger, sie fragte nicht mehr, aber sie bestürmte den Arzt, wann es ihr wohl möglich sein würde, das Bett zu verlassen und wie sie ihre Herstellung beschleunigen könne … überraschend schnell war sie so weit gekräftigt, daß sie manchmal ein Viertelstündchen aufzustehen vermochte; ehe Jemand solches für möglich gehalten, war eines Morgens das Stübchen leer und sie selbst mit einem Päckchen der nothdürftigsten Habseligkeiten verschwunden.
[769] Die Nachricht von dem Verschwinden Susi’s hatte das lang gehegte, über neuen Ereignissen stets verschobene Vorhaben des Bruders rasch zum Entschlusse geführt und ihn auf den Weg zur Stadt gebracht. Er konnte nicht anders vermuthen, als daß die Schwester sich geraden Weges in das Waisenhaus begeben habe; in die Hauptstadt führten und wiesen auch immer mehr und bestimmtere Spuren jener Andern, die er mit blutendem Herzen suchte und vor deren Wiederfinden ihm doch zugleich bangte, wie dem Schuldbewußten vor der Ahnung richtender Vergeltung. Daß Franzi sich dahin begeben, war nach allen vom Lehrer geradezu und mittelbar eingeholten Erkundigungen außer Zweifel gestellt; keinerlei Anzeichen deutete darauf hin, daß sie München wieder verlassen hatte; wo sie sich aber befand, war schlechterdings nicht zu erkunden. In der ersten Zeit war sie noch von dem Einen oder Andern der Ortsbewohner und Nachbarn bei flüchtiger Begegnung erblickt worden, seit dem Allerseelentage wußte Niemand mehr von Franzi, und hier war es der Metzger, Meister Staudinger, welcher ein paar Miesbachern in die Hand gerathen war und ihnen, obschon sie Mühe gehabt, ihn wieder zu erkennen, mit dem alten Groll und der frühern Verbissenheit erzählte, er habe die nichtsnutzige Person auf dem Friedhofe gesehen, wo sie in zerrissenen Kleidern die Leute um ein Almosen angesprochen und Alles in einem schlechten Bündel mit sich getragen habe, ihr ganzes Vermögen und ihre ganze Schande. Als sie ihm dann zu erzählen versucht, wie er dem Mädel Unrecht thue und wie es nun ganz klar herausgekommen sei, daß sie unschuldig sei und welche Bewandtniß es habe mit dem gelegten Kinde und seiner Mutter: da hatte er sie kaum angehört und war mit widerlichem Gelächter und dem steten Rufen, das seien lauter Faseleien, denen er nicht glaube, so schnell hinweggeeilt, wie er es vermochte mit seinen schmerzenden Beinen und seinem Krückenstock …
„Seit Allerseelen ist eine schöne Zeit,“ sagte Sixt auf einmal halb vor sich hin, ohne Anlaß, als wäre er mitten in voller Unterredung gewesen und nicht stumm durch den abenddämmernden Wald gefahren; es war, wie wenn er sich selber laute Antwort gäbe in dem leisen Zwiegespräch seiner Seele … „Seitdem kann sie lang’ wieder fort und über alle Berge sein! …“
Der Lehrer war wohl verwundert, seinen schweigsamen Fuhrmann und Nachbar so auf einmal wie im Schlafe aufreden zu hören, er ließ es aber nicht merken, sondern begnügte sich, ihm einen leichten Seitenblick zu streifen und mit gutmüthigem Lächeln zu erwidern. „Das ist wohl möglich,“ sagte er, „aber nicht wahrscheinlich; die Franzi ist noch so gewiß in München, wie der alte Staudinger das gelogen hat, was er über das Betteln erzählt hat und über das zerrissene Gewand! Aber er soll uns schon beichten, der alte Fuchs … er soll schwer krank beim Schwanenwirth an der Isarbrück’ liegen, wo er von seiner Handelschaft her lang bekannt ist, und soll sehr schlecht daran sein … Das wird ihn wohl ein bischen mürber gemacht haben, und so denk’ ich wohl, daß wir ihn zum Reden bringen. Ich meine auch, in neuster Zeit auf eine Vermuthung gekommen zu sein, die ihm wohl die Zunge lösen wird …“
„Welch’ eine Vermuthung sollt’ das sein?“
„Wenn es Zeit ist, reden wir davon … jetzt wären wir ja schon an unserm Ziel, da sind bereits die ersten Häuser von der Au; wir könnten auch gleich beim Schwanenwirth zukehren, aber es ist besser, wenn uns Niemand zuvor sieht, damit dem Alten kein Gered’ vorher zukommen kann. Drum stellen wir beim Damenwirth ein; ist ja seiner Zeit das Quartier von den Edelfräulein und Hofdamen gewesen, wenn die kurfürstlichen Jagden in den Isar-Auen gehalten worden sind; da wird’s also wohl für uns Beide auch jetzt noch geben, was wir brauchen, und bis da Alles untergebracht ist, geh’ ich voraus zum Schwanenwirth und mach’ Alles in Ordnung …“
Der Vorschlag ward ohne Widerrede angenommen und ausgeführt.
Bald schritt Sixt dem Hause zu, an dessen Sattelgiebel der weiße Schwan, von grünem Kranze umgeben, als Schenkzeichen einladend über den Laternen hing; drüber hinan waren die Fensterreihen und das Walmdach dunkel, nur ein Fenster in der Ecke war verhangen und beleuchtet; es mochte die Stube sein, wo der Gesuchte lag.
Der Lehrer empfing Sixt bereits unter der Thür. „Wir sind schon an der rechten Schmiede,“ flüsterte er ihm zu, „ich habe mit der Wirthin schon geredet; sie nimmt keinen Anstand, daß sie uns als ein paar gute Bekannte aus dem Oberland zu dem Alten hinaufführt … übrigens soll er sehr elend sein und die meiste Zeit nichts von sich wissen; es ist eine Schwester von den Barmherzigen bei ihm, die ihn auswartet, denn den Dienstboten vom Haus ist es bei ihrer andern Arbeit zu viel geworden und zu schwer – wir wollen keinen Augenblick zögern, hinauf zu gehen.“
[770] Nach ein paar verständigenden Worten schritten Beide der Wirthin nach über die schmale gewundene Treppe in den engen langen Gang des obern Stockwerks, zu dessen beiden Seiten sich die Fremdenzimmer Thür an Thür reihten – die Wirthin deutete an das Ende des Ganges; dort, in der Ecke war das Zimmer des Gesuchten.
Das Gemach war klein und nur mit der nothdürftigsten Einrichtung versehen, wie sie für eine Nacht oder einen nur vorübergehenden Aufenthalt dem fremden Wirthshausgaste wohl genügt, für die Dauer aber ein so unwirthliches wie unheimisches Ansehen giebt. Eine angestrichene Bettstelle mit nicht sehr einladendem Lager darinnen, ein Tisch in der Ecke, eine Commode unter einem matten Spiegel und ein paar einfache Stühle mit Rohrsitzen bildeten nebst ein paar bemalten Steindruckbildern an den Wänden und den ausgewaschenen Kattunvorhängen der Fenster den ganzen Hausrath. Auf dem Ofensims, durch die vorspringende Kaminwand etwas gedeckt, brannte eine schwache Lampe und warf karges Licht, aber dafür desto sonderbarere Schattenbilder der Gegenstände an Wand und Decke; Tisch und Kasten waren mit Fläschchen und Gläsern bedeckt, deren Inhalt sich schon aus den Formen erkennen ließ und deren Anzahl zeigte, wie unsicher in der Wahl ihrer Heilmittel die ärztliche Kunst bereits diesem Lager gegenüber stand – der leichte Duft von Moschus verrieth dem Kundigen, daß sie schon eines der letzten versucht hatte, ein erlöschendes Leben noch einmal zu neuem Aufraffen anzutreiben.
Der alte Staudinger, unkenntlich, zum Gerippe abgezehrt, lag auf dem Bette mit geschlossenen Augen, eingebrochenen Wangen und zuckenden Lippen; die fleischlosen Hände ruhten auf der Decke und die Finger machten räthselhafte unfreiwillige Bewegungen, als versuchten sie etwas zu fassen und von der Decke aufzulesen. Zur Seite des Bettes stand eine weibliche Gestalt, in das schwarze Gewand und die dunkle Haube der barmherzigen Schwestern gekleidet, wie es die Novizinnen tragen, welche gesonnen sind, in den Orden einzutreten, und sich zu diesem Eintritt und zur Ablegung des ewigen Gelübdes durch strenge Ausübung der schweren Ordenspflichten einüben und vorbereiten. Die Nonne neigte sich leicht über den Kranken und schien mit theilnehmender Sorgfalt die Athemzüge desselben zu beobachten – plötzlich aber richtete sie sich rasch empor und eilte der Thür zu, draußen auf dem Gange ließen sich Tritte und Schritte vernehmen.
„Sie kommen,“ flüsterte sie vor sich hin, „das werden die Landsleut’ aus dem Oberland sein, von denen die Wirthin gesagt hat, daß sie den Herrn besuchen wollen.“
Die Stimmen wurden deutlicher; es war ein Klang darunter, den sie nicht verkennen konnte und der sie im Innersten ihrer Seele erbeben machte.
„Mein Gott,“ stammelte sie, „ist denn das nicht … ? Ja, er ist es! Wie kommt der daher? Was kann er bei dem Kranken wollen? .. Gleichviel! Du bist es auf keinen Fall, Franzi, was er sucht… Dich soll er nit zu Gesicht kriegen… Niemand, keine menschliche Seel’, die mich daheim verrathen könnt’, soll mir vor die Augen kommen…“
Sie eilte auf den halb erleuchteten Gang hinaus und kam eben recht, um den Herankommenden in einen Seitengang auszuweichen, dessen Dunkel, verbunden mit ihrer Tracht, sie gewiß machte, nicht erkannt zu werden.
„Das sind die zwei Männer aus dem Oberland,“ sagte die Wirthin, „sie haben was Wichtig’s mit dem Herrn Staudinger zu reden, was kein’ Aufschub vertragt – kann man hinein zu ihm?“
Die Schwester antwortete nicht; sie nickte blos und deutete nach der Thür des Krankenzimmers.
„Eine brave Person, die Schwester,“ sagte die Wirthin im Weiterschreiten, „sie pflegt den schwer kranken Mann, daß es eine Freud’ ist, ihr nur zuzuschau’n … eine eigene Tochter könnt’ nicht aufmerksamer sein – aber schier ein jedes Wort muß man ihr abkaufen! Die verredet sich gewiß nicht – die muß es wieder herein bringen, was unser Eins den ganzen Tag über zuviel reden muß … aber du lieber Gott, das geht halt einmal nicht anders in einem offenen Geschäft!“
Die Thür war bald erreicht; sie traten ein, die Wirthin ohne viele Umstände voran und geradezu an das Lager hin. „Da sind zwei Männer,“ sagte sie, ihn leicht an der Schulter fassend, „die wollen mit Ihnen reden, machen S’ die Augen auf, Herr Staudinger – es ist was sehr Wichtig’s…“
Der Angeredete schlug mit unverkennbarer Anstrengung die Augen auf; starr und trübe ruhte sein Blick auf den vor ihm Stehenden; er hatte die Worte vernommen und schien auch deren Sinn zu verstehen, denn es war eines Pulses Dauer, als ob sich das Auge belebe, als ob er die Männer erkenne und eine helle Bilderreihe an ihm vorüber schwebe; die Bilder schienen noch einmal sich zum Gedanken ordnen, der Gedanke sich zum Worte sammeln zu wollen – vergebens! Die der Auflösung entgegen eilenden überreizten oder ermatteten Organe gehorchten dem schwach aufflackernden Wollen nicht mehr, die starre Zunge blieb regungslos, die Lippe unbeweglich und mit einem Seufzer, der die arbeitende Brust erhob, um auf halbem Wege zu ersterben, fielen auch die verglasenden Augen wieder zu.
„Da ist es umsonst,“ sagte die Wirthin halbleise, „von dem ist nichts mehr zu erfragen, ihr Herr’n, der macht es keine Stunde mehr! Seht nur, die Nase wird schon ganz spitzig.“
Ernst zuckte der Lehrer die Achseln; Sixt schwieg in tiefer Bewegung – der Gedanke, daß wieder eine Spur, die wichtigste und letzte, verloren war, daß er wieder der vorigen noch gesteigerten Ungewißheit gegenüber stand, überfiel ihn mit seiner ganzen Last. Es war, als ob er darunter wanken wollte; mindestens mußte der scharfsichtige Lehrer etwas Solches glauben, denn er faßte dessen Arm in den seinigen und führte ihn zur Thür hinaus. Wie sie den Gang dahin schritten, wo die geschäftige Wirthin sie nicht hören konnte, sagte er leise mit festem Handdruck: „Die Courage nicht verloren! Der Garten wäre nicht so schön, wenn er nicht so viele Feinde hätte … aber mit rechter Sorge wird man doch über all’ die Raupen und Werren und Spinnen Herr; auf Regen folgt Sonnenschein und im Sonnenschein gehen die Knospen auf! Es ist was in mir, Sixt, was mir für gewiß sagt, daß wir sie doch finden, und das bald!“
Sie waren eben an dem dunklen Seitengange und an der barmherzigen Schwester vorübergegangen – kein Laut war ihr entgangen. Eine Wallung stieg in ihr auf, hell und leuchtend, wie der erste Aufblick einer emporsteigenden Freudensonne … er suchte Jemand; wie, wenn sie selbst es wäre, der sein Forschen galt? Wenn er sich anders besonnen, wenn er erkannt hätte, wie schweres Unrecht er ihr gethan? .. Der Gedanke war aber kaum ausgedacht, als er wieder hinter den Vorstellungen der Wirklichkeit sich verlor: graues Gewölk verbarg und umzog den anbrechenden Morgen. Hatte sie zuerst beinahe schon den Fuß erhoben, um hervor zu treten, so trat sie jetzt, wie um sich vor der eigenen Schwäche zu wahren, noch einige Schritte tiefer in das Dunkel; sie drückte die Falten des dunklen Gewandes fester an die Brust, sich selbst an ihren Vorsatz zu mahnen und an die ernste Pflicht, die sie in dem Krankrenzimmer übernommen; standhaft hörte sie die Tritte der sich Entfernenden immer weiter und schwächer verhallen. Sie war jetzt froh, daß sie es gethan – was auch hätte ihr Vortreten zu helfen vermocht? Mußte er nicht gar glauben, sie wolle sich in seinen Weg drängen, wolle ihn an das erinnern, was sie für ihn gethan? Sie, an die er vielleicht in keinem andern Sinne dachte, als daß es ihn drückte, ihr verpflichtet und der Schuldner eines verachteten, von ihm und der Welt verurtheilten Geschöpfes zu sein?
Tief aufathmend, aber in sich beruhigt, gehoben von dem Gefühle des Sieges, den sie über ihre eigene Schwäche errungen, ausgerüstet mit dem Bewußtsein voller Gewißheit und Kraft, ihr Opfer ganz zu vollenden!
Der Kranke lag wie zuvor, doch schien die Vorhersagung der Wirthin sich zu erfüllen. Der Zustand der Schwäche ging immer mehr in den vollständigen Nachlassens über: die Athemzüge wurden kürzer, schwerer und lauter und die Stirn bedeckte sich mit eisigen Tropfen. Ergriffen, ein leises Gebet auf den Lippen, stand die Barmherzige neben dem Leidenden und trocknete ihm mit sanfter Hand den kalten Schweiß vom Antlitz…
Da war es, als ob die Berührung noch einmal Leben und Bewegung in die erlahmenden Fibern und Sehnen brächte; als hätte der glimmende Docht vor dem Erlöschen noch einen letzten Tropfen Oel gesogen, … blitzähnlich oder wie wenn ein plötzlicher Windstoß die Nebelschicht hinweghebt, die über einer Thaltiefe gelegen, und die volle Einsicht frei giebt in dieselbe – so kehrte dem Alten mit Einer Secunde Leben, Gefühl und Bewußtsein zurück. Die Seele war klar, damit kam wieder Licht in das Auge und in die Kehle der Ton…
[771] Er sah die Wärterin über sich gebeugt und erkannte sie.
„Franzi,“ stammelte er mühsam, „Du bist bei mir? … So ist’s keine Phantasie gewesen, daß ich Dich um mich geseh’n hab’ im Fieber? Du bist meine Krankenwärterin?“
„Ja, Herr,“ erwiderte sie sanft, „sei’n Sie mir nit bös deswegen und erzürnen Sie Ihnen nit! Ich hab’ Unrecht gethan, wie ich Ihnen das letzte Mal begegnet bin – dort auf dem Kirchhof, am Grab meiner Mutter … ich hab’ harte Wort’ ausgesprochen gegen Sie und hab’ seitdem keine Ruh’ mehr in mir gehabt und kein’ Frieden. Ich wollt’ gleich zu Ihnen, wollt’ Sie aufsuchen und mein Unrecht eingesteh’n, aber ich hab’s nit gewagt, ich hab’ gefürcht’t, Sie könnten glauben, daß es nur das Interesse oder eine andere Absicht sein könnt’, was mich zu Ihnen führt… Wie ich aber gehört hab’, daß Sie so krank geworden sind und so einsam und verlassen da liegen, da hab’ ich mich nimmer halten lassen und hab’ mir gedenkt, Sie werden mich wohl nit so leicht erkennen, bei Ihrem Zustand und in dem Gewand da! So hab’ ich wenigstens meine Schuldigkeit gethan, wie’s eine Andere gethan hätt’, wenn sie noch am Leben wär’! Was geschehen ist zwischen ihr und Ihnen … ich will’s unserm Herrgott überlassen, will nit seiner Hand vorgreifen und seiner ewigen Barmherzigkeit! Ich hab’s erfahren, an mir selber, was es um die Menschen ist und um ihr Urtheil … ich will’s dem Himmel überlassen und nit richten anstatt seiner… Bleiben Sie ruhig, Herr … denken Sie nit, daß ich es bin, die Sie bedient, denken Sie, es ist eine ganz unbekannte wildfremde Person. … Ich bin ja schon zufrieden, daß Sie noch einmal zu sich ’kommen sind und haben mich erkannt und daß ich bitten und sagen kann, so recht von Herzensgrund, daß Sie mir verzeihen sollen…“
„Verzeihen?“ erwiderte der Alte, über dessen Antlitz sich immer mehr ein lächelnder Friede breitete, wie er in den harten Zügen wohl nimmer gehaust. „Ich Dir? Du bist es ja, die ich um Verzeihung bitten muß … für Dich und Deine Mutter! Ich hab’ schlecht gethan an allen Beiden … ich hab’ Dir schweres Unrecht zugefügt; ich hab’ Dich verleumdet, Dich … mein eigenes Fleisch und Blut … mein gutes, braves Kind, das so viel hat ausstehen müssen in seiner Unschuld… Verzeih’ mir, Franzi,“ fuhr er mit erlöschender Stimme fort, „verzeih’ mir für Deine Mutter und für Dich … wenn Du es thust, dann kann ich erst ruhig sterben … denn dann weiß ich, daß mir auch unser Herrgott verzeiht, wenn ich hinüber muß in die Ewig …“
Schwäche überwältigte und hinderte ihn, zu vollenden. Das Haupt sank von der versuchten Erhebung schwer zurück; der Athem versiechte und die Augen schlossen sich, dennoch war etwas über sein ganzes Wesen ergossen, als ob die Erregung seine Kräfte und Geister in neue Spannkraft versetzte … die Athemzüge wurden ruhiger und gleichmäßiger und gingen in jene eines tiefen Schlummers über.
Die Schale des Lebens schnellte den Tod empor und sank, sie sank von dem einzigen Tropfen reiner Freude, den dieser Augenblick in sie geträufelt.
Franzi war betend in die Kniee gesunken, ihre Lippen sprachen das Wort der Vergebung nicht aus, aber desto lauter rief es ihr Herz. Sie beugte das Haupt und neigte das Antlitz auf das Bett, um ihren Scheitel wehte es wie der Fittig eines Engels, der seine entsühnende Palme auf sie niedersenkte.
Im Waisenhause war ein fröhlicher Abend angebrochen: in einer großen Stube, die außerhalb des eigentlichen Hausverschlusses lag, war die Christbescheerung eingerichtet, damit auch die wenigen Verwandten und Wohlthäter der Kinder Zutritt haben konnten, ohne die klösterlich strenge Ordnung der Anstalt zu verletzen. In der Mitte auf kleiner Erhöhung stand eine stattliche Tanne, von unzähligen Wachskerzen schimmernd und reichlich behangen mit Allem, was Auge, Hand und Mund der begehrlichen und so leicht begnügten Kinderwelt reizen kann und was geeignet war, in der Sorge für ihre kleinen Freuden und Bedürfnisse den Gedanken und das schmerzliche Gefühl von ihnen fern zu halten, daß sie diejenigen entbehrten, denen diese Sorge die liebste Pflicht sein würde und das schönste Glück, daß es nicht ein Vaterauge war und nicht Mutterhand, die den Baum geschmückt und beleuchtet. In argloser, ahnungsfreier Fröhlichkeit drängte und jubelte die kleine Schaar um die kostbare Tanne; wer sie so glücklich sah, mochte die grauen Jacken vergessen, in denen sie warm und behäbig steckten, die aber doch unablässig daran mahnten, mit wie vielen Thränen der noch so kurze Lebensweg eines jeden dieser armen Kinder begossen sein mochte, bis die sichere Pforte erbarmender Liebe sich schützend hinter ihm geschlossen. Einige Schwestern waren anwesend, dunkle Merkzeichen für den überlustigen Schwarm, der stets geübten Ordnung und Ruhe nicht völlig zu vergessen; auch Franzi war gekommen, der Zustand ihres Großvaters hatte sich von Stunde zu Stunde so entschieden gebessert, als zuvor der Verfall rasch und plötzlich gewesen war; sie hatte es wohl wagen dürfen, ihn einige Stunden anderer Pflege zu überlassen, ihr Herz drängte sie, den heiligen Abend im Waisenhause zuzubringen … es war ja für sie so voll bedeutsamer Erinnerungen, und stand sie auch an einem neuen Wendepunkte ihres Lebens – hier war es doch immer, wo der Quell ihrer Tage den Lauf in die Welt begonnen, hier war es ihr Vergnügen und Bedürfniß, in Gedanken an dessen Rinnsal hinauf zu wandern, durch die sonnigen Fluren und die Eisschluchten, die er schon durchwandert, und in Träume zu versinken, welche Laufbahn ihm noch bestimmt sein mochte, ob mit anderem Gewässer vereinigt stattlich und wirkungsreich dahin zu strömen, oder allein mühsam sich durch Gestein und Klippen zu ringen, oder im breiten Sumpfe sich zu verlieren oder im Sande verrinnend zu versiechen…
So sinnend sah sie den spielenden Kindern zu und war Anfangs nicht im Mindesten überrascht, als ihr gegenüber eine Thür sich aufthat und Susi vor ihr stand; waren doch ihre Gedanken um den lieben Aichhof geschwebt – war es ein Wunder, wenn eine seiner vertrauten Gestalten ihr wie leibhaft entgegen trat? Erst als diese, im höchsten Grade überrascht, mit einem Ausruf der Freude ihr entgegenflog, als sie ihre Arme um den Nacken, ihren Kuß auf den Wangen fühlte, kam sie aus ihrer Träumerei zu sich und fand sich erwachend im Arme der schönsten Wirklichkeit. Es war eben das Glockenzeichen erklungen, das Kindervölkchen mußte sich zurückziehen und von der Freude scheiden; sehnsüchtig zurückschauend, halb willig, halb widerstrebend, folgten die Kleinen dem Rufe und der führenden Hand, sie lernten zum ersten Mal, was das Leben so oft von seinem Schüler begehrt, zu entsagen und der Freude den Rücken zu wenden, wenn sie am lieblichsten lacht!
Die Freundinnen waren beinahe allein und Niemand war, der die frohen Ergießungen des Wiedersehens gestört oder belauscht hätte.
Susi vermochte lange nicht zu sich zu kommen, vor Staunen und Freude.
„Ja, ja, Du bist es schon,“ rief sie und betastete Franzi’s Wangen und Stirn, wie um sich von ihrer Körperlichkeit zu überzeugen. „Das ist Dein liebes, gutes Gesicht, das sind Deine guten, treuen Augen! Aber wie kommst Du daher? Und jetzt und in dem Gewand?“
Franzi wandte die Augen ab und bemühte sich, ihrem Tone Alles zu entnehmen, was den Anklang eines Vorwurfs haben konnte… „Frag’ nit,“ sagte sie sanft, „Du weißt es ja eh’, was mich vertrieben hat von daheim…“
„Wer wüßt’ es besser, als ich!“ rief Susi feurig. „Bist ja um meinetwillen fort, ich bin’s ja gewesen, die Dich vertrieben hat… Um mich glücklich zu machen, hast Du Dich selber in’s Unglück gebracht … aber jetzt hat ja alles Leidwesen ein End’! Was willst in dem traurigen, schwarzen Gewand?“
„Ich versteh’ Dich nit,“ erwiderte Franzi, „aber das Gewand ist mir schon recht, das hab’ ich mir ausgesucht… In dem Haus da ist meine zweite Heimath gewesen; die würdige Mutter, die mich kennt und noch gern hat von derselbigen Zeit her, hat mich aufgenommen, einstweilen als dienende Schwester … meine erste Heimath, bei meinen lieben Eltern, die hab’ ich verloren … aus der dritten, bei Dir, auf dem Aichhof, bin ich verstoßen worden … das Waisenhaus ist meine zweite Heimath gewesen, es wird wohl meine Bestimmung sein, daß ich drinn’ bleib…“
„Aber warum denn?“ fragte Susi verwundert. „Dir steht ja die ganze Welt wieder offen! Hast Du denn gar nichts erfahren? Weißt Du denn gar nichts, was geschehen ist, seitdem Du verschwunden bist? Kannst gar nit errathen, warum ich da bin und was ich im Waisenhaus zu suchen hab’?“
Franzi blickte sie verwundert an. „Ich begreif’ Dich nit,“ sagte sie. „Red’ doch …“
[772] „Ich bin da,“ fuhr Susi fort, „weil ich in der höchsten Noth endlich gethan hab’, was ich längst, was ich gleich von Anfang hätt’ thun sollen … weil ich Alles einbestanden hab’ …“
„Susi …“ rief Franzi wie erschrocken und fuhr mit beiden Händen an Stirn und Augen, um sich zu vergewissern, daß sie recht gehört. „Du hättest … aber das ist ja nit möglich! Das kann ja nit sein … dann wär’ ich ja wieder rein von aller bösen Nachred’ und Schand’ …! Dann müßten ja die Leut’ wieder wissen, daß ich unschuldig bin…“
„Gewiß, alle Welt weiß es schon!“
„Alle Welt? Also ich bin nimmer an das Wort gebunden, das ich Dir gegeben hab’? Meine Zung’ ist wieder frei? Alle Welt weiß, daß ich unschuldig bin … also auch er?“
„Er? Wen meinst Du?“ fragte Susi verwundert.
„Sixt,“ entgegnete Franzi rasch, besann sich aber ebenso geschwind und setzte zögernd und niedergeschlagenen Blickes hinzu: „den Aichbauer mein’ ich … Deinen Bruder…“
„Gewiß weiß es auch er … er ist es ja gewesen, dem ich meine ganze Schuld einbekannt habe, nur um wieder zu meinem Kinde zu gelangen…“
Hastigen Athems erzählte sie das Geschehene; gierig lauschte Franzi und immer tiefer und röther begann es auf ihren Wangen zu brennen.
„So ist es gegangen,“ schloß Susi ihre Erzählung, „nun freue Dich, Franzi, freu’ Dich, so stark ein Mensch sich freuen kann, Du hast wohl Ursache dazu und Du kannst es, denn Du hast ein reines Herz und ein gutes Gewissen! … Ich will thun, was meine Schuldigkeit ist … ich will in dem Haus da, bei meinem armen Kindel bleiben, so lang es das Leben hat. Es ist schwer krank, sie trösten mich wohl und wollen mir guten Muth machen, aber ich weiß es besser, als der Doctor und alle die guten Schwestern miteinander … mein Kind muß sterben, denn ich bin’s nit würdig, eine Mutter zu sein; ich hab’s nit verdient, daß mir ein solches Glück zu Theil werden sollt’… Wenn’s die Engel abgeholt und zu sich genommen haben, das arme Würmchen, dann will ich Dich ablösen, Franzi, und statt Deiner den Schleier anlegen und das schwarze Gewand…“
Eine abwehrende Geberde Franzi’s zurückweisend, fuhr sie ruhig, aber entschieden fort: „Es ist schon so – Du aber, Du mußt in die Welt zurück, in unsere Heimath! Du mußt Dich zeigen vor den Menschen, die Dich schlecht gemacht haben, damit sie sich schämen müssen und den Hut abziehen vor Dir, vor dem bravsten Madel und vor der standhaftesten Freundin! Du mußt wieder auf den Aichhof …“
„Niemals … niemals!“ rief Franzi und entzog der Freundin die Hand, als hätte sie dieselbe bereits erfaßt, um sie auf den verhängnißvollen Hof zu geleiten. Verwundert faßte Susi wieder darnach und zog sie begütigend an sich. „Was ist Dir denn?“ sagte sie besorgt und zärtlich. „Du erschrickst ja und hast auf einmal die Augen voll Wasser? Du, die starke herzhafte Franzi … So hab’ ich Dich ja all’ mein Lebtag nit geseh’n!“
Beide waren heftig erregt; in ihrer Umarmung gewahrten sie nicht, daß die Thür aufging und Sixt mit dem Lehrer eintrat.
„Warum wolltest Du nit auf den Aichhof zurück?“ begann Susi wieder. „Du wirst wohl müssen … der Bruder sucht Dich ja schon Wochen lang überall – er wird nit ruhen, bis Du mit ihm gehst!“
„Müssen?“ entgegnete Franzi, sich etwas aus ihrer Erschütterung erhebend. „Ich mein’, die Franzi hätt’s bewiesen, daß sie nit muß, wenn sie nit will. … Dein Bruder weiß es auch, daß ich nit mit ihm gehen kann; ich hab’ es ihm selber gesagt – früher schon, noch bevor die ganze Verwirrung gekommen ist … wie er mir erzählt hat, daß er auf seinem großen Hof eine tüchtige Hauserin braucht und eine richtige Magd, und hat mich wollen dingen dazu …“
„Aber warum denn? … So sag’ mir doch wenigstens die Ursach’ …“
„So hat er mich auch gefragt – ich kann’s Dir so wenig sagen, wie ihm …“
„Das ist aber völlig unbegreiflich! Er möcht’ ja so gern gut machen, was er Dir Leids gethan hat. … Kannst ihm denn gar nit verzeih’n? Ist er Dir denn gar so verhaßt?“
„Verhaßt? Mir?“ rief Franzi unwillkürlich ausbrechend. „O, ich wollt’, Du hättest Recht – mir wär’ leichter um’s Herz …“
„Wie?“ erwiderte Susi, die Freundin umschlingend, welche das tief erglühende Antlitz an ihrem Herzen verbarg. „Er ist Dir nit verhaßt und doch …“
„Marter’ mich nicht, Susi,“ sagte Franzi, sich ermannend, „laß Dir’s genug sein, wenn ich Dir sag’, daß es nicht sein kann! – Wie’s mit mir geh’n wird, kann ich nit sagen … ich hab’ ja auch meinen Großvater wieder gefunden … das aber weiß ich gewiß, mein Brod wachst überall! Was hätt’ ich auf dem Aichhof zu suchen? Sollt’ ich zuschauen, wie’s dort doch einmal kommen muß … Nein, nein, wohin mich unser Herrgott auch noch führt – auf den Aichhof führt kein Weg mehr für mich …“
„Wenn ich aber doch noch einen Weg wüßte …“ sagte Sixt, der unbeachtet näher getreten und Franzi’s Hand erfaßte.
Sie sprang und schrie auf in Schrecken und Freude; sie wankte, aber sie hatte weder die Kraft zu sprechen, noch ihm ihre Hand zu entziehen.
„Es giebt noch einen Weg auf den Aichhof,“ fuhr er mit herzlich dringendem Tone fort, „nit für das Waisenkind, denn das besteht ja nicht mehr – nit für die Jugendcameradin und Spielgenossin, denn die hat sich von mir abgewendet – nit für die Hauserin und Magd, denn ich kann Dein Herr nit sein, da ich die Herrschaft Niemand Andern zu verdanken hab’, als Dir … aber für die Bäuerin giebt’s einen schönen, breiten, einen offenen Weg … Laß mir Deine Hand, Franzi! Laß mir s’ auf immer und geh’ mit mir auf den Aichhof als – mein Weib!“
„Sixt …“ rief Franzi mit auffunkelndem Entzücken in den Augen, aber im Augenblick besann sie sich und sagte, sich abwendend: „Du vergißt Dich! … Eine Kellnerin kann nit Bäuerin werden auf dem Aichhof!“
„Ja, Du hast Recht,“ rief er innig entgegen, „gieb mir sie nur zu kosten, all’ die Bitterkeit, die ich Dir eingeschenkt hab’ zum Ueberlaufen … ich will den Becher austrinken bis auf die Neig’ … dann aber sag’, daß Du mir verzeihst, – mach’ mir das Herz frei und das Gewissen leicht … sag’ Ja und komm’ mit mir auf den Aichhof!“
Sie schien noch unschlüssig zu schwanken, aber sie widerstrebte nicht, als er sie leise umfaßte und an sich zog, innig, mit unaussprechbarer Glückseligkeit tauchte ihr Aug’ in das seine. „Ist denn das möglich,“ sagte sie zärtlich, „Du bist es, Sixt, der so mit mir redt? Bin ich wirklich keine schlechte ehrvergessene Person mehr vor Deinen Augen? Du schmähst mich nicht mehr, Du schiltst mich nicht?“
„Wie könnt ich!“ rief Sixt beseligt. „Sieh, ich möchte Dir ja die Hand unter die Füße legen, damit kein Stein Dich stoßen sollt’! Was hast Du Alles gethan – Du hast Dich aufgeopfert für die Ehr’ und den guten Namen von uns und unsern Eltern, hast Unglück auf Dich genommen und Schimpf und Schande getragen; hast Dich ungerecht verurtheilen lassen und hast geschwiegen, wo es Dich nur ein einziges Wort gekostet hätte, die ganze Schuld und Schmach von Dir auf uns abzuwälzen! Du hast mir’s nit nachgetragen, was ich Dir angethan hab’ in meiner hochmüthigen Verblendung – Du hast mich sogar noch gerettet und hast mir erhalten, was mehr ist als das Leben und als der ganze Aichhof und Alles … laß mich nit ewig Deinen Schuldner bleiben, Franzi! Laß mich anfangen Dir zu danken und nimm’s an, wenn ich Dir Alles dafür geb’, mich selbst und Alles, was ich hab’ und bin!“
„Ich kann noch immer nit glauben, daß ich nit schlaf’,“ sagte Franzi, „ich sorg’, ich könnt aufwachen und all’ die Glückseligkeit wär’ nur ein Traum! Ist es denn wahr, Sixt – kannst mich wirklich gern haben?“
„Von Herzensgrund,“ erwiderte Sixt, „ich hab’ Dich immer gern gehabt – ich hab’s nur selber nit gewußt! Erst wie ich an Dir irr’ worden, wie ich gemeint hab’, ich muß Dich verloren geben – erst da hab’ ich’s gemerkt, weil ich den Gedanken an Dich nit hab’ los werden können! Und in der furchtbaren Nacht – Du weißt es wohl, welche ich mein’ … da ist es mir auf einmal hell aufgegangen, wie eine Brandfackel, und ich wär’ ein unglücklicher zernicht’ter Mensch gewesen, wenn ich Dich nit wieder gefunden hätt’, wenn Du mir nit verziehen hättest! Und hast Du’s denn auch ganz? Und kannst es vergessen und mich auch lieb haben? Und willst mir folgen in Deine und meine Heimath als mein Weib?“
[796] „Ja, ich will!“ sagte Franzi fest und innig. „Ich will den Großvater bereden, daß er mit mir auf’s Land geht, es wird ihm gut thun; bei der alten Bas’ auf dem Oedhof will ich mich einquartieren und will warten, bis das Frühjahr da ist, und wenn Deine Lieb’ nit vergangen ist mit dem Schnee – ob Du wirklich kommst und holst mich ab als Deine Braut…“
Die erste Umarmung, die Wonne des ersten Kusses überströmte das selige Paar. Der biedere Lehrer, der in stiller beobachtender Freude bei Seite gestanden, trat herzu, von Franzi auf’s Freudigste begrüßt, und schüttelte den Freunden glückwünschend die Hand; sagen konnte er nichts, weil Rührung ihm die Stimme erstickte. Susi mit den Ordensschwestern war verschwunden; sie wollten nicht Zeugen eines Glückes sein, das ihren Bahnen so ferne lag, und wollten nicht stören, was selten so schön und wohl kaum jemals an solchem Orte erblühen mochte. Es dauerte lange, bis Alles beiderseits erzählt und durchgesprochen war; gewährte es doch einen eigenen unsäglichen Genuß, all’ das nun süß gewordene Leid der Vergangenheit noch einmal durchzuleben und gemeinsam noch einmal zu ertragen. Jede geknickte Blüthe wurde betrauert, jeder zertrümmerte Augenblick beklagt und dann der Triumphzug begonnen in das offen und schrankenlos ausgebreitete Bereich der Zukunft und im Voraus schon jede Stätte bezeichnet für ein Haus des Glücks, einen Tempel des Friedens oder eine Laube der Liebe.
Als sie schieden und Sixt mit dem Lehrer im Gasthofe angelangt war, wollte kein Schlaf in seine Augen kommen; mit vollem Herzen schritt’ er noch lange unstät und ruhelos hin und wieder und doch hatte er noch nie so selig gewacht. Er trat an’s Fenster, öffnete es und ließ einige Augenblicke den frisch kühlenden Odem der Winternacht um sein glühendes Antlitz wehen – da klangen auf allen Thürmen gewaltig und feierlich die mitternächtigen Glocken zusammen, welche die Geburt des Weltheilands verkündeten; sein Herz erglomm im Gefühle andächtigen Dankes und über den schneebedeckten Giebeln aus dem tiefblauen Nachthimmel grüßte ihn, wie damals vor der Waldcapelle, das Sternenauge der Liebe, diesmal aber schimmernd in Thränen der Freude!
Und der Frühling kam! Schöner kam er und früher als manch’ anderes Jahr; die Sonne schmelzte frühzeitig den Schnee auf den Bergen, daß die vollen Bäche freudebrausend hernieder stürmten, wie Boten, die von der Hochwacht aus den Einzug eines nahenden geliebten Fürsten gesehen und nun in die Niederungen eilen, die fröhliche Kunde hinab zu tragen in die Thäler und hinaus in das flache Gefild. Die Sträucher und Bäume am Weg hörten die lustige Botschaft zuerst und zogen ringsum die weißen und rothen Blüthenfahnen auf und begannen sich mit grünen Blattgewinden zu kränzen. Die Sänger in den Büschen [798] waren auch nicht lässig mit Schlagen und Pfeifen und Trompeten, wie es geziemender Brauch ist bei einem rechten Fest, und am Aichhof trafen die Schwalben ein und rüsteten sich zum Bau, wo sie noch jedes Jahr genistet. Sie kündeten dem Herrn des Hofes, daß er sich jetzt aufmache die Braut zu holen, hätt’ er dazu eines andern Mahners bedurft, als den Weckruf in seinem Herzen.
Schön und stattlich lag der Aichhof da, schier wie ein Herrenschlößlein mitten in einem breiten kurz bewachsenen Rasenstück, durch welches ein paar Wege sich zogen, so blank und fest wie der kunstreichste Parkgärtner sie nicht schöner zu schaffen vermag. In weitem Viereck, wie eine natürliche Grenze, waren Lindenbäume umher gereiht, wohl ihrer zwölf, deren einer mit dem andern in der Mächtigkeit des Stamms, in der Kraft des Astwerks und dem Reichthume der Laubkrone wetteiferte, deren jeder für sich allein als der schönste erschien. Hinter ihnen stieg seitwärts ein sanfter Hügel empor, reich bewachsen mit Hasel und Schlehe, Weinschärl und Pfaffenhut, behangen mit den Ranken und Schlingen der Ackerwinde und der Zaunwurz, gekrönt von drei mächtigen Eichbäumen, von denen schwer zu sagen war, ob sie mehr ihres Alters wegen Verehrung heischten oder Bewunderung ob ihrer Schönheit. Sie waren es, die, seit Jahrhunderten es überragend, dem Gehöfte am Fuße ihres Hügels den Namen gegeben. Ein kleines offenes Capellchen, aus Feldsteinen schlecht und recht aufgebaut, mit einem hölzernen Schutzdach davor und einem Betschemel, der zugleich als Ruhebank diente, war unter ihnen angebracht; von dort öffnete sich nach allen Seiten hin der Ausblick in’s Land, daß man den tüchtigen Sinn begreifen und verehren mußte, der schon vor grauen Jahren Capellchen und Bäume wie Merkzeichen gepflanzt und aufgestellt hatte, damit in alle Zeiten hinaus Niemand des Weges gehe, ohne stillstehend die vor ihm ausgebreitete Herrlichkeit zu genießen und einen erhebenden Gedanken mit sich fortzunehmen. In dreifacher Richtung, in einem riesigen Rundbogen lag das ganze Innere der nahen und ferneren Bergwelt aufgeschlossen und hingebreitet, mit Rücken und Stöcken, Wänden, Schrofen, Höhen und Zacken, mit Schneefeldern, Gletschern, Wald und Fels, ein im Sturme zu Stein gewordenes Urmeer. Davor zog sich der reizende Gürtel des hügelig anstrebenden Vorlandes in sanfter Umschlingung hin, aus Wiesengrün gewoben, schattirt mit Fruchtland und Waldesdunkel, mit weiß schimmernden Thürmen, Dörfern und Schloßgiebeln wie mit Juwelen gestickt. Nach der vierten Seite drang das Auge in das offene ebene Gefild, über Ortschaft und Landschaft, zwischen schimmernd hingeworfenen Flußbändern, fruchtbarem Gelände und darein gleich Spiegeln eingelassenen Seebecken bis an den fernen, im westlichen Sonnengolde verschwimmenden Horizont.
Es war ein Abend zu Ende des Mai.
An den Laubengängen des Aichhofs waren junge Birkenstämmchen aufgestellt, vor der Thür prangten ein paar größere, die Gräd’ vor demselben, die Stufen herunter und die Wege waren mit frisch gemähtem, duftigem Grase bestreut, damit die neue Aichbäuerin darüber ihren Einzug halte, denn heute war Sixt ausgezogen, die Erwählte vom Oedhofe abzuholen, zur Kirche zu geleiten und dann sie einzuführen in den mit so viel Leid verlassenen lieben Aichhof, in den sie nun wiederkehren sollte unter noch zehn Mal größerer Freude. Die Knechte und Mägde in ihrem besten Gewand, mit ihren weißesten Hemdärmeln und Schürzen angethan, standen und schlenderten erwartend umher, der Hütbube aber mit dem Baumeister war beschäftigt, droben unter den Eichen ein paar Böller zu laden und zu richten, damit ja nichts fehle an den landesüblich ländlichen Feierlichkeiten des Einzugs.
Es war auch lange her, daß in den Bergen keine so glänzende Hochzeit gefeiert worden war, als die des Aichers von Aich mit der Franzi von der Kreuzstraße; Beide waren bekannt und beliebt, von Beiden hatte es so viel und vielerlei zu reden gegeben; es hatte zuerst kein Mensch daran gedacht, daß diese Zwei ein Paar werden würden, und nun hatten sie sich doch gefunden, und kein Bauer und Gütler in der Umgegend, der es irgend vermochte, unterließ es, bei der Hochzeit und Trauung zu erscheinen, nur um so recht von Grund aus zu erfahren, wie sich denn Alles eigentlich zugetragen. Es war ein stattlicher Zug der schönsten ländlichen Gespanne, der von der Kirche hinweg zum Wirthshause an der Kreuzstraße fuhr, denn dort wurde das Hochzeitsmahl gehalten; der Wirth hatte nicht nachgelassen, die Brautleute zu bestürmen, hatte de- und wehmüthigst gebeten, ihm doch zu verzeihen, was er in seiner puren Dummheit begangen, und Franzi war seinem Bitten nicht abgeneigt gewesen. Sie hatte keine Falte mehr in ihrem Gemüthe, in welcher irgend ein Groll sich zu verbergen vermocht hätte; überdies bedäucht’ es ihr wohl schicklich und bedeutsam, das Fest ihrer schönsten Freude und vollsten Reinigung gerade da zu feiern, wo ihr die tiefste Demüthigung zu Theil geworden und die grimmigste Schmach.
Die Wagenreihe wollte nicht enden; ein kleiner Zwischenfall machte sie einen Augenblick anhalten, denn von der andern Seite der Kreuzung her kam ein höchst eleganter hochbepackter Reisewagen mit Postpferden herangesaust, und es währte eine gute Weile, bis er an all’ den geschmückten Wagen voll geputzter, fröhlicher Menschen ausweichend vorübergekommen war. Es gab völligen Stillstand an dem Wagen, in welchem die Braut mit ein paar Kranzeljungfern und mit der Ehrenmutter saß; das war Niemand Anderes, als die greise, halberblindete Base vom Oedhofe. So schwach sie war, sie hatte sich’s nicht wehren lassen, an dem Tage noch einmal in die Welt zu gehen und sich den Leuten zu zeigen, an welchem von dem Oedhof und Allen, die ihm nah und fern angehörten, der letzte Makel genommen war. An dem Wagen hielt hoch zu Rosse der Bräutigam, um ihn die ebenfalls berittene Schaar befreundeter, lediger Bursche, welche dem scheidenden Jugendgenossen das Ehrengeleite gab.
Die Wagen und Reiter mußten hart aneinander vorbei; in der Reisekalesche lehnte der Amtmann mit seiner Gemahlin. Die Regierung war mit seinem Auftreten und Verfahren in den Angelegenheiten wegen des Haberfeldtreibens, wegen des Waldstreites und in manch’ anderen Dingen nicht völlig einverstanden gewesen; man hatte gefunden, daß er in solcher Umgebung und unter solchen Leuten nicht ganz in seinem rechten Wirkungskreise sich befinde, und hatte ihn mit auszeichnender Beförderung abgerufen, um seine Talente – wie es hieß – bei einer Gesandtschaft besser verwerthen zu können.
„Ah, sieh da, Herr Aicher von Aich!“ rief er mit seinem süßesten Lächeln und machte eine Bewegung, als ob er im Sinne habe, die Reisemütze zu lüften. „Es ist mir eine angenehme Genugthuung, Ihnen so zu begegnen; es ist nun doch gekommen, wie ich es vorher gesagt!“
„Ja, Herr Baron von Lanzfelt,“ erwiderte Sixt, nahm den Hut ab und schloß die Hände über der Brust, „unser lieber Herrgott hat’s recht gemacht und besser, als wir’s verdient haben! Es ist am besten, wenn man gleich an’s Herz klopft und das eingesteht; es weiß Jeder, was ihn druckt, und hat Jedes sein Bündel zu tragen…“
Der Weg war frei geworden; der Amtmann that, als habe er die Rede nicht vernommen, und deutete, während die Pferde wieder zum scharfen Trabe anzogen, auf den Zug und das stattliche Brautgeleite. „Sehen Sie nur,“ sagte er zu seiner Frau, „welche Originalität, welche Fülle von Volksthum in diesem Aufzug! In diesen Gestalten und Trachten! Wahrhaftig, sie wären des Pinsels eines Teniers und Ostade würdig! Was sagen Sie dazu, ma mie?“
Fort flog die Kalesche; die Gäste zogen in das festlich geschmückte Wirthshaus, und über den Genüssen des Mahls und den Freuden des hochzeitlichen Tanzes war bald die ganze Begegnung vergessen. Der lauteste Frohsinn kreiste lachend um den Tisch und manch’ Einer stieß seinen Nachbar mit dem Ellbogen an und raunte ihm zu, eine so lustige Hochzeit sei noch nicht gefeiert worden, seit Menschengedenken. Der Finkenzeller hatte den Grubhofer, den alten Rebeller, zum Gegenüber, und Beide kamen fast nicht zum Essen und Trinken, so viel gab es zu erzählen und zu hören, zu lachen und zu verarbeiten. Die Fröhlichsten von Allen aber waren unstreitig der alte Staudinger und der wackere Lehrer von Osterbrunn. Den alten Mann hatte die unverhoffte Aenderung seiner Verhältnisse, der unerwartete Durchbruch in seinem Sinn und Gemüth auch körperlich umgestaltet; gegen Erwarten war ihm neue Kraft und Gesundheit schnell wiedergekehrt; es war, als würde ihm eine neue Jugend zu Theil, ein Spätherbst, der schöner zu werden verhieß, als es Frühling und Sommer seines Lebens gewesen. Er war überglücklich, zu sehen und zu fühlen, wie er allseits in der öffentlichen Meinung wieder hergestellt war, er ward nicht müde, zu erzählen, wie er Franzi gefunden, und sich selbst anzuklagen, nur um immer wieder sagen zu können, wie [799] sehr es ihn freue, nun nicht mehr allein in der Welt dazustehen, eine solche Tochter zu haben und einen solchen Schwiegersohn dazu.
Sixt saß in stiller Freudigkeit neben Franzi, welche ihre Rührung fast nicht zu bemeistern vermochte und mit schimmernden Augen um sich sah. Ihr sonst starkes Gemüth war erweicht; ihr Herz glich einem Becher, bis über den Rand mit dem edelsten Weine gefüllt, daß die leiseste Erschütterung, daß ein noch hinein gleitender Tropfen ihn überfließen macht. Bei einer der ausgebrachten vielen Gesundheiten flüsterte er ihr zu, während ihre Gläser harmonisch erklingend sich einander entgegenneigten: „Wir wollen auch derer gedenken, die nicht unter uns sein können und die doch beigetragen haben zu unserem Glück, ohne daß sie’s gewollt haben und gegen ihren Willen!“ Er dachte an Susi, die nach dem Tode ihres Kindes inzwischen wirklich das Ordenskleid genommen, und an Waldhauser’s einsam unheimliches Grab.
Der Lehrer aber erhob sein Kelchglas und rief mit lauter, freudebebender Stimme: „Für den Gärtner ist es die größte Lust, wenn er gedeihen sieht, was er gepflanzt oder gezogen; wenn er den Schaden abgewendet sieht, der seine lieben Schützlinge bedrohte! Da stehen ein paar tüchtige Stämme, schön gewachsen von außen und gesund von innen bis in’s Mark hinein… Auf daß sie so bleiben, wachsen und grünen mögen; auf daß ihnen die Blüthen und Früchte werden, die sie verheißen; auf daß der Ewige ihnen zu Heil und Gedeihen Regen und Sonnenschein sende zur rechten Zeit und im rechten Maß; daß er ihre Wurzeln befestige und ihre Rinde stähle im Sturm und daß sie prangend dastehen, sie und ihre Nachkommen bis in die späteste Zeit, dem himmlischen Gärtner zu Ehr’ und dem irdischen Garten zur Zier … auf das Alles, liebe Nachbarn und Freunde, stoßet mit mir an und rufet: ‚Die beiden Bäume, sie leben hoch!‘“
Jubelnd stimmte die ganze Hochzeitsgesellschaft ein, die Gläser klirrten an einander, als hätten sie auch ihre Lust dabei, in die Freude einzustimmen, und die Musikanten strichen und bliesen, als sollten die Instrumente in Stücke gehen. Es war schon spät, als das nun für’s Leben vereinte Paar, von einigen vertrauten Freunden geleitet, durch die laue Mainacht der neuen gemeinsamen Heimath entgegen fuhr. Als sie an den Aichhof kamen, standen die Ehhalten zu beiden Seiten aufgestellt, mit Sensen in der Hand, die sie strichen, daß es klang wie ein feierliches Läuten; von den Eichen herunter aber krachten die Böller Schlag auf Schlag, und das vom Schlaf aufgestörte Gebirge rollte den Widerhall majestätisch dahin.
Vor dem Hause stand ein schöner Leiterwagen, weiß im Holz, wie er aus der Hand des Wagners kam, mit Beschlägen, so blank, daß sie wie Silber schimmerten in der halblichten Nacht. Er war mit allerlei tüchtigem und zierlichem Hausrath beladen, mit einem stattlichen bunt bemalten Kleiderkasten, einem schönen vollständigen Bette und ein paar Truhen voll der feinsten weißesten Leinwandstücke. Auch ein Spinnrad mit roth bebändertem Rocken und die zierlich aufgeputzte Wiege fehlten nicht; hinten aber war eine Kuh angebunden, mit an den Spitzen vergoldeten Hörnern und einem mächtigen Kranz um den Hals, ein so schönes Thier, daß die Mägde einstimmig behaupteten, ein schöneres sei nicht zu finden und wenn man den ganzen Gau abgehen wollte.
Es war ein Kammerwagen, wie die Braut ihn als Ausstattung mitzubringen pflegt, – unbekannte Bursche hatten ihn bei einbrechender Dunkelheit herbeigefahren, hatten schnell die Pferde ausgespannt und waren davon geritten, ehe Jemand sie anzuhalten und zu befragen vermocht.
Ein mächtiger Zettel, vorn am Wagen angebracht, ließ die unbekannten Sender und Spender errathen. Es hieß darauf:
„Der beste Schütz diemal’ (manchmal)
Hat’ d’ Scheiben scho’ g’feit (gefehlt),
Und das Haberfeld-Treiben,
Dös is dennerst (dennoch) mei’ Freud’!“
Rasch flogen die Tage auf dem Aichhofe dahin, denn dort waren Arbeit und stete Thätigkeit zu Hause, Liebe und Zufriedenheit streuten ihre Samen in den von diesen gelockerten Boden; es war nur natürlich, wenn daraus der Segen entkeimte und volle häusliche Glückseligkeit. Jeder Tag, obgleich dem andern ähnlich, war ein neues Fest, und wenn die Nachbarn von den umliegenden Höfen und Weilern der Sitte gemäß einsprachen und in den „Heimgarten“ kamen, da war nur eine Stimme, daß es sich nirgends so traulich und behaglich sitze als unter den Eichen vor der alten Capelle oder am Lindenhag, wenn die schöne Bäuerin eine Schüssel Milch und Brod zum Imbiß aufsetzte und wenn der Sixt als Gemeindevorsteher mit den Andern die Angelegenheiten der Dorfschaften besprach und berieth, oder aus den Zeitungen, die er sich hielt, von all’ den Begebenheiten erzählte, welche draußen die Welt in Sturm und Brand setzten, von den neuen Erfindungen, die hier und dort gemacht wurden, und von dem neuen Geiste der Freiheit, der überall zu wehen beginne und, ohne den Andern zu berauben, einem Jeden, hoch oder niedrig, gering oder vornehm, das verschaffe, was ihm gehöre von Gottes und Rechts wegen.
So kam der Sommer heran und hatte rasch die Höhe erstiegen, von welcher die Sonne sich den herbstlichen Kreisen zuneigt, und am Abend Sanct Johannis loderte das Sonnwendfeuer vor dem Aichhofe hell empor, und die jungen Leute machten sich lustig daran, nach altem Brauch unter Jubeln und Lachen durch die Flamme zu springen.
Sixt stand mit Franzi zuschauend daneben, als er sich von rückwärts am Arme gefaßt fühlte. Verwundert blickte er um und gewahrte im Lindenschatten einige Männer, welche sorgsam bemüht waren, ihre Gesichter vor dem Lichtschein zu bergen.
Es waren die Alten von den Haberern.
„Der Haber fangt an, gelb zu werden,“ sagte der Eine flüsternd, „es wird Zeit, daß man an’s Treiben denkt. Wie ist’s damit, Habermeister?“
Mit ängstlicher Bewegung hielt Franzi des Mannes Hand gefaßt; er machte sich sanft los und schritt, ohne ein Wort zu erwidern, dem Hause zu. Als er wieder kam, hatte er den Meisterstab Kaiser Karl’s mit den aufgehobenen Schwurfingern in der Hand. „Nehmt,“ sagte er zu den Alten, „ich habe einsehen gelernt, daß die Zeit für dies Regiment vorüber ist, – in unserem Land herrschen Gesetz und Recht, es braucht Niemand mehr sich selber Recht zu verschaffen, wie’s wohl ehedem nöthig gewesen ist. Thut was Ihr wollt, Ihr Mannen, ich aber will in mein eignes Herz greifen und über Niemand mehr den Stab brechen oder den Haber streuen, – ich will das Gericht unserem Herrgott überlassen … Da, nehmt Euern Stab zurück!“
„Wie!“ rief einer der Alten. „Du wolltest unser altes Recht aufgeben? den alten Brauch abschaffen, der so viel Gut’s geschaffen hat? Wir finden keinen Meister wie Dich … nimm, Aichbauer, und behalt’ den Stab …“
„Nein,“ entgegnete Sixt, „der Brauch hat viel Gut’s geschaffen – aber es ist aus damit … Besser, es kommen zehn Schuldige durch, als daß einem einzigen Unschuldigen ein Leides geschieht – ich will nicht!“
Er reichte den Stab entschieden zurück; der Alte widerstrebte, ihn zu nehmen. Darüber waren sie vorschreitend dem Feuer näher gekommen; über dem Weigern entglitt der Stab ihren Händen und fiel, auf der Bodensenkung fortrollend, mitten in die Sonnwendgluth … Wohl sprang Einer sogleich hinzu und suchte ihn zu erfassen: es war zu spät – das alterdürre Holz hatte sofort Feuer gefangen, – in wenigen Augenblicken lag der Stab verglimmend in den Kohlen.
„Das kann uns ein Zeichen sein“ sagte Sixt ernst, „es ist vorbei mit der alten Zeit und ihren Bräuchen; der Gerichtsstab des Kaisers is untergegangen, mit ihm der letzte Habermeister!“