Der Grenzlauf
Es hatten die von Uri und die von Glarus Streit.
Sie taten der Grenze willen einander Schmach und Leid.
Eins mähte des andern Wiese, eins haschte des andern Kuh.
Es schauten die Guten im Lande dem Hader mit Unmut zu.
Wo sie einander begegnen, da sei die Grenze fortan.
Wenn Tag und nacht sich gleichen, beim ersten Hahnenschrei,
Da sollen die beiden laufen, daß Recht und Friede sei.“
Nun hielten heimlich die Urner den magersten Gockel bereit,
Es haben derweilen die Glarner den üppigsten Hahn sich erspäht,
Sie mästeten ihn und meinten: Wem’s allzuwohl ist, der kräht.
Ihr Bote sprang wie die Gemse dahin die steigende Bahn.
Da gähnte der Glarner Gockel ein faules „Kükerükuh“.
Nun schwang der Glarner die Fersen als wie ein fliehendes Wild;
Er flog wie ein Adler der Berge hinan über Fels und Gefild.
Schon sieht er den andern kommen, da wird er zum schwirrenden Pfeil
Doch weh, es hatte der andre des Vorteils gar zu viel!
Es hatte der Urner den Seinen erjagt ein köstlich Ziel.
Da bat ihn der Glarner mit Tränen: „Daß Gott dein Herz erbarm’!
Gönn’ uns noch diese Weide, mein Land und Volk ist arm.“
Wenn du mich auf den Schultern hinübertragen magst!“
Da lud der wackre Glarner sich auf den starken Mann
Und schritt mit bebenden Knieen den grünen Hang hinan.
Er beißt die Lippen blutig, daß er nicht ächzen will,
Dann bricht er stumm zusammen und ist auf ewig still. –
Es stiegen aus beiden Landen zum Schiedsspruch die Männer herauf.
Es hoben mit leuchtenden Augen die Glarner den Toten auf.
Sie hatten die Wiese gar gerne, sie hätten lieber den Mann.