Textdaten
<<< >>>
Autor: Otto Ernst
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Grenzlauf
Untertitel:
aus: Siebzig Gedichte
S. 123–125
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1907
Verlag: L. Staackmann
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]


[123]
Der Grenzlauf.


Es hatten die von Uri und die von Glarus Streit.
Sie taten der Grenze willen einander Schmach und Leid.
Eins mähte des andern Wiese, eins haschte des andern Kuh.
Es schauten die Guten im Lande dem Hader mit Unmut zu.

5
Sie sprachen: „Es laufe von Altdorf, es laufe von Glarus ein Mann;

Wo sie einander begegnen, da sei die Grenze fortan.
Wenn Tag und nacht sich gleichen, beim ersten Hahnenschrei,
Da sollen die beiden laufen, daß Recht und Friede sei.“

Nun hielten heimlich die Urner den magersten Gockel bereit,

10
Sie ließen in fasten und darben und dachten: Wer hungert, der schreit.

Es haben derweilen die Glarner den üppigsten Hahn sich erspäht,
Sie mästeten ihn und meinten: Wem’s allzuwohl ist, der kräht.

[124]
Die Urner waren die Schlauen: Im Traum schon krähte der Hahn;

Ihr Bote sprang wie die Gemse dahin die steigende Bahn.

15
Schon glühten breiter die Gipfel in flammender Morgenfrüh’,

Da gähnte der Glarner Gockel ein faules „Kükerükuh“.

Nun schwang der Glarner die Fersen als wie ein fliehendes Wild;
Er flog wie ein Adler der Berge hinan über Fels und Gefild.
Schon sieht er den andern kommen, da wird er zum schwirrenden Pfeil

20
Ihm braust’s in den Ohren, es hämmert sein Herz in bebender Eil’.


Doch weh, es hatte der andre des Vorteils gar zu viel!
Es hatte der Urner den Seinen erjagt ein köstlich Ziel.
Da bat ihn der Glarner mit Tränen: „Daß Gott dein Herz erbarm’!
Gönn’ uns noch diese Weide, mein Land und Volk ist arm.“

25
Mit Lachen rief der Sieger: „Es werde, wie du sagst,

Wenn du mich auf den Schultern hinübertragen magst!“
Da lud der wackre Glarner sich auf den starken Mann
Und schritt mit bebenden Knieen den grünen Hang hinan.

[125]
Er klimmt hinan mit Zittern, ihm schwindelt und ihm graust;
30
Er krallt in Gras und Felsen sich fest mit blutender Faust,

Er beißt die Lippen blutig, daß er nicht ächzen will,
Dann bricht er stumm zusammen und ist auf ewig still. –

Es stiegen aus beiden Landen zum Schiedsspruch die Männer herauf.
Es hoben mit leuchtenden Augen die Glarner den Toten auf.

35
Es schritten die Sieger von Uri gar langsam und stille hindann;

Sie hatten die Wiese gar gerne, sie hätten lieber den Mann.