Der Gollinger Fall und das Thal der Ache in Tyrol

CCCXXXXIV. Das Hypathius-Kloster Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCXXXXV. Der Gollinger Fall und das Thal der Ache in Tyrol
CCCXXXXVI. Hohenschwangau
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DER GOLLINGER FALL
in Tyrol.

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CCCXXXXV. Der Gollinger Fall und das Thal der Ache in Tyrol.




Oft schon betrachteten wir Landschaften der vaterländischen Alpen; doch stets bleibt die Freude an ihnen neu; denn aller Eintönigkeit fremd, sind ihre Reize so mannichfaltig, wie das Kleid, welches die Vegetation dieser Bergwelt verlieh. Wie dort bald schwarze Cypressen eine Villa überragen, bald sich das schirmende Dach der Rebe über die lange Thalfläche hinbreitet, bald düstere, bemooste Tannen über den Pfad nächtliche Schatten werfen, bald sich über Bergrücken das Labyrinth der Krummholzkiefer hinstreckt, bald die einsame Zirbel und der Zwergstrauch der Alpenrose die Schluchten schmückt, bald aller Baumwuchs fehlt und nur das grüne Sammet der [49] Matten die Wände des Gebirgs bekleidet: – so wechselvoll sind auch die Gestaltungen der anorganischen Natur. Die Grundtypen derselben sind zwar nicht zahlreich, aber in ihrer Zusammensetzung entwickeln sie einen Reichthum der Formen, der an das Unendliche gränzt. Jede Lokalität des Gebirgs hat ihr eigenthümliches Gesicht, und jedes Gesicht seine eigenthümliche Schönheit. –

In den Thälern der Alpen sind die interessantesten Naturscenen an einander gereiht, wie die Perlen zur Schnur. Nicht nur in jenen berühmten, die das Große mit dem Reizenden vereinigen, und wo Natur und Kunst sich die Hände gereicht haben, um entzückende Bilder zu schaffen; wie z. B. im Thale der Etsch und in dem wie ein Garten angebauten, dreißig Meilen langen Thale des Inns; auch viele kleinere sind nicht minder reich ausgestattet, und oft haben diese für den Naturfreund noch den Vorzug, daß er da in engem Raum nahe bei einander findet, was dort weit aus einander liegt. Die Stille, den Reiz der Einsamkeit und der Abgeschlossenheit, sucht er vergeblich in den großen Thälern, in denen eine dichte Bevölkerung lebt. Die kleinen muß er hinauf wandern, will er eingehen in die einsamen Kämmerchen der Hochalpenwelt, in das Allerheiligste des Gottestempels, wo, wie einst Moses auf dem Sinai, der Mensch emporgezogen wird zum Schöpfer und des Herrn Stimme vernehmlich hört.


Wer von Salzburg am frühen Morgen aufbricht, und über Hallein das Salzachthal hinaufwandert, erreicht, nach 6 Stunden, den Flecken Golling. 7000 Fuß hohe Bergreihen fassen das Thal hier zu beiden Seiten ein, verbunden durch eine Felswand, durch die der Strom eine enge Pforte brach. Es ist der Paß Lueg. So blühend und lachend wie bisher die Gegend gewesen, so wild und wüst ist sie jetzt geworden. Die Salzach wälzt ihre grünen, schäumenden Wogen über große Felstrümmer hin, und bald hoch auf Mauern an Abgründen weg, bald durch gesprengtes Gebirg, bald unter einsturzdrohenden, weitüberhängenden Felsen fort zieht nun der Weg. Dumpfer Donner dringt in’s Ohr des Lauschenden. Er ahnet es schon, des Gollinger Falls ferne Stimme ist es. Erwartung beflügelt den Fuß; halb ist die Felsecke erreicht, wo der Weg sich plötzlich wendet, noch ein Schritt, und er steht, von Staunen festgebannt, vor der Scene, die das Bild so trefflich darstellt.

Anfangs wagt man kaum, nur hinauf zu schauen zur hohen Kluft, durch welche die Ache ihrem Felsenhause entspringt. In weitem Bogen schießt die mächtige Gletscherfluth, dunkelgrün, mit blendendweißem Gischt durchwirkt, über die plötzlich abgebrochene Steinwand. Als wollte er die Fliehende erhaschen, tritt ihr ein Fels entgegen; aber kühn entschlüpft sie durch einen zweiten Sprung, mit dem sie den Abgrund erreicht. Ungeheuere Rauchsäulen wirbeln aus demselben empor und die Wände ihres Kerkers hinan, wie Dankopfer ihrer Erlösung. Und [50] doch ist Erlösung und Tod auch da eins; denn die Ache vermengt sich unterhalb des Sturzes mit der Salzach und verschwindet. –

Hast du mit mir an der Ache Sterbebett gestanden, so führe ich dich nun auch in das stille Alpenkämmerchen, wo sie geboren wird. Drei Stunden über Gastein liegt ein Hochalpenthal, das Naßfeld. Leise wie eine Schlange windet sich dort die Ache auf der Matte, welche die Tauernkette, der Rathhausberg und andere Bergriesen umgürten. Am obersten Ende des Thals erhebt sich die Terrasse eines Felsens. Es ist das Fußgestell des ungeheuern Höllkahrgletschers, der unter den kleinern Eismassen, die rechts und links herabhängen, wie ein König unter seinen Dienern thront. Ueber jede Wand stürzen Giesbäche, Quellen rieseln von jedem Felszacken auf den immergrünen Teppich. Doch die Wiege der Ache ist weiter oben. Durch eine Schlucht führt ein schmaler Pfad hinauf zu einer kleinen Alpe auf dem Rücken eines Felsen, den ein Gletscher überragt, und hier, aus dessen krystallenem Bauche, springt die Quelle schäumend hervor. Diese kleine Matte ist zugleich die letzte Staffel des organischen Lebens. Kein Baum, kein Strauch stört; denn in der That ist die Natur hier so schön, daß jedes verhüllende Blatt ihr nur an Reiz entziehen würde.

Dem Himmel näher, zieht es uns unwillkührlich zu ihm empor. Kein tobendes Geräusch bricht unsre Andacht, kein donnernder Wasserfall hallt; aus der Ferne nur, aus unerreichbaren Höhen, spricht die Natur noch zu uns mit der verklärten Stimme der Staubbäche. Glockengeläute der Heerden auf dem Naßfelde tönt zuweilen herauf, doch kaum vernehmlich. Alles feiert. Die Gletscher leuchten in der Abendsonne, und ihre Spitzen erscheinen wie Signale aus einer fernen, seligern Welt. Umgeben von den äußern Zeichen des Todes und der Erstarrung jubelt doch Alles: Wie groß ist der Schöpfer und wie herrlich!

Die Sonne sinkt tiefer; jetzt ist ihr letzter Strahl von den Zinnen des Gebirgs gewichen. Verwandelt sind sie, wie ein Mensch, von dem Tugend und Glaube geflohen ist. Bleich und kalt grinsen sie uns jetzt an, wie der Tod. Noch einmal, noch ein paarmal, wie das Gewissen im Gefallenen, ruft, nach dem ersten Erbleichen, das Abendroth auf Augenblicke eine feuerige Röthe auf die erblaßten Wangen der Berghörner zurück, dann sinkt der graue Nebelschleier der Nacht auf sie herab, schneller noch als auf die Tiefe. So stürzen hohe, reichbegabte Menschen, wenn sie den rechten Pfad verlassen, tiefer in des Verderbens Abgrund, als gemeine Buben.

Schauerlich wird’s uns nun auf der Höh’, und schnell schlagen wir den Pfad ein, der herunter zur gastlichen Senne des Naßfeldes führt. Dort erwartet uns ein Sitz am erwärmenden Feuer, ein Labetrunk, den indeß der Senner bereitet hat, eine lange Reihe von Wundergeschichten und Sagen vom verwünschten Kaiser des Unterbergs und seinen Schätzen, und der Nixe der Achenquelle, die im Zwielichte goldene Kühe auf ihrer Alpe weidet, tischt er auf, und mit geöffneten Sinnen horchen wir ihm zu, bis er, müde, zur Ruhe ladet.