Textdaten
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Autor: Adolf Obermüllner
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Titel: Der Friedhof in der Natur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 636–638
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Friedhof in der Natur.

Als ich vor Jahren meine erste Reise in’s Gebirge unternahm, war es nicht so sehr die gepriesene Fernsicht, die mich hinauf zu den höchsten Bergen zog, sondern das große Interesse für diese selbst. Ich wollte die eisumschlossene Welt kennen lernen, die alles Leben vernichtend niedersteigt und die Bewohner manches hochgelegenen Thales mit steter Sorge um ihre Existenz erfüllt.

Rascher Entschluß, kurze Vorbereitung vereinten sich zu endlicher Ausführung meines Planes, nicht allein diese Höhe aufzusuchen, sondern an der letztbewohnbaren Stätte einige Tage zu verweilen. Mit dem Morgengrauen eines vielversprechenden Tages hatte ich mit meinem Führer bereits die Anhöhe der achttausend Fuß hohen Vorgebirge überschritten. Die dünne Luft, Aufregung, und geringes Verständniß der Athem-Eintheilung während des Steigens, erzeugten in mir eine Herzbeklemmung, wie ich bei meinen vielfach ausgeführten späteren Touren eine ähnliche nie wieder empfunden habe, und das hohe Interesse für die mich umgebende gewaltige Gebirgsnatur erhöhte meine Reizbarkeit derart, daß ich nicht im Stande war, einen Bissen des vom Führer ausgebreiteten Mundvorrathes genießen zu können. Die Sonne vergoldete die höchsten Spitzen, welche sich scharf gegen die blaue Morgenluft abzeichneten.

„Oben giebt’s scharfen Wechselwind,“ meinte kopfschüttelnd der Führer, indem er mir einzelne Stellen auf den Eisflächen zeigte, wo nach meiner Meinung leichte Nebelwolken aufstiegen. Es waren aber nach des Führers Erklärung „Schnee-Gwah’n“, die den Wandrer zuweilen in erstickende Umhüllung fassen und mit ihren glassplitterähnlichen, gefrorenen Schneeflocken furchtbar peinigen. Wir zogen weiter über die sonnenbeschienenen Firne, umgingen die Windseite, so gut es möglich war, und kamen endlich auf der höchstgelegenen Spitze an. Während mein Führer mitleidig auf mich blickte und wiederholt versicherte, so unglücklich habe er es da oben noch mit keinem Touristen getroffen, fesselte mich ein Schauspiel großartiger Naturerscheinung.

Die Sonne stand, eine feurig rothe Scheibe, umgeben von einem Nebelmeere, am Horizonte, das Firmament spannte seinen hellblauen Bogen über die vollständig verhüllten Thäler, und nur

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Der Friedhof in der Natur.
Nach der Natur gezeichnet von Adolf Obermüllner

[638] die Eiskuppen der hohen Gebirge waren sichtbar. Es war noch sehr früh am Morgen, und dennoch erfüllte Gewitterschwüle die Luft. Elektrische Strömungen zuckten schon da und dort leuchtend auf, und leises Grollen verkündete den nahen Sturm. Immer finsterer ballten sich die Wolken, die Sonne verschwand und in kurzer Zeit brach unten im Thale ein furchtbares Ungewitter los. Ueber uns blauer, klarer Himmel, unter uns Donner und Blitz, es war ein seltener Anblick.

Der Führer drängte zur Umkehr, und da anzunehmen war, daß die Spitze, worauf wir uns befanden, in wenigen Minuten in den Kreis der Gewitter gezogen sein werde, folgte ich rasch, wenn auch ungern, dem Rath des erfahrenen Mannes. Wir hüllten uns dichter in die Loden-Wettermäntel, setzten uns auf die Eisfläche, ich voraus, der Führer hinter mir mit dem großen Bergstocke steuernd, ging’s mit rasender Schnelligkeit in die Tiefe. Oft denke ich noch staunend an die Geschicklichkeit, mit der er in dem immer dichter werdenden Nebel, trotz Hagel und strömendem Regen seine Sicherheit bewahrte, und in kaum zehn Minuten hatten wir genau die Stelle erreicht, von der aus wir angestiegen waren. Einige überhängende Felsblöcke gaben uns Schutz, und wir mußten nothgedrungen hier Rast halten, um Körper und Magen zu stärken.

So vergingen einige Stunden, und da das Wetter keine Miene machte, sich zu bessern, so entschlossen wir uns, aufzubrechen, um wenigstens die Schafalm, das Asyl meines projectirten Aufenthaltes, in Besitz zu nehmen. Ueber das Gerölle, welches wir zu überschreiten hatten, stürzte eine wahre Fluth von Wildbächen, und der Weg, welcher zurückzulegen war, bot Beschwerlichkeiten genug für eine erste Gebirgspartie.

Endlich zeigte mein Führer das ersehnte Ziel, – eine kleine unscheinbare Hütte, die in dieser Felsenwüste von den Steinblöcken kaum zu unterscheiden war. Jene, welche solche Situationen erlebt haben, werden den Jubel begreiflich finden, mit welchem wir einzogen, noch größer aber war die Freude, als wir sahen, daß das Dach dem Regen Stand gehalten hatte, Knieföhrenholz vorräthig, und ein Heulager aufgestapelt war. Ein lustiges Feuer wurde angefacht, die Kleider zum Trocknen gelegt, und nach gehaltener Mahlzeit begab ich mich, der Müdigkeit Rechnung tragend, zur Ruhe.

Der nächste Morgen brachte gutes Wetter und die eingetretene Ruhe contrastirte gar wohlthuend mit dem vorhergegangenen Sturme. Die Nebel waren verschwunden, nur einzelne Wolken lagen an den Bergspitzen, und ich konnte mir ein vollständiges Bild meines nahezu neuntausend Fuß hoch gelegenen Aufenthaltsortes gestalten. Die nächstfolgenden Tage blieb das Wetter schön, und während der Führer, Proviant holend, zu den Sennhütten niederstieg, durchwanderte ich staunend die großartigen Gletscherfelder, diesen ergreifenden Friedhof der Natur. Eine weithin erkennbare Linie zieht die Grenze der Vegetation, und längst abgestorbene Stämme der Hochgebirgstanne oder Zirbelkiefer stehen nur mehr als vereinzelte Vorposten festgeklammert auf ödem Gesteine, nachdem Regengüsse und Sturmwinde das lebenspendende Erdreich abgeschwemmt und zerstört haben.

Die vernichtende Umarmung des Moränengeschiebes, das wie eine natürliche Ringmauer vor den beweglichen Gletschermassen aufgethürmt liegt, erdrückt den letzten Halt dieser Bäume, endlich stürzen die vom Blitze verkohlten oder vermoderten Strunke zusammen, und ihre Aeste ragen in den absonderlichsten Formen in die Lüfte.

Den Zwischenraum bis zu dem Eise bilden die Gletscherböden, ein glattes abgeschwemmtes, theilweise mit Felsblöcken und Moränenschutt übersäetes Terrain – die eigentliche Domäne der nach den Gesetzen der Schwere und Dehnbarkeit in ewiger Bewegung begriffenen Gletscher. Je steiler abstürzend sich dieses Terrain den Thalniederungen zuwendet, desto zerklüfteter gestalten sich die Endpunkte des Eises; seiner Kraft unterliegen die schwersten Felsstücke, und alles Leben fällt in seinem Bereiche der Vernichtung anheim. Wenn ein schöner Sommertag heraufsteigt und seinen warmstrahlenden Mittagsgruß entbietet, dann und auch nur dann zieht ein geheimnißvolles Knistern und Tönen über die Eisfelder hin. Die glühende Sonne funkelt im Eise, Milliarden von hellen Wassertropfen fallen nieder von der aufthauenden Oberfläche des Gletscherrückens und fließen in schmalen Rinnen den abwärts gelegenen Klüften zu. Hier sammeln sich die kleinen Bäche, brechen die dünneren Eisschichten durch, suchen in der Tiefe einen Ausweg, und wäre die Arbeit des geschmolzenen Wassers nicht auf die wenigen Stunden des Tages angewiesen, wo die Sonne Kraft genug bewahrt, ihm dienstbar zu sein, es würde die unterirdischen Tunnels längst durchbrochen haben. So aber müht es sich vergebens ab, der starren Hülle zu entrinnen, die Wasser bleiben im unergründlich tiefen Gletscherbett gefangen, werden wieder zu Eis, und nur einem Theile davon gelingt es, sich durch unzählige kleine Oeffnungen zu befreien und in vielfachen Windungen über die Gletscherböden abzufließen. Lawinen lösen sich ab und stürzen mit dumpfem Geräusch von den Firnhängen nieder, die Einwirkung der warmen Luft spaltet manchen Eisblock, und der dadurch entstehende heftige Knall zieht, vom Echo weitergetragen, murrend an den Felswänden herum.

Nach einer Zeitdauer von ungefähr vier bis fünf Stunden verliert auf diesen Höhen die Sonne ihre Kraft, das Leben und Weben auf den Firnen wird stiller, die Tropfen gefrieren wieder zu Krystallen, der leise unheimlich gurgelnde Ton des Wassers verklingt nach und nach in unsichtbarer Gletschertiefe, und die Natur sinkt wieder zurück in ihren eiskalten Schlaf.

Der kurze Traum eines scheinbaren Lebens erstirbt, er konnte es nicht zum Erwachen bringen. Wenn die Sonne schon lange untergegangen ist, erglänzen noch die Firnspitzen im rothen Schein des Alpenglühens, die Sterne ziehen auf, und nach kurzer Dämmerung deckt die Nacht mit ihrem Schatten die Gegend. Das kahle Geäste der Kiefern schaukelt sich knarrend im Winde, und von den tiefer unten gelegenen Steinfeldern tönen einzelne gellende Warnrufe geängstigter Murmeltiere herauf, die durch die Nähe eines lauernden Fuchses aus ihren Löchern aufgestört werden.

Nichts unterbricht weiter die Stille dieser schweigsamen Welt, die, einem im Wogengange erstarrten Meere gleichend, den Menschen mit Staunen und Bewunderung erfüllt.

Meine kleine Hütte in Mitte dieser imposanten Natur wurde mir bei eintretender Nachtkälte ein liebes Asyl, und mein Führer erwartete mich stets mit irgend einem von seinen Ausflügen mitgebrachten Leckerbissen, den wir eben nicht immer kunstgerecht bereiteten.

Es mochte mehr als eine Woche vergangen sein, als ich in das Thal zurückkehrte, und das Erstaunen meiner Wirthsleute war groß, als sie vernahmen, daß ich mich die ganze Zeit in der verlassenen Schaf-Alm aufgehalten habe.

Als der Herbst anrückte, nahm ich herzlichen Abschied von dem schönen Thal, ich stieg nochmals auf jenen niedrigen Bergkegel, von dem aus ich das erste Mal die Gletscherwelt gesehen, und die blendend weißen Spitzen grüßten gar bekannt herab zu mir.

„Auf baldiges Wiedersehen!“ rief ich ihnen zu, und ich habe mein Versprechen getreulich gehalten.
Adolf Obermüllner.