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Autor: Paul Bekker
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Titel: Der Faschisten-Bolschewist
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 111 (02.04.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Der Faschisten-Bolschewist


Nach Braunschweig und Darmstadt nun Rom. Auch dort hat man jetzt Malipiero-Pirandellos „Fabel vom vertauschten Sohn“ gegeben. Die Aufführung galt schon seit Monaten als Höhepunkt dieser Spielzeit, sie fand mit allen Zeichen des grossen Ereignisses in Gegenwart Mussolinis statt. Man stelle sich vor, wie Göbbels so etwas in Berlin aufgezogen hätte. Das ganze Haus voller S.A., brausendes Heil, Triumph, jeder Widersprechende in Schutzhaft. Was die Italiener anbetrifft – soviel Respekt sie auch vor dem Duco haben: in punkto Oper lassen sie sich garnichts vormachen. Sie haben den armen Malipiero trotz seiner hohen Beziehungen gründlich ausgepfiffen.

Das wäre an sich nichts besonderes. Ausgepfiffene Opern haben schon oft längere Lebenskraft bewiesen, als scheinbare Erfolgswerke. „Carmen“ war ein eklatanter Misserfolg, von Wagner nicht zu reden. Interessant wird der Vorfall erst im Hinblick auf die Vorgeschichte des Werkes in Deutschland.

Die Opernbühnen des nationalsozialistischen Deutschland haben in diesem Jahr nicht eine einzige nennenswerte deutsche Uraufführung gebracht („Arabella“ zählt in diesem Zusammenhang nicht). Totale Knebelung der deutschsprachigen Produktion ist das Kennzeichen der ablaufenden Spielzeit. Liegt etwa nichts vor? Doch. Zu verzeichnen ist – um nur ein paar Namen herauszuziehen – eine neue historische Oper von Krenek. Der Autor ist nicht einmal Jude. Der Inhalt des Buches, das Leben Karls V., bietet nicht den mindesten Anlass zur Beanstandung der Gegenwart. Es liegt weiter eine neue Oper von Alban Berg vor, „Lulu“, deren Text von dem – immerhin – deutschen Dichter Wedekind stammt. Das sind nur zwei Beispiele, es ist nicht nötig, sie zu vermehren. Nötig aber ist die Feststellung, dass nicht eine einzige reichsdeutsche Opernbühne es wagen durfte, an eine Aufführung dieser Werke zu denken. Warum nicht? Weil die Autoren nicht Göbbelsfromm sind, weil das Gehirn des Propagandaministers, der den Kunstdiktator mimt, sie als „zersetzend“ empfindet. Wen oder was mögen sie zersetzen?

Aber: vor dem Italiener ist man gekrochen, schamlos gekrochen. Man hat garnicht abwarten können, bis das Werk italienisch aufgeführt wurde, man hat es noch nass vom Autor weggeholt, man hat den Text im Handumdrehen in das geliebte Deutsch übersetzt, nicht weniger als zwei Opernbühnen haben innerhalb weniger Wochen einen Aufführungswettlauf gemacht. Sie wollten den Italienern zeigen, was sie für Kerle sind. Dabei waren sie so dumm, dass sie nicht einmal wussten, wer Malipiero ist, sonst konnten sie über die Wirkung nicht im Zweifel sein. Schon vor Wochen wurde an dieser Stelle der Widersinn angeprangert, der in den Malipiero-Aufführungen lag, die dilettantische Ahnungslosigkeit, die dem deutschsprachigen Komponisten nur D-dur-Dreiklänge erlaubt, vom Italiener aber alles frisst – diese klägliche Vereinigung von Unwissenheit und Würdelosigkeit, die sich gegenwärtig deutsches Operntheater nennt. Nun haben ihnen die Italiener die Quittung gegeben – sie haben den deutschen Schützling ausgepfiffen.

Das italienische Opernpublikum fragt nämlich nicht im mindesten danach, ob ein Komponist Fascist ist, oder nicht. Dieses Publikum ist eben so naiv wie grausam, dazu in allen Fragen der Oper erbarmungslos konservativ. Als im vorigen Jahr gelegentlich der Florentiner Mai-Festspiele die von dem Maler Chirico entworfenen „Puritaner“-Dekorationen missfielen, brach bei einem besonders experimentell gehaltenen Bild ein derartiges Entrüstungstoben aus, dass der Dirigent, es war Serafin, den Taktstock hinlegen, nach einiger Zeit der Vorhang fallen musste, und die Fortsetzung der Aufführung erst nach geraumer Weile möglich war. Die Bilder waren vortrefflich, nur dem italienischen Publikum ungewohnt. Aber dieses Publikum hat doch einen grossen Vorzug: es ist absolut aufrichtig, es kann nicht anders sein. Es gibt eine unbestechliche vox populi, auch wenn sie keineswegs stets vox Dei ist. In dieser primitiven Ehrlichkeit liegt etwas Versöhnliches. Wie armselig präsentiert sich dagegen jene Verlogenheit des gegenwärtigen Deutschland, die eine Sache, weil sie von einem Deutschen stammt, des Landes verweist, der gleichen Sache aber, sobald sie ein italienisches Etikett trägt, mit beflissener Liebedienerei nachläuft. Dass man in Darmstadt hinterher misstrauisch wurde und nachträglich sich selbst desavouierte, offenbart erst das ganze Elend dieser Kunstgesinnung. Erst ladet man den Italiener ein, um mit seinem interessant klingenden Namen zu prunken, und dann besitzt man nicht einmal das bisschen Zivilkourage, für den fremden Gast und den eigenen Entschluss einzutreten. Ja – wenn man noch Ueberzeugungen haben dürfte. Aber die werden jetzt nur unter ministerieller Aufsicht fabriziert.

Bei alledem ist es schade um Malipiero. Er hätte Besseres verdient. Ausgepfiffen worden ist schon mancher, der weit über ihm steht. Aber eben weil Malipiero nicht zu den ganz Robusten gehört, zu denen, die weit in die Zukunft hinein bauen, eignet er sich schlecht zum Objekt eines Skandales. Malipiero ist ein Einzelgänger, ein ernster, feiner, kluger Musiker, ein Mann nicht der Temperamentsausbrüche, der starken Theater-Affekte, einer von denen, die mehr in sich hineinhorchen, mehr das Zwischenleben der Dinge erfassen, als die Dinge selbst. In Italien hat er seit jeher einen schweren Stand, und für das Theater hat er eine etwas unglückliche Liebe. Der Italiener schätzt keine Musik, die spekulativ, mehr nervös als blutvoll, dabei experimentell gerichtet ist. Aber dieser Mann, der Herausgeber der Werke Monteverdis ist und ein fanatischer Anhänger alter Musik, gehört zu den führenden Köpfen der italienischen Musiker und Vorkämpfern neuer Ideen. Der italienische Fascismus legt hierin seinen Anhängern keine Bindungen auf, er hat es sogar gern, wenn seine künstlerischen Parteigänger ausgetretene Wege meiden. Das Urteil bleibt im Guten wie im Schlechten unabhängig vom Parteibuch. Darum wird der Italiener seinen Landsmann Malipiero als Opernkomponisten nicht ablehnen, weil er „Kulturbolschewist“ nach deutscher Definition ist, sondern weil ihm seine Melodien nicht kräftig und sangbar genug sind. Also aus musikalischen, nicht aus weltanschaulichen Gründen. Das mag im Effekt auf eines herauskommen, aber „musikalisch“ hat einen Sinn und zeigt Instinkt, das andere ist Unsinn und geistige Hilflosigkeit.

Darin liegt der Unterschied. Er kennzeichnet das Grundsätzliche dieses Vorkommnisses, soweit es die deutschen Bühnen angeht. Zweierlei tut ihnen not: Sachkenntnis und Mut der ehrlichen Ueberzeugung! Das eine ist ein Erfordernis des Wissens, das andere des Charakters, eines bedingt das andere. Für beides haben sie diesmal Fehlanzeige erstattet. Was bleibt? Gesinnungslumperei. Mit ihr kann man noch nicht einmal Theater spielen.