Der Fähnrich als Erzieher
Der Fähnrich als Erzieher.
„Hänschen, Dein Zopf ist aufgegangen!“
„Ich weiß!“ erwiderte die Angeredete, eine Wendung, durch welche junge Damen von vierzehn bis sechzehn Jahren jede Ungehörigkeit in ihrer Toilette entschuldigt glauben, „ich weiß! Der Assessor hat es mir schon gesagt. ‚Ihr Zöpfchen ist aufgegangen!‘ sagte er geziert – Zöpfchen! er könnte froh sein, wenn er so ein ‚Zöpfchen‘ hätte!“
„Nun, ob er darüber gerade so sehr froh wäre, das wollen wir dahingestellt sein lassen,“ meinte die Mutter, „was sagtest Du denn darauf?“
„Ich sagte: ‚Ach?!‘ so recht eklig! Was geht es ihn an? Er ist nicht meine Gouvernante, wenn er sich auch so aufspielt! Das ‚Du‘-Sagen habe ich ihm wenigstens jetzt abgewöhnt,“ setzte die Sprecherin triumphierend hinzu.
„Wie denn?“ erkundigte sich die Mutter rasch und angstvoll.
„Ich sagte: Die Köchin muß mich jetzt ‚Sie‘ nennen – Mama wünscht es! ‚Ich bin ja keine Köchin!‘ antwortete er unverschämt – aber er ‚siezt‘ mich seitdem. Sein Glück!“
„Ist er denn schon lange da?“ frug die Mutter.
„Stundenlang!“ erwiderte Hänschen unwillig, eine Metapher, die sich, im Licht der Wahrheit besehen, auf etwa zehn Minuten reduzierte, „er sitzt drüben und wartet auf Papa.“
„Aber Kind, dann geh’ doch hinüber und unterhalte ihn!“ drängte die Mutter, „ich muß nur noch Tischzeug herausgeben – sei einmal in Deinem Leben brauchbar – hörst Du?“
Hänschen stand zweifelnd und flocht an dem dicken dunkelbraunen Zopf, der allerdings die Bezeichnung „Zöpfchen“ in keiner Weise rechtfertigte.
„Er spielt, glaube ich, mit Karl Halma,“ sagte sie zögernd, „ich kann heute nicht mit ihm sprechen – ich bin zu wütend auf ihn!“
„Was hat er denn gethan?“ frag die Mutter erstaunt.
„Das verlorene Vielliebchen hat er mir gebracht!“ erwiderte die junge Dame ingrimmig.
„Nun, das ist doch sehr nett von ihm!“ beschwichtigte die Mutter und strich dem Unband lächelnd über den Kopf, „in was besteht es denn?“
„Das ist’s ja eben!“ knirschte Hänschen, „‚Briefe über Litteratur‘, ich denke, er wird mir gebrannte Mandeln oder sonst was Vernünftiges schenken – aber so ein dummer Schmöker!“
Die Präsidentin seufzte.
„Diese Ausdrücke,“ sagte sie bekümmert. „Du mußt doch noch in die Pension – ich sehe es schon – es hilft nichts! Aber jetzt kommst Du mit und benimmst Dich ganz vernünftig – Du hast Dich gewiß noch nicht bei dem Assessor bedankt!“
„Auch noch!“ meinte Hänschen höhnisch und folgte der Mutter in das Wohnzimmer, vor dessen Thür sie sich noch das kleine Vergnügen gönnte, dem ahnungslosen Gast eine lange Nase zu machen.
Der Gegenstand dieser gefühlvollen Huldigung erhob sich beim Eintritt der Damen und wurde von der Mutter mit besonderer Freundlichkeit begrüßt.
Er war ein schlanker, etwas gebückt gehender Mann von etwa 28 Jahren, mit einem liebenswürdigen, dunkeln Gesicht, und eigentlich der Liebling des ganzen Hauses. Nur Hänschen rebellierte gegen ihn, weil der Assessor, wie allerdings zugestanden werden muß, es nicht unterlassen konnte, eine pädagogische Einwirkung auf die junge Dame ausüben zu wollen, die im Vollgefühl ihrer fünfzehn Jahre und des „sehr bald“ Erwachsenseins dagegen ankämpfte wie ein junges Pferdchen gegen den Zaum.
Hänschens jüngere Geschwister, der dreizehnjährige Karl und Lotte, die zehn Jahre alt war, ließen sich gelegentlich von ihr zu einem Guerillakrieg gegen den Assessor anwerben, schon aus dem Grunde, weil der Gegenstand dieses stillen, aber erbitterten Kampfes, der seit Jahren ein sehr häufiger Gast im Hause des Präsidenten war, manchmal etwas „Ernstes“ zum Vorlesen mitbrachte. Die Kleinen wurden angesichts dessen vor die grause Wahl gestellt, entweder um acht Uhr ins Bett zu gehen oder regungslos und artig einer Abhandlung über die Schweizer Bundesverfassung oder über Tertiärbildungen in dem Gestein der mitteleuropäischen Gebirge zuzuhören – was nach Karls Versicherung so langweilig war – „beinahe wie die Schule!“ Aus all’ diesen kleinen Zügen ergiebt sich ohne Schwierigkeit die Thatsache, daß der Assessor ein niederträchtiger Charakter sein mußte.
Ob dieser Bösewicht nicht im Grunde das kleine „Erziehungssubstrat“, das ihm so ungebärdig widerstrebte, viel niedlicher fand, als er es sich merken ließ, das muß dahingestellt bleiben – die Mutter glaubte es und war sogar so unvorsichtig gewesen, dem Präsidenten darüber eine Andeutung zu machen.
„Ich bin fest überzeugt, wenn Hänschen drei Jahre älter wäre, könnte sie dem Assessor ganz gefährlich sein!“ behauptete sie.
„Blödsinn!“ erwiderte der Vater mehr aufrichtig als galant, „thue mir den einzigen Gefallen, Mathilde, und fange nicht an, Wickelkinder verheiraten zu wollen – das ist mir im höchsten Grade unsympathisch!“
Die Mutter schwieg beschämt, behielt sich aber ihre Ueberzeugung vor, was ihr niemand verdenken kann.
An dem Abend, da unsere Geschichte beginnt, wartete also, wie gesagt, der Assessor, und mit ihm die übrige Familie, schon eine geraume Zeit auf das Erscheinen des Hausherrn.
Bei Präsidents wurde sonst immer um sieben Uhr Thee getrunken und der Vater ließ sich diese Stunde höchst ungern verschieben. Heute abend aber schien ein Besuch, den er angenommen hatte, ihn ungebührlich lange aufzuhalten.
Endlich öffnete sich die Thür, das Familienoberhaupt erschien und begrüßte den Assessor und die Seinigen.
„So,“ sagte er behaglich, „das wäre überstanden – und nun rasch zum Abendbrot.“
Bald saß alles um den gemütlichen runden Theetisch, der Gast zwischen der Mutter und Karl, mit dem Hänschen im letzten Augenblicke blitzschnell den Platz getauscht hatte. Sie befand sich infolge dieses strategischen Manövers dem Feinde gerade gegenüber, der es mit seinen pädagogischen Grundsätzen ganz vereinbar zu finden schien, sich an dem reizenden Gesichtchen seines vis-à-vis zu freuen, in dessen trotzige dunkelblaue Augen das Licht der Hängelampe tanzende Funken streute.
„Wer hat Dich denn so lange aufgehalten?“ frug die Mutter und schenkte Thee ein.
„Ach, es war ein wahres Kreuz!“ meinte der Vater lachend, „noch ein Stück Zucker, Mathilde! – Der Fähnrich machte seinen Antrittsbesuch und konnte kein Ende finden! Nachdem ich mich nach seiner Garnison und nach seinem Vater erkundigt und erfahren hatte, daß der Letztere in Karlsbad gewesen sei, schienen unsere geistigen Anknüpfungspunkte erschöpft zu sein, und wir erzählten uns dann nur noch stockend und mühselig – im Anschluß an Karlsbad! – wie viel unsere sämtlichen Bekannten und Verwandten im letzten Jahre ab- und zugenommen hätten! – Der arme Junge litt ersichtlich eben solche Höllenqualen der Langenweile wie ich und konnte nur den Augenblick nicht erhaschen, wo er sich empfehlen sollte.“
„Was ist das für ein Fähnrich?“ frug der Assessor.
„Der Sohn eines alten Jugendbekannten von mir,“ erwiderte der Vater, „dessen Existenz ich, offen gestanden, total vergessen hatte. Nun ist sein Junge hier auf die Kriegsschule gekommen, [176] und er hat ihn an unser Haus empfohlen. Ich muß gestehen, daß ich mit der Species „Fähnrich“ recht wenig anzufangen weiß, und dieser schien mir nicht das munterste Exemplar zu sein!“
„Ich fand ihn sehr hübsch!“ bemerkte Hänschen plötzlich und rief damit das allgemeinste Erstaunen hervor.
„Wo hast Du ihn denn gesehen?“ erkundigte sich die Mutter etwas scharf.
„Durch die Portiere!“ bekannte Hänschen todesmutig, wurde dunkelrot und verschwand, unter dem Vorwand einer heruntergefallenen Serviette, spurlos unter den Tisch, wo sie, allem Anscheine nach, den Rest des Abends verleben zu wollen schien.
„Na, das ist ja sehr nett,“ meinte der Vater trocken, „nun komm nur auch wieder einmal in die Höhe! Die Serviette ist doch keine Nähnadel, die mußt Du ja inzwischen längst wieder gefunden haben! Also hübsch fandest Du den Fähnrich?“ setzte der Hausherr mit sichtlicher Belustigung hinzu, „nun sieh’ mal an!“ Der Assessor blickte, ganz unberechtigterweise, etwas verdrießlich drein.
„Sehen Sie sich junge Herren schon darauf an, ob sie hübsch sind?“ frug er beißend.
Hänschen, die sich inzwischen von ihrer überwältigenden Verlegenheit schon wieder erholt hatte, fuhr kampfbereit auf ihren Gegner los.
„O ja!“ erwiderte sie mit der ganzen Keckheit ihres Alters, „ich habe nur bisher keinen getroffen, der auch nur menschlich aussah!“
Der Assessor lächelte etwas unnatürlich – der Hieb saß.
„Da haben Sie’s!“ meinte der Vater lachend und schob dem Gaste die Rotweinflasche hin, „trinken Sie noch eins auf den Schreck! Wer wird sich mit einem Backfisch auf Wortgefechte einlassen – da zieht man immer den kürzeren!“
Die Mutter hatte währenddessen durch mehrfaches Kopfschütteln und Stirnrunzeln ihrer hoffnungsvollen Tochter starke Mißbilligung zu erkennen gegeben – Hänschen aber freute sich so sichtlich ihres Sieges, daß nichts mit ihr anzufangen war.
„Und was denkst Du mit dem Fähnrich zu thun?“ frug die Mutter.
„Vorläufig habe ich ihn zum Sonntag eingeladen,“ sagte der Präsident, „ich fühle doch die Verpflichtung, mich des Jungen etwas anzunehmen – er wird ja nicht stören!“
„Nun, das bleibt abzuwarten,“ meinte der Assessor gereizt, „im ganzen sind solche halbreife Früchte am Baume der Menschheit nicht sehr genießbar!“
„Besser wie Backpflaumen“, murmelte Hänschen zur sprachlosen Freude ihres Bruders, der ihr bei jeder neuen Ungezogenheit gegen den Assessor ermunternd zunickte und sie mit den Füßen stieß, um seinen Beifall zu bekunden.
Als der Assessor sich an diesem Abend, einer anderen Verabredung halber, ungewöhnlich früh empfahl, frug die Mutter: „Sie kommen doch auch am Sonntag?“
„Wenn ich trotz des Fähnrichs erscheinen darf“ – meinte der Assessor lächelnd – „wie ist das, Hänschen?“
Die junge Dame, die sich schon während des ganzen Abends einer haarsträubenden Unart gegen den Gast hingegeben und sich bei jeder seiner Bemerkungen mit Karl gepufft und ironisch angelächelt hatte, warf dem Frager einen gleichgültigen Blick zu.
„Zu mir kommen Sie ja nicht!“ sagte sie mit großer Ruhe, und dem Hausfreund blieb angesichts der Sachlage nichts übrig, als sich mit einem Achselzucken zu empfehlen.
Kaum hatte die Thür sich hinter ihm geschlossen als die Mutter mit großer Entschiedenheit die Parole ausgab: „Marsch, fort jetzt! Ihr wart heute abend zu ungezogen, Ihr geht jetzt schlafen – alle beide!“
„Ich soll auch schlafen gehen?“ frug Hänschen mit großen Augen.
„Jawohl!“ erwiderte die Mutter, „Du auch – und zwar sofort! Hast Du’s begriffen?“
Hänschen stand zögernd auf.
„Ich gehe ins sechzehnte Jahr!“ erklärte sie strafend.
Der Vater erhob die Augen von der Zeitung. „Das ist sehr hübsch von Dir!“ sagte er trocken, „aber jetzt gehst Du nicht nur ins sechzehnte Jahr, sondern auch ins Bett – ich habe die Ehre, Euch allen beiden eine gehorsame gute Nacht zu wünschen – es war mir ein besonderer Vorzug.“ – Eine Handbewegung nach der Thür vervollständigte diesen „Herausschmiß“ in der verbindlichsten Form.
Die beiden Geschwister trollten sich beschämt, und Hänschen gönnte sich wenigstens noch die kleine Herzenserleichterung, hörbar zu murmeln: „Alles wegen dem Greuel!“
Die Mutter sah ihr seufzend nach.
„Was aus diesem Mädchen noch einmal werden soll, Ludwig, das ist mir ein Rätsel!“ sagte sie bekümmert.
„Etwas sehr Niedliches!“ meinte der Vater behaglich.
„Aeußerlich ja!“ gab die Präsidentin zögernd zu, „aber sonst! Hast Du schon einmal etwas so Unbrauchbares gesehn? Und diese Gleichgültigkeit gegen ihre Erscheinung und ihren Anzug – bei einem so großen Mädchen! Um aus diesem Unband etwas Vernünftiges werden zu lassen, da müßte wirklich ein Wunder geschehen!“
„O, die geschehen noch alle Tage!“ sagte der Präsident heiter.
„Ich ziehe es doch vor, nicht darauf zu warten,“ bemerkte seine Frau bittersüß, „nein, nein, es ist nicht anders – sie muß in Pension!“
Der Vater machte eine ungeduldige Bewegung.
„Heute abend noch?“ frug er, „nein? Nun, da kann ich wohl erst noch meine Zeitung zu Ende lesen!“
Der Ausspruch: „Sie muß in Pension!“ war in neuerer Zeit geradezu zum Leitmotiv im Hause des Präsidenten geworden, und es darf nicht verschwiegen werden, daß Hänschen eines „Abschliffs“ in ihrer Erziehung nach den meisten Richtungen hin noch dringend bedurft hätte. Die Haupt- und Kardinaltugenden des „Weibes“ fehlten ihr vorläufig entschieden oder lagen noch so absolut unentwickelt in ihrer Natur, daß es auch dem schärfsten Auge bisher nicht gelungen war, sie herauszufinden.
Mochte die Mutter sich noch so oft mit dem alten Worte trösten lassen: „Niemand weiß im grünen Mai, was Knospe und was Mädchen sei“, es blieb doch eine traurige Wahrheit, daß Hänschen an allen Freuden, Interessen und Pflichten einer heranwachsenden jungen Dame bisher wenig oder gar keinen Anteil nahm. Als ein unnormaler Zug durfte es schon bezeichnet werden, daß ihr Wunschzettel zum Geburtstag und zu Weihnachten immer als oberste Bitte, und von zahllosen Ausrufungszeichen begleitet, die negative Forderung enthielt: „Nichts zum Anziehen!“
Wurde dann doch ein Gewand beschafft, so mußte die demnächstige Besitzerin zur etwaigen Anprobe aus allen Winkeln des Hauses zusammengesucht und wie Iphigenie zum Opferaltar geschleppt werden. War sie glücklich eingefangen und mit einer neuen Toga bekleidet, so erklärte sie, während des Anprobierens lesen zu müssen, da sie sich sonst zu Tode langweile – hielt in Momenten, wo eine regungslose Haltung bedingt war, ein zentnerschweres Töchteralbum mit beiden Armen in die Höhe, schrie auf, es wäre zu eng, sowie der erste Haken geschlossen wurde, weinte geräuschvoll, stampfte mit dem Fuß und war so ungebärdig, daß nach beendeter Anprobe Mutter und Schneiderin in einem halbohnmächtigen Zustand zurückblieben. Die Kleiderkünstlerin, ein wehmütiges, ältliches Wesen, dem vor zweiunddreißig Jahren sein Bräutigam durchgegangen war, zog nach derartigen Anprobeleiden regelmäßig ein Fläschchen mit Baldriantropfen aus der Kleidertasche und versicherte in einer ihr eigentümlichen Redewendung: „Wenn Fräulein Hänschen ‚anprobieren‘, muß ich jedesmal ‚brauchen‘!“
Auch die schönen Künste des Nähens, Strickens und Häkelns, letzteres von Hänschen aus tiefer Abneigung in „Ekeln“ umgetauft, begegneten hartnäckigem Widerstande. Sogar der silberne Fingerhut, den eine vielgeliebte Tante ihr als Aufmunterung zum Fleiß verehrt hatte und der die Umschrift trug: „Täglich saget Dir die Tante, daß der Hut Dir trefflich steht!“ vermochte nicht, die Passion für die Kunst der Nadel zu beleben! Ein Handarbeitskursus, der in seinem Prospekt verhieß, die Zöglinge für dreißig Mark zu Wundern der Geschicklichkeit heranzubilden, hatte nach viermonatigem Verlauf einen von Hänschen angefertigten Stopfer in einem Küchentuch als einziges Resultat aufzuweisen. Die Mutter pflegte dieses Unikum denn auch besuchenden Freundinnen mit der wehmütigen Feststellung zu zeigen: „Dieser Stopfer kostet dreißig Mark!“
In der Küche waren die Hilfeleistungen der heranwachsenden Tochter auch suspendiert worden, seit sie beim Einrühren eines Kuchens den halben Teig in rohem Zustande aufgegessen hatte und der Kuchen infolgedessen zum namenlosen Schrecken der Mutter [178] ungefähr so groß wurde, als wenn er in der Form aus Lottchens Puppenküche gebacken wäre. Kurz, die junge Dame schien zunächst als einziges Vorbild die Königstochter aus dem Volksliede erwählt zu haben, nach der sich schon Generationen so teilnehmend erkundigen: „Was thut sie denn den ganzen Tag, da sie nicht spinnen und nähen mag?“
Unter diesen Verhältnissen wird man die von Zeit zu Zeit wiederholte Behauptung der Mutter: „Das Mädchen muß in Pension!“ durchaus gerechtfertigt finden, und schon rückte das Schreckbild in greifbare Nähe. Auf dem mütterlichen Schreibtisch lagen bereits Prospekte über Prospekte, in denen Damen sich erboten, gegen eine jährliche Entschädigung von vier-, respektive sechshundert Mark Herz und Geist, Körper und Gemüt zu bilden und alle etwa fehlenden edlen Charaktereigenschaften prompt und sicher nachzuliefern.
Dieser Moment in dem Schicksal unserer Heldin ist es, in dem wir ihre Bekanntschaft machen und in dem zugleich der Fähnrich in die Erscheinung trat und ungeahnte Bedeutung für das Seelenleben der jungen Dame gewinnen sollte.
Die Einladung zum Sonntag war von einer unbeschränkten Bitte „auf den ganzen Tag“, die der Vater recht unvorsichtig ausgesprochen hatte, schriftlich auf „Nachmittag und Abend“ modificiert worden und der Fähnrich hatte, ebenfalls schriftlich, mit der Wendung zugesagt, daß sich Arthur von Soten die besondere Ehre geben werde, der freundlichen Einladung nachzukommen.
Dieses inhaltsreiche Schriftstück war auf dem Tische liegen geblieben und wurde des Abends gesucht, da sich ein leidenschaftlicher Streit zwischen den Eltern erhoben hatte, ob „Soten“ mit oder ohne h geschrieben würde, und man sich schwarz auf weiß überführen wollte.
Das billet doux war aber nicht aufzufinden, und erst nach geraumer Zeit und scharfem Verhör bekannte Hänschen, es in Verwahrung genommen zu haben – „ich kann nichts herumliegen sehen!“ bemerkte sie würdig – ein plötzlich erwachter Ordnungssinn, der von der Mutter mit Recht mißtrauisch betrachtet wurde, da man nie vorher auch nur eine Andeutung davon bemerkt hatte.
Der Vater schloß übrigens den Brief, nachdem die Streitfrage entschieden, in sein Pult. „Damit Du Dich nicht wieder über herumliegende Sachen zu kränken hast,“ wie er spitz bemerkte.
Der Sonntag, der Arthur von Soten in Person bringen sollte, rückte inzwischen näher.
Die Mutter erkältete sich ein paar Tage vorher und wurde von Hänschen mit einer wirklich diakonissenhaften Aufopferung gepflegt und mit allen erdenklichen Hausmitteln bombardiert, um Sonntag aktionsfähig zu sein. Das Befinden der Präsidentin besserte sich auch und die Krankheit blieb nur in der sichtbaren Form einer bedeutend angeschwollenen Oberlippe zurück, die der Symmetrie der mütterlichen Züge allerdings einigen Eintrag that, von der Besitzerin aber mit der Gleichgültigkeit des reiferen Alters gegen dergleichen Schicksalsschläge ertragen wurde.
Hänschen dagegen litt innerlich die furchtbarsten Qualen! Wenn der Fähnrich kam und die Mutter so sah! Da er sie vorher nicht kannte, mußte er ja naturgemäß annehmen, daß sie immer so aussah, ein Gedanke, bei dem sich die Tochter unaussprechlich blamiert fühlte und die Mutter solange und eindringlich beschwor, doch einen Tag im Bett zu bleiben bis die brave Frau, welche die fieberhafte Angst der Tochter gar nicht begriff, sich unwillig erkundigte: „Du bist wohl verrückt geworden?“ und damit der Besorgnis wenigstens den leidenschaftlichen Charakter benahm.
Als der Sonntag nun wirklich hereinbrach und die Mutter noch nicht abgeschwollen war, stieg die Verzweiflung Hänschens aufs höchste. Sie war sogar so unvorsichtig, sich zu verraten und meinte: „Mutter, ich habe gesagt, Minna soll die Schlafstube heizen – es ist Dir doch gewiß peinlich, hereinzukommen, wenn wir Besuch haben – wenn der Fähnrich kommt!“ setzte sie stockend hinzu.
Die Mutter sah sie groß an.
„Ach so!“ sagte sie dann gedehnt, „nein, nein – bemühe Dich nicht! ich will ihn auch sehen – er wird es schon überleben!“
Mit stillem Kopfschütteln und heimlicher Belustigung beobachteten die Eltern die unendlichen Vorbereitungen, die Hänschen für den erwarteten Besuch des Fähnrichs traf.
Erstens erschien sie, trotz des eiskalten Oktobertages, in einem weißen Kleide, was sie sonst immer unter Erstickungspantomimen als „zu eng“ verworfen hatte, trug einen Zweig roter Vogelbeeren im Gürtel und war tadellos glatt gekämmt.
Auch schnitt sie unmittelbar vor Tisch die letzten Monatsrosen und Astern ab, füllte alle Vasen und Schalen mit frischen Blumen und wischte freiwillig den Staub vom Klavier – ein noch nie dagewesenes Ereignis, das allgemeine Rührung und laute Rufe der Verwunderung hervorrief.
Der Assessor, der schon zu Mittag erschien, bemerkte mit einem überraschten Blick auf den dekorierten Tisch: „Nun, das sieht ja so festlich aus!“
„Alles der Fähnrich!“ sagte der Vater und rieb sich die Hände. „Sehen Sie nur, Assessor – sogar die weiß gekleidete Jungfrau fehlt nicht zum Einzug.“
„So, so!“ meinte der Assessor neidisch und verwundert. – Um fünf Uhr erschien der Erwartete mit militärischer Pünktlichkeit.
Hänschen, die das Sporenklirren im Flur hörte, stürzte ins Nebenzimmer und zwickte sich vor dem Spiegel in beide Backen, weil sie sich zu blaß vorkam. Dies Backenzwicken erwies sich übrigens als unnötig, da ihr Gesicht sofort beim Eintritt des jungen Herrn vor Verlegenheit bis zu päonienhafter Röte erglühte, und sie nur im stillen hoffte, daß sie abgeblaßt sein würde, bis sie sich aus dem tiefen Tanzstundenknix wieder nach oben gefunden hätte.
Kurz, Hänschen war wie ausgetauscht! Der Assessor sah mit wachsendem Ingrimm auf diese schüchterne, mädchenhafte Knospe, die mit niedergeschlagenen Augen am Kaffeetisch hantierte und der Mutter mit einem flehenden Blick das Einschenken abnahm. Bei einem emporlodernden Zank mit Lottchen, die ein von beiden Schwestern begehrtes Anisplätzchen mit dem Motto: „Gewalt geht vor Recht“ – an sich riß, gab Hänschen sogar mit sanfter Lieblichkeit nach, was die Mutter dazu bewog, den Fähnrich innerlich zu segnen.
Als man die Mahlzeit beendet hatte, räumte Hänschen das Kaffeegeschirr ab und erschien sogar, was doch sonst gar nicht ihr Fall war, als still waltendes Wesen mit der Krümelbürste, um die letzten Spuren des Kuchens wegzufegen. Dieser Anfall akuten Häuslichkeitstriebs hatte übrigens furchtbare Folgen, denn die Mutter bemerkte laut und gefühllos: „Du kehrst die Krümchen ab? Das ist auch wahr, das kannst Du jetzt immer machen!“ was nicht gerade in der Absicht der häuslichen Tochter gelegen hatte, aber von diesem Tage an erbarmungslos durchgeführt wurde, mit der boshaften Bemerkung bei Unterlassungssünden: „Die Krümchen liegen ja noch da – ich muß wohl den Fähnrich holen!“
Und er, der all’ dies Herrliche vollendet? Der Fähnrich? Er war ein hübscher, fixer Junge in einer entzückenden, blauen Husarenjacke, mit zwei so absolut in der Schattierung dazu passenden Augen, daß man im Zweifel hätte sein können, ob er sich die Augen nach der Jacke, oder die Jacke nach den Augen ausgesucht hatte. Nebenbei trieb er wahrhaft königliche Verschwendung mit der für Hänschen absolut neuen und darum doppelt bezaubernden Wendung: „Befehlen, gnädiges Fräulein?“, machte erfolglose, aber anmutige Versuche, einen Zukunftsschnurrbart zu drehen und klirrte in hinreißender Weise mit den Sporen – kurz, es war kein Wunder, daß er einen unermeßlichen Einfluß auf seine Umgebung ausübte! –
Nach dem Kaffee machte die Mutter den beglückenden und auf tiefes Verständnis der Situation begründeten Vorschlag: „Die Jugend geht jetzt wohl noch etwas in den Garten!“ und enthob diese Jugend dadurch der lähmenden Gegenwart der Autoritäten.
Vom Fenster aus sahen die Eltern lächelnd zu, wie Hänschen ein heimlich von der Mutter entlehntes rotes Seidentuch sehr kleidsam über das weiße Gewand geworfen, sittsam an der Seite des Fähnrichs in den Gängen promenierte, von Lottchen und Karl gefolgt, die Mund und Ohren aufsperrten, um kein Wort der gewiß höchst interessanten Unterhaltung zu verlieren. – Nach einer Weile wendete sich der Vater nach dem Assessor um, der ungewöhnlich schweigsam war.
„Nun, lieber Freund? Wollen Sie sich nicht der Jugend anschließen?“
„Ich weiß nicht“ – erwiderte zögernd der Angeredete, der noch vor acht Tagen diese Zumutung als eine entschiedene Verkennung seines geistig reifen Standpunktes würde angesehen haben.
„Nun, wie Sie wollen,“ sagte unbefangen der Vater, dem, wie jedem Manne, Seelenvorgänge wie des Assessors Verstimmung so lange unkenntlich blieben, bis er, wie der Volksmund sagt, „mit der Nase darauf gestoßen wurde“. „Dann lesen wir älteren Leute etwas! Ich habe da eine Broschüre über die Fortschritte der Elektrotechnik, die höchst interessant zu sein scheint!“
[179] Aber der Assessor war heute nur mit seinem halben Geiste bei der Elektrotechnik – er horchte nach dem Zimmer hinüber, in dem jetzt die Stimmen der aus dem dunkelnden Garten zurückgekehrten Jugend laut und vergnügt durcheinander schallten.
„Da drüben scheint es ja sehr heiter zu sein!“ bemerkte er mit erzwungener Freundlichkeit. In dem Augenblicke drang Hänschen ins Zimmer.
„Mama, dürfen wir nicht tanzen? Bitte! Du spielst uns! Herr von Soten will mir Tanzstunde geben – es wird göttlich!“
„Nur Ihr Beide?“ frug die Mutter zweifelhaft.
„Nein, wir holen die Schulzeschen Mädchen herunter – einzige Mutter – laß uns doch!“
Die Schulzeschen Mädchen waren ein sonst vergeblich von der Mutter angestrebter Umgang, der von Hänschen für „grauenhaft“ erklärt und infolgedessen immer abgelehnt wurde – aber jetzt als tanzende Lückenbüßer wurden Schulzens lebhaft ersehnt. Karl stürzte in Lohndienereigenschaft nach oben – und Schulzens, von der Anwesenheit eines Husarenfähnrichs unterrichtet, sagten mit Begeisterung zu. Anna Schulze, die den ganzen Tag mit geschwollenen Mandeln zu Bett gelegen hatte, erstand sogar von ihrer Leidensstätte und verbiß heroisch jeden Schmerz beim Schlucken, um mit zu Präsidents zu dürfen.
Nach etwa einer Viertelstunde traten die beiden Jungfrauen sehr aufgedonnert an, Annas Erscheinung nur etwas verdunkelt durch ein Krawattentuch, das ihr die Mutter unerbittlich aufgezwungen hatte. Unter namenlosem, vergnügtem Spektakel wurden die Teppiche aufgerollt, die Möbel in den Flur geschleppt, und ein improvisierter Ball wirbelte die Gesellschaft durcheinander.
Der Assessor, der mit giftigen Blicken zusah, wie sich seine ruhigen, geistig angeregten Sonntage unter dem Zauber des Fähnrichs zu Tanz-Orgien umwandelten, – also der Assessor entschloß sich nach einer Weile zögernd, seine passive Rolle aufzugeben und auch in den Reigen zu treten.
Er forderte Hänschen mit herablassender Miene zum Walzer auf, den die Mutter eben nach der Melodie „die schönsten Stiefel auf der Welt kauft man bei Spier und Rosenfeld“ zum Besten gab, wobei durch den kleinen Uebelstand, daß der Baß bei ihr grundsätzlich zu jeder Melodie derselbe blieb, weder die Künstlerin, noch ihr Publikum gestört wurde.
Hänschen nahm die Aufforderung des Hausfreundes an, und sie tanzten davon. Die gelehrige, junge Dame, welche aber im Laufe einer Viertelstunde sämtliche Finessen dieses Tanzes begriffen hatte, kommandierte mitten im Drehen: „Links herum!“ eine Forderung, die den nicht sehr tanzgewandten Assessor einen Augenblick aus der Fassung und in logischer Folge aus dem Takt brachte. Er blieb nach einigen verzweifelten Sekunden fruchtlosen Hopsens stehen und wurde von Hänschen mit dem freundlichen Gemurmel: „Nicht ’mal tanzen kann er!“ seiner Kavaliersdienste enthoben.
[188] Außer dem den Assessor tief verstimmenden Zwischenfall beim Tanze warf noch ein Ereignis einen Schatten auf den sonst so fröhlichen Abend. Das zehnjährige Lottchen, als echte Tochter Evas, wollte hinter den allgemeinen Anstrengungen, den Fähnrich zu entzücken, auch nicht zurückbleiben und erschien plötzlich mit einem Zweig künstlicher Blumen, aus einem alten Staatshut der Mutter, die sie mit einer großen Sicherheitsnadel in ihrem Schopf befestigt hatte. Der Vater, empört über diese vorzeitige Gefallsucht, warf die improvisierte Balldame zur Thür hinaus und beorderte sie ins Bett, – ein blamables Verfahren, das Lottchen natürlich in tiefster Seele verwundete.
Die Mutter, welche tröstend folgte, fand die Kleine bereits gehorsam, aber tief gebeugt, im Unterröckchen vor und ließ sich von ihr die traurige Mitteilung machen. „Ich habe so geweint, daß mich der Bock noch durch die ganze Wohnung stieß!“ was allerdings höchst schmerzhaft gewesen sein muß.
Die Ballfreuden drüben wären gewiß noch ins Unendliche fortgesetzt worden, aber des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr rief den Helden des Abends um dreiviertel Zehn wieder in die Kriegsschule zurück. Es bedarf wohl nicht der Versicherung, daß er sich mit tadelloser Ritterlichkeit von den Damen des Hauses verabschiedete und sogar Hänschen die Hand küßte, was diese in einen zwischen tiefer Beschämung und Seligkeit schwankenden Zustand versetzte. Gleichwohl konnte sie sich bei dieser wichtigen Gelegenheit nicht enthalten, umherzuschielen, ob es auch alle gesehen hätten! – Der Abschied des Assessors vom Fähnrich war kurz und kühl – was sich übrigens denken läßt.
Schulzens zogen auch hochbeglückt in die obere Etage und erzählten sich noch bis in die tiefe Nacht vom Fähnrich und seinen entzückenden Eigenschaften, bis der Vater Schulze mit einer so furchtbaren Stimme „Ruhig!“ rief, daß man es durchs ganze Haus hörte.
Als die Thür sich hinter der blauen Jacke des Lieblings der Grazien geschlossen hatte, erhob sich Hänschen und erklärte freiwillig: „Ich gehe zu Bett!“ in dem entschiedenen Gefühl, „Die Welt hat keine Freuden mehr auf diese!“
Der Assessor blickte ihr gedankenvoll nach. Sie sah in dem weißen Kleide so merkwürdig erwachsen und hübsch aus, und er hatte sie eigentlich immer wie ein dummes Schulmädchen behandelt! Es war recht peinlich, denn wenn er jetzt auf einmal andere Saiten aufzog, so konnte es so aussehen, als wenn das des Fähnrichs halber – „ach was – hol’s der Fuchs!“ dachte er ingrimmig und stand auf, um sich zu verabschieden.
„Nun? Sie wollen auch schon aufbrechen?“ frug der Präsident, der sich eben im Frohgefühl des überstandenen Spektakels eine Zigarre anzündete.
„Ja!“ erwiderte der Assessor kurz, „wenn Sie gestatten!“ und ging seiner Wege.
Die Mutter lächelte hinter ihm her.
„Er war eifersüchtig!“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit.
Der Präsident erhob Hände und Augen gen Himmel. „Mütter haben doch ohne jede Frage Größenwahn!“ sagte er feierlich. „Eifersüchtig! Ein ausgewachsener Mensch auf einen Backfisch!“
„Ei was!“ erwiderte die Präsidentin unbeirrt, „Hänschen ist fünfzehn Jahre – so alt war meine Großmutter auch, wie sie sich verlobte!“
„Na, Hänschen ist aber nicht Deine Großmutter!“ rief der Hausherr ungeduldig, „und nun, bitte, kein Wort mehr davon, Mathilde!“
Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß der Fähnrich mit der Zeit einen überraschend großen Einfluß auf das Familienleben im Hause des Präsidenten gewann. Ein Symptom unter vielen [190] war es, daß Karl sich für seine Zukunftscarriere entschieden hatte und auf die Frage: „Was willst Du werden?“ mit solcher Bestimmtheit antwortete: „Natürlich Husar!“ als wenn alle andern Berufsarten für den denkenden Menschen überhaupt ausgeschlossen wären.
Abgesehen davon aber wurde der Fähnrich in dieser Zeit mehr und mehr zum Mittelpunkt des Interesses im Hause.
Sogar Lottchen blieb, wie wir gesehen haben, nicht frei von der allgemeinen Infektion – sie hatte das unschätzbare, gesellige Talent an sich entdeckt, genau mit dem Tonfall des Fähnrichs zu sagen: „Wenn gnädiges Fräulein gestatten!“ und mußte dies gegen ein Entgelt von zwei Chokoladenplätzchen zu jeder Tageszeit ausüben. Hänschens Kontobuch zeigte infolgedessen ganz auffallende Posten für Chokolade, da die jüngere Schwester sich im wahrsten Sinne des Wortes zum „fressenden Kapital“ umwandelte und ihr Kunststück mit größter Bereitwilligkeit zum Besten gab.
Hänschen selbst war gänzlich in den Gedanken an den Fähnrich versunken – sie trug seine Visitenkarte im Portemonnaie, sie zerrte seine Persönlichkeit bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit ins Gespräch, es gab kein Thema, von den ostafrikanischen Kolonien bis zu den Butterpreisen, das nicht in irgend einer schlangengleichen Wendung von ihr auf den jungen Krieger gebracht worden wäre.
Die Mutter hatte schon eine Konventionalstrafe von zwei Pfennigen auf das Wort „der Fähnrich“ gesetzt und sich dessen Erwähnung wenigstens vor dem Frühstück mit großer Energie verbeten, da sie sich unfähig fühlte, bei nüchternem Magen schon Schwänke aus dem Leben des Fähnrichs anzuhören, oder sich vormachen zu lassen, wie er bei Verbeugungen mit den Absätzen zusammenschlüge.
Wer den wachsenden Einfluß dieses jungen, militärischen Prinzips mit dem größten Aerger sah, das war naturgemäß der Assessor. Jeden Sonntag wurde jetzt getanzt, von ruhigem Gespräche oder gar Lesen war nicht die Rede! An anderen Abenden spielte man statt dessen Schreibspiele oder Kartenorakel.
Der Fähnrich hatte neuerdings die Erlaubnis erhalten, sich auch in der Woche anzusagen. Jedesmal, wenn das der Fall war, erschien auch der Assessor. An diesen Abenden konnte der unwillige Hausfreund sich überzeugen, welche Metamorphose mit dem wilden Backfisch vorgegangen war, den er immer so vom hohen Pferde herab betrachtet und zu erziehen versucht hatte.
Hänschen erschien dann mit einer freiwilligen Häkelarbeit, die allerdings aus dem Nachlaß der seligen Penelope zu stammen schien, da sie öfters wieder aufgezogen werden mußte, und hörte mit Andacht den Erzählungen von den letzten und vorletzten Pferden des Fähnrichs zu, oder sie seufzte mit ihm über das bevorstehende Offiziersexamen, das „niederträchtig schwer“ sein sollte.
An dem heutigen Abend aber hatte der Assessor einmal das Reich allein. Der Fähnrich war durch eine „Strafstunde“ am Erscheinen verhindert und hatte dies soeben in einem seiner zierlichen Briefchen angezeigt – der Assessor stürzte sich wie ein Geier auf dieses Autogramm und durchflog es gierig.
Mit Hochgenuß entdeckte er in dem auch gereifteren Leuten oft ungeahnte Schwierigkeiten bereitenden Wort: „empfehlen!“ ein vergessenes „h“ und machte die ganze Familie darauf aufmerksam: „Der Romanheld schreibt ‚empfehlen‘ ohne h! Da wird er wohl durchs Examen ‚sickern‘!“
„Deswegen noch lange nicht!“ meinte Hänschen nachdrücklich, die über die Anforderungen, die das Offiziersexamen an seine Jünger stellt, aufs genaueste unterrichtet schien. „Das ist auch vielleicht neue Orthographie!“
„Die müßte sehr neu sein!“ bemerkte der Assessor ironisch.
„Uebrigens,“ fuhr Hänschen siegreich fort, „schrieb der alte Blücher auch unorthographisch!“
„Das wird wohl die einzige Aehnlichkeit zwischen den beiden sein!“ warf ihr Gegner hin.
Hänschen stand auf.
„Hoffentlich!“ sagte sie würdig. „Der alte Blücher war manchmal sehr unhöflich, und das ist Herr von Soten niemals! – Mama, es ist die höchste Zeit, daß ich nach dem Thee sehe,“ fügte sie mit ruhiger Selbstverständlichkeit hinzu, „Papa wird bald kommen. Karl und Lotte, Ihr könnt mir decken helfen!“
Und damit verließ sie das Zimmer.
„Dieser Fähnrich!“ knirschte der Assessor hinter ihr her, der jetzt mit der Mutter allein blieb.
Die Präsidentin lachte.
„Nein, nein, lassen Sie nur den Fähnrich zufrieden – der Mann ist ja Goldes wert! – Der spart mir eine Schweizer Pension! Hänschen ist jetzt das Bild einer Tochter, wie sie sein soll – sie hilft im Hause – sie frisiert sich täglich dreimal – sie hat sich gestern Glycerin von mir geholt und pflegt ihre Hände – seitdem fange ich an, darum zu beten, daß der Fähnrich sein Offiziersexamen bestehe! Er ist übrigens wirklich ein netter Junge!“ setzte die Mutter boshaft hinzu, „das kann niemand leugnen!“
Der Assessor lachte nervös.
„Nun, meine verehrte, gnädige Frau – wenn er sogar der älteren Generation gefährlich wird“ –
„Hören Sie ’mal!“ unterbrach ihn die Mutter lachend, „Sie sind aber sehr ungalant! Aeltere Generation! Das muß ich sagen, das hätte der Fähnrich sich nie erlaubt! Aeltere Generation!“
Die Mutter that tief gekränkt.
Der Assessor war ganz zerschmettert, nun wurde schon auch ihm von der Mutter der Fähnrich als Muster hingestellt!
Nach einer Weile tiefen Nachsinnens fuhr er auf.
„Aber erlauben Sie mir eine Frage, gnädige Frau – ganz ohne Scherz und unparteiisch – begreifen Sie die Sache? Ich verkehre doch nun seit Jahren bei Ihnen – ich habe Hänschen gewissermaßen aufwachsen sehen und immer den wärmsten Anteil an ihr genommen – und doch habe ich sie nie auch nur im geringsten zu beeinflussen vermocht. Und nun kommt dieser, wie ich zugeben will, hübsche und gewandte, aber doch herzlich unreife Junge und erreicht, ohne sich darum zu bemühen, alles, was Sie und ich vergeblich angestrebt haben. Wie erklären Sie das?“
Die Mutter legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter.
„Das will ich Ihnen sagen, mein lieber Freund,“ entgegnete sie heiter, „Mäuschen fängt man mit Speck und junge Mädchen mit liebenswürdigen Aufmerksamkeiten. Wir beide – Sie und ich – haben den Wildfang immer erzogen – ich aus Beruf und Sie aus Passion, und das ist bekanntermaßen eine undankbare Sache. Der Fähnrich –“
Der Assessor machte eine ungeduldige Bewegung.
„Ja, ja, lassen Sie mich nur ausreden!“ fuhr die Mutter lebhaft fort, „der Fähnrich macht den Backfisch zum ‚gnädigen Fräulein‘ – er stürzt, wenn ihr die Serviette hinunterfällt, wie vom Blitz getroffen, ihr zu Füßen und hebt sie auf – er fliegt mit dem Stuhl herbei, wenn sie ins Zimmer tritt – er tanzt mit ihr – er amüsiert sie – sie fühlt sich dadurch um zwei Stufen höher gehoben und bemüht sich nun, sich dessen würdig zu zeigen. Das ist das ganze Geheimnis!“
Ehe der Assessor noch zustimmen oder entgegnen konnte, erschien die übrige Familie, um sich zum Abendbrot zu versammeln; Hänschen voran mit einer großen Schüssel Heringssalat, die sie balancierend nach dem Theetisch trug.
Der Assessor sprang auf.
„Gestatten Sie mir, Fräulein Hänschen!“ nahm ihr die Schüssel ab und setzte sie auf den Tisch.
Hänschen sah ihn sehr erstaunt an und wurde etwas verlegen: „Was heißt denn das?“ stand deutlich in ihren großen Augen zu lesen. Die Mutter konnte sich beim besten Willen eines flüchtigen Lächelns nicht erwehren. „Der Fähnrich als Erzieher!“ dachte sie bei sich.
Der Zufall, der bisweilen etwas so Persönliches annimmt, daß man sich ihn ganz gut als pfiffigen Bengel vorstellen kann, schien aus irgend welchen Gründen den Assessor in seine Protektion genommen zu haben – er gab ihm wenigstens in allernächster Zeit Gelegenheit, sich im glänzendsten Lichte zu zeigen und, was uneingestanden der Wunsch seines Herzens war, den Fähnrich einmal gänzlich in Schatten zu stellen. Um die darauf bezügliche Begebenheit zu erzählen, muß erst eine grobe Unterlassungssünde wieder gutgemacht werden!
Es ist unverzeihlicherweise bisher in unserer Geschichte noch nicht von einem Mitgliede der präsidentlichen Familie die Rede gewesen, das gleichwohl eine bedeutende Rolle in derselben spielte. Das war der alte Pudel Epps, dem die Sage nacherzählte, daß er vor zehn Jahren weiß gewesen wäre, der aber inzwischen seine Farbe zu einem gelblichen Grau, sein seidenweiches Fell zu einem struppigen Gewirr umgewandelt hatte und bei Prasidents das Gnadenbrot bekam.
[191] Er war als treuester Spielgefährte der Kinder aufgewachsen, hatte sein erstes Lebensjahr in Hänschens Puppenwiege geschlafen und genoß in jeder Weise die allgemeinste Liebe und Hochachtung.
Bei Hänschen nahm dies Gefühl sogar einen schwärmerischen Charakter an, sie ging noch jetzt, als fast erwachsenes Mädchen, nie schlafen, ohne Epps ganz besonders Gute Nacht gewünscht zu haben, und beteuerte ihm ihre Liebe in den glühendsten Ausdrücken.
Epps bot, wie hier gleich zugestanden werden soll, für den Unparteiischen nicht viel Reizendes dar. Er hatte immer rote, thränende Augen, sah allem Waschen und Kämmen zum Trotz nie sauber aus und wurde von Hänschen in mildem Verweis wegen dieses kleinen Mangels mit „Du schmutziger Engel!“ angeredet. Außerdem hatte Epps die berechtigte Eigentümlichkeit, sich mit seinem dicken Kopf wohlwollend an Besuchern des Hauses zu reiben und ihnen bei dieser Gelegenheit einige Pudellocken als Andenken zu verehren, was nicht nach jedermanns Geschmack war.
Der Fähnrich und Epps – leider muß es zugestanden werden! – lebten unglücklich miteinander. Herr von Soten hielt begreiflicherweise strengstens auf den Glanz seiner Uniform und ging freundlichen Annäherungen von Epps zuerst scheu aus dem Wege. Als er in der Familie bekannter wurde, nahm er sich sogar die Freiheit, ihn weg zu puffen, und einmal, als Epps direkt nach seinem Straßenspaziergang eine staubige Pfote auf das tadellose Knie des Fähnrichs legte, hatte dieser sich die namenlose Roheit zu schulden kommen lassen, den braven alten Herrn mit: „Weg, Biest!“ anzureden, was Hänschen einen Stich ins Herz gab.
Ja, noch mehr – der Fähnrich hatte als sachverständiger Sportsman seine Ansicht dahin abgegeben, daß es viel besser sei, Epps totzuschießen, da er doch zu nichts mehr tauge, und sich sogar zu dieser traurigen Pflicht gedrängt. „Ich schieße ihn mit dem Tesching tot – das macht ihm gar nichts!“ eine kühne Versicherung, die bei den Zuhörern leiser Ungläubigkeit begegnete.
Dieses herzlose Anerbieten hatte fast vierundzwanzig Stunden lang den Glorienschein um das Haupt des Fähnrichs getrübt, und Hänschen mußte sein Prestige bei sich künstlich dadurch wieder herstellen, daß sie sich versicherte: „Er hätte es ja doch nie übers Herz gebracht!“ was, wie wir fürchten, nicht als unbedingt ausgemacht gelten kann.
Der Assessor hingegen war immer sehr nett gegen Epps! Er versäumte nie, ihn mit „Na komm’, Alter!“ zu sich zu locken, und wenn der Fähnrich, der überhaupt manchmal etwas überlegen that, ihn mit milder Strenge darauf aufmerksam machte: „Die Kröte haart, Herr Assessor – Ihr Rock ist schon ganz grau!“ – dann hatte er unbekümmert erwidert: „Dafür giebt’s ja Kleiderbürsten!“ und durch diesen feinen Zug bei Hänschen entschieden gewonnen.
Er fütterte auch Epps bei Tisch, was „eigentlich“ nie vorkommen sollte, aber uneigentlich jeden Tag auch von den Kindern geschah – kurz, er benahm sich in diesem Fall tadellos – das kann niemand in Abrede stellen!
An einem Sonntagnachmittag, der durch besonders schönes und klares Wetter unwiderstehlich zum Spazierengehen aufforderte, setzte sich die präsidentliche Familie mit ihren beiden Tischgästen, dem Fähnrich und dem Assessor, in Bewegung und wanderte vors Thor hinaus.
Die Eltern an der Spitze des Zuges – Hänschen mit den beiden Herren hinterher, einen Veilchenstrauß im Knopfloch, den ihr diesmal nicht der Fähnrich, sondern der Assessor mit der jetzt bereits um noch eine Stufe höher gestiegenen Anrede „mein gnädiges Fräulein!“ überreicht hatte. Karl und Lotte tobten mit Epps um die Gesellschaft herum. Epps, etwas schnarchend und heiser, aber sehr vergnügt, that alles, was in seinen Kräften stand, um sich als felddienstfähig zu erweisen, er jagte sogar keuchend einem Spatzen nach – allerdings nur ungefähr zwanzig Schritt weit – aber er versuchte es doch!
Der Assessor machte auf diesem Spaziergang die betrübende Erfahrung, daß er doch gegen den Fähnrich nicht aufkomme!
Dieser war heute früh beim Friseur gewesen, strahlte in vollster Pracht eines tadellosen Lockenkopfes und hatte sich bei dieser Gelegenheit durch die Lektüre der neuesten „Fliegenden Blätter“ geistig bereichert, welchen Reichtum er nun jauchzend zum Besten gab und mit Ausdruck vortrug. Hänschen wurde dadurch auf den Gipfel geselliger Heiterkeit versetzt. Auch machte der Fähnrich „Augen“ – eine Kunst, die angeboren, aber nicht erlernt sein will und in der der Assessor, in diesem Punkt stiefmütterlich von der Natur behandelt, selbst dann nicht mit ihm hätte wetteifern können, wenn seine Würde ihm ein solches Verfahren gestattet hätte.
Der Fähnrich, nach der Abkühlung wegen Epps neu in seine Rechte als Coeurkönig eingesetzt, wurde ziemlich übermütig, klagte über die „elende“ Sklaverei der Kriegsschule und renommierte mit seiner zukünftigen Stellung als Sekondelieutenant, in der ihm, nach seiner kühnen Versicherung, „kein Mensch mehr etwas zu sagen hätte!“ – Er that, als sähe er das gutmütige ironische Lächeln nicht, mit dem der Assessor diese Feststellung anhörte, die Hänschen natürlich auf Treu’ und Glauben hinnahm; – sie fand den Fähnrich überhaupt heute wieder einmal „blendend“ – ein Ausdruck, der von ihr auf alles Erfundene und Erschaffene, das ihr gefiel, vom Fähnrich bis zu einer neuen Haarschleife herab, unterschiedslos angewendet wurde.
Unsere Gesellschaft blieb während einiger Minuten am Fluß stehen, der, vom Novemberfrost noch nicht berührt, an dieser Stelle ziemlich wild und schäumend einher jagte und sich wenige Schritte weiter über ein Wehr stürzte.
Wie es zuging, ist nie aufgeklärt worden, aber die Thatsache bleibt bestehen, daß Epps dem Ufer zu nahe kam, auf seinen unsicheren, alten Beinen wankte und plötzlich, zu allgemeinem grenzenlosen Entsetzen, die steile Böschung hinunter und ins Wasser rollte, gegen dessen Kälte und Wildheit er vergeblich unter kläglichem Stöhnen und Pusten ankämpfte. Die drei Kinder schrieen, ohne jede Rücksicht auf Umgebung und Oeffentlichkeit, geradezu herzzerreißend um ihren Epps – namentlich Hänschen löste sich in Thränen auf und konnte nur mit Gewalt am Nachspringen gehindert werden. Der Fähnrich, der seine Extrauniform anhatte, sah mit Teilnahme zu und tröstete: „Beruhigen Sie sich doch, gnädiges Fräulein, es ist am Ende das Beste für ihn!“ – eine Philosophie, die von Hänschen mit erneutem Wehegeschrei und der zerschmetternden Antwort: „Seien Sie doch still!“ erwidert wurde.
Der Assessor hatte ein paar Augenblicke ganz ruhig dabei gestanden und gar nichts gesagt – mit einem Mal warf er Hut und Paletot ab, sprang mit einem Satz in seiner eleganten Dinertoilette mitten in das brausende, novemberkalte Wasser, aus dem er nach wenigen Sekunden mit dem triefenden, fast bewußtlosen Epps wieder emportauchte, und legte ihn, sich selbst wie ein gutmütiger tapferer Pudel schüttelnd, zu den Füßen seiner kleinen Freundin nieder.
Hänschens Gefühle schlugen ihr in diesem Augenblicke fast über dem Kopf zusammen. Dankbarkeit, Rührung und Glückseligkeit nach der ausgestandenen Angst um den armen, alten Hund waren überwältigend, und dem ersten Impuls ihres Kinderherzens folgend, flog sie auf den Assessor zu, ergriff seine Hand und wollte sie küssen. „Danke tausendmal!“ brachte sie nur unter Thränenströmen hervor, während der Assessor in tödlichster Verlegenheit die Hand zurückzog und in seinen Paletot kroch. Die Eltern schalten und bewunderten ihn wegen seiner unvorsichtigen Heldenthat, während die drei Kinder um Epps knieten, ihn rieben und umarmten.
Der Fähnrich, der dieses Mal eine weniger glänzende Rolle gespielt hatte, war inzwischen als praktischer Kriegsmann nach einer Droschke gelaufen und hatte sich dadurch wenigstens die Anerkennung zu erobern gewußt, daß er ein Mensch sei, der „an alles dächte!“
In diese Droschke wurde der triefende Assessor und der triefende Epps samt der Mutter und Hänschen gestopft. Der Assessor mußte ja nach seinem kalten Bade schleunigst nach Hause fahren, und dann kam die große Aufgabe, Epps ins Bett zu bringen und mit Glühwein zu erquicken, da bei seinem ehrwürdigen Alter die Wasserpartie für ihn noch ernstere Folgen haben konnte als für den Assessor.
Dieser versicherte beständig den beiden Damen mit klappernden Zähnen, ihm wäre sehr behaglich warm und sie möchten ums Himmelswillen nicht solches Aufhebens von der ganz natürlichen Sache machen.
„Ich werde den alten Hund doch nicht ertrinken lassen!“ setzte er ärgerlich hinzu und hätte die Genugthuung haben können, daß Hänschen, als sie mit der Mutter nach Hause fuhr, die energische Bemerkung machte: „Er ist doch ein famoser Kerl!“
„Das habe ich ja immer gesagt!“ meinte die Mutter trocken.
[192] Wenn Hänschens Erziehung noch bis zum feinsten Schliff vollendet werden sollte, so wurde es Zeit, die Sache ernstlich in Angriff zu nehmen. Der Kursus der Kriegsschule stand nämlich stark im letzten Viertel und der Moment damit bevor, da sich Herr von Soten aus der immerhin noch bescheidenen Fähnrichsrange zum glänzendsten Schmetterling in Lieutenantsuniform verwandeln sollte.
In diese letzte, schmerzlich schöne Zeit, in der die Besuche des Fähnrichs so mit dem doppelten Hochgenuß des vor-vor-vor-vorletzten Males durch- und ausgekostet wurden, fiel auch Hänschens Geburtstag – der sechzehnte!
In Anbetracht der besonderen Verhältnisse und der wirklich vorzüglichen Leistungen des Fähnrichs „als Erzieher“ war darum im Rate der Eltern beschlossen worden, diesen großen Tag durch ein bescheidenes Tanzfest zu begehen, welches in schöner Mischung erwachsener und kindlicher Elemente schon einen leisen Uebergang zu künftigen Bällen darzustellen hatte und zugleich dem Fähnrich Gelegenheit geben sollte, in der Eigenschaft eines Vortänzers sein Licht leuchten zu lassen. Er nahm die Aufgabe, seinen Ballerfahrungen im Kadettenkorps entsprechend, mit ruhiger Würde entgegen und versprach, sie mit glänzender Sicherheit durchzuführen.
Dem Assessor hätte man ein so frivoles Amt nicht zuzumuten gewagt – um so mehr, als die tanzende Jugend, wie gesagt, mit wenigen Ausnahmen im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren stand und außerdem Terpsichore nicht zu den Gönnerinnen des Hausfreundes gehörte.
Der Fähnrich, dem sein erlangtes Uebergewicht über den gereifteren Rivalen nicht wenig schmeichelte, hatte sich sogar schon eine perfide Bemerkung über dessen mangelhafte Leistungen in dieser Hinsicht gestattet. Er erkundigte sich – natürlich in Abwesenheit der kritisierten Hauptperson! – wo der Assessor wohl Tanzstunde gehabt hätte, und fand, daß er sich das Lehrgeld wohl wiedergeben lassen könnte, machte sogar den unfreundlichen Vergleich. „Der Assessor tanzt wie eine lebendige Feuerzange“ und legte überhaupt mehr und mehr einen betrübenden Mangel an Ehrfurcht vor dem Hausfreund an den Tag.
Kurz, der Fähnrich sollte Tanzordner sein! Hänschen, bei der diesmal der Wunsch. „Nichts zum Anziehen!“ gebührendermaßen durch das glühende Verlangen nach einem neuen Kleide verdrängt worden war, sah denn ihren sechzehnten Geburtstagstisch mit einem weißen Gewande und einer rosa Schleife geschmückt und stand, um das neue Lebensjahr würdig zu beginnen, von früh an mit zwei Spiegeln umher, in denen sie sich von vorn, von der Seite und von hinten betrachtete, um den möglichen Effekt auf die Seelenruhe des Fähnrichs auszustudieren.
Zu ihrer Ehrenrettung wollen wir dabei nicht verschweigen, daß sie auch flink und zierlich bei den Vorbereitungen zum Feste half und – ein erneutes Zeichen mädchenhafter Würde - nicht bat, die Gläser der eingekochten Früchte „auskratzen“ zu dürfen, eine Bevorzugung, um die noch vor einem Vierteljahr blutige Kämpfe zwischen ihr und Karl entbrannt waren.
Der Geburtstag war so liebenswürdig gewesen, auf einen Sonntag zu fallen, daher nicht allein für Hänschen der Besuch der oft verwünschten Selecta fortfiel, sondern auch – was eigentlich in erster Linie hätte erwähnt werden müssen! – der Fähnrich seinen Urlaub bis elf Uhr ausdehnen durfte – eine immerhin noch solide Stunde, derenthalben der Beginn der Festlichkeit schon auf halb sieben angesetzt war.
[210] Hänschen stand eben an ihrem Geburtstagstisch und zählte die eingegangenen Briefe und Karten, als der Assessor mit einem „anständigen“ Bouquet erschien und seinen Glückwunsch aussprach – zugleich aber sein Bedauern, daß er heute abend nicht werde pünktlich erscheinen können, da ihn ein amtliches und nicht zu umgehendes Diner bis in die neunte Stunde fesseln werde.
„Sie könnten mir wohl einen Tanz aufheben, Fräulein Hänschen!“ bemerkte er dabei.
„Wenn es irgend möglich ist!“ erwiderte Hänschen herablassend.
„Nun, auf alle wird doch der Fähnrich nicht pränumeriert haben!“ fuhr der Assessor etwas gereizt heraus, „übrigens hat ja wohl die Freude bald ein Ende – wie ich höre, macht der junge Herr in drei Wochen sein Examen – dann heißt es: ‚Adieu, Fähnrich‘!“
Hänschen blitzte den herzlosen Sprecher mit einem Paar sehr zorniger Augen an, die sich zu ihrer eigenen peinlichen Ueberraschung im nächsten Augenblick mit Thränen füllten.
„Bitte – wenn Sie mir meinen Geburtstag verderben wollen, werde ich mich sehr freuen!“ brachte sie trotzig hervor und stürzte aus dem Zimmer.
Der Assessor stand einen Moment betroffen – dann wandte er sich an die Mutter.
„Sie hat geweint!“ sagte er mühsam und atemlos.
Die Präsidentin lachte.
„Jawohl!“ erwiderte sie mit großer Seelenruhe, „der Gedanke, daß der Fähnrich bald abreist, ist ohnehin eine wunde Stelle in ihrem Herzen – und heute ist sie geburtstäglich sentimental gestimmt, sechzehn Jahre – also der erste Schritt zum ‚furchtbar alt‘ werden – und da müssen Sie mit der Erinnerung an die demnächstige Trennung von dem himmelblauen Helden kommen! Natürlich hat sie geweint. Es wäre auch noch besser, wenn sie es nicht gethan hätte. Kommen Sie einmal her, wenn der Fähnrich wirklich abreist, da sollen Sie erst merken, was Weinen heißt, oder ich müßte noch nie einen Backfisch gesehen haben!“
Der Assessor empfahl sich vernichtet – die Mutter schien die Sache auch noch zu begünstigen – recht hübsch, das mußte man sagen!
Es ist eine durch zahllose Erfahrungen bestätigte, wenn auch keineswegs angenehme Thatsache, daß Luftschlösser und Pläne eine gewisse Entfernung verlangen – daß sie, in die Nähe rückend und zur Wirklichkeit geworden, aus schimmernden, farbenprächtigen Gebilden zu kleinen, verkümmerten Früchten werden – greifbar, aber nicht so hübsch. Der Mensch sollte daher schon so klug geworden sein, sich nie im voraus zu sehr auf bestimmte Ereignisse zu freuen, aber er wird – leider oder zum Glück! – nicht klug. Und ein Mensch von sechzehn Jahren, der schon so verständig wäre, keine Luftschlösser mehr zu bauen, der möglichen Enttäuschung halber – mit dem möchte ich für meine Person wenigstens nichts zu thun haben.
Nun, unser Hänschen gehörte nicht zu dieser verpönten Menschenklasse! Die Geburtstagsfeier, die Tanzgesellschaft, die „erste Violine“, die sie bei dieser Gelegenheit naturgemäß zu [211] spielen hoffte, hatten sie schon seit Wochen in einen Taumel erwartungsvoller Glückseligkeit versetzt. Das Ausmalen des herrlichen Abends bis ins kleinste Detail hinein war schon so entzückend gewesen, daß die Wirklichkeit sich beträchtliche Mühe geben mußte, wenn sie mit dieser strahlenden Phantasie nur einigermaßen Schritt halten wollte. Die erste Vorbedingung zu dem formenreichen Bilde war natürlich, daß der Fähnrich, der unter den übrigen Herren, etlichen Primanern und angehenden Studenten, schon durch seine Uniform die Stelle des Schwans unter den – anderen Vögeln zu spielen berufen war, sofort auf das Geburtstagskind losstürzen und ihr mit bewegter Stimme einen tief bedeutsamen Glückwunsch aussprechen werde. Dieser Moment und die Gratulationswünsche wurden in Hänschens Einbildungskraft täglich in neuen und immer schwungvolleren Wendungen ausgemalt.
Und dann würde der Fähnrich nur – oder doch fast nur mit ihr tanzen! Am schönsten dachte sie es sich, daß er, wenn sie doch ’mal andern Gästen ihre Zeit widmen müßte, sich mit schmerzlichem Ausdruck und gekreuzten Armen an die Thür lehnen und ihr finster nachblicken würde. Es würde ja dies auffallende Gebahren allerdings etwas Peinliches haben – aber die Freundinnen würden doch gewiß alle vor Neid außer sich geraten, ein Umstand, der ja den meisten Mädchenfreundschaften eine besondere Würze verleiht.
Die freudige Erwartung und die mannigfachen Aufregungen des Tages ließen unsere kleine Heldin gar nicht zur Ruhe kommen. Als man vom Tisch aufstand, war sie so blaß, daß der Präsident mit einem prüfenden Blick auf sein Töchterchen nach schnöder Väterweise bemerkte: „Mädel, Du siehst so aus wie ein Teller saure Milch. Ich werde wohl ’mal nachsehen müssen, wieviel noch von Deiner Geburtstagstorte übrig ist!“ – was in Anbetracht der ganzen Situation und der sechzehn Geburtstagslichte recht häßlich war und die kindliche Liebe der Tochter für die Dauer von etwa zehn Sekunden fast erschüttert hätte.
Die Aufforderung, sich noch eine Stunde ruhig hinzulegen, wurde auch mit Entrüstung von Hänschen zurückgewiesen – sie hatte noch soviel zu thun!
Die Schleifen und Cotillondekorationen waren auf zwei Sophakissen zu stecken – wobei ein besonders prachtvoller Orden mit einem silbernen Schwan und einem Spiegel in der Mitte sehr pfiffig etwas unter unscheinbarere Sterne verborgen wurde, da er bestimmt war, die Heldenbrust des Fähnrichs zu zieren. Die Sträußchen für die Damen mußten in Körben geordnet – die Tanzkarten geschrieben werden, kurz, tausenderlei erfreuende und Herzklopfen erregende Vorbereitungen, die noch zu treffen waren, ließen den Nachmittag doch etwas schneller dahingehen.
Trotzdem wurde der wehklagende Ruf: „Ich glaube, heute wird es nie halb Sieben!“ mehrfach laut, und das Geburtstagskind schien demnach der Zeit den gewiß seltenen und ungerechtfertigten Vorwurf zu machen, daß sie aus „reiner purer“ Bosheit heute ’mal ganz stillstände.
Wie aber von erfahrener Seite mit ruhiger Sicherheit prophezeit wurde, „es wird schon halb Sieben werden!“, so geschah es.
Die Lampen wurden angezündet, eine frostig feierliche Atmosphäre herrschte in dem ausgeräumten Tanzsaal. Ein majestätischer Lohndiener, der wie ein englischer Premierminister aussah und in dem ehrenvollen Ruf stand, blechgefütterte Taschen zu haben, damit ihm der etwa zutraulich hineinschlüpfende Fasan keine Flecken in dem Frack verursache, deckte mit geräuschloser Gewandtheit den Eßtisch. Im Kinderzimmer schälte sich inzwischen die Klavierspielerin, eine kleine Person, so vertrocknet und runzlig wie eine getrocknete Birne, aus ihren winterlichen Umhüllungen, blieb aber im „Seelenwärmer“, um ihren musikalischen Leistungen nicht durch mangelnde Temperatur das nötige Feuer zu nehmen – kurz, die Anzeichen des hereinbrechenden Festes mehrten sich.
Hänschen, in ihrem neuen weißen Kleide, den Zopf heute hoch wie ein Krönchen aufgesteckt, was sie um drei Centimeter größer und „beinahe“ erwachsen aussehen ließ, handhabte ihren ersten Fächer mit Entzücken und Vorsicht und frug sich immer im stillen, ob die Welt wohl oft so schön wäre, während sie bei jedem Klingelton in glückseliger Nervosität zusammenfuhr.
Inzwischen fanden sich die erwarteten Gäste nach und nach ein.
Die Herren Primaner, in tadellosen Einsegnungsröcken, mit einer Maske gänzlicher Blasiertheit und Weltverachtung, durch die bei mehr als Einem höhnisch die tödlichste Verlegenheit hindurchblickte, machten die soeben frisch gelernten Tanzstundenverbeugungen mit großer Würde und kritzelten eifrig in ihre Karten.
Bei Hänschen hatte dies allerdings wenig Erfolg, da diese mehrere Tänze mit Löwenkühnheit verteidigte und namentlich den Cotillon nicht um alle Schätze Indiens hergegeben hätte – den mußte doch der Fähnrich beanspruchen und erhalten!
Die Tänzerinnen, eine Schar von Backfischen und jungen Damen, standen, ihrer sonstigen Natur entgegen, nicht schwatzend, sondern erwartungsvoll und still in einem Häufchen zusammen – etliche benutzten als Verlegenheitsableiter Lottchen, die im Besitze einer neuen Schärpe sich aber jeder Umarmung mit großer Ungezogenheit erwehrte, um ihre Prachtschleife nicht zerknittern zu lassen.
Karl klebte als stummer Beobachter in einer Ecke, nahm alles innerlich zu Protokoll und moquierte sich darüber, während er äußerlich den Eindruck eines bescheidenen, glattgekämmten Knaben machte, der sich seiner Stellung und seines kindlichen Jäckchens ganz und voll bewußt ist.
Zwischen den jugendlichen Tänzerinnen waren einige Erwachsene, die vom Vater ausdrücklich befohlen waren, damit der Assessor auch etwas Vernünftiges hätte und nicht immer mit den Backfischen herumspringen müßte.
Unter diesen zeichnete sich ein überreifes Fräulein hoch in den Zwanzigern durch eine Höhe von fast sechs Fuß und entsprechendes Gewicht aus. Sie hatte Augen wie Feuerräder, gewickelte Locken und eine prachtvolle Toilette, derzufolge sie den Eindruck machte: „Jeder Zoll ein Hundertmarkschein!“ Hiernach konnte sie mit vollem Rechte für das gelten, was man unter einer „schönen Erscheinung“ zu verstehen pflegt, wenngleich die innerliche Kritik von Hänschens Vater: „Die hätte einen hübschen Kutscher gegeben!“ nicht so ganz ohne Berechtigung schien.
Hänschen blickte immer gespannter nach der Thür – der Fähnrich ließ sich heute so erwarten! Wenn am Ende gar der Inspektionsoffizier, den der junge Herr ohnehin schon als einen wahren Franz Moor beschrieb, den Urlaub für den heutigen Tag abgeschlagen hätte – dem Geburtstagskind wurde schwarz vor den Augen.
Da – die Thür sprang auf – der Fähnrich erschien, ein Bouquet in der Hand, schön wie der junge Morgen, klirrend und hellblau. Hänschen warf einen beredten Blick auf ihre Freundinnen, in dem deutlich zu lesen stand. „Nun, habe ich Euch zu viel erzählt?“ und sah mit wildschlagendem Herzen der Anrede des Löwen der Gesellschaft entgegen. Der lang erwartete Moment verlief aber schon nicht ganz programmmäßig. Der Fähnrich chassierte zwar mit der ihm eigenen Anmut durch den Saal auf Hänschen zu und überreichte ihr sein Sträußchen, aber er bediente sich bei dieser Gelegenheit der nicht gerade durch Originalität verblüffenden Wendung: „Meinen besten Glückwunsch zum heutigen Tage!“ und kritzelte auf die Tanzkarte, statt daselbst irgend ein Gelüste nach Alleinherrschaft zu dokumentieren, sein Monogramm nur hinter den ersten Walzer, so daß Hänschen sich innerlich bitter enttäuscht fand.
Der Walzer selbst bot auch nicht gerade ein Uebermaß an Genüssen. Der Fähnrich war sichtlich zerstreut und ließ seine Augen immerfort im ganzen Saale herumrollen – er trieb die Geistesabwesenheit sogar so weit, auf Hänschens Frage: „Haben Sie schon meine Geburtstagsgeschenke gesehen?“ die überraschende Antwort zu geben: „Im Gegenteil!“ und setzte mit unheilverkündendem Eifer hinzu: „Wer ist die junge Dame in Rosa? Wenn gnädiges Fräulein dann die Güte haben wollen, mich vorzustellen“ – mit einer flüchtigen Kopfbewegung nach der Riesin deutend. Und nun begab sich etwas sehr Betrübendes. Der Fähnrich, trotzdem er der „jungen Dame in Rosa“ knapp bis an die Schulter reichte, trotzdem sie, schlecht gerechnet, sechs Jahre älter war als er – trotzdessen – oder vielmehr wenn man seine zarte Jugend in Betracht zieht, vielleicht eben deshalb! – verliebte er sich auf den ersten Blick so sterblich, so bis zur haarscharfen Grenze des Wahnsinns in die reife Schönheit, wie es eben nur ein Fähnrich oder ein Primaner fertig bekommt. Nachdem er den ersten Walzer als Arrangeur pflichtgemäß und gänzlich zerstreut mit der „Tochter des Gebäudes“ abgehaspelt hatte, verschwand er spurlos aus ihrer Nähe und schien den Abend im Schatten der Riesin verleben zu wollen.
Diese, nach einem alten ungalanten Sprichwort, wonach sogar das böse Prinzip in der Not mit Fliegen vorliebnehmen [212] soll, und in Anbetracht, daß der Fähnrich die einzige Uniform an dem Abend war, lächelte denn auch huldvoll auf ihn hernieder und tanzte mit ihm davon. Für den Unparteiischen war es allerdings sehr komisch, zu beobachten, daß sich hier „das Starke“ und „das Zarte“ im umgekehrten Verhältnis präsentierte, ja es machte beinahe den Eindruck als tanze der Fähnrich in kindlicher Pietät mit seiner sehr gut konservierten Mama.
Für den Unparteiischen, wie gesagt, war die Sache und die ganze glühende Leidenschaft des Fähnrichs sehr belustigend. Aber unser Hänschen war nichts weniger denn eine Unparteiische, und ihr kleines Herz zog sich mit jeder Minute schmerzlicher zusammen. Anderseits suchte die durch die letzte Zeit gemäßigte, aber durchaus noch vorhandene Unbändigkeit angesichts der Situation nur nach einem Vorwand, um mit elementarer Gewalt wieder hervorzubrechen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß Hänschen mehrmals in das andere Zimmer lief, wo sie sich unbeobachtet wußte, dort mit beiden Füßchen stampfte, als wollte sie sich direkt aus dem ersten Stock ins Parterre durchtrampeln, und sich bis zu der Anrede „Dummer Kerl!“ an die Adresse ihres Ideals hinreißen ließ.
Die Eltern warfen sich auch einige Blicke zu, die bei dem Vater allerdings einen etwas ironischen Beigeschmack hatten. Die Mutter aber nahm naturgemäß blind Partei für ihre Tochter und fand das Benehmen des Fähnrichs „einfach empörend“.
„Und daß die alte Schachtel sich so von dem Jungen die Cour machen läßt,“ setzte die Hausfrau mit schnöder Verletzung des Gastrechts giftig hinzu, „das ist doch zu arg!“ Der Vater zuckte die Achseln.
„Liebes Kind – ich dächte, wir hätten unsere Studien gemacht – so ein Fähnrich kann mehr wie Brot essen! Für Hänschen ist die Sache übrigens ganz heilsam,“ setzte der Hausherr hinzu, „sie übertrieb die Wirtschaft mit dem Jüngling schon. Laß sie nur abgekühlt werden, der kleine Hochmutsteufel, der in ihr steckt, wird ihr am besten darüber weghelfen.“
„Ja, ja,“ seufzte die Präsidentin halb überzeugt, „aber gerade an ihrem Geburtstage – sie hatte sich so darauf gefreut.“
Der schmerzliche Abend war inzwischen fast bis zum Cotillon vorgerückt, und unser armes Hänschen, das sich, wie wir uns erinnern werden, diesen wichtigsten der Tänze für den Fähnrich aufgehoben hatte, stand alle Qualen einer Gerichteten aus. Wenn sie jetzt, um die Situation zu krönen, noch mit einem Obersekundaner tanzen mußte, dem Einzigen, der noch unversorgt war, weil er in blinder Verlegenheit nicht gewagt hatte, irgend eine Dame aufzufordern – „dann gehe ich zu Bette!“ sagte die kleine Heldin dieser wahren Geschichte dumpf vor sich hin und frug sich bitter, wozu denn eigentlich das ganze Leben wäre.
Um den Becher ihrer Leiden zum Ueberfließen zu füllen, frug eine niederträchtige Freundin, die etwas gemerkt hatte, alle Augenblicke: „Mit wem tanzest Du denn den Cotillon?“ eine perfide Erkundigung, die Hänschen, um der Wahrheit nicht ins Antlitz zu schlagen, mit einem unartikulierten Gemurmel zu beantworten sich genötigt sah. Kurz, „es war hübsch“, wie das arme Backfischchen mit grimmigem Hohn bei sich selbst bemerkte.
Wie verschieden die Menschenlose verteilt sind, das zeigte sich auch an diesem Abend wieder. So deprimiert und erzürnt Hänschen war, so wolkenlos beglückt fühlte sich der Fähnrich! In seiner Eigenschaft als Tanzordner wuchs er erstens vor sich selbst zu schwindelnder Größe empor – er stürzte, um sich von [213] seinen Anstrengungen zu erholen, ein Glas Bowle nach dem andern hinunter und war von der feurigsten Liebenswürdigkeit. – Er kommandierte und schrie mit einer Stimme, die zu den schönsten Hoffnungen für den Exerzierplatz als künftiges Feld seiner Thätigkeit berechtigte. Er wurde von allen jungen Mädchen umringt und gefeiert – die Primaner erblichen neben ihm wie der Morgenstern vor der aufsteigenden Sonne. Die Riesin, der es zu schmeicheln schien, daß dieser Salonkönig sie so öffentlich anhimmelte, wurde auch immer freundlicher, sie tanzte unaufhörlich mit ihm – kurz, der oberflächliche Zuschauer hätte hier eitel Freude und Vergnügen gesehen und gar nicht geahnt, welche innerlichen Konflikte ein armes Herz durchwühlten das gerade diesem Abend so sehnsüchtig entgegengeschlagen hatte. – Mitten in einer Tanzpause, die der Fähnrich benutzte, um den Anwesenden eine Solodarstellung im „Menuett“ zu geben, und, von bewundernden Blicken verfolgt, im Saal herumhüpfte, ging die Thür auf, und herein trat der Assessor – aber nicht als Assessor, sondern, von einem Diner bei seinem Bezirkskommandeur kommend, in Uniform – „als Lieutenant verkleidet“, wie Karl immer zu erzählen pflegte, wenn er den großen Augenblick später dramatisch vorführte.
Also, wie gesagt, der Assessor erschien als Lieutenant, eine Würde, von deren Vorhandensein der Fähnrich nie vorher eine Ahnung gehabt hatte.
Die plötzliche Wandlung, die mit diesem – dem Fähnrich – vorging – der Sprung zur Seite – die Hände an den Hosennähten, der vorschriftsmäßige, kalte, ausdruckslose Blick in das Gesicht des Rivalen, der so überraschend zum Vorgesetzten erblüht war – alles das muß man erlebt haben, um die Ernüchterung zu begreifen die der Vorgang auf Hänschen ausübte.
Der Assessor, großmütig wie es dem Sieger gebührt, winkte herablassend mit der Hand ab, worauf wieder Leben in die versteinerte Gestalt des jungen Adonis kam, und näherte sich dann dem Geburtstagskind mit der weithin vernehmbaren, erlösenden Frage. „Nun, mein gnädiges Fräulein – Sie haben mir doch den Cotillon aufgehoben?“
Wenn der Stein, der Hänschen in diesem Augenblicke vom Herzen fiel, nicht bloß ein Phantasiestein gewesen wäre, so hätte er ein wahres Donnergepolter verursachen müssen. Strahlend, wenn auch nicht ganz aufrichtig, erwiderte sie: „Natürlich!“ und überraschte den Assessor damit um so angenehmer, als er die Frage eigentlich nur der Form wegen gethan und das erbetene Recht längst in den Händen des Fähnrichs geglaubt hatte.
Wäre Hänschen im geringsten schadenfroh gewesen, so hätte sie sich jetzt gerächt fühlen und in diesem Bewußtsein schwelgen können – der Fähnrich war klein – ach, wie klein geworden. Er schwänzelte bescheiden und artig mit „Gestatten, Herr Lieutenant!“ und „Gewiß, Herr Lieutenant!“ um den so oft geärgerten Assessor herum, der sich – denn er war immerhin ein Mensch! – die kleine Revanche für viel überstandene Unbill nicht versagen konnte, im Laufe des Abends statt „Herr von Soten“ mehrfach mit milder Herablassung. „Mein lieber Fähnrich“ zu sagen, was für den Jüngling angesichts der huldigenden Damenwelt recht peinlich war.
Für Hänschen aber klang der Ball, der so trübselig begonnen hatte, in einen vollen Triumphaccord aus. Der Assessor, der ihrem blassen Gesichtchen wohl angesehen hatte, daß irgend etwas nicht in Richtigkeit sei, verfolgte seine Vorteile – er brachte während des ganzen Cotillons nur einer einzigen Dame einen Strauß, und das war seine eigene Dame. Dann verzichtete [214] er dankend und benahm sich überhaupt so, wie es Hänschen vom Fähnrich erträumt hatte. Das will sagen, er tanzte mit niemand anderem als mit unserm überglücklichen jungen Fräulein, und die sonstigen jungen Mädchen mochten sich die Augen aussehen. – Keine konnte sich nachher rühmen: „Ein Lieutenant war auch da und der hat mit mir getanzt.“ Der Fähnrich gestattete sich inzwischen, von Bowle und Liebe ermutigt, sämtliche Schleifen und Bonbons, die ihm in die Hände fielen, der Riesin zu Füßen zu legen, so daß diese, angesichts seiner zweifellos ernsten Absichten, sich schon im stillen mit dem Rechenexempel zu beschäftigen begann, wie lange es wohl dauere, bis ein Fähnrich zu Amt und Brot gelange und imstande sei, eine Riesin zu ernähren. –
So ging dieser ereignisreiche Abend schließlich für alle Teilnehmer befriedigend zu Ende, und Hänschen hatte, angesichts der schwierigen Sachlage, eine Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, welche die Eltern doch wieder mit dem herzlosen Fähnrich aussöhnte, da sie ohne Frage als Resultat seiner Erziehung zu betrachten war.
Als aber der letzte Gast sich verabschiedet hatte, sagte der Präsident nachdenklich zu seiner Frau: „Weißt Du, Mathilde, das Mädchen wird uns aber vor der Zeit verdreht gemacht – sie muß doch noch in Pension!“
Aber sie kam nicht in Pension. Der Einfluß des Fähnrichs hielt vor, auch nachdem er sich von der präsidentlichen Familie verabschiedet hatte, um in einer fernen Garnison neues Unheil unter Mädchenherzen anzurichten.
Sein Fortgehen wurde, trotz der perfiden, übrigens ebenso rasch erloschenen, wie entflammten Leidenschaft für die Riesin, von der ganzen Familie aufrichtig bedauert und die lustigen Sonntage mit Spiel und Tanz riefen noch oft, nachdem sie wieder durch ernstere Bestrebungen verdrängt waren, bei Hänschen und Lotte den Seufzer hervor: „Wenn doch der Fähnrich noch da wäre!“
Aber die entschiedene Heiterkeit, die der junge Mann bei seinem letzten Besuch trotz aller dankbaren Rührung an den Tag legte, das sichtliche Regen der Schmetterlingsflügel, das in seinem Abschiedsgruß lag, genügte doch, um unser Hänschen zu dem Entschluß zu bringen: „Nun mache ich mir aber auch nichts daraus!“
Ja, sie gewann es sogar über sich, die Photographie des Herrlichen, auf der er schon „beinahe wie ein Lieutenant“ aussah, dem Familienalbum zu gönnen und nicht für sich zu „räubern“, obwohl die Eltern, wenn auch blutenden Herzens, am Ende das Opfer gebracht hätten, sie ihr zu überlassen.
Der Fähnrich machte es übrigens wie alle Fähnriche – oder, um gerecht zu sein, wie viele Fähnriche! – Er war nicht sobald fort und Lieutenant geworden, als er nie mehr von sich hören ließ und nur zu Neujahr noch eine Karte mit p. f. an das Haus entsandte, in dem er so segensreich gewirkt hatte.
So waren denn zwei Jahre hingegangen seit dem ereignisreichen Geburtstag – zwei Jahre, in denen nicht nur der Fähnrich zum Lieutenant und Hänschen zu einer reizenden, sehr mädchenhaften, jungen Dame – sondern auch der Assessor vor ganz kurzer Zeit – sehr früh und sehr erfreulich! – zum wohlbestallten Regierungsrat geworden war.
Er hatte dieses angenehme Ereignis erst schriftlich dem ganzen befreundeten Hause und dann mündlich der Mutter desselben in einer langen ernsthaften Unterredung mitgeteilt. Den Schluß und das Resultat dieser Unterredung können wir uns nicht versagen, zu belauschen, wenn es auch vielleicht recht indiskret von uns ist.
„Der einzige Zweifel, den ich noch habe, ob ich wagen darf, meine Bewerbung auszusprechen,“ sagte der neugebackene Regierungsrat mit einer gewissen Verlegenheit, „ist der – glauben Sie wirklich, verehrteste gnädige Frau, daß Ihr Fräulein Tochter – sie ist jetzt so unendlich ruhig und gehalten in ihrem Wesen, daß jede Vermutung“ –
Er stockte.
„Nun?“ frug die Mutter, die zu dem Lobspruche etwas ironisch dreingesehen hatte.
„Ich meine“ – brachte der Regierungsrat mutig, aber nicht ohne ein männliches Erröten hervor, „glauben Sie wirklich, daß sie den Fähnrich von damals ganz vergessen hat?“
Die Präsidentin lachte hell auf.
„Mein lieber Freund!“ sagte sie heiter, „hat Ihnen der Jüngling so lange Kopfzerbrechen gemacht? Nein – ich glaube, da können Sie ganz ruhig sein! Wir wollen übrigens gleich einmal die Probe aufs Exempel machen!“ setzte sie ruhig hinzu und gab dem Hausfreund gar keine Zeit, zu protestieren, da eben Hänschen ins Zimmer trat.
Sie begrüßte den Gast – nicht ganz unbefangen, wie ich bemerken muß, falls einem meiner Leser um den Assessor von einstmals angst werden sollte.
„Hänschen!“ begann die Mutter mit dem ernstesten Gesicht von der Welt, „rate einmal, wer sich verlobt hat? Unser ehemaliger Fähnrich – der Lieutenant von Soten. Was sagst Du dazu? Nun? Aber ehrlich!“
Hänschen öffnete ihre großen Augen sehr weit.
„Das ist mir doch so ‚Wurst‘!“ erwiderte sie würdig und lieferte mit dieser Wendung den erfreulichen Beweis, daß sie im Grunde doch noch das alte Hänschen von damals sei und einen Kraftausdruck nicht verschmähte, wo er zur Klärung der Situation dienen konnte.
Die Mutter hatte, angesichts dieser Wendung, das deutliche Gefühl, dem Assessor sehr geschickt auf den Weg geholfen zu haben, und verließ mit der beliebten Bemerkung „Ich muß einmal nach der Küche sehen“ das Zimmer.
Wir dürfen uns aber wirklich nicht noch einmal so indiskret benehmen wie vorhin und wollen jetzt mit ihr in die Küche gehen.
Zur Belohnung für dieses zartfühlende Betragen sind sämtliche Leser freundlichst eingeladen, zum Polterabend des Assessors – nicht doch, des Regierungsrates mit Fräulein Hänschen wieder zu kommen, wo unter allen Aufführungen und Vorführungen keine solches Glück machte wie die von Karl.
Er gab nämlich zu allgemeinem Beifall den „Fähnrich als Erzieher“.