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Autor: E. Mühling
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Titel: Der Chauvinismus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 252–256, 258
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[252]

Der Chauvinismus.

Von Dr. E. Mühling.

Auf der alten Welt lastet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Erwartung zweier Ereignisse wie ein lähmender Alp: die Furcht vor dem sozialen Umsturz und die Furcht vor dem nächsten Kriege. Beide Ereignisse erscheinen allen europäischen Völkern als furchtbare Katastrophen, die eine Geschichtsentwicklung von Jahrtausenden abschließen und ihre Schöpfungen vernichten würden. Diejenigen, welche die Verwirklichung des sozialdemokratischen Ideals für möglich und erstrebenswerth halten, erwarten zum großen Theile vom nächsten Kriege die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Und doch beben sie vor dem Gedanken dieses europäischen Völkerbrandes und vor dem unsäglichen Unglück zurück, das ihm folgen muß. Auch sie predigen den Frieden, wie viel mehr alle anderen Schichten des Volkes! Von den Thronen der Fürsten und den Kanzeln der Kirchen, von den Rednerbühnen der Parlamente, aus den Tempeln der Wissenschaft und Kunst und aus den Werkstätten der industriellen Arbeit steigt kein inbrünstigeres Gebet zum Himmel empor als das um Frieden.

Woher kommt es nun, daß durch die Einmüthigkeit dieser Friedenssehnsucht die Furcht vor dem Kriege nicht erstickt wird? Woher kommt es, daß der einzelne an der Erfüllung eines Wunsches zweifelt, von dem er weiß, daß er alle beseelt? Krieg oder Frieden – fließen sie nicht aus dem freien Entschluß der Völker und ihrer Fürsten? Sind wir machtlos gegen irgendwelche dunkle Schicksalsmächte, welche unabhängig von uns die Räder der Weltgeschichte treiben, und wird der Wille der ganzen Menschheit unter ihrem eisernen Drucke zermalmt?

Ich kann mich zu einer so traurigen Geschichtsauffassung nicht bekennen. Wäre dem so, dann wäre kein Fortschritt ein Verdienst und kein Rückschritt eine Schuld, der Fatalismus würde seine dunkle Fahne längst weit hinausgetragen haben über die Grenzen des ottomanischen Reiches, und dumpf und thatlos würden die Völker in ihrem Schatten dahinleben.

Nein, der Wille der Menschheit bestimmt ihre Schicksale. Ich will damit natürlich nicht behaupten, daß die Weltgeschichte von Majoritäten gemacht werde. Wenn irgendeiner, so muß der Forscher, der die Ursachen der Ereignisse sucht, die Stimmen wägen und nicht bloß zählen, und der Einfluß des Einzelwillens hängt von der Macht des Wollenden ab. Wenn aber ein Wunsch so einmüthig von Mächtigen und Ohnmächtigen gehegt wird wie der Wunsch nach der Erhaltung des Friedens, dann muß dieser Wunsch auch in Erfüllung gehen. Die Furcht vor dem Kriege kann deshalb in unsrer Friedenssehnsüchtigen Zeit nur in dem Gedanken ihren Grund haben, daß irgendwelche Leidenschaften, Bestrebungen, Pläne und Gelüste in mächtigen Einzelwesen oder größeren Massen irgend eines Volkes entstehen könnten, welche den Wunsch nach Frieden in ihnen ertöten und den Wunsch nach Krieg entflammen. Nicht dunkle Mächte sind es, die von außen her in die Geschicke der Menschheit eingreifen, sondern die Gefühle der Völkerherzen – wenn ich diesen Sammelausdruck gebrauchen darf – sind die Kräfte, welche ihre Schicksale bestimmen. Und wer nun unter dem Eindruck dieses Gedankens einen Blick in die Seelen der Völker wirft, der wird die Kriegsfurcht [253] für berechtigt halten, welche, der Allgemeinheit der Friedenssehnsucht zum Trotze, bald mehr oder weniger drückend auf den Nationen Europas lastet. –

Von allen den Leidenschaften, Plänen und Gelüsten der Menschenbrust, die trotz der Friedenssehnsucht nicht aufhören, Unfrieden zu säen, ist die gefährlichste der Chauvinismus. Mehr oder weniger ist dieses Unkraut in allen europäischen Staaten emporgewuchert, und neuerdings hat es sogar in Amerika Bürgerrecht erworben. Nirgends aber hat es üppigere Blüthen getrieben als in Frankreich. Es ist kein Zufall, daß däs Wort „Chauvinismus“ französischen Ursprungs ist. Bei unseren westlichen Nachbarn entstand zuerst das Bedürfniß, für eine Charaktereigenschaft ein besonderes Wort zu bilden, zu deren Bezeichnung der Ausdruck „Nationalstolz“ nicht mehr auszureichen schien.

Die Satire, jene mächtige Waffe, die sich meist erst erhebt, wenn der Schaden, den sie bekämpfen soll, sehr tief empfunden wird, hat das Wort „Chauvinismus“ geschaffen. In dem Lustspiel von Scribe „Le soldat laboureur“ ist der Held ein Soldat der Armee Napoleons I., dessen Bewunderung für den Kaiser keine Grenzen kennt und dessen Nationalstolz alle guten Eigenschaften seines Volkes ins Ungemessene übertreibt und für alle schlechten Eigenschaften seiner Landsleute blind ist. Diese nicht eben sehr originelle Bühnengestalt, die schon in der Komödie des griechischen und römischen Alterthums ihr Vorbild hat, konnte nur deshalb in Frankreich so großen Eindruck machen, weil sie eine zur nationalen Eigenschaft gewordene Schwäche geißelte. Der Name des Scribeschen Lustspielhelden ist Chauvin – ein übrigens in Frankreich sehr verbreiteter Name – und nachdem sein Träger im Volksbewußtsein zum Symbol der Eigenschaft geworden war, die er geißeln wollte, wurde aus dem Namen selbst die sprachliche Bezeichnung dieser Eigenschaft abgeleitet.

Es ist durchaus kein Wunder, daß die verderbliche Eigenschaft, die nun überall mit dem Worte Chauvinismus bezeichnet wird, gerade in Frankreich ein so hervorragender Bestandtheil des Nationalcharakters geworden ist. Kein einziges Volk hat jemals einen so tief in alle Lebensverhältnisse eindringenden Welteinfluß ausgeübt wie das französische. Die Siege Ludwigs XIV. begründeten nicht nur für ein ganzes Jahrhnndert Frankreichs politisches Uebergewicht in Europa; sie trugen auch in alle Länder französische Sitte, französische Kunst, französischen Geschmack. Und mehr als das politische Uebergewicht empfindet der einzelne den Einfluß einer fremden Nation auf diesen Gebieten, weil er sich in allen seinen täglichen Lebensgewohnheiten und in allem, was ihn umgiebt, geltend macht. Und wieder waren es französische Siege, welche die Gedanken der Freiheit und der Menschenrechte über den Rhein und über die Alpen trugen; alle inneren Bewegungen europäischer Staaten in diesem Jahrhundert sind Wellen, die der Sturm der französischen Revolution erzeugt hat.

Nicht immer segensreich ist dieser Einfluß gewesen. Aber er ist unleugbar und nur mit dem Welteinfluß des alten Rom zu vergleichen. Wir begegnen noch heute seinen Spuren in den Rechtsbüchern von ganz Europa und wir empfinden ihn nach in einer noch immer nicht ganz überwundenen Abhängigkeit vom französischen Geschmack. Es ist nur natürlich, daß sich in einem Volke, welches mit so großem Erfolg und so lange Zeit hindurch in alle Verhältnisse anderer Nationen entscheidend eingegriffen hat, das Bewußtsein der Ueberlegenheit unausrottbar befestigt; es ist auch natürlich, daß es für dieses Bewußtsein immer wieder neue Nahrung verlangt, daß es seine Regierungen drängt, beständig Beweise seiner Ueberlegenheit zu geben, und, wenn diese dazu nicht imstande sind, nach Menschen sucht, denen es jene Fähigkeit zutraut, und daß es, wenn dies Bewußtsein durch Thatsachen, durch Niederlagen erschüttert wird, sich selbst belügt und mit Eifer danach strebt, es wieder fest und sicher aufzurichten.

Wer ihm dieses Bewußtsein stärkt, der wird nicht geehrt und gefeiert, nein, der wird vergöttert und angebetet, wie der geniale Feldherr Bonaparte, wie der Dichter Viktor Hugo, wie der redegewaltige Parlamentarier Gambetta. Und aus solchen Gefühlen ist auch die Legende erwachsen, die den General Boulanger länger als ein Jahr hindurch zum gefeiertsten Manne Frankreichs machte. Nur ist diese Legende für die Blindheit des französischen Chauvinismus um so vieles bezeichnender als alle früheren Sagenbildungen, die der erhitzten Phantasie des französischen Volkes entsprangen, weil es nie eine Ueberschätzung gegeben hat, die sich einer nichtigeren, unbedeutenderen Persönlichkeit zuwandte.

Die Geschichte seiner maßlosen Popularität ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Zustände kennt, die im Augenblick seines öffentlichen Auftretens in Frankreich herrschten. An der Spitze des Landes stand Präsident Grevy, der zu schwach war, um zu verhindern, daß sein eignes Haus zum Tummelplatz niedrigsten Streberthums und erbärmlichsten Eigennutzes gemacht wurde. Ein Ministerium leitete die Geschäfte, das in den inneren Kämpfen seine ganze Männlichkeit eingebüßt hatte, weil es sich verpflichtet glaubte, allen Fraktionen der republikanischen Partei genug zu thun. In der Verwaltung herrschte dieselbe Schwäche wie in der Politik. Eine sehr natürliche Unzufriedenheit mit dieser Mißwirthschaft fing an, sich im Lande zu regen, und eine allgemeine Auflehnung des Volkes bereitete sich vor.

Da begann der General Boulanger zuerst die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und es ist nun sehr merkwürdig, wie das Wachsen seines Ansehens gerade durch dieselbe [254] Mißwirtschaft möglich wurde, die er bekämpfen sollte. Das mit Blindheit geschlagene französische Volk bemerkte gar nicht, daß sein Abgott seine Lebenskraft aus derselben trüben Quelle schöpfte, deren Verschüttung es von ihm erwartete. Er war damals – 1882 – Direktor der Abtheilung für die Infanterie im Kriegsministerium. Von seiner Vergangenheit wußte man wenig. Als Sohn eines Advokaten in Rennes im Jahre 1837 geboren, war er 1855 als Unterlieutenant in die Armee eingetreten, hatte in Afrika gegen die Kabylen, in Italien gegen die Oesterreicher gekämpft, war dann als Hauptmann den Kolonialtruppen nach Cochinchina gegangen und dort durch einen Lanzenstich verwundet worden. Im Kriege von 1870 kommandiert er das 114. Linienregiment bei der Vertheidigung von Paris. 1880 wird ihm die Führung der vierzehnten Kavalleriebrigabe übertragen. Im Jahre 1881 geht er als Chef der militärischen Gesandtschaft, welche die französische Regierung zur Jahrhundertfeier der amerikanischen Unabhängigkeit an die Vereinigten Staaten schickt, nach Amerika und tritt bei seiner Rückkehr in das Kriegsministerium ein. Es ist eine ziemlich schnelle, aber nicht ungewöhnliche Laufbahn, die hinter ihm liegt. Er hat sich überall tapfer und tüchtig gezeigt, wo er Gelegenheit dazu fand, aber sich vor anderen nicht in dem Maße als Stratege, Soldat oder Verwaltungsbeamter ausgezeichnet, daß seine Fähigkeiten zu großen Hoffnungen berechtigt hätten.

Als Direktor im Kriegsministerium begann er zuerst, die große Kunst zu üben, der er fast alle seine Erfolge verdankt, die Kunst, sich Freunde, sich Anhänger in allen Parteien zu verschaffen. Er benutzte den Einfluß seiner Stellung zu unerhörten Gunstbezeigungen; ihn hat niemand, selbst der Verdienstloseste nicht, vergebens um seine Huld gebeten. Nur unter einer so schwachen und selbst so zugänglichen Regierung war ein solches Treiben möglich. Als er im Jahre 1884 Divisionsgeneral in Tunis wurde, ließ er in Paris schon eine stattliche Schar von Bewunderern zurück, die ganz besondere Talente in ihm entdeckt zu haben glaubten, weil er ihnen nützlich gewesen war.

In Tunis nun fand er endlich die lang gesuchte Gelegenheit, von sich reden zu machen. Er reichte seinen Abschied ein, weil er dem Civilgouverneur unterstellt werden sollte. Und nun begannen die Freunde in Paris die Glocken für ihn zu läuten, an ihrer Spitze sein Duzfreund Clemenceau mit seinen radikalen Myrmidonen. So wurde er mit einem Male eine politische Persönlichkeit, weil sein Abschiedsgesuch den Kampf um ein politisches Prinzip entfesselt hatte.

In Deutschland ist die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, daß Boulanger seine Berufung ins Ministerium seinem Deutschenhaß, seiner Revanchesehnsucht, dem Chauvinismus der Franzosen verdanke. Diese Ansicht ist unrichtig. Boulanger wurde ins Ministerium berufen, weil man in ihm endlich einen demokratischen Kriegsminister gefunden zu haben meinte. Und auch der Ursprung seiner Volksbeliebtheit lag im Glauben an seine demokratische Gesinnung. Der Chauvinismus hat jene nur zu ihrer späteren Riesengröße angeschwellt. Als er im Januar des Jahres 1886 in das Ministerium Freycinet eintrat, begrüßten ihn die meisten republikanischen Blätter mit Sympathie, die radikalen aber mit einem wahren Triumphgeschrei. Nur das „Journal des Débats“ war empört, daß man das Portefeuille des Kriegsministers einem Radikalen ausgeliefert habe.

Die ersten Maßregeln, die Boulanger als Kriegsminister ergriff und über die soviel gespottet wurde, hatten alle ein demokratisches Gepräge. Wenn er den Soldaten erlaubte, einen Vollbart zu tragen, so ging er dabei von dem Gedanken aus, daß es eines freien Bürgers unwürdig sei, sich Vorschriften über die äußere Erscheinung machen zu lassen. Wenn er den Kasernen, die bisher die Namen Napoleon und Prinz Eugen getragen hatten, die Namen Bayard und Vauban beilegte, dann wollte er damit laut und deutlich seine republikanische Gesinnung bekunden. Wenn er den Unteroffizieren, Korporalen und Soldaten bis ein Uhr nachts Urlaub ertheilen ließ, so wollte er zeigen, daß die Offiziere in der Armee nichts vor ihren Untergebenen voraus haben sollten. Mit so großem Rechte sich auch die konservativen Blätter über diese Maßregeln lustig machten, ihre Wirkung war durch keinen Spott zu beeinträchtigen. Der demokratische General gewann sich durch sie die Herzen der Republikaner; denn man war der langweiligen Kriegsminister müde, die sich nur immer mit der Ausbildung und Organisation der Armee beschäftigten und dem republikanischen Geiste keine Huldigung darbrachten; man war froh, endlich einmal einen „politischen Kopf“ zum Kriegsminister zu haben. Und als nun in der Kammersitzung vom 13. März 1886 bei der Interpellation über das Verhalten der Soldaten gegen die aufständischen Kohlenarbeiter in Décazeville der General die denkwürdigen Worte sprach: „Vielleicht theilt jeder Soldat zur Stunde seine Suppe und sein Kommißbrot mit einem Bergmann,“ da konnte er schon auf eine ziemlich starke Partei im Lande zählen. Seine Rede in St. Cyr, wo er den Kadetten zurief: „Oeffnet Eure Herzen weit den Ideen Eures Jahrhunderts, laßt den Hauch des Fortschritts eindringen, der Eure Generation so hoch und so weit zu führen beginnt,“ seine Ansprachen bei Schützen- und Turnerfesten in Nantes und Limoges, in Romans und in Bourg, sie alle enthalten politische Anspielungen, wie man sie von Kriegsministern nicht zu hören gewohnt war. Und den Triumphen, die er an all diesen Orten feiert, weiß er meisterhaft durch die Presse ein weithallendes Echo zu geben. Schon wird seine Popularität den Republikanern bedenklich, und Ranc zuerst erhebt im „Matin“ seine warnende Stimme. „Die ganze republikanische Partei ohne Unterschied," so schreibt er am 16. Juli 1886, „wird nie einen General als Präsidenten der Republik noch als Ministerpräsidenten annehmen.“

Madier de Montjau dagegen, der greise Radikale mit dem jugendlichen Herzen, ruft in Valence bei einer Rede auf den auch dort gefeierten Kriegsminister unter stürmischem Beifall aus: „Nur der wird wirklich ein Volksheer schaffen, der auf der Tribüne gesagt hat, daß der Soldat sein Kommißbrot mit dem Arbeiter theilen würde.“

Nie hat ein Volk sich schwächlicher durch die Phrase und durch die Schmeichelei gefangen nehmen lassen als das französische durch Boulangers demokratische Allüren.

Schon ist seine Macht so groß geworden, daß er es ungestraft wagen kann, so hervorragenden Offizieren wie dem General Gallifet, dem Führer der todeskühnen Kavallerieattacke von Sedan, und dem General Saussier, dem Befehlshaber von Paris, öffentliche Verweise zu ertheilen. Ja er läßt diese Verweise – und dabei rechnete er auf den Eindruck, den alles Ungewöhnliche auf seine Landsleute zu machen pflegt – durch die offizielle Telegraphenagentur verbreiten und nun weiß er durch sein äußeres Auftreten der Begeisterung des Volkes immer neue Nahrung zu geben. Er ist ein guter, eleganter Reiter und erscheint bei der Parade in Longchamp auf einem herrlichen Rappen, dem so berühmt gewordenen Pferde, dem er, wie seine Gegner hehaupten, alle seine Erfolge verdankt. Man vergißt über diesem prächtigen Kriegsminister, der in der kleidsamen Generalsuniform so stattlich auf dem feurigen Araber die Front entlang sprengt, den unscheinbaren Grévy in seiner Präsidentenloge. Der eigentliche Vertreter der Republik an diesem Ehrentage ist der demokratische General. Und als er zurückkehrt vom Paradefeld, da umtobt ihn der tausendstimmige Jubel des Volkes. Nicht wie ein General, der eine Heerschau abgehalten hat, sondern wie ein Feldherr, der aus siegreichen Schlachten heimkehrt, reitet er durch den Triumphbogen in Paris ein. Diese Stimmung weiß er auszunutzen. Am 16. Juli weiht er den „Cercle militaire“ ein, einen Klub der Offiziere, der sich in der Bevölkerung einer größeren Beliebtheit erfreut als im Heere, und vor dem am Opernplatz gelegenen Gebäude läßt er Soldaten mit Fackeln vorbeiziehen. Der Pöbel von Paris dankt ihm für dieses Schauspiel mit einer jubelnden Huldigung. Am 17. Juli vergleicht der „Figaro“ schon die Stimmung der Bevölkerung mit der Begeisterung, die Louis Napoleon Bonaparte im Jahre 1850 entfesselt hatte, der „Soleil“ nennt die Huldigung vor dem Cercle militaire sogar die „Apotheose Boulangers“, und Delafosse schreibt in einem unter dem Titel „Vive Boulanger“ im „Matin“ erscheinenden Artikel, daß das Land in seinem Durste nach Abwechslung dem General volle Freiheit gebe, zwischen Brumaire und Fructidor[1] [255] zu wählen. Das Schreckgespenst des Staatsstreichs ist an die Wand gemalt.

So sieghaften Erfolgen erwächst nun ein mächtiger Verbündeter in der Person des Liedersängers Paulus, des Lieblings der Pariser, des Königs der Cafés chantants.

Es ist fast unglaublich, welche Macht der Popularisierung dieser französische Liedersänger besitzt. Er ist imstande, die blödsinnigsten Gassenhauer mit der größten Schnelligkeit von einem Ende Frankreichs zum andern zu verbreiten, so daß sie jede Magd in der Küche singt, jeder Gassenjunge auf der Straße pfeift. Aber noch niemals hat er mit einem Liede solchen Erfolg erzielt wie mit dem weltberühmten „En revenant de la revue“. Ein dümmeres Lied ist kaum je gedichtet worden, und auch die Melodie hat keinen andern Vorzug als den, daß man gut nach ihr marschieren kann. Sein Erfolg war nicht mehr dem demokratischen Gedanken allein zu danken – hier beginnt die Wirkung des Chauvinismus, der bis jetzt nur geheimnißvoll an der boulangistischen Legende mitgewirkt hatte, an die Oberfläche der Bewegung zu treten. Es war natürlich, daß es so kommen mußte.

Der Demokrat, welcher Kriegsminister geworden war, war zugleich Soldat, und weckt schon der Anblick jeder Fahne, jeder Uniform im leichterregbaren Herzen des Franzosen kriegerische Gelüste, wieviel mehr eine Uniform, die getragen wird von einem mit Begeisterung verehrten Manne, von dem man auch die innere Heilung der Republik erwartet. Der Jubel, mit dem allabendlich in der „Scala“ das Marschlied des Paulus begrüßt wurde, hat keinen poliaschen Charakter mehr, sondern entspringt rein patriotischen Gefühlen. Trotzdem das Lied keine einzige Anspielung auf die „große Rache“ enthält, die dem französischen Patrioten als leuchtendes Bild der Zukunft vor der Seele schwebt, schlummert doch die Revancheidee unter dieser Verherrlichung der Armee und ihres obersten Befehlshabers, und so kam es, daß der alberne Vers:

„Ma tendre épouse bat les mains
Ma bell’ mère pouss’ des cris
En voyant v’nir les Saint-Ciriens;
En regardant les spahis:
Moi je n’fais qu’ admirer
Le brav’ général Boulanger.“

[2]

von der Galerie der „Scala“ oft mit einem „à bas la Prusse“, „Nieder mit Preußen“, beantwortet werden konnte.

Vom Café chantant aus schreitet nun der Chauvinismus schon durch die Spalten der Zeitungen, die Gestalt Boulangers mächtig vergrößernd, seine kärglichen kriegerischen Verdienste ins Ungemessene übertreibend. Wie eine große Heldenthat preisen die Blätter des Generals – und eine große Anzahl in Paris und in der Provinz stehen ihm schon zur Verfügung – das lächerliche und ergebnißlose Duell zwischen ihm und Lareinty, welches die Folge jener Interpellation über die Ausweisung der Prinzen im Senat war. Schon zehn Tage nach der Komödie auf dem schwarzen Pferde schreibt Ph. de Grandlieu im „Figaro“ unter dem Titel „Boulanger c’est la guerre“ einen Artikel, in welchem folgende Worte vorkommen: „Man braucht nicht lange nachzudenken, um zu begreifen, daß der einzige General, der imstande ist, Frankreich endgültig zu meistern, derjenige ist, welcher dem trauernden Patriotismus die Genugthuung für Metz und Sedan verschaffen wird. Und das ist der Gedanke, der sich unter diesem Parade-Enthusiasmus verbirgt. Ja, dieser General will den Krieg, und, um ein Wort zu wiederholen, das, wie man mir versichert, ausgesprocheu worden sein soll, der neue Fructidor wird nur das Vorspiel sein zu einem zweiten Marengo.“[3]

In derselben Zeit erscheint eine Karikatur, die darstellt, wie Raben mit Pickelhauben auf den Köpfen von der französischen Grenze stieben, wo Boulanger als Vogelscheuche aufgestellt ist. Darunter stehen die Worte:

„Les vieux corbeaux Teutons semblent glacés d’effroi
Au moindre vent soufflant de Lorraine et d’Alsace;
Boulanger, ombre en chair, au ventre leur fait froid
Et c’est avec terreur qu’ils évitent la place.“

[4]

Ein Organ schafft sich der Chauvinismus im „Etendard“, der in blau-weiß-rothem Umschlag erscheint und gleichsam als Motto unter dem Titel „Le général Revanche“ ein im patriotischen Delirium geschriebenes Gedicht veröffentlicht. Ich will davon hier nur die letzten Strophen anführen:

„Tire nous de l’abîme ou notre orgueil se traine,
Conduis nos légions au glorieux chemin;
Rends nous l’honneur! Rends nous l’Alsace et Lorraine,
Reviens en ramenant les deux soeurs par la main.

Alors tu seras tout, tu seras l’aube blache
Que le pays attend sur le vieux RHin en feu;
Tu seras plus qu’un roi, tu seras plus qu’un Dieu,
Car tu seras la France, o général Revanche!“

[5]

Dieses Gedicht erschien ungefähr gegen Ende des Jahres 1886. Die Bewegung war auf ihrer Höhe angelangt. In der „Scala“ sang jetzt Marius Richard ein Lied, das allabendlich Stürme von Beifall entfesselte. In diesen Verseu feiert der Chauvinismus Orgien. „Ich will Deinen Namen nicht wissen,“ so heißt es darin, „wir nennen Dich Hoffnung, die Bräute bringen Dir ihre Verlobten, die Mütter ihre Söhne, die Matrosen kommen aus der Tiefe des Atlantischen Oceans und schwellen die Fluthen der Ostsee mit preußischem Blute.“ Die Soldaten schreien ihm „Vorwärts!“ zu und die Toten von 1870 versprechen ihm, ihn zum Gotte zu machen. Elsaß-Lothringen bittet ihn, es dem Vaterlande wiederzugeben. „Mit einem Blitze Deines Säbels,“ so heißt es zum Schlusse, „erwecke die Morgenröthe! Zeige unseren Fahnen den Weg zum Rheine! Erscheine! Wir erwarten Dich, General der Rache!“

Um dieselbe Zeit wird auf den Boulevards ein „Almanach du général Boulanger“ ausgerufen der einen Lebenslauf des Kriegsministers enthält, in welchem folgende Stelle bezeichnend ist: „Der General ist erfüllt von seiner Sendung, er fühlt, daß er die Keime unsres Schicksals und unsres zukünftigen Ruhms in der Hand hält, daß die Fahne, die man ihm anvertraut hat, noch die Spuren unserer Thränen trägt, und daß ein Tag kommen wird, an dem dies Symbol des zerrissenen Vaterlandes wieder aufleben wird in einer verheißenen Rache. Dazu müssen wir bereit sein; dazu müssen wir – und das weiß der Minister – ohne Rast arbeiten und schließlich aus allen Bürgern Männer, aus allen Männern Soldaten, aus allen Soldaten Helden machen.“

Nur die auffallendsten Auslassungen des chauvinistischen Boulangismus habe ich hier zusammengestellt. Die Zahl der in Zeitungen, Flugblättern, Broschüren erschienenen Ausgeburten des patriotischen Paroxysmus um die Wende des Jahres 1886 ist unübersehbar. Die boulangistische Partei war zu einer gefährlichen Masse angeschwollen, und schon konnte Rochefort, als die Stellung des Kriegsministers im Januar 1887 durch die Haltung des Parlaments gegenüber den ungeheuren Forderungen für die Armee erschüttert war, in seinem „Intransigeant“ mit der Revolution drohen. „An dem Tage, an welchem Boulanger gestürzt wird“ – so heißt es in einem Leitartikel des sozialistischen Blattes – „wird der Aufruhr durch Paris toben und die Armee wird nicht auf der Seite der Regierung stehen.“

In diesen ersten Monaten des Jahres 1887 unternimmt nun auch der Boulangismus seinen Flug in die hohe Politik. In boulangistischen Blättern zuerst wird der Gedanke eines Bündnisses mit Rußland ausgesprochen, der mit unbegreiflicher Macht das ganze Land begeisterte. Einen wie großen Einfluß auf die [256] Verbreitung dieses Gedankens man dem Kriegsminister zuschrieb, beweist jene Abordnung russischer Patrioten, die im Februar 1887 in Paris erschien. Sie überreichte dem General einen Ehrensäbel, auf dessen Klinge die Worte eingraviert waren: „Qui vive? La France et Boulanger!“ Auf der andern Seite der Klinge stand in russischer Sprache: „Wag’s! Gott schützt die Kühnen“; auf dem Bügel: „Au plus digne 1887 la Russie“, „Dem Würdigsten 1887 Rußland“. Was Wunder, daß man bei solchen Vorkommnissen im In- und Auslande die Nachricht eines antiboulangistischen Blattes glaubte, das behauptete, Boulanger habe einen Brief an den Czaren geschrieben?

Die wirksamste Unterstützung fand diese Idee des russisch-französischen Bündnisses bei der Patriotenliga. Diese Patriotenliga war[6] ein bald nach dem Kriege von 1870 entstandener, über ganz Frankreich verbreiteter Verein, der es sich zur Aufgabe machte, den Durst nach Rache für Sedan und die Sehnsucht nach den „geraubten Provinzen“ im französischen Volke aufrecht zu erhalten. An ihrer Spitze stand eine der seltsamsten Erscheinungen des modernen Frankreich, der Dichter Paul Deroulède. Es ist keine Uebertreibung, wenn man ihn die Verkörperung des französischen Chauvinismus nennt. Durch seine im Jahre 1872 erschienenen „Soldatenlieder“, die in zehn Jahren einundneunzig Auflagen erlebten, hatte er sich in Frankreich bekannt gemacht. Diese Lieder zeugen von einem nicht gewöhnlichen Talent, athmen glühende Vaterlandsliebe und fanatischen Preußenhaß und bringen jene maßlose Selbstüberschätzung zum Ausdruck, welche die unfehlbare Begleiterscheinung des Chauvinismus ist. Keine Persönlichkeit schien geeigneter, an der Spitze einer Vereinigung zu stehen, die sich für berufen hielt, dem Chauvinismus immer neue Nahrung zuzuführen.

Trotzdem hab’ ich mich nie einer gewissen Rührung enthalten können, wenn ich am französischen Nationalfest diesen Apostel der Revanche in seinem langen grünen Ueberzieher, mit dem langen, ganz altmodischen Cylinder auf dem Kopfe und in den langen Armen – alles ist lang an diesem Menschen – einen Riesenkranz haltend, an der Spitze der Liga über die Boulevards schreiten sah, als ob er mit einem Trauergefolge hinter einem Leichenwagen herschritte. Es lag so viel ehrlicher Schmerz in seinem Gesicht, in seiner ganzen Haltung, daß die Sympathie für die Persönlichkeit fast die Verwerflichkeit seiner Bestrebungen für Augenblicke vergessen ließ. Stumm legte er dann – da die Regierung jede Rede streng untersagte – seinen Kranz vor der mit Flor umhüllten Statue von Straßburg auf dem Eintrachtsplatz nieder, und Kränze häuften sich auf Kränze, bis das Postament der Statue aussah wie ein geschmücktes Grab.

Es war natürlich, daß eine so beschaffene Vereinigung mit solchem Führer zum Bundesgenossen des Boulangismus werden mußte. In ungeheurer Verblendung über die strategischen Fähigkeiten des Generals hatte Deroulède in einer Sitzung der Liga die bezeichnenden Worte ausgesprochen: „Mit einem solchen General an der Spitze wird unsere Armee siegreich ohne Bündnisse gegen die ganze Welt kämpfen.“ Dennoch wurde er der eifrigste Agitator für das unnatürlichste Bündniß, das je zwischen zwei Mächten zustande gekommen ist.

Boulanger als Vogelscheuche.
Nach einer französischen Karikatur.

Trotzdem damals die Wogen des Boulangismus, vom Sturme der Revanche-Idee bewegt, so hoch gingen, darf man nicht glauben, daß die Bevölkerung des ganzen Landes steuerlos auf ihnen trieb. In Deutschland hatte man natürlich das Anwachsen der chauvinistischen Bewegung mit wachsamen Blicken verfolgt. Und als im Januar 1887 der Streit um das Septennat entbrannte und ein Wahlkampf von beispielloser Heftigkeit durch das ganze Reich tobte, da konnte es nicht ausbleiben, daß der General Boulanger in den Reden und Schriften der Septennatsfreunde eine wichtige Rolle spielte.

Die Rückwirkung dieser deutschen Agitation auf die Stimmung in Frankreich äußerte sich nach zwei verschiedenen Richtungen hin. Die besonnenen Republikaner wurden immer mehr zu der Ueberzeugung gedrängt, daß Boulanger die größten Gefahren für das Land heraufbeschwören würde, und ein wahrer Sturm der republikanischen Blätter gemäßigter Richtung erhob sich gerade in diesen Monaten gegen den Kriegsminister. In keinem Lande ist dieser General durch Zeitungsartikel, durch Karikaturen und durch Flugblätter so lächerlich gemacht, mit so grimmigem Spotte überhäuft worden wie in seinem eignen.

Die andre Wirkung der deutschen Agitation war aber die, daß die Radikalen ein Mittel gewannen, den so hart angegriffenen General als ein Opfer des Fürsten Bismarck hinzustellen.

Je heftiger jedoch die Sprache der radikalen Blätter wurde, desto heftiger wurden auch die Angriffe der monarchistischen und der gemäßigten Presse. Als die Boulangisten die Wahlen im Elsaß vom 21. Februar 1887, aus denen die Protestler als Sieger hervorgingen, mit Jubel begrüßten und die Statue von Straßburg mit Flaggen schmückten, verurtheilte die gesammte gemäßigte Presse dieses hetzerische gefährliche Treiben; und als endlich am 20. Mai das Ministerium Goblet gestürzt wurde, gab es in Paris einundzwanzig Blätter, die für, und zweiundzwanzig, die gegen das Verbleiben Boulangers im Ministerium eintraten. Bis in die Reihen der Patriotenliga hinein übte der Boulangismus seine zersetzende Macht. Am Ende des Juli spaltete sich diese, und die Gemäßigteren ernannten Delmans zu ihrem Präsidenten.

So hatte die wahnsinnige Uebertreibung des Chauvinismus eine Reaktion hervorgerufen, die der Giftpflanze des Boulangismus bald ein Ende bereitete. Der tolle Abschied, welchen 25 000 Pariser dem General bei seiner Abreise nach Clermont-Ferrand – er sollte dort das dreizehnte Armeecorps kommandieren – auf dem Lyoner Bahnhof bereiteten, war das Grabgeläute für alles das, was chauvinistisch an dieser Bewegung war. Die traurige Rolle, die der gestürzte Kriegsminister dann später als entlassener General und Politiker spielte, hat nur noch sehr wenig mit dem Chauvinismus zu thun. Boulanger hat vielmehr in allen den zahlreichen Reden und Kundgebungen, mit welchen er sein Vaterland noch anderthalb Jahre lang beunruhigte, fast nie versäumt, zu versichern, daß er den Frieden wolle. Mit richtigem Instinkt hat er herausgefühlt, daß ohne diese Versicherungen irgend welche Wahlerfolge in den industriellen Bezirken des Departements Nord und den ackerbautreibenden Distrikten des südlichen Frankreichs gleich unmöglich sein würden. Denn er wußte, daß die große Masse des französischen Volkes wohl gern einmal den Säbel rasseln hört, aber doch zu verständig ist, um ihn im Rausche der patriotischen Phrase zu ziehen. Die Wahlsiege Boulangers sind der Ausdruck der Unzufriedenheit gewesen, die weit im Lande verbreitet war und in den Enthüllungen der Presse über den Ordensschacherer General Cassarel und Wilson, den Schwiegersohn des Präsidenten Grévy, eine triftige Begründung zu finden schien. Es liegt deshalb außerhalb der Grenzen unsres Themas, dem General Boulanger nach Clermont-Ferrand zu folgen und ihn bei seinen politischen Umtrieben zu beobachten. Es ist bekannt, wie er, wegen Disciplinlosigkeit gemaßregelt und endlich aus der Armee gestoßen, sich als Kandidat bei allen Ersatzwahlen mit einem Programm aufstellen ließ, in welchem die Reform der Verfassung der Angelpunkt war, eine Reform, welche die Wiedergeburt des Cäsarismus ohne Zweifel zur Folge gehabt hätte, wenn sie hätte verwirklicht werden können. Seine schmähliche Flucht aus Paris in dem Augenblick, wo sich ihm die Gelegenheit geboten hätte, zum Märtyrer seiner Ueberzeugung zu werden, hatte schon die meisten seiner ehemaligen Verehrer darüber aufgeklärt, daß in der Brust dieses Mannes nicht die heilige Flamme der Begeisterung [258] lohte, die allein Großes zu wirken vermag, sondern daß die alleinigen Beweggründe seines Handelns ein sehr kurzsichtiger Ehrgeiz und eine unersättliche Genußsucht waren.

Und dieser Ueberzeugung hat er durch den Tod, den er sich gab, selbst die Bestätigung verliehen. Wer das Scheitern aller seiner politischen Hoffnungen und Lebenspläne leichter ertragen kann als den Tod seiner Geliebten, wer seine Ehre und die Achtung seines Volkes wohl, aber nicht seine Maitresse überleben kann, der ist nicht aus dem Holze gemacht, aus welchem die Helden revolutionärer Bewegungen geschnitzt werden. –

Wir haben an dem Beispiel des Generals Boulanger den Chauvinismus bis zu jener Linie verfolgt, wo er in frevelhaftem Wahne mit dem Feuer zu spielen und zu einer schweren Gefahr für ein Volk, nein, für eine ganze Völkergruppe zu werden beginnt. Wir Deutsche dürfen uns, ohne den Vorwurf pharisäischer Selbstgerechtigkeit fürchten zu müssen, das Zeugniß ausstellen, daß uns der Chauvinismus in dieser höchsten Steigerung bis heute fremd geblieben ist. Wohl sind auch auf deutschem Boden vereinzelte Erscheinungen zu Tage getreten, welche den Stempel des Chauvinismus tragen. Aber niemals hat dieser Geist fast das ganze Volk mit solch schrankenloser Macht in seinen Dienst zu zwingen, niemals die Regungen der Vernunft und des Gewissens so tyrannisch niederzutoben vermocht, wie es bei unserem westlichen Nachbar der Fall war. Im Gegentheil: es wäre unsern deutschen Landsleuten zu wünschen, daß jener gute Geist, welcher im Chauvinismus nur verzerrt erscheint, daß der Nationalstolz noch mehr, als es bisher geschah, all ihr Thun und Lassen durchdringe, jener echte Nationalstolz, der ebenso fern ist von feiger Demuth wie von thörichter Selbstüberhebung, der nur die Herzen erfüllt mit dankbarer Begeisterung für das hohe Gut, das uns geworden: ein großes starkes Vaterland!



  1. Am 18. Fructidor des Jahres V (=4. September 1797) rettete die Direktorialregierung durch einen Staatsstreich die französische Republik vor dem Andringen der Royalisten. Am 18. Brumaire des Jahres VIII (=9. November 1799) stürzte, wiederum durch einen Staatsstreich, Bonaparte das Direktorium und machte sich zum Ersten Konsul.
  2. Das heißt in freier Uebersetzung:

    „Mein theures Weibchen applaudiert,
    Kommt der Kadett dahermarschiert;
    Der Schwiegermutter Auge glüht,
    Wenn reiten sie die Spahis sieht,
    Doch ich bewundre nur und seh’
    Den tapfern General Boulanger.“

  3. Bei Marengo erfocht Bonaparte nach seinem Staatsstreich den ersten Sieg gegen die auswärtigen Feinde Frankreichs, gegen die Oesterreicher.
  4. „Die alten teutonischen Raben, sie wollen vor Schreck schier vergehen,
    Wenn noch so leise die Winde aus Elsaß und Lothringen wehen;
    Ein Schatten in Fleisch und Bein, macht Boulanger, der Held,
    Sie klappern bis in die Knochen: sie räumen entsetzt das Feld.“

  5. „Rett’ uns vom Abgrund, schwer liegt unser Stolz danieder,
    Führ’ unser Heer den Pfad zum alten Ruhmesland,
    Gieb uns’re Ehre uns, Elsaß, Lothringen wieder;
    Die beiden Schwestern führ’ zurück an Deiner Hand.

    Dann wirst Du alles sein: der Morgenröthe Tagen,
    Die, heiß ersehnt im Land, durchflammt den alten Rhein;
    Kein König wird Dich dann, kein Gott selbst überragen,
    O General Revanche, denn Du wirst – Frankreich sein!“

  6. Ich sage „war“, weil sie auf Antrag des Ministeriums Tirard am 11. März 1889 aufgelöst wurde.