Der Blinde von Dausenau

Textdaten
<<< >>>
Autor: Paul Heyse
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Blinde von Dausenau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18–19, S. 593–596, 598–599, 602
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
unkorrigiert
Dieser Text wurde noch nicht Korrektur gelesen. Allgemeine Hinweise dazu findest du bei den Erklärungen über Bearbeitungsstände.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[593]

Der Blinde von Dausenau.

Novelle von Paul Heyse.


Vor etlichen Jahren hatte mir mein Arzt, um mir die Nachwehen einer hartnäckigen Influenza vom Halse zu schaffen, eine Kur in Ems verordnet.

Nur mit Widerstreben hatte ich mich in die Verbannung schicken lassen, obwohl der berühmte Kurort, als ich früher einmal bei einer Fahrt durch das waldige Lahnthal an ihm vorüberkam, mit den blanken Häusern und zierlichen Kirchtürmen zwischen schattigen Parkanlagen mich sehr einladend angelacht hatte. Aber Badeorte, mögen sie noch so anmutig gelegen sein, haben für meine Vorstellung immer etwas Unheimliches, nicht so sehr der Kranken wegen, die dort auf Schritt und Tritt an das vielfache Elend der armen Menschheit erinnern, – tragen doch die meisten den Schimmer der Hoffnung auf dem Gesicht, der selbst die blässesten Leidensmienen verklärt –; die gesunde einheimische Bevölkerung erregt mein Mißbehagen, da ich in all den guten Bürgern nur Gastwirte, Kellner und Hausknechte zu sehen glaube, die außer der „Saison“ keinen eigentlichen Lebenszweck haben. Scheinen sie doch in der That, sobald der letzte Kurgast abgezogen ist, in eine Art Winterschlaf zu versinken und sich in ihre Häuser zurückzuziehen, wie Spinnen, wenn der Herbstregen die letzte Fliege weggeschwemmt hat, verdrossen in ein warmes kleines Loch kriechen, dort die Langeweile der nahrungslosen Wintermonate zu verträumen. Erst die neue Frühlingssonne lockt sie aus ihren Verstecken wieder hervor. Die Hausbesitzer der Badeorte öffnen die Fenster ihrer möblierten Zimmer, sonnen die Betten, waschen die Vorhänge und fegen den Winterstaub aus allen Winkeln und Gängen, wie die betriebsamen Spinnen sich eifrig daran machen, neue zierliche Netze zu weben.

Ich weiß zwar, dies ist eine übertriebene Vorstellung. Auch in Badeorten verkürzt man sich während der geschäftslosen Jahreshälfte die Zeit mit allerlei Lustbarkeiten, so gut wie andere Kleinstädter, vielleicht nur noch besser, da man aus den Wassern der Quellnymphe hinlängliches Gold dazu gewaschen hat. Immerhin erscheinen die Straßen verödet, an vielen Fenstern [594] bleiben die Jalousien geschlossen, und auf den Gartenwegen um die Trink- und Badehallen, die im Sommer peinlich geharkt und mit gelbem Kies bestreut waren, liegt der Blätterabfall vom Herbst her, kaum hin und wieder an den Rand gekehrt, während in dem Pavillon, aus dem die unermüdliche Kurmusik zu seufzen und zu schmettern pflegte, nur das laute Gezwitscher und Gezänk der Spatzen hervordringt, die sich unter dem zierlichen Eisendach vor dem winterlichen Unwetter zu bergen suchen.

Dies alles aber war schon überwunden, und die Stadt Ems hatte sich wieder aufs beste herausgeputzt, ihre Gäste zu empfangen, als ich eines schönen Abends dort eintraf, um meine Strafzeit anzutreten.

*  *  *

Es war in der zweiten Hälfte des Mai. Man hatte mich so vielfach vor der schweren Sonnenglut gewarnt, die in den Sommermonaten sich über den tiefen Thalgrund lagere, daß ich meine Kur so früh als möglich beginnen wollte.

Als ich die Brücke betrat, unter der die gelblichen Wasser der Lahn träge zum Rhein hinabflossen, sah die Sonne nur noch mit einem letzten schiefen Blick über den niedrigen Höhenrand im Westen herein. Gleichwohl regte sich kein erfrischender Abendhauch, ein seltsam schwerer Dunst lag über Stadt und Fluß, aus dem zarten Laube der Alleebäume, die sich an beiden Ufern hinziehen, ließ sich nicht die leiseste Vogelstimme vernehmen. Auch die wenigen Menschen, denen ich begegnete, schienen unter dem Druck von sieben Atmosphären dahinzuwandeln, und ich glaubte in ihren Blicken etwas wie Mitleiden zu lesen, daß wieder ein armer Sünder den ersten Fuß in sein schwüles Zellengefängnis zu setzen im Begriff sei.

Man hatte mir ein Hotel auf dem rechten Lahnufer empfohlen, nahe beim Kurhause. Ich fand dort aber nicht eine Wohnung, wie ich sie suchte, die ruhigeren Zimmer waren vorausbestellt, der Schwarm von befrackten Kellnern, der mich umringte, scheuchte mich bald wieder hinaus. Als ich dann die lange Zeile der Häuser hinunterschritt, die dicht an die steile, siebenfach zerklüftete Felswand der sogenannten „Bäderlei“ angebaut sind, an jedem ein oder mehrere Schilder mit den Inschriften „Hotel“ oder „Pension“, machte ich endlich vor einem sauberen Hause ziemlich am äußersten Ende der Straße Halt, das mich mit seinen Balkonen und blanken Fenstern vertraulich ansah. Hier fand ich denn auch alles, was ich wünschte, zwei geräumige Zimmer nach Norden und Süden gelegen, letzteres auf einen Balkon sich öffnend, von dem aus man über die Wipfel der niedrigen Kastanienbäume hinweg den Fluß verfolgen konnte, wie er an der Brüstungsmauer der Kuranlagen vorbeifloß, gegenüber die hohen Dächer der Gasthöfe auf dem anderen Ufer. Das Haus wurde von einer Witwe geführt, die es mir als einen Vorzug rühmte, daß man hier oben auf dem Balkon jeden Ton der Kurmusik deutlich hören könne, wenn der Wind von Westen komme. Ich hütete mich, der guten Frau zu gestehen, daß mir dieser Vorzug eher als ein Nachteil erschien. Dreimal des Tages musikalischer Vergewaltigung durch die üblichen Tänze, Potpourris und Operettenouverturen wehrlos preisgegeben zu sein, däuchte mir nur eine Verschärfung meiner Einzelhaft zu sein.

Auch als ich hernach bei einem späten Umgang durch die Kuranlagen der Musik im Pavillon näher kam und gestehen mußte, daß sie, was das Programm und die Ausführung betraf, zu den besseren und vielleicht besten ihrer Art gehörte, fühlte ich mich gleichwohl nicht erschüttert in meiner Abneigung gegen diesen Zwangsgenuß, der nur einem Menschen zu allen Zeiten willkommen ist, der nicht „Musik hat in ihm selbst“. Statt auf diese vor dem Einschlafen ungestört lauschen zu können, mußte ich noch einmal aufstehen, um die der Schwüle wegen offengelassene Balkonthür zu schließen, durch die der Westwind abgerissene freche Töne eines Potpourris aus „Fatinitza“ bis in mein Hinterzimmer hereinschleifte.

Am andern Morgen begann ich dann zeitig meinen Kurpflichten obzuliegen und ließ mich dazwischen von einem freundlichen alten Herrn, der mir den frischen Ankömmling angesehen hatte, zu den historischen Plätzen in den Kuranlagen führen, mir den Stein zeigen, der die Stelle bezeichnet, auf der die letzte verhängnisvolle Begegnung König Wilhelms mit dem französischen Botschafter stattgefunden, die Lieblingswege des greisen Herrschers, sein Marmorstandbild in dem unglücklichen Civilanzug, mit den an noch trostloserer Phantasielosigkeit leidenden Reliefs.

Mein treuherziger Führer erzählte mir, daß er gerade in dieser Saison das Fest der fünfundzwanzigsten Wiederholung seiner Emser Kur feiere. Da er mir dies unter beständigem Räuspern, Aechzen und Krächzen mitteilte, konnte ich mich eines niederschlagenden Zweifels an der Heilkraft der berühmten Quellen nicht erwehren, so wenig wie die Ehren, die die Kurvorsteher einem solchen Jubilar zu erweisen pflegen, mir besonders verlockend schienen.

Im übrigen, nachdem der erste beklommene Eindruck verwunden war, ließ sich das Leben an diesem Verbannungsort leidlich an, und da ich mich meiner Kur in frühester Morgenstunde entledigte, hatte ich in den langen Stunden des Vormittags die schönste Muße, mich in eine Arbeit zu vertiefen, die mir Einsamen über die harten Anfechtungen des Heimwehs hinweghalf.

Schwerer freilich waren die Nachmittage zu überstehen.

Die rötlichen Blütendolden der Kastanien schienen dann wie kleine brennende Kandelaber die lastende Schwüle nur noch zu erhöhen. An Spazierengehen war vor fünf oder sechs Uhr nicht zu denken. Blieb nun freilich die Flucht in die Bergwälder hinauf, die steile Drahtseilbahn, die auf die Höhe des Malbergs führt, oder die einsamen Pfade im Buchenschatten des Wintersbergs. Da aber die halbe Kurgesellschaft regelmäßig die Waldwege des Malbergs unsicher macht und die Waldeinsamkeiten des anderen Berges nur im Schweiß des Angesichts zu erklimmen sind, wagte ich mich erst, wenn die Nacht hereindämmerte, ins Freie.

Auch an den Ufern der Lahn stromaufwärts zu schlendern, war über Tag nicht ratsam, da die Sonnenglut in diesen schattenlosen Thalgrund von früh bis spät mit voller Macht hereintroff. Und doch lockte mich ein kleines altes Nest, nur etwa ein Stündlein lahnaufwärts gelegen, Dausenau geheißen, das ich von weitem malerisch am Flusse hingelagert sah. Eine kleine blanke Kirche mit wunderlich behelmtem Türmchen hob sich nahe dem Stadtthor über dem dunklen Häuserhaufen empor, und am anderen Ende stand ein plumper viereckiger Turm, der nach der Ostseite den Wächter machte.

*  *  *

Am ersten Tage also, da nach einem der häufigen Gewitter die Sonne nicht wieder hervortrat, sondern die feuchte Kühle über dem Fluß das Wandern am Ufer entlang erquicklich machte, trat ich den Weg nach Dausenau an.

Es war ein Sonntag, die Straße aber trotzdem nicht sehr belebt, da ein größeres Konzert am Kurhause auch die Bevölkerung der Umgegend dorthin gelockt hatte. So war es ganz still unter den jungen Kirschbäumchen, die am Rande der Chaussee über der hohen Uferböschung stehen. Der Gewittersturm hatte massenweise die noch unreifen Früchte abgeschüttelt, sie knirschten unter dem raschen Fußtritt, einzelne Tropfen sprühten noch hin und wieder auf meinen Hut herab. Drüben aus den Wiesen stieg ein leichter Nebeldunst, in dem die lang’ eingesogene Sonnenglut verdampfte, und über den Fluß herüber und hinüber schossen die Schwalben.

So war ich in meinen Gedanken die größere Hälfte des Weges hingeschlendert, als ich eine seltsame Figur bemerkte, die unter einer der hohen Pappeln stand, an einen Chausseestein gelehnt, barhaupt und unbeweglich wie ein steinernes Bild. Ein kleiner Mann in ärmlichem Anzug; seine beiden knochigen Hände hielten, auf den Griff des Stockes zusammengelegt, mit der Gebärde eines Almosenheischenden einen alten schwarzen Hut vor sich hin. Als ich näher herangekommen war, sah ich, daß es ein Blinder war. Die Augenhöhlen zwischen den geschlitzten rotgeränderten Lidern blickten erloschen ins Leere. Ueber den dichten Brauen wölbte sich eine hohe Stirn, die einmal von einem nachdenklichen Geist bewohnt gewesen sein mochte. Aber die hängende Unterlippe gab dem Gesicht einen stumpfsinnigen, fast blöden Ausdruck. Dazu schien der kleine Mann gegen alle äußeren Eindrücke unempfindlich zu sein. An seiner völlig durchnäßten braunen Jacke und den schwergetränkten Leinwandhosen erkannte ich, daß er nicht daran gedacht hatte, während des Gewittergusses ein schützendes Dach aufzusuchen, und da ich ihn freundlich anredete und ihm ein Geldstück in den durchweichten alten Hut warf, verzog er kaum merklich den breiten offenen Mund, über dem ein [595] graues Schnurrbärtchen sich emporsträubte, und antwortete auf keine meiner gutgemeinten Fragen.

Ich zweifelte nicht mehr, daß ich es mit einem Idioten zu thun hatte, den die Gemeinde von Dausenau hier an der Landstraße seinen Unterhalt erbetteln ließ.

Also ließ ich ihn, wo er war, und langte bald an dem alten Stadtthor an, dessen festes Mauerwerk dafür zeugte, daß vor Jahrhunderten dies kleine Stadtwesen darauf bedacht gewesen war, sich etwaiger räuberischer Ueberfälle kräftig zu erwehren.

Hiervon war freilich in den verwahrlosten, schlechtgepflasterten Gassen nichts mehr zu spüren. Die Einwohner schienen, nach allerlei Ackergerät, das herumlag, zu schließen, sich durch eine bescheidene Feld- und Wiesenwirtschaft zu ernähren, vielleicht durch die Bearbeitung einiger Weinberge, die zwischen den Felsen auf sonnigen Abhängen liegen mochten. Heute, am Sonntag, saßen sie vor ihren Häusern, nicht eben in den zierlichsten Feierkleidern, die Männer standen, kurze Pfeifen rauchend, in kleinen Gruppen plaudernd bei einander, auf einem etwas freieren Platze fand ein richtiger Hahnenkampf statt, dem eine lachende und hetzende Schar von Weibern und Kindern zuschaute. So war das kleine Nest bald durchwandert, und einigermaßen enttäuscht schlenderte ich unten auf dem schmalen Uferweg zurück um das Städtchen herum, das sich von hier aus freilich malerischer ausnahm. Der Gang hatte mich durstig gemacht, und ich wandte mich, die Böschung wieder ersteigend, einem Wirtsgärtchen dicht vor dem Thore zu, wo ich an sauberen Tischen unter jungen Bäumen allerlei Sonntagsgäste hatte sitzen sehen. An einem der wenigen noch unbesetzten nahm ich Platz und ließ mir ein Schöppchen von dem leichten Landwein bringen, an dem auch die meisten der anderen Gäste sich gütlich thaten.

Er hatte freilich so wenig Feuer, daß mich’s nicht wundern konnte, wenn er den guten Leuten nicht ins Blut ging und ihnen die Zungen löste. Von dem raschen rheinischen Temperament, dem „das Leben so lustig eingeht“, hatte ich in diesem Seitenthal überhaupt nichts wahrnehmen können. Das schien in der schwülen Luft zwischen den dichten Waldhöhen nicht zu gedeihen. Es war mir aufgefallen, daß auch die Brunnennymphen, die den Kurgästen die Becher füllen, fast alle ein bleiches, blutarmes Ansehen haben und zu einem mutwilligen Verkehr mit den Fremden nicht aufgelegt scheinen.

So auch die beiden Mädchen, die an einem Tische in meiner Nähe beisammensaßen und zu ihrer Tasse Kaffee ein Stück Topfkuchen zerkrümelten. Ich sah nur von der einen das volle Gesicht, ein Paar munterer schwarzer Augen unter einem schwarzen Strohhut mit einem riesigen Mohnblumenstrauß, ein etwas stumpfes Näschen und einen großen lachenden Mund mit blanken Zähnen. Während sie mit sichtbarem Behagen die kleinen Bissen des süßen Gebäcks verspeiste, hörte sie doch keinen Augenblick auf, in ihre Gesellin hineinzureden, so leise jedoch, daß ich nicht ein einziges Wort verstand, bis auf den Namen Lischen, den sie beständig einstreute. Sie trug ein geblümtes helles Kattunkleid, das ihre runde kleine Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich grübelte darüber nach, wo ich das Mädchen schon gesehen haben mochte. Zuletzt fiel mir ein, daß es in der Trinkhalle gewesen war, wo sie aber als Quellnymphe in der schwarzen Uniform mit dem weißen Schürzchen und in der Einförmigkeit ihrer Beschäftigung sich nicht so hübsch und lustig ausnahm.

Ein wenig blutarm erschienen ihre vollen Wangen auch jetzt in der freien Luft. Doch nicht so sehr wie die ihrer Freundin, die mir nur das feine Profil zukehrte.

Ein merkwürdiges Gesicht, wachsbleich und so regungslos wie ein gemaltes Heiligenbildnis, an das auch die wie im halben Traum gesenkten Augen erinnerten. Auch sie trug einen schwarzen Strohhut, doch nur mit einigen malvenfarbenen Schleifen aufgesteckt. Unter dem schmalen Rande fielen schlichte braune Haare, kurzabgeschnitten, bis auf den hohen Rand ihres Kattunkleides herab, aus dem ein schmaler weißer Leinwandkragen hervorsah. Alles verriet, daß das blasse Wesen auf seine Erscheinung nicht den geringsten Wert legte.

Auch dies Gesicht mußte mir schon irgendwo begegnet sein. Richtig! Am frühesten Morgen, wenn die Kurkapelle den Choral anstimmte, mit dem die Morgenmusik regelmäßig begann, hatte ich auf einer der Bänke, nahe bei dem Pavillon, in dem die Musiker saßen, immer an demselben Platz ein Mädchen bemerkt, das unverwandt zu dem Orchester hinstarrte. Ja, es war mir aufgefallen, daß ihr Blick sich stets auf einen der Spieler heftete, einen großen, breitschultrigen, sorgfältig geschniegelten jungen Mann, der die Bratsche spielte. Sein Gesicht mit den wasserblauen runden Augen und rosigen Backen hatte etwas von den geschminkten Wachsköpfen im Schaufenster kleiner Friseure. Wenn er pausierte, pflegte er mit einer langfingrigen weißen Hand das zarte blonde Schnurr- und Spitzbärtchen zu karessieren, oder den blanken Cylinder zu lüften und sich durch das lockige Haar zu fahren. Dabei sah er nie von dem Notenblatt weg und schien, so geckenhaft seine ganze Haltung war, von der stummen Huldigung des blassen Mädchens auf der Bank nicht die geringste Notiz zu nehmen.

War der Choral zu Ende, so erhob sich die sonderbare Schwärmerin mit einem Seufzer, ging langsam nach dem Ausgang des Kurgartens, warf von da aus noch einen Blick nach dem Pavillon zurück und verschwand in der Straße, die am Kursaal entlangführte.

Sie war offenbar nicht der Kur wegen hier, denn ich traf sie nie bei einer der Quellen, vielmehr schien sie die Tochter eines hier ansässigen Bürgers zu sein, vielleicht irgendwo in einer dienstbaren Stellung, worauf auch ihr sehr bescheidener Anzug deutete. So mochte sie nur in dieser frühesten Morgenstunde, wenn ihre Herrschaft noch schlief, einen Choral lang ihrer heimlichen Liebe nachgehen können. Obwohl sie mir aber, trotz der regelmäßigen Züge, nicht eben reizend erschien, für diesen Bratsche spielenden Adonis schien sie mir doch zu gut zu sein.

*  *  *

Ich überlegte eben, ob ich nicht meinen Platz verlassen und unter einem schicklichen Vorwande – es zog wirklich da, wo ich saß – mich dem Tisch der beiden Mädchen nähern und einen kleinen Diskurs anknüpfen sollte. Da trat ein Anderer an sie heran, ein guter Bekannter, wie es schien, da ihn die Kleinere lebhaft begrüßte und einlud, an ihrem Tische Platz zu nehmen. Die Andere aber neigte kaum merklich den Kopf, so daß ihr die braunen Haare bis an das Kinn vorfielen, stand dann sofort auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe an. Die Freundin sah sie mißbilligend an, wandte sich dann an den sehr verblüfft dreinschauenden jungen Mann, der ein Bürgerssohn aus einem guten Hause zu sein schien, und entschuldigte den raschen Aufbruch. Lischen habe so arg Kopfweh, sie hätten ohnedies soeben den Heimweg antreten wollen. – Ob er die Fräuleins begleiten dürfe, fragte er, immer auf das blasse, stumme Gesicht blickend. – Nein, es sei besser, sie gingen allein. Lischen könne das Sprechen im Gehen nicht vertragen. – So verneigte sich der junge Mann mit einer Beileidsmiene, stammelte einen verlegenen Wunsch „guter Besserung“ und sah, während er sich an dem leergewordenen Tische niederließ, mit schwermütigen Augen den beiden nach, die Arm in Arm das Wirtsgärtchen verließen.

Ich witterte etwas von einem kleinen Roman, dem ich gern auf die Spur gekommen wäre, bezahlte also meinen Wein und brach nach etwa fünf Minuten ebenfalls auf, entschlossen, die Freundinnen einzuholen und auf dem gemeinsamen Heimwege mich ihnen zu nähern.

Auch hatten sie noch keinen großen Vorsprung gewonnen, da sie sehr langsam gingen, die Größere wie ermüdet ihren Arm um den Nacken der Freundin gelegt, den Kopf gesenkt, jetzt aber auf die Reden der anderen allerlei erwidernd, was der Wind überm Flusse verwehte. Nur den Ton der Stimme vernahm ich, der schärfer war, als man dem feinen, blassen Munde zugetraut hätte. Sie stritten offenbar über irgend etwas, und das Heiligenbildchen brauchte seine Zunge tapfer zu seiner Verteidigung.

So waren wir ein paar hundert Schritte gegangen, ich hinter ihnen in einem Abstand, der immer kleiner wurde, als ich sie plötzlich stillstehen sah und unwillkürlich ebenfalls den Schritt anhielt. Sie hatten den blinden Bettler erreicht, und ich dachte, sie suchten nach einem Almosen in ihren Taschen, es ihm in den Hut zu werfen. Statt dessen trat die Größere dicht an ihn heran, legte die Hand auf seine beiden über dem Stock und Hutrand zusammengepreßten Hände und fing an, leise und offenbar eindringlich in ihn hineinzusprechen, während ihre sonst so lebhafte [596] Gefährtin sich ein wenig zurückhielt und mit dem Schirmchen in dem feuchten Gras am Weg herumstocherte.

Ich war hinter einen Baum getreten, um ungesehen die kleine Scene beobachten zu können. Ueber das Gesicht des Blinden ging ein Lächeln, das aber nicht das Grinsen eines Idioten war, seine Lippen bewegten sich, die Züge wurden plötzlich straff und ausdrucksvoll, während an seiner Körperhaltung sich nichts veränderte. Nur ein paarmal nickte er mit dem Kopfe, langsam und schwerfällig, wie wenn er etwas Schwieriges überlegte. Zumeist aber sprach das Mädchen, das sich zuweilen hastig umsah, ob auch niemand in der Nähe sei, die seltsame Zwiesprach zu belauschen. Auf einmal bückte sie sich tief hinab und drückte einen Kuß auf die mageren Hände des Mannes, der diese Liebkosung sich mit einem vergnügten Nicken gefallen ließ. Dann trat sie von ihm weg und setzte ihren Weg eilig fort, während sich ihre Freundin ebenfalls mit einem Streicheln der Hand von dem Blinden verabschiedete.

Nun erst trat ich hinter meinem Baum hervor und folgte wieder den ruhig dahinwandelnden Mädchen. Als ich bei dem Bettler vorbeikam, sah ich noch den Nachglanz der freundlichen Begrüßung, die er eben erfahren hatte, auf seinem Gesicht und hörte ihn in einem unverständlichen Gemurmel mit sich selbst sprechen. Doch wagte ich nicht, ihn anzureden. Ich war überzeugt, daß er sofort wieder in seine Versteinerung zurücksinken würde.

Auch wurde meine Aufmerksamkeit jetzt von den Mädchen erregt, die plötzlich zu singen anfingen. Ein ziemlich kunstloser Gesang, in welchem Fräulein Lischens scharfer Sopran gegen die zweite Stimme ihrer Gefährtin sich leidenschaftlich hervorthat. Das Lied, das sie sangen, hatte nicht den Klang eines der echten alten Volkslieder, erinnerte vielmehr an die sentimentalen Gesänge herumziehender Harfenmädchen, machte aber doch in der stillen, wolkenverhangenen Luft, unter der die Wälder und Wiesen wie in einen Traum versunken lagen, einen unwiderstehlichen Eindruck. Zumal nachdem ich, meinen Schritt beschleunigend, den Sängerinnen so nah gekommen war, daß ich wenigstens den unendlich wiederholten Refrain verstand, in den die Oberstimme ihre ganze herbe Kraft hineinlegte:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Wohl ein dutzendmal schlug diese wie eine Verwünschung hervorgestoßene Klage an mein Ohr; ich weiß nicht, ob das Lied so viel Strophen hatte, oder ob die Sängerin nicht oft genug eine und dieselbe unheimliche Weissagung einem fernen Ungetreuen nachrufen konnte.

Indessen war ich so nahe an die Sängerinnen herangekommen, daß sie sich belauscht sehen mußten. Wenn hin und wieder ein rascher Wagen an ihnen vorbeigesaust war, hatten sie ihr Duett nicht unterbrochen. Jetzt verstummten sie plötzlich.

Ich zog den Hut und bat um Entschuldigung, daß ich sie in ihrem Gesang unterbrochen hätte. Da ich aber ein Freund der Musik sei, möchten sie sich nicht stören lassen, zumal ich gern den Text des schönen Liedes erführe, von dem ich nur den Kehrreim verstanden hätte. Ob sie mir das Ganze nicht noch einmal vorsingen möchten?

Die Kleinere sah ihre Freundin an, die mit festgeschlossenen Lippen und gesenkten Augen halb abgewendet dastand. Nein, sagte sie dann, das gehe nicht an, dies Lied sängen sie nur unter vier Augen. Aber wenn der Herr sonst am Singen Spaß habe, sie wüßten noch eine Menge anderer Lieder, die hier in der Gegend gesungen würden, nicht wahr, Lischen?

Die andere nickte nur, schien aber wider meine Erwartung, obwohl sie den Mund zum Sprechen nicht aufthun mochte, nichts dagegen zu haben, einen Fremden ihre Stimme hören zu lassen. „Nur,“ sagte die Kleinere, „muß der Herr hinter uns hergehen, daß wir uns einbilden können, wir wären unter uns allein, und vergessen, daß jemand zuhört. Also komm, Lischen!“

Sie schlang den Arm um die Taille der Freundin, die den ihren wieder um den runden Nacken der andern legte, und so setzten sie, anmutig sich umfassend, den Weg fort, nun ein echtes Volkslied anstimmend, mit einer jener rührend schönen Melodien, die unsterblich von Geschlecht zu Geschlecht gehen, wie nur die Eingebungen der höchsten Meister.

Ich blieb immer vier Schritt hinter ihnen, und nur wenn wieder ein Lied zu Ende war, trat ich etwas näher, ihnen meinen Beifall auszusprechen und um eine Fortsetzung zu bitten. Darüber vergaß ich ganz, daß ich im Sinn gehabt hatte, sie auf eine unscheinbare Art über ihre persönlichen Verhältnisse und jene Scene mit dem Blinden von Dausenau auszufragen. Wir näherten uns der Stadt, da würden sie wohl mit dem Singen aufhören, und ein kleines Gespräch ließ sich noch anknüpfen.

Nicht weit von den ersten Häusern entfernt liegt ein Garten, in welchem die schönsten Rosen gezogen werden. Als wir dorthin gekommen waren, sah ich die Blicke der Kleineren – ihren Namen, Rikchen, hatte ich inzwischen erfragt – bewundernd über den Zaun schweifen, wo nach dem erquickenden Gewitterregen die dunklen und hellen Blüten an den hochstämmigen Rosenbäumchen in besonderer Herrlichkeit glänzten. „Sie sind Blumenfreundinnen?“ fragt’ ich. Und da die Kleine lächelnd nickte, bat ich sie, hier vor der Thür einen Augenblick zu warten, sie müßten mir erlauben, zum Dank für das schöne Konzert ihnen ein paar Rosen zu schenken.

Ich eilte mich, die Frau des Gärtners ausfindig zu machen, und ließ mir einige der stolzesten La France- und Maréchal Niel-Rosen von den Stöcken schneiden. Als ich aber damit wieder auf die Landstraße hinaustrat, waren meine Sängerinnen verschwunden. Ich ging, so rasch ich konnte, der Stadt zu, blickte nach dem anderen Ufer hinüber, ob sie sich vielleicht auf der Fähre hätten übersetzen lassen – nirgends eine Spur von ihnen. So mußte ich meine Blumen nach Hause tragen und sie zu meiner eigenen Augenweide in eine Vase stellen. Abends, als sie im Lampenschein noch wundersamer glühten und dufteten, dachte ich lange dem kleinen Abenteuer nach, und der schwermütige Refrain:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

hatte sich mir dergestalt im Ohre festgesetzt, daß ich ihn vor dem Einschlafen noch unzähligemal vor mich hin sang.

*  *  *

Am andern Morgen, als ich in die Trinkhalle trat, fand ich das Rikchen schon wieder eifrig beschäftigt, die Becher zu füllen und den Kurgästen hinzureichen. Sie erwiderte aber meinen Gruß nur mit einem ernsthaften Nicken, wie jedem Fremden, der ihr einen Guten Morgen wünschte, und als ich ihr das gefüllte Glas abnahm und ihr dabei zuraunte: „Warum sind Sie mir gestern abend so plötzlich verschwunden?“ zuckte sie nur mit den Achseln und gab deutlich zu verstehen, daß sie sich auf eine weitere Konversation nicht einzulassen wünsche.

Nicht besseres Glück hatte ich mit ihrer Freundin. Ich fand das Lischen wieder auf ihrer Bank in die Anbetung des schönen Bratschisten versunken, und da eben der Choral begonnen hatte, überhörte sie mein behutsames Nähertreten. Als ich aber, nachdem die letzte Note verklungen war, dicht hinter ihr „Guten Morgen, Fräulein Lischen!“ sagte, schnellte sie wie von einer Schlange gebissen in die Höhe. Ueber die schmalen wachsbleichen Wangen flog eine dunkle Röte, die großen grauen Augen starrten mich entgeistert, halb bittend, halb vorwurfsvoll an, und rasch ihr Tüchlein um die Schultern ziehend, eilte sie so hurtig, wie es ohne Aufsehn geschehen konnte, an mir vorbei durch die bunte Menge, die den Musikpavillon umgab.

Da stand ich nun mit meinen Rosen, die ich in der Hoffnung, sie wenigstens heute anbringen zu können, nach dem Brunnen mitgenommen hatte. „Die albernen Mädel!“ brummte ich ärgerlich bei mir selbst. „Sie konnten mir doch ansehen, daß unter meinen Rosen keine Schlange lauerte, die ihre Tugend in Gefahr brächte. Nun, es ist ihr eigener Schade. Vielleicht haben sie mit den Fremden allerlei Erfahrungen gemacht, daß sie jetzt auch gegen ältere Herren, die nichts Böses im Schilde führen, sich so ungebärdig stellen.“

Ich nahm mir vor, nun auch meinerseits sie so wenig zu beachten, als ob wir nie ein Wort miteinander getauscht hätten, und dachte an die ganze Begegnung nur noch, wenn mir einmal wieder jener schwermütig drohende Refrain im Ohre aufwachte. Von der Kleineren ließ ich mir nie mehr den Becher füllen. Der Bank, wo das Lischen seine Morgenandacht hielt, blieb ich geflissentlich fern.

[598] Darüber verging wieder eine Woche. Am nächsten Sonntag widerstand ich leicht der Versuchung, zu sehen, ob die beiden Freundinnen ihren freien Ausgang wieder nach Dausenau richten und den Blinden abermals begrüßen würden. Die Sonnenglut hielt mich bis an den Abend im Zimmer fest. Ueber Nacht ging dann ein mächtiges Gewitter nieder, das sich in einen Landregen auflöste, der auch tagüber noch anhielt. Ich beschloß, einmal wieder den Malberg hinaufzufahren, da ich hoffen durfte, die schönen Waldwege droben, die sonst durch geputzte Menschen unsicher gemacht wurden, heute einmal für mich allein zu haben.

So fand ich es auch, als ich droben dem fast leeren Wagen der Drahtseilbahn entstieg. Auch vor dem Restaurationshause saßen, da es noch immer leise vom Himmel herabrieselte, nur ein paar verlorene Stammgäste, die unter Regenschirmen sich an ihrem Nachmittagskaffee und der feuchten Kühle der Luft erquickten. Ich ging an ihnen vorüber und schlug den oberen Weg nach dem Lahnsteiner Forsthause ein, das in einer guten halben Stunde zu erreichen ist.

Es war herrlich, in der helldunklen Luft unter den himmelhohen Wipfeln des Fichtenwaldes hinzuwandern, in einer so tiefen Stille, daß man das Aufatmen der Natur nach der langen Schwüle zu belauschen meinte. Auch die Musik des Regens verklang kaum hörbar hoch oben in den Lüften, da die sanfte Flut in den dichten Kronen der Bäume sich zerteilte und durch das Astwerk nur ein zarter feuchter Staub herabsprühte. Ich hatte meinen Schirm zusammengefaltet und den Hut abgenommen, um die Stirn der erfrischenden Kühle preiszugeben; so ging ich gedankenlos eine gute Weile vor mich hin, froh, endlich die langentbehrte Waldeinsamkeit zu genießen, als ich eine weibliche Gestalt bemerkte, schon ziemlich nahe herangekommen, die ihrerseits mich zu erkennen schien, da sie stehen blieb, wie unschlüssig, ob sie an mir vorübergehen oder nach der Seite ausweichen sollte.

Ich hatte sie aber, obwohl sie unter dem kleinen Schirm das Gesicht zu verbergen suchte, sofort erkannt und mich ihr mit ein paar großen Schritten so rasch genähert, daß sie mir wohl oder übel standhalten mußte.

„Guten Tag, Fräulein Rikchen!“ sagte ich. „Sie sehen, niemand entgeht seinem Schicksal. Hier habe ich Ihnen freilich keine Rosen anzubieten, vor denen Sie wieder davonlaufen möchten. Aber wenn Sie mir auch deutlich zu erkennen gegeben haben, daß Sie nichts von mir wissen wollen, ich will etwas von Ihnen wissen: gar nichts von Ihren etwaigen Geheimnissen, sondern nur, warum Sie und Ihre Freundin erst so freundlich zu mir waren und mich dann plötzlich stehen ließen, als ob ich Ihnen Gott weiß was zuleide gethan hätte.“

Sie hatte bei meiner Anrede, da sie sah, daß doch kein Entrinnen war, das Schirmchen geschultert und mir ihr munteres Gesicht voll zugekehrt. Ein kleines geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren halbgeöffneten Mund.

„Nicht wahr?“ sagte sie endlich – sie sprach ein ziemlich reines Hochdeutsch, nur zuweilen mit einem rheinländischen Anflug – „wir sind Ihnen wie zwei recht dumme Gäns’ vorgekommen, und das Weglaufen war auch kindisch. Aber sie bestand darauf, das Lischen, und ich mußt’ ihr den Willen thun, obwohl ich mir gern eine schöne Rose von Ihnen hätte schenken lassen. Ich sah’s Ihnen ja an, daß Sie ein braver Herr sind und sich bloß für unser bißchen Singen revanchieren wollten. Aber wie gesagt, das Lischen ist so wunderlich. Sie müssen wissen, sie war einmal verlobt, die Sach’ ist zurückgegangen, sie will’s aber immer noch nicht glauben und betrachtet sich trotz alledem als Braut, und da meint sie, sie dürf’ sich von keinem andern Mann Rosen schenken lassen. Gelt, es ist eine Dummheit, aber so ein arm’s Mädche, das so viel ausgestanden hat – kein Wunder, wenn’s ihr im Kopf nicht ganz richtig ist!

„Das heißt, in allem andern hat sie ihre gesunden fünf Sinne beisammen, nur daß sie nicht viel sprechen mag, und es ist jammerschad’, daß sie sich in das eine so verrannt hat, und wenn man bedenkt, um wen! Aber ich darf nicht mehr davon schwätzen, ich bin ihre beste Freundin schon von der Schule her, und es wissen in der Stadt ohnehin schon zu viele darum, obwohl es keine öffentliche Verlobung war. Sie werden ja auch keinen Gebrauch davon machen.“

„Gewiß nicht, Fräulein Rikchen,“ versetzte ich. „Dann sollten Sie aber Ihre Freundin darauf aufmerksam machen, daß sie sich sehr unklug beträgt und selbst verrät, was die Leute nicht wissen sollen. Jeden Morgen sich dem Ungetreuen gegenüberzusetzen und ihn anzuschmachten wie ein Gnadenbild in einer Wallfahrtskirche – man braucht kein Talent zum Polizeispion zu haben, um zu wissen, was es damit für eine Bewandtnis hat.“

Das Mädchen nickte lebhaft mit dem Kopf und zog die Brauen zusammen.

„Also haben Sie’s auch bemerkt!“ rief sie sehr aufgeregt. „Und Sie werden nicht der einzige sein. ’s ist eine Schand’, hab’ ich ihr mehr als einmal gepredigt, wie du dich aufführst! Einem falschen Menschen nachzulaufen, einem solchen, wie der – oder finden Sie ihn etwa auch so reizend wie viele verrückte Weiber, diesen – diesen – –“

Sie suchte umsonst nach einem Ausdruck, der stark genug wäre für ihre sittliche Entrüstung und ihren ästhetischen Widerwillen.

„Nun,“ sagte ich, „ich kenne nur sein Aeußeres, das von der Sorte ist, die auch mir mißfällt. Aber ich habe oft erlebt, daß so eine blanke Larve, ein schön frisierter Puppenkopf bei dem anderen Geschlecht Glück macht. Nur daß er gerade Ihrer Freundin gefährlich werden konnte –“

„O, Sie wissen nicht, welche Künste der listige Mensch angewendet hat, um sich in Lischens Herz einzuschmeicheln. Denn anfangs war er ihr grad’ so zuwider wie mir. Und sie hatte es auch nicht nötig, sich an den ersten besten wegzuwerfen, an jedem Finger hätte sie einen haben können, darunter die besten Partien. Jetzt freilich sehen Sie’s ihr nicht mehr an, was für ein Bild von Schönheit sie gewesen ist; keine in der ganzen Stadt konnt’s mit ihr aufnehmen. Aber sie hatte noch gar keine Lust zum Heiraten. Sie war zwar arm, aber wenn sie wollte, konnt’ es ihr an einer guten Versorgung nicht fehlen, und sie wollte warten, bis sie sich ihre Aussteuer zusammengespart hätte. Damit war auch ihr Vater einverstanden – die Mutter lebt schon lange nicht mehr. Der Papa aber, der auch nur sein schmales Auskommen hatte als Schreiber beim Gericht, dies einzige Kind, das Lischen, liebte er wie seinen Augapfel; was sie wollte, das war ihm recht. ,Sie hat mehr Verstand in ihrem kleinen Finger als ich in meinem ganzen dicken Schädel!“ sagte er mir einmal. So ließ er sie auch thun und treiben, was sie wollte, und fand es sehr in der Ordnung, daß sie während der Saison als Verkäuferin in ein Geschäft ging, eine Handlung mit Achatwaren und unechten Schmucksachen. Im Winter klöppelte sie Spitzen. Sie hatte zu allem Geschick und war dabei die gute Stunde selbst und ging auch wohl einmal zum Tanz, hielt sich aber immer ganz anständig und ehrbar.

„Nun, so war sie in ihr zwanzigstes Jahr gekommen, da machte sie auf der Hochzeit einer Gefreundeten seine Bekanntschaft, ich meine, die des geigenden Rattenfängers. Auch eine Muhme von mir war dabei, die, von der ich eben herkomme, die Tochter der Förstersleute. Sie ist schwer krank gewesen und kaum aus der Gefahr, und um mich einmal nach ihr umzusehen, habe ich mir heut’ einen freien Nachmittag ausgebeten, sonst wäre ich Ihnen hier oben nicht begegnet und hätte Ihnen nicht so viel vorgeschwatzt. Jetzt aber muß ich Ihnen Adieu sagen, ich soll vor Abend wieder am Brunnen sein.“

„Ich will Sie nicht länger aufhalten, Fräulein Rikchen,“ sagte ich, während wir schon wieder den Rückweg antraten. „Erlauben Sie mir nur, Sie noch ein Streckchen zu begleiten. Sie müssen mir noch ein wenig mehr von Ihrer Freundin erzählen, deren Schicksal mich sehr interessiert. Ein so gutes, unschuldiges Wesen, das Mitleid mit unglücklichen Menschen hat und durch einen gewissenlosen Gecken nun selbst unglücklich geworden ist! Andere werden dadurch verhärtet. Ihr Herz ist aber so weich geblieben, daß sie sich nicht damit begnügt, einem blinden Bettler ein Almosen in den Hut zu werfen, sondern ihn freundlich anredet und ihm sogar die Hand küßt.“

Das Mädchen blieb plötzlich stehen und sah mich mit einem Ausdruck des Erschreckens an.

„Woher wissen Sie das?“ sagte sie. „Wer hat Ihnen – Aber freilich, Sie kamen ja hinter uns her am Sonntag vor acht Tagen. Wenn Lischen das erführe – sie wäre außer sich. Denn die Leute in Ems wissen freilich, daß der arme alte Mann, [599] wenn es nach seiner Tochter ginge, nicht da am Wege stände und die Fremden anbettelte, aber was die Kurgesellschaft davon denken müßte –“

„Nein, sagen Sie,“ unterbrach ich ihre bestürzte Rede, „ist es möglich? Der Blinde von Dausenau –

„Gewiß,“ nickte sie, „’s ist dem Lischen ihr armer Papa. Und da Sie nun doch dahintergekommen sind – wir wollen uns einen Augenblick auf die Bank da setzen. Es hat mir ganz den Atem benommen, daß Sie uns damals belauscht haben. Nur um Gottes willen kein Wort davon an meine Freundin!“

Sie setzte sich rasch auf das vom Regen durchtränkte Bänkchen, ohne ihr Kleid zu schonen, und ich ließ mich neben ihr nieder. „Ja,“ fing sie wieder an, „ich hab’ einmal gelesen: es geht nirgends wunderlicher zu als in der Welt. Das ist ein wahres Wort. Wenn Sie den Herrn Gerichtssekretär früher gekannt hätten – ‚ärmlich aber reinlich!‘ pflegte er zu sagen und bürstete und striegelte an seinen abgetragenen Kleidern herum, daß alle Fäden zum Vorschein kamen. Und so hatte er auch seine Tochter erzogen. In ihrem Wohnstübchen oben im dritten Stock sah’s aus wie in einer Puppenstube. Und jetzt ist es ihm gleich, ob er wie ein landstreichender Strolch im Regen steht – was er freilich nicht mehr sehen kann. Denn Sie haben es wohl selbst bemerkt, hier oben“ – sie deutete auf die Stirn – „sieht’s auch nicht mehr so sauber und aufgeräumt aus wie vor dem Unglück. Obwohl er in manchen Stücken noch ganz zurechnungsfähig ist und ganz genau weiß, was er will, und setzt es durch gegen alle Welt, wenn’s auch noch so unvernünftig ist.

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß das Lischen seine einzige Lebensfreude war. ,Wenn ich nur den Tag noch erlebe, wo du einen guten Mann kriegst, der weiß, was er an dir hat‘ – hörte ich ihn mehr als einmal sagen. Auch hätte er sich nicht gewundert, wenn einmal ein Prinz oder Graf zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Herr Sekretär, ich habe die Ehre, um die Hand Ihres Fräulein Tochter bei Ihnen anzuhalten.‘ Und nun stellen Sie sich vor, wie ich erschrecken mußte, als das Lischen mir eines Abends ganz wie berauscht von Seligkeit um den Hals fiel und mir ins Ohr stammelte, der Geiger habe um sie geworben, und der Papa habe Ja gesagt.

,Bist du bei Trost, Lischen?‘ sagte ich. ,Der Papa hat eingewilligt, und du – du selber hast Ja gesagt? Du willst den ‚schönen Schorsch‘ – so nannten wir ihn unter uns – heiraten? Aber kennst du ihn denn nicht, was er für ein Hans Liederlich ist, und dennoch –‘

„Da wurde sie ganz ernst und fast feierlich. ,Ich verbitte mir solche Schimpfworte über meinen Bräutigam,‘ sagte sie. ,Sein Leben, bevor er mich kannte, geht mich nichts an. Er selbst hat mir gestanden, er habe viel zu bereuen, wenn er auch keine betrogene Unschuld auf dem Gewissen habe. Aber er habe freilich ein bißchen stark die Kur geschnitten, das werde nun aufhören, und mir werde er’s zu danken haben, wenn er jetzt als ein solider Ehemann sich die allgemeine Achtung erwerbe.‘ – Sie wissen, mit der Leimrute hat sich schon manches dumme Vögelchen fangen lassen. – ,Und das hast du ihm geglaubt, Lischen?‘ fragte ich. Da kehrte sie mir den Rücken zu und redete zwei Tage lang kein Wort mit mir.

„Ich war im stillen wütend auf den schönen Schorsch, das Lischen, ihren Papa und mich selbst, daß mir nichts einfallen wollte, meiner armen vernarrten Freundin den Star zu stechen und die ganze dumme Geschichte rückgängig zu machen. Ich hatte auch nicht das Herz, dem Papa meinen Glückwunsch zu bringen, und da die Verlobung noch nicht öffentlich gemacht war, konnte ich thun, als wüßte ich nichts davon. Als mir aber der Herr Sekretär ein paar Tage später auf der Straße begegnete, schämte ich mich doch, ihm auszuweichen, als Lischens älteste Freundin. Ich grüßte ihn also und sagte, ob es denn wahr wäre, das mit dem schönen Schorsch. Ich muß gestehen, ich könnt’s immer noch nicht glauben.

„Da wurde sein gutes altes Gesicht sehr ernsthaft, fast traurig, und er sah mit den kleinen entzündeten Aeugelchen – schon damals waren sie vom vielen Schreiben schwach geworden – so wie verlegen nach der Seite. ,Jch habe es selbst erst nicht glauben mögen,‘ sagte er. ,Aber ich bin ein schwacher Vater, und da mein Kind erklärt hat, sie werde sterben, wenn ich ihr nicht den Willen thäte – und übrigens, wenn’s auch keine glänzende Versorgung ist, er hat doch sein Auskommen, und ganz als Bettlerin laß ich sie ja auch nicht in die Ehe gehen, und daß er weiß, wir sind keine reichen Leute, und sagt, er sehe nicht auf das Geld, macht ihm doch immerhin Ehre. Wenn es der Himmel zu Lischens Glück so beschlossen hat – ich bin ein alter Mann und werde nicht ewig für sie arbeiten und sorgen können.’

„Das sprach er so vor sich hin, und ich hatte, obwohl er sich dabei zu beruhigen schien, nicht das Herz, ihm zuzustimmen und zu diesem sogenannten Glück zu gratulieren.

„Denn Sie müssen wissen, lieber Herr, ich traute dem Landfrieden nicht in betreff der uneigennützigen Verliebtheit des edlen Bräutigams. Das Lischen hatte eine Tante, eine Vatersschwester, die älter war als ihr Bruder, aber in besseren Verhältnissen lebte. Ein Weingutsbesitzer in Bacharach hatte sie geheiratet, den hatte sie schon vor zwanzig Jahren beerbt und seitdem das Ihre so gut zusammengehalten, zumal sie weder sich noch irgend einem Christenmenschen etwas gönnte, daß man sie auf ein paar Hunderttausend schätzte. Ihr Bruder hatte sich aber ihres Geizes wegen mit ihr zertragen und nahm ihren Namen nie in den Mund. Das Lischen aber konnte es nicht übers Herz bringen, die Tante Appele – wie sie nach ihrem Taufnamen Apollonia in der Familie kurzweg hieß – so ganz links liegen zu lassen, schrieb ihr jedes Jahr zu ihrem Namenstage und schickte ihr zu Weihnachten eine Handarbeit, worauf der Geizdrache sich nur mit einem Körbchen Trauben, nicht von den süßesten, revanchierte. ,Du wirst doch noch einmal eine reiche Erbin,‘ sagte ich ihr zuweilen im Spaß. ,Es ist mir wahrhaftig nicht um ihr Geld,‘ sagte sie darauf. ,Aber sie dauert mich, weil sie so einsam lebt und keine Menschenseele hat, auf ihre gebrechlichen alten Tage sie zu pflegen und aufzuheitern.‘

„Daß es ihr damit voller Ernst war und gar keine Erbschleicherei dahinter steckte – so wie ich meine Freundin kannte, war mir das keinen Augenblick zweifelhaft.

„Das aber ließ ich mir nicht ausreden, daß der schöne Schorsch auf Tante Appeles blanke Thaler spekulierte. Die schönen Augen der Braut mochten ihm wohl auch einleuchten als Zugabe. Aber wenn sie ihm wirklich nur das bißchen Aussteuer zugebracht hätte – man brauchte ihm bloß in das langweilige kalte Gesicht zu sehen, um zu wissen, wie es in seinem sogenannten Herzen aussah.

„Ich hütete mich aber wohl, gegen meine Freundin mir nur eine Andeutung über seinen Charakter entschlüpfen zu lassen. Hätte sie mich um Rat gefragt – ja dann! Aber wer sich selbst die Augen zubindet, um nicht zu sehen, was sonnenklar ist, wie soll man dem helfen?

„Und ich hatte sie auch zu lieb, um sie mir ganz abwendig zu machen. Ich ließ mich sogar bereden, einen Abend in ihre Wohnung zu kommen, wo der Bräutigam da sein sollte. Wir saßen erst um den Tisch herum, auf dem die kleine Lampe mit dem grünen Schirm stand, da der Papa ein helles Licht nicht vertragen konnte. Der hatte sich in den Winkel des alten Sofas gedrückt und sprach den ganzen Abend nicht zehn Worte, trank auch nur ein kleines Glas Wein, und von dem Kuchen und den Erdbeeren rührte er nichts an. Auch ich hatte einen gallebitteren Geschmack auf der Zunge, wenn ich zu dem Bräutigam hinübersah: er so schön frisiert und parfümiert, daß es mir übel machte, und sie, immer seine Hand unterm Tisch in der ihren, verwandte keinen Blick von ihm, während er fast allein das Wort führte. Er erzählte von seinem Musikantenleben, in welchen großen Städten und vor welchen hohen Herrschaften er schon gespielt hätte, immer als ob er dabei die Hauptperson gewesen wäre, da doch die zweite Geige immer nur so mitläuft, wenn ein anderer die erste spielt. Lischen aber war ganz Bewunderung, zumal wenn er von dem Zauber der Musik allerlei hochtrabende Redensarten zum besten gab und die größten Komponisten anführte, als wären sie seine Duzbrüder gewesen. Dabei brachte es mich förmlich auf, daß er niemals lachte oder auch nur lächelte, immer die gleiche unbewegliche, selbstgefällige Miene.

„Ich war froh, wie der Papa endlich um zehn Uhr aufstand, es sei nun Zeit auseinanderzugehen, er müsse seiner Augen wegen früh zu Bett. Lischen begleitete ihren Verlobten mit dem Licht die Treppe hinab. Es überlief mich siedigheiß, mir zu denken, [602] daß sie sich von diesem Menschen zum Abschied küssen ließ. Als sie dann wieder eintrat, mit ganz heißem Gesicht, fragte sie mich, ob ich meine Meinung von ihm nicht doch geändert hätte, jetzt nicht auch fände, daß er ein reizender Mensch sei. Sie dauerte mich, in ihrer schwärmerischen Verblendung, und so sagte ich nur: ,Einer schickt sich nicht für alle, und ich soll ihn ja nicht heiraten. Wenn du glücklich mit ihm wirst, werd’ ich auch wohl Gefallen an ihm finden. Das aber kann ich dir nicht verhehlen: diese heimliche Verlobung gefällt mir nicht. Warum, wenn ihr auch nicht gleich Hochzeit machen könnt, verkündigt ihr nicht wenigstens, daß ihr Braut und Bräutigam seid? Es entsteht leicht ein Gerede, und wenn er es ehrlich meint –‘

„Da wurde sie Feuer und Flamme von wegen seiner Ehrlichkeit. Er warte mit der öffentlichen Verlobung nur noch, bis die feste Anstellung in einer Hoftheaterkapelle, um die er sich beworben, ihm gesichert sei. Nur der Sommer könne noch darüber hingehen. Dann solle auch gleich geheiratet werden. Er hasse das lange Herumziehen als Brautleute. – Mir klang das nicht sehr beruhigend und wir stritten noch eine gute Weile, bis der Papa, der nebenan schlief, hustete, um anzuzeigen, er wolle seine Ruhe haben.

„Es war aber eine solche Abkühlung unsrer alten Freundschaft zwischen uns gekommen, daß ich seitdem mehrere Wochen lang nicht mehr in ihre Wohnung kam und auch auf der Straße nur einen kurzen Gruß mit ihr wechselte. Um so erstaunter und bestürzter war ich, von ihrem Vater eines Nachmittags ein Billet zu erhalten, das mich dringend einlud, sobald ich frei wäre, zu ihnen zu kommen.“