Der Blinde von Dausenau

Textdaten
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Autor: Paul Heyse
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Titel: Der Blinde von Dausenau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18–19, S. 593–596, 598–599, 602, 632, 634–638
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Blinde von Dausenau.

Novelle von Paul Heyse.


Vor etlichen Jahren hatte mir mein Arzt, um mir die Nachwehen einer hartnäckigen Influenza vom Halse zu schaffen, eine Kur in Ems verordnet.

Nur mit Widerstreben hatte ich mich in die Verbannung schicken lassen, obwohl der berühmte Kurort, als ich früher einmal bei einer Fahrt durch das waldige Lahnthal an ihm vorüberkam, mit den blanken Häusern und zierlichen Kirchtürmen zwischen schattigen Parkanlagen mich sehr einladend angelacht hatte. Aber Badeorte, mögen sie noch so anmutig gelegen sein, haben für meine Vorstellung immer etwas Unheimliches, nicht so sehr der Kranken wegen, die dort auf Schritt und Tritt an das vielfache Elend der armen Menschheit erinnern, – tragen doch die meisten den Schimmer der Hoffnung auf dem Gesicht, der selbst die blässesten Leidensmienen verklärt –; die gesunde einheimische Bevölkerung erregt mein Mißbehagen, da ich in all den guten Bürgern nur Gastwirte, Kellner und Hausknechte zu sehen glaube, die außer der „Saison“ keinen eigentlichen Lebenszweck haben. Scheinen sie doch in der That, sobald der letzte Kurgast abgezogen ist, in eine Art Winterschlaf zu versinken und sich in ihre Häuser zurückzuziehen, wie Spinnen, wenn der Herbstregen die letzte Fliege weggeschwemmt hat, verdrossen in ein warmes kleines Loch kriechen, dort die Langeweile der nahrungslosen Wintermonate zu verträumen. Erst die neue Frühlingssonne lockt sie aus ihren Verstecken wieder hervor. Die Hausbesitzer der Badeorte öffnen die Fenster ihrer möblierten Zimmer, sonnen die Betten, waschen die Vorhänge und fegen den Winterstaub aus allen Winkeln und Gängen, wie die betriebsamen Spinnen sich eifrig daran machen, neue zierliche Netze zu weben.

Ich weiß zwar, dies ist eine übertriebene Vorstellung. Auch in Badeorten verkürzt man sich während der geschäftslosen Jahreshälfte die Zeit mit allerlei Lustbarkeiten, so gut wie andere Kleinstädter, vielleicht nur noch besser, da man aus den Wassern der Quellnymphe hinlängliches Gold dazu gewaschen hat. Immerhin erscheinen die Straßen verödet, an vielen Fenstern [594] bleiben die Jalousien geschlossen, und auf den Gartenwegen um die Trink- und Badehallen, die im Sommer peinlich geharkt und mit gelbem Kies bestreut waren, liegt der Blätterabfall vom Herbst her, kaum hin und wieder an den Rand gekehrt, während in dem Pavillon, aus dem die unermüdliche Kurmusik zu seufzen und zu schmettern pflegte, nur das laute Gezwitscher und Gezänk der Spatzen hervordringt, die sich unter dem zierlichen Eisendach vor dem winterlichen Unwetter zu bergen suchen.

Dies alles aber war schon überwunden, und die Stadt Ems hatte sich wieder aufs beste herausgeputzt, ihre Gäste zu empfangen, als ich eines schönen Abends dort eintraf, um meine Strafzeit anzutreten.

*               *
*

Es war in der zweiten Hälfte des Mai. Man hatte mich so vielfach vor der schweren Sonnenglut gewarnt, die in den Sommermonaten sich über den tiefen Thalgrund lagere, daß ich meine Kur so früh als möglich beginnen wollte.

Als ich die Brücke betrat, unter der die gelblichen Wasser der Lahn träge zum Rhein hinabflossen, sah die Sonne nur noch mit einem letzten schiefen Blick über den niedrigen Höhenrand im Westen herein. Gleichwohl regte sich kein erfrischender Abendhauch, ein seltsam schwerer Dunst lag über Stadt und Fluß, aus dem zarten Laube der Alleebäume, die sich an beiden Ufern hinziehen, ließ sich nicht die leiseste Vogelstimme vernehmen. Auch die wenigen Menschen, denen ich begegnete, schienen unter dem Druck von sieben Atmosphären dahinzuwandeln, und ich glaubte in ihren Blicken etwas wie Mitleiden zu lesen, daß wieder ein armer Sünder den ersten Fuß in sein schwüles Zellengefängnis zu setzen im Begriff sei.

Man hatte mir ein Hotel auf dem rechten Lahnufer empfohlen, nahe beim Kurhause. Ich fand dort aber nicht eine Wohnung, wie ich sie suchte, die ruhigeren Zimmer waren vorausbestellt, der Schwarm von befrackten Kellnern, der mich umringte, scheuchte mich bald wieder hinaus. Als ich dann die lange Zeile der Häuser hinunterschritt, die dicht an die steile, siebenfach zerklüftete Felswand der sogenannten „Bäderlei“ angebaut sind, an jedem ein oder mehrere Schilder mit den Inschriften „Hotel“ oder „Pension“, machte ich endlich vor einem sauberen Hause ziemlich am äußersten Ende der Straße Halt, das mich mit seinen Balkonen und blanken Fenstern vertraulich ansah. Hier fand ich denn auch alles, was ich wünschte, zwei geräumige Zimmer nach Norden und Süden gelegen, letzteres auf einen Balkon sich öffnend, von dem aus man über die Wipfel der niedrigen Kastanienbäume hinweg den Fluß verfolgen konnte, wie er an der Brüstungsmauer der Kuranlagen vorbeifloß, gegenüber die hohen Dächer der Gasthöfe auf dem anderen Ufer. Das Haus wurde von einer Witwe geführt, die es mir als einen Vorzug rühmte, daß man hier oben auf dem Balkon jeden Ton der Kurmusik deutlich hören könne, wenn der Wind von Westen komme. Ich hütete mich, der guten Frau zu gestehen, daß mir dieser Vorzug eher als ein Nachteil erschien. Dreimal des Tages musikalischer Vergewaltigung durch die üblichen Tänze, Potpourris und Operettenouverturen wehrlos preisgegeben zu sein, däuchte mir nur eine Verschärfung meiner Einzelhaft zu sein.

Auch als ich hernach bei einem späten Umgang durch die Kuranlagen der Musik im Pavillon näher kam und gestehen mußte, daß sie, was das Programm und die Ausführung betraf, zu den besseren und vielleicht besten ihrer Art gehörte, fühlte ich mich gleichwohl nicht erschüttert in meiner Abneigung gegen diesen Zwangsgenuß, der nur einem Menschen zu allen Zeiten willkommen ist, der nicht „Musik hat in ihm selbst“. Statt auf diese vor dem Einschlafen ungestört lauschen zu können, mußte ich noch einmal aufstehen, um die der Schwüle wegen offengelassene Balkonthür zu schließen, durch die der Westwind abgerissene freche Töne eines Potpourris aus „Fatinitza“ bis in mein Hinterzimmer hereinschleifte.

Am andern Morgen begann ich dann zeitig meinen Kurpflichten obzuliegen und ließ mich dazwischen von einem freundlichen alten Herrn, der mir den frischen Ankömmling angesehen hatte, zu den historischen Plätzen in den Kuranlagen führen, mir den Stein zeigen, der die Stelle bezeichnet, auf der die letzte verhängnisvolle Begegnung König Wilhelms mit dem französischen Botschafter stattgefunden, die Lieblingswege des greisen Herrschers, sein Marmorstandbild in dem unglücklichen Civilanzug, mit den an noch trostloserer Phantasielosigkeit leidenden Reliefs.

Mein treuherziger Führer erzählte mir, daß er gerade in dieser Saison das Fest der fünfundzwanzigsten Wiederholung seiner Emser Kur feiere. Da er mir dies unter beständigem Räuspern, Aechzen und Krächzen mitteilte, konnte ich mich eines niederschlagenden Zweifels an der Heilkraft der berühmten Quellen nicht erwehren, so wenig wie die Ehren, die die Kurvorsteher einem solchen Jubilar zu erweisen pflegen, mir besonders verlockend schienen.

Im übrigen, nachdem der erste beklommene Eindruck verwunden war, ließ sich das Leben an diesem Verbannungsort leidlich an, und da ich mich meiner Kur in frühester Morgenstunde entledigte, hatte ich in den langen Stunden des Vormittags die schönste Muße, mich in eine Arbeit zu vertiefen, die mir Einsamen über die harten Anfechtungen des Heimwehs hinweghalf.

Schwerer freilich waren die Nachmittage zu überstehen.

Die rötlichen Blütendolden der Kastanien schienen dann wie kleine brennende Kandelaber die lastende Schwüle nur noch zu erhöhen. An Spazierengehen war vor fünf oder sechs Uhr nicht zu denken. Blieb nun freilich die Flucht in die Bergwälder hinauf, die steile Drahtseilbahn, die auf die Höhe des Malbergs führt, oder die einsamen Pfade im Buchenschatten des Wintersbergs. Da aber die halbe Kurgesellschaft regelmäßig die Waldwege des Malbergs unsicher macht und die Waldeinsamkeiten des anderen Berges nur im Schweiß des Angesichts zu erklimmen sind, wagte ich mich erst, wenn die Nacht hereindämmerte, ins Freie.

Auch an den Ufern der Lahn stromaufwärts zu schlendern, war über Tag nicht ratsam, da die Sonnenglut in diesen schattenlosen Thalgrund von früh bis spät mit voller Macht hereintroff. Und doch lockte mich ein kleines altes Nest, nur etwa ein Stündlein lahnaufwärts gelegen, Dausenau geheißen, das ich von weitem malerisch am Flusse hingelagert sah. Eine kleine blanke Kirche mit wunderlich behelmtem Türmchen hob sich nahe dem Stadtthor über dem dunklen Häuserhaufen empor, und am anderen Ende stand ein plumper viereckiger Turm, der nach der Ostseite den Wächter machte.

*               *
*

Am ersten Tage also, da nach einem der häufigen Gewitter die Sonne nicht wieder hervortrat, sondern die feuchte Kühle über dem Fluß das Wandern am Ufer entlang erquicklich machte, trat ich den Weg nach Dausenau an.

Es war ein Sonntag, die Straße aber trotzdem nicht sehr belebt, da ein größeres Konzert am Kurhause auch die Bevölkerung der Umgegend dorthin gelockt hatte. So war es ganz still unter den jungen Kirschbäumchen, die am Rande der Chaussee über der hohen Uferböschung stehen. Der Gewittersturm hatte massenweise die noch unreifen Früchte abgeschüttelt, sie knirschten unter dem raschen Fußtritt, einzelne Tropfen sprühten noch hin und wieder auf meinen Hut herab. Drüben aus den Wiesen stieg ein leichter Nebeldunst, in dem die lang’ eingesogene Sonnenglut verdampfte, und über den Fluß herüber und hinüber schossen die Schwalben.

So war ich in meinen Gedanken die größere Hälfte des Weges hingeschlendert, als ich eine seltsame Figur bemerkte, die unter einer der hohen Pappeln stand, an einen Chausseestein gelehnt, barhaupt und unbeweglich wie ein steinernes Bild. Ein kleiner Mann in ärmlichem Anzug; seine beiden knochigen Hände hielten, auf den Griff des Stockes zusammengelegt, mit der Gebärde eines Almosenheischenden einen alten schwarzen Hut vor sich hin. Als ich näher herangekommen war, sah ich, daß es ein Blinder war. Die Augenhöhlen zwischen den geschlitzten rotgeränderten Lidern blickten erloschen ins Leere. Ueber den dichten Brauen wölbte sich eine hohe Stirn, die einmal von einem nachdenklichen Geist bewohnt gewesen sein mochte. Aber die hängende Unterlippe gab dem Gesicht einen stumpfsinnigen, fast blöden Ausdruck. Dazu schien der kleine Mann gegen alle äußeren Eindrücke unempfindlich zu sein. An seiner völlig durchnäßten braunen Jacke und den schwergetränkten Leinwandhosen erkannte ich, daß er nicht daran gedacht hatte, während des Gewittergusses ein schützendes Dach aufzusuchen, und da ich ihn freundlich anredete und ihm ein Geldstück in den durchweichten alten Hut warf, verzog er kaum merklich den breiten offenen Mund, über dem ein [595] graues Schnurrbärtchen sich emporsträubte, und antwortete auf keine meiner gutgemeinten Fragen.

Ich zweifelte nicht mehr, daß ich es mit einem Idioten zu thun hatte, den die Gemeinde von Dausenau hier an der Landstraße seinen Unterhalt erbetteln ließ.

Also ließ ich ihn, wo er war, und langte bald an dem alten Stadtthor an, dessen festes Mauerwerk dafür zeugte, daß vor Jahrhunderten dies kleine Stadtwesen darauf bedacht gewesen war, sich etwaiger räuberischer Ueberfälle kräftig zu erwehren.

Hiervon war freilich in den verwahrlosten, schlechtgepflasterten Gassen nichts mehr zu spüren. Die Einwohner schienen, nach allerlei Ackergerät, das herumlag, zu schließen, sich durch eine bescheidene Feld- und Wiesenwirtschaft zu ernähren, vielleicht durch die Bearbeitung einiger Weinberge, die zwischen den Felsen auf sonnigen Abhängen liegen mochten. Heute, am Sonntag, saßen sie vor ihren Häusern, nicht eben in den zierlichsten Feierkleidern, die Männer standen, kurze Pfeifen rauchend, in kleinen Gruppen plaudernd bei einander, auf einem etwas freieren Platze fand ein richtiger Hahnenkampf statt, dem eine lachende und hetzende Schar von Weibern und Kindern zuschaute. So war das kleine Nest bald durchwandert, und einigermaßen enttäuscht schlenderte ich unten auf dem schmalen Uferweg zurück um das Städtchen herum, das sich von hier aus freilich malerischer ausnahm. Der Gang hatte mich durstig gemacht, und ich wandte mich, die Böschung wieder ersteigend, einem Wirtsgärtchen dicht vor dem Thore zu, wo ich an sauberen Tischen unter jungen Bäumen allerlei Sonntagsgäste hatte sitzen sehen. An einem der wenigen noch unbesetzten nahm ich Platz und ließ mir ein Schöppchen von dem leichten Landwein bringen, an dem auch die meisten der anderen Gäste sich gütlich thaten.

Er hatte freilich so wenig Feuer, daß mich’s nicht wundern konnte, wenn er den guten Leuten nicht ins Blut ging und ihnen die Zungen löste. Von dem raschen rheinischen Temperament, dem „das Leben so lustig eingeht“, hatte ich in diesem Seitenthal überhaupt nichts wahrnehmen können. Das schien in der schwülen Luft zwischen den dichten Waldhöhen nicht zu gedeihen. Es war mir aufgefallen, daß auch die Brunnennymphen, die den Kurgästen die Becher füllen, fast alle ein bleiches, blutarmes Ansehen haben und zu einem mutwilligen Verkehr mit den Fremden nicht aufgelegt scheinen.

So auch die beiden Mädchen, die an einem Tische in meiner Nähe beisammensaßen und zu ihrer Tasse Kaffee ein Stück Topfkuchen zerkrümelten. Ich sah nur von der einen das volle Gesicht, ein Paar munterer schwarzer Augen unter einem schwarzen Strohhut mit einem riesigen Mohnblumenstrauß, ein etwas stumpfes Näschen und einen großen lachenden Mund mit blanken Zähnen. Während sie mit sichtbarem Behagen die kleinen Bissen des süßen Gebäcks verspeiste, hörte sie doch keinen Augenblick auf, in ihre Gesellin hineinzureden, so leise jedoch, daß ich nicht ein einziges Wort verstand, bis auf den Namen Lischen, den sie beständig einstreute. Sie trug ein geblümtes helles Kattunkleid, das ihre runde kleine Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich grübelte darüber nach, wo ich das Mädchen schon gesehen haben mochte. Zuletzt fiel mir ein, daß es in der Trinkhalle gewesen war, wo sie aber als Quellnymphe in der schwarzen Uniform mit dem weißen Schürzchen und in der Einförmigkeit ihrer Beschäftigung sich nicht so hübsch und lustig ausnahm.

Ein wenig blutarm erschienen ihre vollen Wangen auch jetzt in der freien Luft. Doch nicht so sehr wie die ihrer Freundin, die mir nur das feine Profil zukehrte.

Ein merkwürdiges Gesicht, wachsbleich und so regungslos wie ein gemaltes Heiligenbildnis, an das auch die wie im halben Traum gesenkten Augen erinnerten. Auch sie trug einen schwarzen Strohhut, doch nur mit einigen malvenfarbenen Schleifen aufgesteckt. Unter dem schmalen Rande fielen schlichte braune Haare, kurzabgeschnitten, bis auf den hohen Rand ihres Kattunkleides herab, aus dem ein schmaler weißer Leinwandkragen hervorsah. Alles verriet, daß das blasse Wesen auf seine Erscheinung nicht den geringsten Wert legte.

Auch dies Gesicht mußte mir schon irgendwo begegnet sein. Richtig! Am frühesten Morgen, wenn die Kurkapelle den Choral anstimmte, mit dem die Morgenmusik regelmäßig begann, hatte ich auf einer der Bänke, nahe bei dem Pavillon, in dem die Musiker saßen, immer an demselben Platz ein Mädchen bemerkt, das unverwandt zu dem Orchester hinstarrte. Ja, es war mir aufgefallen, daß ihr Blick sich stets auf einen der Spieler heftete, einen großen, breitschultrigen, sorgfältig geschniegelten jungen Mann, der die Bratsche spielte. Sein Gesicht mit den wasserblauen runden Augen und rosigen Backen hatte etwas von den geschminkten Wachsköpfen im Schaufenster kleiner Friseure. Wenn er pausierte, pflegte er mit einer langfingrigen weißen Hand das zarte blonde Schnurr- und Spitzbärtchen zu karessieren, oder den blanken Cylinder zu lüften und sich durch das lockige Haar zu fahren. Dabei sah er nie von dem Notenblatt weg und schien, so geckenhaft seine ganze Haltung war, von der stummen Huldigung des blassen Mädchens auf der Bank nicht die geringste Notiz zu nehmen.

War der Choral zu Ende, so erhob sich die sonderbare Schwärmerin mit einem Seufzer, ging langsam nach dem Ausgang des Kurgartens, warf von da aus noch einen Blick nach dem Pavillon zurück und verschwand in der Straße, die am Kursaal entlangführte.

Sie war offenbar nicht der Kur wegen hier, denn ich traf sie nie bei einer der Quellen, vielmehr schien sie die Tochter eines hier ansässigen Bürgers zu sein, vielleicht irgendwo in einer dienstbaren Stellung, worauf auch ihr sehr bescheidener Anzug deutete. So mochte sie nur in dieser frühesten Morgenstunde, wenn ihre Herrschaft noch schlief, einen Choral lang ihrer heimlichen Liebe nachgehen können. Obwohl sie mir aber, trotz der regelmäßigen Züge, nicht eben reizend erschien, für diesen Bratsche spielenden Adonis schien sie mir doch zu gut zu sein.

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*

Ich überlegte eben, ob ich nicht meinen Platz verlassen und unter einem schicklichen Vorwande – es zog wirklich da, wo ich saß – mich dem Tisch der beiden Mädchen nähern und einen kleinen Diskurs anknüpfen sollte. Da trat ein Anderer an sie heran, ein guter Bekannter, wie es schien, da ihn die Kleinere lebhaft begrüßte und einlud, an ihrem Tische Platz zu nehmen. Die Andere aber neigte kaum merklich den Kopf, so daß ihr die braunen Haare bis an das Kinn vorfielen, stand dann sofort auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe an. Die Freundin sah sie mißbilligend an, wandte sich dann an den sehr verblüfft dreinschauenden jungen Mann, der ein Bürgerssohn aus einem guten Hause zu sein schien, und entschuldigte den raschen Aufbruch. Lischen habe so arg Kopfweh, sie hätten ohnedies soeben den Heimweg antreten wollen. – Ob er die Fräuleins begleiten dürfe, fragte er, immer auf das blasse, stumme Gesicht blickend. – Nein, es sei besser, sie gingen allein. Lischen könne das Sprechen im Gehen nicht vertragen. – So verneigte sich der junge Mann mit einer Beileidsmiene, stammelte einen verlegenen Wunsch „guter Besserung“ und sah, während er sich an dem leergewordenen Tische niederließ, mit schwermütigen Augen den beiden nach, die Arm in Arm das Wirtsgärtchen verließen.

Ich witterte etwas von einem kleinen Roman, dem ich gern auf die Spur gekommen wäre, bezahlte also meinen Wein und brach nach etwa fünf Minuten ebenfalls auf, entschlossen, die Freundinnen einzuholen und auf dem gemeinsamen Heimwege mich ihnen zu nähern.

Auch hatten sie noch keinen großen Vorsprung gewonnen, da sie sehr langsam gingen, die Größere wie ermüdet ihren Arm um den Nacken der Freundin gelegt, den Kopf gesenkt, jetzt aber auf die Reden der anderen allerlei erwidernd, was der Wind überm Flusse verwehte. Nur den Ton der Stimme vernahm ich, der schärfer war, als man dem feinen, blassen Munde zugetraut hätte. Sie stritten offenbar über irgend etwas, und das Heiligenbildchen brauchte seine Zunge tapfer zu seiner Verteidigung.

So waren wir ein paar hundert Schritte gegangen, ich hinter ihnen in einem Abstand, der immer kleiner wurde, als ich sie plötzlich stillstehen sah und unwillkürlich ebenfalls den Schritt anhielt. Sie hatten den blinden Bettler erreicht, und ich dachte, sie suchten nach einem Almosen in ihren Taschen, es ihm in den Hut zu werfen. Statt dessen trat die Größere dicht an ihn heran, legte die Hand auf seine beiden über dem Stock und Hutrand zusammengepreßten Hände und fing an, leise und offenbar eindringlich in ihn hineinzusprechen, während ihre sonst so lebhafte [596] Gefährtin sich ein wenig zurückhielt und mit dem Schirmchen in dem feuchten Gras am Weg herumstocherte.

Ich war hinter einen Baum getreten, um ungesehen die kleine Scene beobachten zu können. Ueber das Gesicht des Blinden ging ein Lächeln, das aber nicht das Grinsen eines Idioten war, seine Lippen bewegten sich, die Züge wurden plötzlich straff und ausdrucksvoll, während an seiner Körperhaltung sich nichts veränderte. Nur ein paarmal nickte er mit dem Kopfe, langsam und schwerfällig, wie wenn er etwas Schwieriges überlegte. Zumeist aber sprach das Mädchen, das sich zuweilen hastig umsah, ob auch niemand in der Nähe sei, die seltsame Zwiesprach zu belauschen. Auf einmal bückte sie sich tief hinab und drückte einen Kuß auf die mageren Hände des Mannes, der diese Liebkosung sich mit einem vergnügten Nicken gefallen ließ. Dann trat sie von ihm weg und setzte ihren Weg eilig fort, während sich ihre Freundin ebenfalls mit einem Streicheln der Hand von dem Blinden verabschiedete.

Nun erst trat ich hinter meinem Baum hervor und folgte wieder den ruhig dahinwandelnden Mädchen. Als ich bei dem Bettler vorbeikam, sah ich noch den Nachglanz der freundlichen Begrüßung, die er eben erfahren hatte, auf seinem Gesicht und hörte ihn in einem unverständlichen Gemurmel mit sich selbst sprechen. Doch wagte ich nicht, ihn anzureden. Ich war überzeugt, daß er sofort wieder in seine Versteinerung zurücksinken würde.

Auch wurde meine Aufmerksamkeit jetzt von den Mädchen erregt, die plötzlich zu singen anfingen. Ein ziemlich kunstloser Gesang, in welchem Fräulein Lischens scharfer Sopran gegen die zweite Stimme ihrer Gefährtin sich leidenschaftlich hervorthat. Das Lied, das sie sangen, hatte nicht den Klang eines der echten alten Volkslieder, erinnerte vielmehr an die sentimentalen Gesänge herumziehender Harfenmädchen, machte aber doch in der stillen, wolkenverhangenen Luft, unter der die Wälder und Wiesen wie in einen Traum versunken lagen, einen unwiderstehlichen Eindruck. Zumal nachdem ich, meinen Schritt beschleunigend, den Sängerinnen so nah gekommen war, daß ich wenigstens den unendlich wiederholten Refrain verstand, in den die Oberstimme ihre ganze herbe Kraft hineinlegte:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Wohl ein dutzendmal schlug diese wie eine Verwünschung hervorgestoßene Klage an mein Ohr; ich weiß nicht, ob das Lied so viel Strophen hatte, oder ob die Sängerin nicht oft genug eine und dieselbe unheimliche Weissagung einem fernen Ungetreuen nachrufen konnte.

Indessen war ich so nahe an die Sängerinnen herangekommen, daß sie sich belauscht sehen mußten. Wenn hin und wieder ein rascher Wagen an ihnen vorbeigesaust war, hatten sie ihr Duett nicht unterbrochen. Jetzt verstummten sie plötzlich.

Ich zog den Hut und bat um Entschuldigung, daß ich sie in ihrem Gesang unterbrochen hätte. Da ich aber ein Freund der Musik sei, möchten sie sich nicht stören lassen, zumal ich gern den Text des schönen Liedes erführe, von dem ich nur den Kehrreim verstanden hätte. Ob sie mir das Ganze nicht noch einmal vorsingen möchten?

Die Kleinere sah ihre Freundin an, die mit festgeschlossenen Lippen und gesenkten Augen halb abgewendet dastand. Nein, sagte sie dann, das gehe nicht an, dies Lied sängen sie nur unter vier Augen. Aber wenn der Herr sonst am Singen Spaß habe, sie wüßten noch eine Menge anderer Lieder, die hier in der Gegend gesungen würden, nicht wahr, Lischen?

Die andere nickte nur, schien aber wider meine Erwartung, obwohl sie den Mund zum Sprechen nicht aufthun mochte, nichts dagegen zu haben, einen Fremden ihre Stimme hören zu lassen. „Nur,“ sagte die Kleinere, „muß der Herr hinter uns hergehen, daß wir uns einbilden können, wir wären unter uns allein, und vergessen, daß jemand zuhört. Also komm, Lischen!“

Sie schlang den Arm um die Taille der Freundin, die den ihren wieder um den runden Nacken der andern legte, und so setzten sie, anmutig sich umfassend, den Weg fort, nun ein echtes Volkslied anstimmend, mit einer jener rührend schönen Melodien, die unsterblich von Geschlecht zu Geschlecht gehen, wie nur die Eingebungen der höchsten Meister.

Ich blieb immer vier Schritt hinter ihnen, und nur wenn wieder ein Lied zu Ende war, trat ich etwas näher, ihnen meinen Beifall auszusprechen und um eine Fortsetzung zu bitten. Darüber vergaß ich ganz, daß ich im Sinn gehabt hatte, sie auf eine unscheinbare Art über ihre persönlichen Verhältnisse und jene Scene mit dem Blinden von Dausenau auszufragen. Wir näherten uns der Stadt, da würden sie wohl mit dem Singen aufhören, und ein kleines Gespräch ließ sich noch anknüpfen.

Nicht weit von den ersten Häusern entfernt liegt ein Garten, in welchem die schönsten Rosen gezogen werden. Als wir dorthin gekommen waren, sah ich die Blicke der Kleineren – ihren Namen, Rikchen, hatte ich inzwischen erfragt – bewundernd über den Zaun schweifen, wo nach dem erquickenden Gewitterregen die dunklen und hellen Blüten an den hochstämmigen Rosenbäumchen in besonderer Herrlichkeit glänzten. „Sie sind Blumenfreundinnen?“ fragt’ ich. Und da die Kleine lächelnd nickte, bat ich sie, hier vor der Thür einen Augenblick zu warten, sie müßten mir erlauben, zum Dank für das schöne Konzert ihnen ein paar Rosen zu schenken.

Ich eilte mich, die Frau des Gärtners ausfindig zu machen, und ließ mir einige der stolzesten La France- und Maréchal Niel-Rosen von den Stöcken schneiden. Als ich aber damit wieder auf die Landstraße hinaustrat, waren meine Sängerinnen verschwunden. Ich ging, so rasch ich konnte, der Stadt zu, blickte nach dem anderen Ufer hinüber, ob sie sich vielleicht auf der Fähre hätten übersetzen lassen – nirgends eine Spur von ihnen. So mußte ich meine Blumen nach Hause tragen und sie zu meiner eigenen Augenweide in eine Vase stellen. Abends, als sie im Lampenschein noch wundersamer glühten und dufteten, dachte ich lange dem kleinen Abenteuer nach, und der schwermütige Refrain:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

hatte sich mir dergestalt im Ohre festgesetzt, daß ich ihn vor dem Einschlafen noch unzähligemal vor mich hin sang.

*               *
*

Am andern Morgen, als ich in die Trinkhalle trat, fand ich das Rikchen schon wieder eifrig beschäftigt, die Becher zu füllen und den Kurgästen hinzureichen. Sie erwiderte aber meinen Gruß nur mit einem ernsthaften Nicken, wie jedem Fremden, der ihr einen Guten Morgen wünschte, und als ich ihr das gefüllte Glas abnahm und ihr dabei zuraunte: „Warum sind Sie mir gestern abend so plötzlich verschwunden?“ zuckte sie nur mit den Achseln und gab deutlich zu verstehen, daß sie sich auf eine weitere Konversation nicht einzulassen wünsche.

Nicht besseres Glück hatte ich mit ihrer Freundin. Ich fand das Lischen wieder auf ihrer Bank in die Anbetung des schönen Bratschisten versunken, und da eben der Choral begonnen hatte, überhörte sie mein behutsames Nähertreten. Als ich aber, nachdem die letzte Note verklungen war, dicht hinter ihr „Guten Morgen, Fräulein Lischen!“ sagte, schnellte sie wie von einer Schlange gebissen in die Höhe. Ueber die schmalen wachsbleichen Wangen flog eine dunkle Röte, die großen grauen Augen starrten mich entgeistert, halb bittend, halb vorwurfsvoll an, und rasch ihr Tüchlein um die Schultern ziehend, eilte sie so hurtig, wie es ohne Aufsehn geschehen konnte, an mir vorbei durch die bunte Menge, die den Musikpavillon umgab.

Da stand ich nun mit meinen Rosen, die ich in der Hoffnung, sie wenigstens heute anbringen zu können, nach dem Brunnen mitgenommen hatte. „Die albernen Mädel!“ brummte ich ärgerlich bei mir selbst. „Sie konnten mir doch ansehen, daß unter meinen Rosen keine Schlange lauerte, die ihre Tugend in Gefahr brächte. Nun, es ist ihr eigener Schade. Vielleicht haben sie mit den Fremden allerlei Erfahrungen gemacht, daß sie jetzt auch gegen ältere Herren, die nichts Böses im Schilde führen, sich so ungebärdig stellen.“

Ich nahm mir vor, nun auch meinerseits sie so wenig zu beachten, als ob wir nie ein Wort miteinander getauscht hätten, und dachte an die ganze Begegnung nur noch, wenn mir einmal wieder jener schwermütig drohende Refrain im Ohre aufwachte. Von der Kleineren ließ ich mir nie mehr den Becher füllen. Der Bank, wo das Lischen seine Morgenandacht hielt, blieb ich geflissentlich fern.

[598] Darüber verging wieder eine Woche. Am nächsten Sonntag widerstand ich leicht der Versuchung, zu sehen, ob die beiden Freundinnen ihren freien Ausgang wieder nach Dausenau richten und den Blinden abermals begrüßen würden. Die Sonnenglut hielt mich bis an den Abend im Zimmer fest. Ueber Nacht ging dann ein mächtiges Gewitter nieder, das sich in einen Landregen auflöste, der auch tagüber noch anhielt. Ich beschloß, einmal wieder den Malberg hinaufzufahren, da ich hoffen durfte, die schönen Waldwege droben, die sonst durch geputzte Menschen unsicher gemacht wurden, heute einmal für mich allein zu haben.

So fand ich es auch, als ich droben dem fast leeren Wagen der Drahtseilbahn entstieg. Auch vor dem Restaurationshause saßen, da es noch immer leise vom Himmel herabrieselte, nur ein paar verlorene Stammgäste, die unter Regenschirmen sich an ihrem Nachmittagskaffee und der feuchten Kühle der Luft erquickten. Ich ging an ihnen vorüber und schlug den oberen Weg nach dem Lahnsteiner Forsthause ein, das in einer guten halben Stunde zu erreichen ist.

Es war herrlich, in der helldunklen Luft unter den himmelhohen Wipfeln des Fichtenwaldes hinzuwandern, in einer so tiefen Stille, daß man das Aufatmen der Natur nach der langen Schwüle zu belauschen meinte. Auch die Musik des Regens verklang kaum hörbar hoch oben in den Lüften, da die sanfte Flut in den dichten Kronen der Bäume sich zerteilte und durch das Astwerk nur ein zarter feuchter Staub herabsprühte. Ich hatte meinen Schirm zusammengefaltet und den Hut abgenommen, um die Stirn der erfrischenden Kühle preiszugeben; so ging ich gedankenlos eine gute Weile vor mich hin, froh, endlich die langentbehrte Waldeinsamkeit zu genießen, als ich eine weibliche Gestalt bemerkte, schon ziemlich nahe herangekommen, die ihrerseits mich zu erkennen schien, da sie stehen blieb, wie unschlüssig, ob sie an mir vorübergehen oder nach der Seite ausweichen sollte.

Ich hatte sie aber, obwohl sie unter dem kleinen Schirm das Gesicht zu verbergen suchte, sofort erkannt und mich ihr mit ein paar großen Schritten so rasch genähert, daß sie mir wohl oder übel standhalten mußte.

„Guten Tag, Fräulein Rikchen!“ sagte ich. „Sie sehen, niemand entgeht seinem Schicksal. Hier habe ich Ihnen freilich keine Rosen anzubieten, vor denen Sie wieder davonlaufen möchten. Aber wenn Sie mir auch deutlich zu erkennen gegeben haben, daß Sie nichts von mir wissen wollen, ich will etwas von Ihnen wissen: gar nichts von Ihren etwaigen Geheimnissen, sondern nur, warum Sie und Ihre Freundin erst so freundlich zu mir waren und mich dann plötzlich stehen ließen, als ob ich Ihnen Gott weiß was zuleide gethan hätte.“

Sie hatte bei meiner Anrede, da sie sah, daß doch kein Entrinnen war, das Schirmchen geschultert und mir ihr munteres Gesicht voll zugekehrt. Ein kleines geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren halbgeöffneten Mund.

„Nicht wahr?“ sagte sie endlich – sie sprach ein ziemlich reines Hochdeutsch, nur zuweilen mit einem rheinländischen Anflug – „wir sind Ihnen wie zwei recht dumme Gäns’ vorgekommen, und das Weglaufen war auch kindisch. Aber sie bestand darauf, das Lischen, und ich mußt’ ihr den Willen thun, obwohl ich mir gern eine schöne Rose von Ihnen hätte schenken lassen. Ich sah’s Ihnen ja an, daß Sie ein braver Herr sind und sich bloß für unser bißchen Singen revanchieren wollten. Aber wie gesagt, das Lischen ist so wunderlich. Sie müssen wissen, sie war einmal verlobt, die Sach’ ist zurückgegangen, sie will’s aber immer noch nicht glauben und betrachtet sich trotz alledem als Braut, und da meint sie, sie dürf’ sich von keinem andern Mann Rosen schenken lassen. Gelt, es ist eine Dummheit, aber so ein arm’s Mädche, das so viel ausgestanden hat – kein Wunder, wenn’s ihr im Kopf nicht ganz richtig ist!

„Das heißt, in allem andern hat sie ihre gesunden fünf Sinne beisammen, nur daß sie nicht viel sprechen mag, und es ist jammerschad’, daß sie sich in das eine so verrannt hat, und wenn man bedenkt, um wen! Aber ich darf nicht mehr davon schwätzen, ich bin ihre beste Freundin schon von der Schule her, und es wissen in der Stadt ohnehin schon zu viele darum, obwohl es keine öffentliche Verlobung war. Sie werden ja auch keinen Gebrauch davon machen.“

„Gewiß nicht, Fräulein Rikchen,“ versetzte ich. „Dann sollten Sie aber Ihre Freundin darauf aufmerksam machen, daß sie sich sehr unklug beträgt und selbst verrät, was die Leute nicht wissen sollen. Jeden Morgen sich dem Ungetreuen gegenüberzusetzen und ihn anzuschmachten wie ein Gnadenbild in einer Wallfahrtskirche – man braucht kein Talent zum Polizeispion zu haben, um zu wissen, was es damit für eine Bewandtnis hat.“

Das Mädchen nickte lebhaft mit dem Kopf und zog die Brauen zusammen.

„Also haben Sie’s auch bemerkt!“ rief sie sehr aufgeregt. „Und Sie werden nicht der einzige sein. ’s ist eine Schand’, hab’ ich ihr mehr als einmal gepredigt, wie du dich aufführst! Einem falschen Menschen nachzulaufen, einem solchen, wie der – oder finden Sie ihn etwa auch so reizend wie viele verrückte Weiber, diesen – diesen – –“

Sie suchte umsonst nach einem Ausdruck, der stark genug wäre für ihre sittliche Entrüstung und ihren ästhetischen Widerwillen.

„Nun,“ sagte ich, „ich kenne nur sein Aeußeres, das von der Sorte ist, die auch mir mißfällt. Aber ich habe oft erlebt, daß so eine blanke Larve, ein schön frisierter Puppenkopf bei dem anderen Geschlecht Glück macht. Nur daß er gerade Ihrer Freundin gefährlich werden konnte –“

„O, Sie wissen nicht, welche Künste der listige Mensch angewendet hat, um sich in Lischens Herz einzuschmeicheln. Denn anfangs war er ihr grad’ so zuwider wie mir. Und sie hatte es auch nicht nötig, sich an den ersten besten wegzuwerfen, an jedem Finger hätte sie einen haben können, darunter die besten Partien. Jetzt freilich sehen Sie’s ihr nicht mehr an, was für ein Bild von Schönheit sie gewesen ist; keine in der ganzen Stadt konnt’s mit ihr aufnehmen. Aber sie hatte noch gar keine Lust zum Heiraten. Sie war zwar arm, aber wenn sie wollte, konnt’ es ihr an einer guten Versorgung nicht fehlen, und sie wollte warten, bis sie sich ihre Aussteuer zusammengespart hätte. Damit war auch ihr Vater einverstanden – die Mutter lebt schon lange nicht mehr. Der Papa aber, der auch nur sein schmales Auskommen hatte als Schreiber beim Gericht, dies einzige Kind, das Lischen, liebte er wie seinen Augapfel; was sie wollte, das war ihm recht. ,Sie hat mehr Verstand in ihrem kleinen Finger als ich in meinem ganzen dicken Schädel!“ sagte er mir einmal. So ließ er sie auch thun und treiben, was sie wollte, und fand es sehr in der Ordnung, daß sie während der Saison als Verkäuferin in ein Geschäft ging, eine Handlung mit Achatwaren und unechten Schmucksachen. Im Winter klöppelte sie Spitzen. Sie hatte zu allem Geschick und war dabei die gute Stunde selbst und ging auch wohl einmal zum Tanz, hielt sich aber immer ganz anständig und ehrbar.

„Nun, so war sie in ihr zwanzigstes Jahr gekommen, da machte sie auf der Hochzeit einer Gefreundeten seine Bekanntschaft, ich meine, die des geigenden Rattenfängers. Auch eine Muhme von mir war dabei, die, von der ich eben herkomme, die Tochter der Förstersleute. Sie ist schwer krank gewesen und kaum aus der Gefahr, und um mich einmal nach ihr umzusehen, habe ich mir heut’ einen freien Nachmittag ausgebeten, sonst wäre ich Ihnen hier oben nicht begegnet und hätte Ihnen nicht so viel vorgeschwatzt. Jetzt aber muß ich Ihnen Adieu sagen, ich soll vor Abend wieder am Brunnen sein.“

„Ich will Sie nicht länger aufhalten, Fräulein Rikchen,“ sagte ich, während wir schon wieder den Rückweg antraten. „Erlauben Sie mir nur, Sie noch ein Streckchen zu begleiten. Sie müssen mir noch ein wenig mehr von Ihrer Freundin erzählen, deren Schicksal mich sehr interessiert. Ein so gutes, unschuldiges Wesen, das Mitleid mit unglücklichen Menschen hat und durch einen gewissenlosen Gecken nun selbst unglücklich geworden ist! Andere werden dadurch verhärtet. Ihr Herz ist aber so weich geblieben, daß sie sich nicht damit begnügt, einem blinden Bettler ein Almosen in den Hut zu werfen, sondern ihn freundlich anredet und ihm sogar die Hand küßt.“

Das Mädchen blieb plötzlich stehen und sah mich mit einem Ausdruck des Erschreckens an.

„Woher wissen Sie das?“ sagte sie. „Wer hat Ihnen – Aber freilich, Sie kamen ja hinter uns her am Sonntag vor acht Tagen. Wenn Lischen das erführe – sie wäre außer sich. Denn die Leute in Ems wissen freilich, daß der arme alte Mann, [599] wenn es nach seiner Tochter ginge, nicht da am Wege stände und die Fremden anbettelte, aber was die Kurgesellschaft davon denken müßte –“

„Nein, sagen Sie,“ unterbrach ich ihre bestürzte Rede, „ist es möglich? Der Blinde von Dausenau –

„Gewiß,“ nickte sie, „’s ist dem Lischen ihr armer Papa. Und da Sie nun doch dahintergekommen sind – wir wollen uns einen Augenblick auf die Bank da setzen. Es hat mir ganz den Atem benommen, daß Sie uns damals belauscht haben. Nur um Gottes willen kein Wort davon an meine Freundin!“

Sie setzte sich rasch auf das vom Regen durchtränkte Bänkchen, ohne ihr Kleid zu schonen, und ich ließ mich neben ihr nieder. „Ja,“ fing sie wieder an, „ich hab’ einmal gelesen: es geht nirgends wunderlicher zu als in der Welt. Das ist ein wahres Wort. Wenn Sie den Herrn Gerichtssekretär früher gekannt hätten – ‚ärmlich aber reinlich!‘ pflegte er zu sagen und bürstete und striegelte an seinen abgetragenen Kleidern herum, daß alle Fäden zum Vorschein kamen. Und so hatte er auch seine Tochter erzogen. In ihrem Wohnstübchen oben im dritten Stock sah’s aus wie in einer Puppenstube. Und jetzt ist es ihm gleich, ob er wie ein landstreichender Strolch im Regen steht – was er freilich nicht mehr sehen kann. Denn Sie haben es wohl selbst bemerkt, hier oben“ – sie deutete auf die Stirn – „sieht’s auch nicht mehr so sauber und aufgeräumt aus wie vor dem Unglück. Obwohl er in manchen Stücken noch ganz zurechnungsfähig ist und ganz genau weiß, was er will, und setzt es durch gegen alle Welt, wenn’s auch noch so unvernünftig ist.

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß das Lischen seine einzige Lebensfreude war. ,Wenn ich nur den Tag noch erlebe, wo du einen guten Mann kriegst, der weiß, was er an dir hat‘ – hörte ich ihn mehr als einmal sagen. Auch hätte er sich nicht gewundert, wenn einmal ein Prinz oder Graf zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Herr Sekretär, ich habe die Ehre, um die Hand Ihres Fräulein Tochter bei Ihnen anzuhalten.‘ Und nun stellen Sie sich vor, wie ich erschrecken mußte, als das Lischen mir eines Abends ganz wie berauscht von Seligkeit um den Hals fiel und mir ins Ohr stammelte, der Geiger habe um sie geworben, und der Papa habe Ja gesagt.

,Bist du bei Trost, Lischen?‘ sagte ich. ,Der Papa hat eingewilligt, und du – du selber hast Ja gesagt? Du willst den ‚schönen Schorsch‘ – so nannten wir ihn unter uns – heiraten? Aber kennst du ihn denn nicht, was er für ein Hans Liederlich ist, und dennoch –‘

„Da wurde sie ganz ernst und fast feierlich. ,Ich verbitte mir solche Schimpfworte über meinen Bräutigam,‘ sagte sie. ,Sein Leben, bevor er mich kannte, geht mich nichts an. Er selbst hat mir gestanden, er habe viel zu bereuen, wenn er auch keine betrogene Unschuld auf dem Gewissen habe. Aber er habe freilich ein bißchen stark die Kur geschnitten, das werde nun aufhören, und mir werde er’s zu danken haben, wenn er jetzt als ein solider Ehemann sich die allgemeine Achtung erwerbe.‘ – Sie wissen, mit der Leimrute hat sich schon manches dumme Vögelchen fangen lassen. – ,Und das hast du ihm geglaubt, Lischen?‘ fragte ich. Da kehrte sie mir den Rücken zu und redete zwei Tage lang kein Wort mit mir.

„Ich war im stillen wütend auf den schönen Schorsch, das Lischen, ihren Papa und mich selbst, daß mir nichts einfallen wollte, meiner armen vernarrten Freundin den Star zu stechen und die ganze dumme Geschichte rückgängig zu machen. Ich hatte auch nicht das Herz, dem Papa meinen Glückwunsch zu bringen, und da die Verlobung noch nicht öffentlich gemacht war, konnte ich thun, als wüßte ich nichts davon. Als mir aber der Herr Sekretär ein paar Tage später auf der Straße begegnete, schämte ich mich doch, ihm auszuweichen, als Lischens älteste Freundin. Ich grüßte ihn also und sagte, ob es denn wahr wäre, das mit dem schönen Schorsch. Ich muß gestehen, ich könnt’s immer noch nicht glauben.

„Da wurde sein gutes altes Gesicht sehr ernsthaft, fast traurig, und er sah mit den kleinen entzündeten Aeugelchen – schon damals waren sie vom vielen Schreiben schwach geworden – so wie verlegen nach der Seite. ,Jch habe es selbst erst nicht glauben mögen,‘ sagte er. ,Aber ich bin ein schwacher Vater, und da mein Kind erklärt hat, sie werde sterben, wenn ich ihr nicht den Willen thäte – und übrigens, wenn’s auch keine glänzende Versorgung ist, er hat doch sein Auskommen, und ganz als Bettlerin laß ich sie ja auch nicht in die Ehe gehen, und daß er weiß, wir sind keine reichen Leute, und sagt, er sehe nicht auf das Geld, macht ihm doch immerhin Ehre. Wenn es der Himmel zu Lischens Glück so beschlossen hat – ich bin ein alter Mann und werde nicht ewig für sie arbeiten und sorgen können.’

„Das sprach er so vor sich hin, und ich hatte, obwohl er sich dabei zu beruhigen schien, nicht das Herz, ihm zuzustimmen und zu diesem sogenannten Glück zu gratulieren.

„Denn Sie müssen wissen, lieber Herr, ich traute dem Landfrieden nicht in betreff der uneigennützigen Verliebtheit des edlen Bräutigams. Das Lischen hatte eine Tante, eine Vatersschwester, die älter war als ihr Bruder, aber in besseren Verhältnissen lebte. Ein Weingutsbesitzer in Bacharach hatte sie geheiratet, den hatte sie schon vor zwanzig Jahren beerbt und seitdem das Ihre so gut zusammengehalten, zumal sie weder sich noch irgend einem Christenmenschen etwas gönnte, daß man sie auf ein paar Hunderttausend schätzte. Ihr Bruder hatte sich aber ihres Geizes wegen mit ihr zertragen und nahm ihren Namen nie in den Mund. Das Lischen aber konnte es nicht übers Herz bringen, die Tante Appele – wie sie nach ihrem Taufnamen Apollonia in der Familie kurzweg hieß – so ganz links liegen zu lassen, schrieb ihr jedes Jahr zu ihrem Namenstage und schickte ihr zu Weihnachten eine Handarbeit, worauf der Geizdrache sich nur mit einem Körbchen Trauben, nicht von den süßesten, revanchierte. ,Du wirst doch noch einmal eine reiche Erbin,‘ sagte ich ihr zuweilen im Spaß. ,Es ist mir wahrhaftig nicht um ihr Geld,‘ sagte sie darauf. ,Aber sie dauert mich, weil sie so einsam lebt und keine Menschenseele hat, auf ihre gebrechlichen alten Tage sie zu pflegen und aufzuheitern.‘

„Daß es ihr damit voller Ernst war und gar keine Erbschleicherei dahinter steckte – so wie ich meine Freundin kannte, war mir das keinen Augenblick zweifelhaft.

„Das aber ließ ich mir nicht ausreden, daß der schöne Schorsch auf Tante Appeles blanke Thaler spekulierte. Die schönen Augen der Braut mochten ihm wohl auch einleuchten als Zugabe. Aber wenn sie ihm wirklich nur das bißchen Aussteuer zugebracht hätte – man brauchte ihm bloß in das langweilige kalte Gesicht zu sehen, um zu wissen, wie es in seinem sogenannten Herzen aussah.

„Ich hütete mich aber wohl, gegen meine Freundin mir nur eine Andeutung über seinen Charakter entschlüpfen zu lassen. Hätte sie mich um Rat gefragt – ja dann! Aber wer sich selbst die Augen zubindet, um nicht zu sehen, was sonnenklar ist, wie soll man dem helfen?

„Und ich hatte sie auch zu lieb, um sie mir ganz abwendig zu machen. Ich ließ mich sogar bereden, einen Abend in ihre Wohnung zu kommen, wo der Bräutigam da sein sollte. Wir saßen erst um den Tisch herum, auf dem die kleine Lampe mit dem grünen Schirm stand, da der Papa ein helles Licht nicht vertragen konnte. Der hatte sich in den Winkel des alten Sofas gedrückt und sprach den ganzen Abend nicht zehn Worte, trank auch nur ein kleines Glas Wein, und von dem Kuchen und den Erdbeeren rührte er nichts an. Auch ich hatte einen gallebitteren Geschmack auf der Zunge, wenn ich zu dem Bräutigam hinübersah: er so schön frisiert und parfümiert, daß es mir übel machte, und sie, immer seine Hand unterm Tisch in der ihren, verwandte keinen Blick von ihm, während er fast allein das Wort führte. Er erzählte von seinem Musikantenleben, in welchen großen Städten und vor welchen hohen Herrschaften er schon gespielt hätte, immer als ob er dabei die Hauptperson gewesen wäre, da doch die zweite Geige immer nur so mitläuft, wenn ein anderer die erste spielt. Lischen aber war ganz Bewunderung, zumal wenn er von dem Zauber der Musik allerlei hochtrabende Redensarten zum besten gab und die größten Komponisten anführte, als wären sie seine Duzbrüder gewesen. Dabei brachte es mich förmlich auf, daß er niemals lachte oder auch nur lächelte, immer die gleiche unbewegliche, selbstgefällige Miene.

„Ich war froh, wie der Papa endlich um zehn Uhr aufstand, es sei nun Zeit auseinanderzugehen, er müsse seiner Augen wegen früh zu Bett. Lischen begleitete ihren Verlobten mit dem Licht die Treppe hinab. Es überlief mich siedigheiß, mir zu denken, [602] daß sie sich von diesem Menschen zum Abschied küssen ließ. Als sie dann wieder eintrat, mit ganz heißem Gesicht, fragte sie mich, ob ich meine Meinung von ihm nicht doch geändert hätte, jetzt nicht auch fände, daß er ein reizender Mensch sei. Sie dauerte mich, in ihrer schwärmerischen Verblendung, und so sagte ich nur: ,Einer schickt sich nicht für alle, und ich soll ihn ja nicht heiraten. Wenn du glücklich mit ihm wirst, werd’ ich auch wohl Gefallen an ihm finden. Das aber kann ich dir nicht verhehlen: diese heimliche Verlobung gefällt mir nicht. Warum, wenn ihr auch nicht gleich Hochzeit machen könnt, verkündigt ihr nicht wenigstens, daß ihr Braut und Bräutigam seid? Es entsteht leicht ein Gerede, und wenn er es ehrlich meint –‘

„Da wurde sie Feuer und Flamme von wegen seiner Ehrlichkeit. Er warte mit der öffentlichen Verlobung nur noch, bis die feste Anstellung in einer Hoftheaterkapelle, um die er sich beworben, ihm gesichert sei. Nur der Sommer könne noch darüber hingehen. Dann solle auch gleich geheiratet werden. Er hasse das lange Herumziehen als Brautleute. – Mir klang das nicht sehr beruhigend und wir stritten noch eine gute Weile, bis der Papa, der nebenan schlief, hustete, um anzuzeigen, er wolle seine Ruhe haben.

„Es war aber eine solche Abkühlung unsrer alten Freundschaft zwischen uns gekommen, daß ich seitdem mehrere Wochen lang nicht mehr in ihre Wohnung kam und auch auf der Straße nur einen kurzen Gruß mit ihr wechselte. Um so erstaunter und bestürzter war ich, von ihrem Vater eines Nachmittags ein Billet zu erhalten, das mich dringend einlud, sobald ich frei wäre, zu ihnen zu kommen.“ [632]

Fräulein Rikchen stand plötzlich auf.

„Da hinten kommen Leute,“ sagte sie. „Ich darf mich hier nicht mit Ihnen sehen lassen, es wird gleich geschwätzt. Wir wollen rasch in den Seitenweg einbiegen, es fängt ohnedies wieder an zu regnen.“

Sie spannte ihr Schirmchen auf und lief mir voran. Als wir wieder nebeneinander hingingen, sagte sie:

„Das war ein schlimmer Abend damals. Als ich geklingelt hatte, kam der Papa selbst und öffnete mir. Sie hatten kein Mädchen. Nur eine alte Frau kam jeden Morgen für die gröbere Arbeit; die holte ihnen auch das Essen. Alles übrige besorgte das Lischen selbst.

„Ich erschrak, als ich den Herrn Sekretär ansah. Er war nicht in seinem ordentlichen grauen Hausrock, sondern in Hemdsärmeln, die Haare, die er sonst immer sehr sorgfältig bürstete, standen ihm wirr um den Kopf, die Augen funkelten ihm wie einer wilden Katze. Auch sagte er nicht wie sonst ganz höflich: Guten Abend, Fräulein Rikchen, sondern knurrte mich fast feindselig an. ,Wie geht’s?‘ fragte ich. ,Ist dem Lischen was zugestoßen?‘ Er antwortete aber nicht, sondern ging mir voran in die Wohnstube. Es brannte noch kein Licht, war aber noch hell genug, daß man sich in die Augen sehen konnte. ,Wo ist Lischen?‘ fragt’ ich. Er blieb immer noch stumm, wies nur mit dem Kopf nach der Thür ihrer Kammer und dann mit der Hand nach dem Tisch, auf dem ein Brief lag. Ich sah, wie er am ganzen Leibe zitterte. ,Soll ich den Brief lesen?‘ fragte ich. Da nickte er nur und lachte ganz ingrimmig und stellte sich, die Hände auf dem Rücken, an den kalten Ofen.

„Nun nahm ich den Brief – was drin stand, ahnte mir schon; daß er von ihm war, konnte ich schon riechen, denn er hatte immer parfümiertes Papier zu seinen Liebesbriefen. Dieser aber war keiner, sondern das Gegenteil. Er schrieb ihr, in seiner schönen Handschrift, die wie gestochen aussah – nun, ich weiß die Worte nicht mehr genau. Der Sinn aber war, es sei ihm ein fürchterlicher Schmerz, aber als Ehrenmann fühle er sich verpflichtet, ihr mitzuteilen, daß er ihr den Verlobungsring zurückschicken müsse. Die Stelle in d:r Hoftheaterkapelle, auf die er gerechnet habe, sei ihm von einem anderen weggeschnappt worden. Seine Aussichten auf die Gründung eines eigenen Herdes seien dadurch auf unbestimmte Zeit zunichte geworden. Als Ehrenmann – das war das dritte Wort – könne er ein geliebtes Mädchen nicht an sein ungewisses Schicksal binden. Sie möge überzeugt sein, das Herz blute ihm, während er dies schreibe, und so schöne hochtrabende Redensarten noch eine halbe Seite lang, und zum Schluß ein Gedicht, das er aus einem Buche abgeschrieben haben mußte, worin von Seelenfreundschaft, ewiger Treue trotz der zeitlichen Trennung und so blümeranten verlogenen Sachen mehr die Rede war.

„Ich war ganz starr, nachdem ich zu Ende gelesen hatte. ,Das arme, arme Lischen!‘ mehr konnte ich nicht vorbringen. ,Die arme Närrin!‘ kam es vom Ofen zurück. ,Hab’ ich’s nicht gleich gedacht? Hat sie auf mich hören wollen? Nun hat sie’s! Aber er – der Schuft, der meineidige Bube –‘ und damit ging er auf den Tisch zu, auf den ich den Brief hatte fallen lassen, nahm ihn und zerriß ihn in hundert Stücke.

,Hat es sie sehr hart angegriffen?‘ fragte ich.

„Er schien es gar nicht zu hören. Er wütete immer vor sich hin, und dabei erfuhr ich, daß vor einigen Tagen der Bräutigam dagewesen war, und das Lischen, mit ganz heiterem Gesicht, hatte ihm erzählt, die Tante Appele sei gestorben, hätte aber ihr ganzes Geld samt Haus und Weingärten der Apolloniuskapelle vermacht – sie wußte nicht einmal, wo die liegt – und ihrer einzigen leiblichen Nichte nur eine alte Korallenschnur und ein Dutzend oft geflickter Hemden. Aber sie habe keinen Kummer darüber. Sie wisse ja, ihr Schorsch denke über reich und arm ganz wie sie selbst und sie würden trotzdem glücklich miteinander sein und den Himmel auf Erden haben.

,Der elende Schuft!‘ knirschte der alte Mann. ,Ich wußte wohl, daß er sich auf die Erbschaft von der bigotten Närrin gespitzt hatte, denn sonst – ein armes Mädchen zu freien, das fällt heut’ keinem dieser windigen Burschen ein, wie ich’s damals [634] mit meiner Seligen gethan habe. Und es wunderte mich auch, daß der niederträchtige Spekulante nicht gleich seine Karten aufdeckte, sondern mit verdrehten Augen beteuerte, er gönne der Tante Appele die ewige Seligkeit, wenn sie sie mit diesem Vermächtnis an die Kirche hätte erkaufen können. Am Ende ist er doch nicht so schlecht, dacht’ ich, wie ich geglaubt habe. Aber er hatte sich nur besser in der Gewalt und nahm sich drei Tage Zeit, den schönen Brief zusammenzuheucheln. Werden Sie aber glauben, Fräulein Rikchen, daß dem dummen Ding auch jetzt noch die Augen nicht aufgegangen sind? ,Sei froh, daß du ihn los bist!‘ sagt’ ich. Aber da wurde sie ganz wild. Ob ich nicht einsähe, daß er als ein Ehrenmann nicht anders hätte handeln können? Und dann, nachdem wir lange hin und her gestritten, ist sie in einen Weinkrampf verfallen, und wie ich sie in die Arme nehmen und ihr gute Worte geben wollte denn sie jammerte mich so bitter, daß ich selbst an zu flennen fing – da hat sie mich zurückgestoßen wie ihren schlimmsten Feind und ist in ihre Kammer gestürzt und hat sich drinnen eingeriegelt.

Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als daß ich Sie zu uns bitten ließ. Sie müssen ihr den Kopf zurechtsetzen, auf Sie Wird sie vielleicht hören.‘

„Du meine Güte! Wie sollte ich hoffen, sie zur Vernunft zu bringen, wenn sie nach so einem Brief noch an den ‚Ehrenmann‘ glauben konnte.

„Indessen klopfte der Papa an ihre Kammer. Es rührte sich drinnen aber nichts. ,Fräulein Rikchen ist da!‘ rief er. ‚Laß sie doch herein. Ich gehe noch aus, ich werde euch nicht stören.‘

„Wirklich fuhr er in seinen Rock und schlich sich aus dem Zimmer, kam aber noch einmal zurück, weil er in der Verwirrung mit bloßem Kopf hatte hinausgehen wollen. ,Wenn ich den Kerl treffe!‘ knurrte er vor sich hin. ,Wo ist denn mein Stock? der soll ihn Mores lehren!‘

„Ich hörte ihn die Thür draußen zuschlagen, dann erst klopfte ich bei Lischen an. Sie besann sich eine Weile, bis sie den Riegel zurückschob. Dann fand ich sie in ihren Kleidern auf dem Bett ausgestreckt, das Gesicht aber nach der Wand gekehrt. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und nahm ihre Hand, die eiskalt war.

„So saß ich wohl eine halbe Stunde und sprach in sie hinein und gab ihr die besten Worte. Sie antwortete aber mit keiner Silbe, nur die Hand ließ sie mir, die zuckte jedesmal, wenn ich von ihrem Schorsch etwas Ehrenrühriges sagte. Darüber wurde es ganz dunkel. Und dann setzte sie sich auf einmal auf, strich sich die Haare aus der Stirn und sagte: ,Du meinst es gut, Rikchen, aber ihr alle versteht mich nicht, und wie es in ihm aussieht, wißt ihr auch nicht. Wenn ich mit dir gut Freund bleiben soll, so rede mir nie mehr von ihm und sag auch dem Papa, er würde mich aus dem Hause treiben, wenn er noch ein einziges böses Wort gegen meinen Georg sagte. So, und nun laß mich allein, ich habe viel zu denken, was kein Mensch verstehen kann. Gute Nacht!‘

„Ich beugte mich über sie, sie zu küssen, aber sie wehrte mich heftig ab. ‚Meine Lippen gehören mir nicht mehr,‘ sagte sie, ,an die darf niemand rühren!‘ – So ging ich mit schwerem Herzen von ihr.

*               *
*

„Es ist dann aber noch viel schlimmer gekommen, als ich fürchtete.

Wie ich am nächsten Abend wieder nach ihr sehen wollte, fand ich nur den Papa, in einem so bejammernswürdigen Zustande, daß es einen Stein erbarmen mußte. In der Nacht war ein hitziges Fieber bei ihr ausgebrochen, sie hatte laut aus dem Traum geschwätzt, immer die Verse hergesagt, die in dem Brief gestanden hatten, und noch viele andere. Denn das war von klein auf ihre Passion gewesen, schöne Gedichte, mit so recht feierlichen und unverständlichen Worten, und die ihr am besten gefielen, schrieb sie sich in ein Büchlein ab. Dazwischen habe sie gelacht und gesungen, und wie am Morgen der Doktor kam, habe er gesagt, sie hat eine Gehirnentzündung und muß gleich ins Krankenhaus, denn hier hat sie nicht die richtige Pflege.

„Sie können denken, wie mich der arme einsame alte Mann dauerte, der nun zu all seiner Angst und Sorge nicht einmal seine richtige Abwartung hatte. Ich selbst lebe bei einer Verwandten. Da schlug ich dem Papa vor, bis das Lischen aus dem Krankenhaus entlassen würde, wollte ich zu ihm ziehn, daß er nicht so allein sei. Er wollte aber nichts davon hören. Ihm sei am wohlsten allein, und Pflege brauche er nicht, so lange sein Kind zwischen Tod und Leben schwebe.

„Nun, das dauerte lange genug, volle fünf Wochen. Als sie dann endlich so weit war, daß sie wieder nach Hause durfte, war sie kaum zu kennen. Ihre schönen Haare, die ihr bis in die Kniekehlen reichten, hatte man ihr abgeschnitten, sie war wie ihr eigener Schatten geworden, man sah fast die Zähne durch die Oberlippe schimmern. Auch sonst war sie wie ausgetauscht, ganz heiter, nur wie ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren, immer mit einer Spielerei beschäftigt. Der Arzt versicherte zwar, das sei nur noch eine Schwäche; mit der Zeit werde sie ihre fünf Sinne richtig wieder beisammen haben, wie’s denn auch gekommen ist. Damals aber glaubten wir nicht anders, als daß ihr Verstand für immer gestört sei. Und Sie hätten den Papa sehen sollen, mit welch verzweifelten Blicken er sein Herzblatt anstierte, bis ihm die Augen übergingen. Sie selbst merkte das nicht. Ihre Stelle in dem Achatgeschäft hatte sie freilich verloren, ging auch nie aus, außer wenn ich bei dunkler Zeit sie einmal mit Gewalt ins Freie schleppte.

„Ob ihr Ungetreuer sich noch um sie bekümmerte und am Ende doch sein infames Betragen sich zu Herzen nahm, weiß ich nicht. Im Pavillon saß er nach wie vor mit seinen gesunden Backen und dummen Veilchenaugen an seinem gewohnten Platz. Einmal begegnete ich ihm auf der Straße und spuckte vor ihm aus. Er sah aber über mich weg und that, als kennte er mich gar nicht.

„Und so wäre vielleicht mit der Zeit alles ins alte Geleis gekommen, das Lischen hätte sich wieder zurecht gefunden, und da die Verlobung heimlich gewesen war, wußten auch nur sehr wenige um die traurige Geschichte.

„Da kam plötzlich etwas ganz Unerwartetes dazwischen.

„Es ging schon gegen den Herbst; die meisten Kurgäste waren abgereist. Da sagt mir eines Morgens am Brunnen eine Kollegin: ,Weißt du schon, Rikchen, daß man gestern abend den Vater des Lischens, den alten Sekretär, halbtot in einer Droschke nach Hause gebracht hat? Es scheint, ein Schlag hat ihn gerührt. Man weiß aber nichts Näheres.‘

„Ich natürlich, sobald ich frei war, zum Lischen hin. Den Papa konnt’ ich nicht sehn, der lag in seiner Kammer, und der Doktor war bei ihm. Er lebte noch. Obwohl Lischen mehr von der Geschichte wußte, als sie mir sagen wollte, ein Schlaganfall war’s nicht gewesen. Ueber einem Stuhl im Wohnzimmer und auf dem Tisch ausgebreitet lagen seine Kleider, die waren noch ganz feucht und dazu schmutzig von Erde und Sand. Wie das gekommen, erfuhr ich nicht. Lischen saß wie versteinert auf dem Stuhl neben der Thür und horchte nur immer in die Kammer hinein, und wie dann der Doktor herauskam, schnellte sie in die Höhe und begleitete ihn hinaus. Da sprachen sie lange zusammen, und wie sie wieder hereinkam, sagte sie: ,Er wird am Leben bleiben und sogar bald wieder aufstehen können, aber ein Wunder müsse geschehen, sagt der Doktor, wenn er die Augen wieder gebrauchen könne. Nun, da werde ich eben für ihn arbeiten müssen. Ich habe auch schon zu lange die Hände in den Schoß gelegt.‘

„Sie hatte nämlich, nachdem sie ihre Stelle als Ladnerin verloren, nicht daran gedacht, wo anders unterzukommen. Auch das Spitzenklöppeln hatte sie aufgegeben seit ihrer Krankheit und war immer wie halbwach herumgegangen. Ganz aufgewacht schien sie mir auch jetzt noch nicht. Wie hätte sie sonst von dem Unglück ihres Papas reden können, ohne eine Thräne zu weinen.

„Das alles gab mir zu denken. Aber wie gesagt, von ihr brachte ich nichts weiter heraus. Erst ein paar Tage später erfuhr ich, wie’s damit zugegangen war, nicht von ihr, sondern von einem Kollegen des Schorsch, der von der ganzen Kapelle [635] es noch am meisten mit ihm hielt; denn die anderen mochten ihn nicht.

„Stellen Sie sich vor: an dem Tage, wo das Unglück passierte, waren die beiden Musikanten nach dem Nachmittagskonzert spazieren gegangen, bis Dausenau, und hatten dort in einer Wirtschaft eine Flasche miteinander getrunken. Wie sie nun wieder nach der Stadt zurückgehen und denken an nichts Arges, kommt ihnen auf einmal der Sekretär entgegen. Sie ziehen die Hüte und wollen an ihm vorbei, er bleibt aber stehen und ersucht den schönen Schorsch, seinen verflossenen Schwiegersohn, ganz höflich um eine Unterredung von fünf Minuten. Das konnte der nicht abschlagen, obwohl er sich nichts Gutes von dem knurrigen alten Herrn, den er so schwer gekränkt hatte, versah. Ich geh’ einstweilen langsam voraus, hatte der andere Musikus gesagt; er blies in der Kapelle die Klarinette. Das thut er dann auch und hört noch hinter sich, wie Lischens Vater mit ganz ruhiger Stimme in den Geiger hineinredet und der ihm eben so ruhig antwortet. Auf einmal aber – er war noch keine fünfzig Schritt von den beiden entfernt – hört er den alten Herrn schreien: ,Du Schuft! du Hund! du meineidiger Lump!‘ und kehrt sich um und sieht, wie der Alte den andern an der Brust gepackt hat und ihn schüttelt wie einen Bund Flicken. ‚Mach Reu und Leid,‘ schreit der Alte. ,Du sollst ersticken an deiner Niedertracht, elender Schurke!‘ – und packt ihn immer fester und ringt mit ihm, der so viel größer und jünger war – beiden fallen die Hüte vom Kopf – der Schorsch will sich losreißen, der andere aber hält ihn wie mit eisernen Klammern, und eben da der Klarinettist hinzuspringen und seinem Freunde helfen will, sieht er, wie die beiden, die sich fest ineinander verbissen hatten, über den Rand des Weges den Abhang hinabgleiten, auf dem schlüpfrigen Grasboden ausrutschen und nun ohne Aufhalten zum Fluß hinunterrollen.

„Der Freund ihnen nach und kommt gerade recht, den Geiger an der Schulter zu packen und zu verhindern, daß der Alte ihn mit sich ins Wasser reißt. Wie er aber auch den greifen will, macht sein Kamerad sich eben selbst von ihm los und giebt ihm noch einen Stoß, daß er vollends vom Ufer in den Fluß stürzt. Bloß ein paar Augenblicke sei er unterm Wasser verschwunden, dann wieder aufgetaucht, und jetzt hätten sich die beiden Männer ganz entsetzt bemüht, ihn ans Land zu bringen, er habe sich aber wie ein Besessener gewehrt und immer wieder seinen Feind in den Fluß reißen wollen, niemand hätte so viel Kraft bei dem alten Schreiber gesucht. Endlich sei es wie eine Ohnmacht über ihn gekommen, da habe er die Arme wie gelähmt sinken lassen, die beiden andern konnten ihn vollends aufs Ufer hinaufziehen, und als dann gerade eine leere Kutsche oben auf der Chaussee daher rollte, die von Bad Nassau zurückkehrte, haben sie den bewußtlosen alten Mann in seinen triefenden Kleidern hineingehoben, Schorsch ist zu Fuß nach Ems gegangen, der andere hat den Geretteten in seiner Wohnung abgeliefert.

*               *
*

„Der Klarinettist war eben gekommen, sich nach dem Zustand des Papas zu erkundigen. Im Auftrag seines Freundes, der sich nicht mehr in Lischens Haus getraute. Mich kannte er als ihre nächste Freundin, also hatte er kein Bedenken, mir den richtigen Hergang zu erzählen. Auch der Tochter hatte er ihn nicht verschwiegen. Und nun erklärte ich mir auch, wie sie so kalt und ungerührt das Unglück des Vaters hinnehmen konnte. Sie war böse auf ihn, weil er den Mann, den sie immer noch liebte, zu morden versucht hatte. Sie hatte nur seinen Freund beschworen, die Sache nicht vor Gericht zu bringen. Der Alte war ja auch gestraft genug; er mußte im Hinunterrollen mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufgestoßen sein, das hatte den Sehnerven verletzt, so war für die Augen, die ohnehin schon halbverdunkelt gewesen waren, keine Rettung mehr.

„Herr Georg denke nicht daran, seinen Angreifer zu verklagen, hatte der Freund erwidert. Ihm selbst würde es sehr fatal sein, wenn die Geschichte an die große Glocke käme. Und so nahm er auch mir das Ehrenwort ab, keiner Menschenseele in Ems davon zu reden, bis sich alles verblutet hätte. Sie sind der erste, dem ich’s erzählt habe. Aber Sie reisen ja auch wieder ab.

„Dann ist alles so weitergegangen, wie zu erwarten war. Seine Stelle beim Gericht hat der alte Mann natürlich verloren, da wirklich der letzte Schimmer seiner Sehkraft erloschen war. Von der kleinen Pension konnten zwei Menschen nicht gut leben. Das Lischen sah sich aber sofort nach einem Platz als Verkäuferin um, und da sie so hübsch anzusehen ist mit ihrer sanften Leidensmiene, fand sie auch bald ein Engagement und hoffte, der Papa werde inzwischen, bis sie wieder nach Hause kam, ruhig in seinem Lehnstuhl sitzen bleiben. Da aber kannte sie ihn schlecht. Er hatte noch sein altes hitziges Blut, das durch das Bad im Fluß nicht abgekühlt war. Er bestand darauf, seinem Kinde nicht zur Last zu fallen, sondern im Gegenteil, noch für sie weiterzusorgen, und wenn’s nicht durch Arbeiten geschehen könne, durch Betteln. Eine Schraube war jedenfalls bei dem Sturz in seinem Kopfe losgegangen. Er, der sonst so viel auf seine Ehre hielt, und jetzt den Hut hinhalten nach Almosen! Das Lischen warf sich auf die Kniee vor ihm und beschwor ihn, ihr die Schande nicht anzuthun. Alles umsonst. Er müsse eine anständige Mitgift für sie zusammenbringen, das sei er als Vater ihr schuldig, denn ein armes Mädchen, so schön und brav sie sei, bleibe sitzen, davon habe man Exempel. Und hartnäckig und eigensinnig wie er immer gewesen war, ließ er sich auch nicht ausreden, was er sich vorgenommen hatte. In Dausenau bei einer kleinen Schustersfamilie mußte ihm eine Kammer gemietet werden, die bezog er und nahm nichts mit als ein bißchen Wäsche und den verdorbenen Anzug, in welchem das Unglück geschehen war. Und gleich am Tage nach seinem Einzug stellte er sich an den Weg hin, genau so, wie Sie ihn auch gesehen haben, und sprach seitdem kaum noch das nötigste mit seinen Wirtsleuten oder ein paar Worte mehr mit seiner Tochter, wenn die ihn besuchte.

„Sie können sich vorstellen, wie der zu Mute war. In der Stadt schüttelten die Leute auch die Köpfe, und jeder wußte was anderes zu erzählen, wie der Herr Sekretär so heruntergekommen war. Wenn man das Lischen fragte, sagte sie nur, ihr armer Papa habe einen schweren Fall gethan und dabei das Augenlicht und den Verstand verloren. Sie hoffte noch immer, er werde dies jammervolle Leben satt bekommen. Daß sie ihm an Geld alles schickte, was sie sich selber abdarben konnte, versteht sich. Er nahm es auch in Empfang, that es aber regelmäßig in einen Kasten, zu dem er den Schlüssel bei sich führte, und sagte: ‚Mit der Zeit kommt doch was zusammen.‘ Er meinte, für ihre Aussteuer. Was er für die Miete und sein bißchen Essen brauchte, brachte ihm der Bettel ein.

„Uebrigens glaub’ ich steif und fest, daß er gar nicht unglücklich ist. Wenn man ihn so beobachtet, ohne daß er’s merkt, lacht er manchmal ganz vergnügt vor sich hin, mit einer Art schadenfroher Miene. Ich bin überzeugt, er glaubt, den Menschen, der seine Tochter unglücklich gemacht hat, in den Fluß gestürzt zu haben, so daß er darin ertrunken ist. Der Gedanke, sich an seinem Todfeind gerächt zu haben, füllt sein verwirrtes Gehirn so aus, wie andere das Bewußtsein einer guten That. Wenn er noch zu hören bekäme, Lischen habe einen braven Mann geheiratet, würde er mit keinem Könige tauschen.

„Daran ist nun leider kein Gedanke. Mehr als einer hat sich schon gemeldet, sie weist aber alle so deutlich und kurzangebunden ab, daß sie nicht zum zweitenmal anfragen. Sie selbst haben ja bemerkt, daß sie an ihrer unseligen ersten Liebe noch immer hängt. Manchmal freilich dämmert es auch in ihr auf, daß er doch vielleicht ein erbärmlicher Wicht sein möchte. Dann singt sie das Lied, das Sie damals gehört haben:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue –

aber wenn ich sie dann in diesem richtigen Gedanken bestärken will, nimmt sie gleich wieder eifrig seine Partei, und da seitdem auch von anderen liederlichen Suiten des schönen Schorsch nichts verlautet hat, bildet sich das arme Mädchen wirklich ein, er werde doch noch einmal zu ihr zurückkehren.“
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Wir hatten jetzt die Waldrestauration erreicht. Fräulein Rikchen stand still und sagte: „Bitte, lieber Herr, begleiten Sie mich nicht weiter. Sie wissen schon warum. Ich danke Ihnen, [636] daß Sie sich für meine arme Freundin interessieren und mich so lange angehört haben. Wenn man so traurige Dinge weiß und sie immer geheimhalten muß, ist es eine wahre Wohlthat, sich einmal aussprechen zu können, wo man sicher ist, es wird kein Mißbrauch damit getrieben. Und nun Adieu! Ich werde mit der Drahtseilbahn hinunterfahren. Sie gehen wohl noch ein bißchen spazieren.“

Sie reichte mir die Hand und sputete sich, nach dem Stationshause zu kommen, von wo her schon das Zeichen zur Abfahrt ertönte. Ich selbst ging langsam die weitgeschwungenen Serpentinen des Malbergs hinab, an die seltsame Geschichte denkend, die ich mir eben hatte erzählen lassen.

Daß sie eine Fortsetzung haben könne, hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Auch verging der Rest meiner Kurzeit, ohne daß ich mit den Personen, die darin eine Rolle gespielt, noch irgend weiter bekannt geworden wäre. Im nächsten Jahre aber – denn bekanntlich ist die Repetition nicht nur die mater studiorum, sondern auch die Bedingung des Heilerfolges jeder Badekur – wieder um dieselbe frühe Frühlingszeit fand ich mich zum zweitenmal an der Stätte meiner freiwilligen Verbannung ein, und als ich am ersten Abend wieder auf meinem Balkon sitzend und eine einsame Cigarre rauchend die Klänge der Kurkapelle zu mir herüberwehen hörte – es war richtig wieder das Potpourri aus „Fatinitza“! – dachte ich daran, ob ich morgen früh wohl auch wieder den gefährlichen Herzenbrecher seine Bratsche streichen und ein schlankes blasses Mädchen zu ihm hinaufschmachten sehen würde.

In dieser Erwartung fand ich mich getäuscht. Der Choral wurde angestimmt ohne Mitwirkung des schönen Schorsch, und den Platz auf der Bank, wo Lischen gesessen, hatte eine dicke, rotwangige, mit vielen Ringen geschmückte Jüdin eingenommen, die in allem das Widerspiel des verlassenen Emser Mägdleins war.

Auch nach Fräulein Rikchen spähte ich unter der Schar der Brunnennymphen vergebens, und da der Blinde von Dausenau sich in seinem stumpfsinnigen Schweigen verstockte, war auch keine Aussicht, von ihm über seine blasse Tochter etwas Näheres zu erfahren.

Ich wollte aber doch einen Versuch machen, ob ich ihm vielleicht die Zunge lösen könne, wenn ich ihn geradezu nach dem Befinden von Fräulein Lischen befragte. Die Ueberraschung, jemand vor sich zu haben, der in das Familiengeheimnis eingeweiht sei, konnte ihm immerhin eine Antwort ablocken.

So schlug ich am ersten sonnenlosen Tage den Weg lahnaufwärts ein. Als ich zu der Stelle kam, wo die Straße ein Knie macht und nun in gerader Richtung nach dem kleinen Flecken hinläuft, sah ich nicht weit von mir eine kleine runde Frauengestalt eilfertig dahinstapfen, deren Bewegungen, mehr noch der schwarze Strohhut mit dem Strauß roter Mohnblumen mich sofort an meine gute Bekannte vom vorigen Jahre erinnerte.

Ich hatte sie trotz ihres Geschwindschritts bald eingeholt.

„Guten Abend, Fräulein Rikchen!“ rief ich, noch einige Schritte hinter ihr. Augenblicklich wandte sie sich um und kehrte mir ihr rundes, munteres Gesicht zu, jetzt vom schnellen Gehen und der Ueberraschung, sich angerufen zu hören, ein wenig gerötet.

„Jesus Maria!“ sagte sie, mir die Hand hinstreckend, „Sie sind es! Nein so was! Eben hab’ ich an Sie gedacht und was Sie wohl sagen würden, wenn Sie wüßten –“

„Das trifft sich ja vortrefflich,“ erwiderte ich, „denn auch ich wollte eben versuchen, ob ich Ihre Spuren nicht wieder entdecken möchte, und deshalb sogar mit dem blinden Papa ein kleines Verhör anstellen. Beim Brunnen hab’ ich mich vergebens nach Ihnen umgesehen, Fräulein Rikchen.“

„Nix Fräulein mehr,“ lachte sie; „das lauwarme Wasser habe ich inzwischen mit kühlem Wein vertauscht. Sie müssen nämlich wissen, vergangene Michaelis habe ich geheiratet, einen Weinhändlerssohn von hier, der Vater hat ihm das Geschäft übergeben, unser Häuschen steht – (sie nannte mir Straße und Hausnummer). Wir leben sehr glücklich miteinander, und daß er früher in das Lischen verliebt war, bis sie ihm einen Korb gegeben hat, nehm’ ich ihm gar nicht übel. Im Gegenteil, wir können nun beide von ihr sprechen. Gerad’ an dem Tag, wo ich Ihnen vorm Jahr zuerst begegnet bin, in dem Wirtsgarten vor Dausenau, hat sie ihm das letzte Wort gesagt und ihm jede Hoffnung abgeschnitten. Mich dauerte der hübsche brave Mensch, wie er so betrübt abzog, aber jetzt bin ich doch froh, daß es so gekommen ist, ich wäre jetzt nicht seine Frau, und für sie hätte er doch nicht so gut gepaßt, er wäre ihr nicht ,poetisch‘ genug gewesen.“

„Wie geht es denn Ihrer armen Freundin?“ fragte ich, indem wir nun nebeneinander unseren Weg fortsetzten.

Sie blieb plötzlich wieder stehen und sah mich erstaunt an.

„Aber wissen Sie denn gar nicht –?“ rief sie mit einem Seufzer. „Freilich, wie sollten Sie’s erfahren haben! Es stand wohl in unserer Zeitung, die kommt aber nicht so weit herum. Ach, das arme Lischen! Vielleicht wäre doch alles anders gekommen, wenn sie damals meinen Fritz genommen hätte. Aber nein, es war ihr ja an der Wiege gesungen, daß sie nicht glücklich werden sollte. Gerade die Besten gehen oft leer aus, und die Wege der Vorsehung sind dunkel. Ich werde immer ganz wirr in meinen Gedanken, wenn ich mir einen Vers drüber machen will, warum es nicht nach der Gerechtigkeit auf Erden zugeht, und Fritz schilt mich dann und sagt, über so was nachzugrübeln, mache vor der Zeit alt, das müsse man unserm Herrgott überlassen. Lischen war besser als ich, die nahm alles, was ihr bestimmt war, ohne Murren hin, und wenn sie zehnmal betrogen worden wäre, ihren Leibspruch hätte sie nicht aufgegeben, nämlich den Vers:

Die Treue ist doch kein leerer Wahn,
Der Mensch kann sie üben im Leben –

ich glaub’, der ist von Goethe. Ach, lieber Herr, an dem Spruch ist sie zu Grunde gegangen.“

„Ihre Freundin ist tot? Erzählen Sie mir, bitte, Frau Rikchen – Sie wissen, wie großen Anteil ich an Ihrer armen Freundin genommen habe.“

„Ich hätte es Ihnen gern geschrieben, lieber Herr, ich wußte ja Ihren Namen nicht und Ihre Adresse. Und Sie waren schon abgereist, als es sich zutrug, kaum vierzehn Tage, nachdem ich Ihnen zum letztenmal Ihr Glas Kesselbrunnen gefüllt hatte. Da geh’ ich eines Nachmittags – es war gerade Feiertag und das Geschäft, in dem Lischen verkaufte, geschlossen – sie hatte mich abgeholt, wir wollten einen kleinen Spaziergang machen – also gehen wir untergefaßt durch die Anlagen und freuen uns an den schönen Blumen, und ich mach’ allerlei Spaß, daß sie wirklich einmal lacht – auf einmal fühl’ ich, daß es ihr durch den Arm zuckt, und sie drückt sich an mich, um sich vorm Umfallen zu schützen, und flüstert mir zu: ,Fort! Nur dort hinein!‘ und will mich nach links in eine dunkle Allee ziehen. ,Was hast du, Schatz?‘ frag’ ich ganz erstaunt. Mit dem aber seh’ ich selbst, was sie hatte: den Weg daher, gerade auf uns zu, kommt er, ganz in Wichs mit einer hellen Krawatte und den blanken Cylinder ein bißchen verwogen auf die eine Seite gedrückt. Und am Arm führt er eine gleichfalls aufgedonnerte Dame mit einem Gesicht wie seins, schön rot und weiß und dieselben kalten, hochmütigen Augen. Es war zu spät, ihnen auszuweichen, auch hätt’ ich mich geschämt, davonzulaufen wie zwei arme Sünderinnen, als wäre das böse Gewissen auf unserer Seite. ,Sei tapfer, Schatz!‘ raun’ ich dem Lischen zu und ziehe sie möglichst unbefangen vorwärts an dem Paar vorüber. Er sieht nach der andern Seite und wird ganz blaß im Gesicht, sie aber schaut nach dem Lischen ganz frech und höhnisch und sagt dann ihrem Bräutigam etwas, was ich nicht verstand. Denn ihr Bräutigam war’s, erst seit kurzer Zeit, aber die ganze Stadt wußt’ es, bis auf meine arme Freundin. Ich hatte immer auf eine gute Gelegenheit gewartet, es ihr mitzuteilen; nun war sie so damit überrumpelt worden.

„Als wir wieder allein waren, führte ich sie zu einer Bank, und da sprach ich lange mit ihr, und sie sagte kein Wort; ich wunderte mich, daß sie es nach dem ersten Schrecken so ruhig hinnahm. Die Braut nämlich war eine Witwe so in der Mitte der dreißiger, eine vom Lande, die einen reichen alten Mann geheiratet und nach ein paar Jahren glücklich zu Tode gequält hatte. Seitdem hatte sie für sich gelebt, in Niederlahnstein, ihr Ruf war nicht der beste, das kümmerte sie aber nicht, da sie Geld genug hatte und sich für sehr reizend hielt.

[637] „Wie der schöne Schorsch mit ihr bekannt geworden war, weiß ich nicht. Genug, sie vernarrte sich in ihn, und es wurde bald richtig zwischen den beiden. Auch sollte rasch geheiratet werden. ,Du siehst nun endlich,‘ sagte ich zu meiner Frenndin, ,was für ein Mensch dein Ungetreuer ist; hängt sich an so eine, bloß des lieben Geldes wegen. Denn sie ist älter als er und muß sich schon pudern und schminken, um noch zu gefallen, und was man von ihrem Lebenswandel sagt, müßte einen rechtschaffenen Mann von ihr abschrecken. Na, es ist nichts an ihm verloren. Du aber – dein armes getreues Herzchen wird hoffentlich nun endlich zur Ruhe kommen.‘

‚Ja,‘ sagte sie, und nickte ganz nachdenklich vor sich hin, ,das hoff’ ich auch. Ich will nun aber nach Hause, die Lust zum Spazierengehen ist mir verflogen. Ich muß zur Ruhe kommen, ich habe einen Schmerz im Kopf und am Herzen, der wird immer ärger, wenn ich mich nicht ganz still halte.‘

„Also standen wir auf, und ich begleitete sie nach ihrer Wohnung und redete ihr immer eifrig zu, daß sie sich’s nicht zu Herzen nehmen, sondern jetzt ein neues Leben anfangen sollte. ,Du hast recht,‘ sagte sie, ,mit dem alten Leben bin ich fertig, das war traurig genug. Aber wenn ich hier bleibe – nein, da kann ich nicht zur Ruhe kommen. Ich hab’ schon früher gedacht, ich sollt’ verreisen. Wenn’s nicht um den armen Papa gewesen wäre, hätt’ ich’s schon gethan, weit weit weg. Aber wer soll nach ihm sehen, wenn ich nicht mehr da bin?‘

„Das alles ganz verständig und ohne die geringste Aufregung, aus der ich Verdacht hätte schöpfen können.

„Ich sagte ihr, ich fände ihren Entschluß sehr gescheit, am liebsten würde ich sie begleiten, ich müßt’ aber die Saison erst abwarten. Indessen wollt’ ich statt ihrer mich um den blinden Vater bekümmern, daß ihm nichts geschehen sollte, auch wenn sie fern wäre.

„Da drückte sie mir die Hand und sagte, sie danke mir, ich sei die einzige getreue Seele, die sie auf der Welt habe, Gott werde mir’s einmal lohnen.

„Unter solchen Reden kamen wir in ihre Wohnung, eine einzelne Stube im dritten Stock eines Hinterhauses, die ihr eine gute Frau vermietet hatte. Ich fragte sie, ob ich gehen und sie allein lassen sollte. Sie bestand aber darauf, ich müßte bleiben und Thee mit ihr trinken, es sei ihr so unheimlich in dem schwülen Käfig, obwohl sie das Fenster aufgemacht hatte, so daß die Abendluft hereinwehte. Ich mußte mich auf das Sofa setzen – sie hatte noch ihre alten Möbel, so viel sie in dem einen Zimmer hatte stellen können – dann machte sie mir Thee, trank auch selbst eine halbe Tasse, setzte sich aber nicht zu mir, sondern ging beständig hin und her, wie eine ruhelose arme Seele im Fegefeuer. Denn daß sie Qualen litt, konnt’ ich deutlich sehen, trotz ihres stillen Gesichts und der weisen Sprüche, die sie von Zeit zu Zeit von sich gab, fast lauter Verse, die sie einmal gelesen hatte. Manches klang ganz unsinnig, fast wie wenn jemand aus dem Fieber spricht, ich ließ sie aber reden, denn ich merkte, daß es ihr das Herz erleichterte, und es war auch lieblich anzuhören, wie sie’s mit ihrer leisen Stimme so vor sich hin sagte, halb wie gesungen.

Darüber wurde es immer dunkler, sie zündete aber kein Licht an, vielmehr stellte sie sich ans Fenster und sagte: ,Sieh nur, wie hell es da oben ist, die Sterne kommen heraus, da ist alles so heiter und reinlich, und wenn ich in den Hof hinuntersehe, ist’s wie in einem dunklen, schmutzigen Brunnen, daß einem eine Gänshaut über den Rücken läuft. Aber gleichviel, ich darf mich nicht beklagen,

Ich habe genossen das irdische Glück,
Ich habe gelebt und geliebet!

„Armes Herz! dacht’ ich bei mir selbst, was hast du denn vom irdischen Glück genossen? – Ich mußte aber fort und fragte nur noch, ob ich nicht später wiederkommen und die Nacht bei ihr zubringen sollte. Das wollte sie durchaus nicht erlauben, umarmte mich und sagte, das mit dem Abreisen wolle sie sich noch überlegen, ich erführe jedenfalls, was sie beschlossen habe. Als ich dann schon aus der Thür war, rief sie mich noch einmal zurück und gab mir hastig die Photographie von ihrem Ungetreuen, die immer auf ihrer Kommode gestanden hatte. ,Du kannst sie verbrennen,‘ sagte sie, ,er gehört jetzt einer anderen, [638] und ich habe kein Recht mehr an ihn. Und da sind auch die beiden Ringe‘ – sie hatte sie noch immer getragen, wie eine Witwe – ,die verkaufe und gieb das Geld den Armen. Und nun – Gute Nacht, und vergiß nicht, was du mir wegen dem Papa versprochen hast.‘

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„So ging ich von ihr. Sie werden mich für sehr dumm halten, daß mir gar nichts Unheimliches ahnte. Aber wenn Sie sie gehört hätten – sie sprach so ruhig, als sie mir die Sachen gab, wie wenn nun wirklich alles aus und zu Ende wäre.

„Ach Gott, es war ja auch zu Ende! Am anderen Morgen, als die Magd des Hausherrn in den Hof kam, fand sie das arme Ding auf dem Pflaster liegen mit zerschmettertem Kopf.

„Sehen Sie, lieber Herr, das war die Reise gewesen, von der sie gesprochen hatte, und nun war sie schon an dem Ziel angekommen, wo sie Ruhe zu finden hoffte.

„Es hat aber kein Mensch geahnt, daß sie es mit Absicht so gemacht hatte. Sie war immer sehr fromm gewesen und hatte mir mehr als einmal gesagt, kein Gedanke sei ihr so schrecklich, wie in ungeweihter Erde zu ruhen und kein kirchliches Begräbnis zu erhalten. Daß sie eine große Sünde that, indem sie sich selbst das arme, trübselige Lebenslicht ausblies, darüber brachte sie ihr verzweifelter Gram hinweg. Und sie hat es ganz listig angefangen, auch die anderen zu täuschen. Die Frau, bei der sie wohnte, erzählte, sie sei noch spät zu ihr gekommen, sich ihre krampfstillenden Tropfen auszubitten, es sei ihr so beklommen und schwindlig. Da habe sie sich wahrscheinlich, als sie nicht einschlafen konnte, ans offene Fenster gestellt, um Luft zu schöpfen, und habe das Gleichgewicht verloren und sei hinuntergestürzt.

„Daß es ein bißchen anders dabei zugegangen, reimte sich außer mir wohl noch ein anderer zusammen, der aber hütete sich, auch nur ihren Namen in den Mund zu nehmen.

„So wurde sie denn kirchlich begraben, und es war eine sehr schöne Leich’, und halb Ems folgte ihrem Sarge, bloß einer fehlte, den es am nächsten angegangen hätte, der blinde Papa. Ich war gleich auf die Polizei gelaufen und hatte die Herren himmelhoch gebeten, dem alten Manne das Herzweh zu ersparen, das ihn unfehlbar umbringen mußte. Sie wollten erst nicht, da es ungesetzlich war. Ich stellte ihnen aber vor, es sei noch ungesetzlicher, einem armen Blinden den letzten Faden zu durchschneiden, mit dem er noch am Leben hing, und dann sagt’ ich, er sei ja überhaupt nicht zurechnungsfähig und so ein halber Trottel könne nicht wie ein gesunder Mensch behandelt werden.

„Das schlug endlich durch. Bis an diesen Tag weiß der Alte nicht, daß seine Tochter längst unter dem Rasen liegt.

„Am Sonntag nach ihrem Begräbnis bin ich zu ihm hinausgegangen. Ich hatt’ mir ein Geschichtchen ausgedacht, das ich ihm erzählen wollte, damit er nicht stutzig würde, wenn sie nicht mehr kam. Es ist mir sauer genug geworden, es ohne zu schluchzen vorzubringen. Eine Dame aus Frankfurt a. M., die in dem Laden was eingekauft, habe so großes Gefallen an ihr gefunden, daß sie sie mit nach Hause nehmen wollte, um ihre Kinder zu erziehen. Es sei eine reiche Familie, und sie kriege einen sehr guten Lohn, und deshalb habe der Prinzipal auch eingewilligt, sie auf dem Fleck zu entlassen, um ihrem Glück nicht im Wege zu stehen. Denn sie habe schon am nächsten Morgen mit der neuen Herrschaft abreisen müssen und daher nicht mehr von dem Papa Abschied nehmen können, schicke ihm nur noch einen herzlichen Gruß und werde bald an ihn schreiben.

„Der Alte schien sehr vergnügt, daß es seiner Tochter so gut ginge, und hatte auch keinen Verdacht bei der plötzlichen Abreise. Nach vierzehn Tagen kam ich dann wieder zu ihm und las ihm einen Brief vor, den ich selbst verfaßt hatte, worin das Leben in dem Frankfurter Hause und die Familie selbst, Eltern und Kinder, genau beschrieben waren. Auch darüber war er sehr froh und trug mir wieder Grüße an das Lischen auf. Sogar Geld konnte ich ihm noch von Zeit zu Zeit schicken, angeblich von ihrem ersparten Lohn. Es kam aber von dem Erlös ihrer Möbel und Siebensachen und wird noch eine Weile reichen.

„Seit ich nun verheiratet bin, komme ich nur noch unter der Woche hinaus, am Sonntag machen wir einen Ausflug oder Spaziergang, darauf hält mein Fritz. Manchmal vergehen drei Wochen, bis ich die Zeit finde, aber der Alte denkt sich nichts dabei, als daß seine Tochter eben nicht früher geschrieben habe. So will ich auch jetzt einmal wieder nach ihm sehen, und Sie können ihn beobachten, wie gläubig und zufrieden er meine unschuldige Flunkerei hinnimmt.

„Sehen Sie ihn da stehen, immer an demselben Fleck, an seinen Meilenstein gelehnt? Er hat jetzt einen besseren Rock, der alte fiel in Fetzen. Ich habe ihm gesagt, das Lischen bestehe darauf, daß er sich anständiger kleide, und alles, was von ihr kommt, ist ihm heilig.“

Wir waren jetzt nahe zu dem Blinden herangekommen. Er hatte sich seit vorigem Jahr wenig verändert, das Haar war nur noch grauer, die Furchen unter den Augen und am Munde etwas schärfer geworden.

„Guten Abend, Herr Sekretär!“ sagte meine Begleiterin. „Wie ist’s Ihnen ergangen seit dem letzten Mal? Immer noch das böse Reißen in den Beinen? Sie sollten doch den Doktor befragen und vor allem einmal eine Woche zu Hause bleiben im warmen Bett.“

Der alte Mann zog die Brauen finster zusammen und schüttelte den Kopf. Noch auf einige andere freundliche Reden gab er nur mit ärgerlichem Knurren Antwort, sein Gesicht erheiterte sich erst, als Frau Rikchen ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche zog und ihm daraus vorlas, was angeblich sein Kind geschrieben hatte: es gehe ihr immer gleich gut, sie lasse den Papa grüßen und hoffe, ihn auch einmal besuchen zu können. Jetzt lasse ihre Herrschaft sie noch nicht fort, die Kinder hingen so an ihr.

Der Alte lachte mit einem seltsamen Ausdruck vor sich hin, wie wenn er sagen wollte: Kein Wunder! An meinem Lischen hängen alle guten Menschen! – dann streckte er die Hand nach dem Papier aus, befühlte es von allen Seiten und drückte es endlich an den Mund.

Die junge Frau wischte sich die Augen und nickte mir zu. „Da ist ein Herr mit mir gekommen,“ sagte sie, „der hat Ihre Tochter in Frankfurt kennengelernt, Herr Sekretär, und sie hat ihm noch mündliche Grüße an Sie aufgetragen. Nicht wahr, Herr?“

Sie machte mir Zeichen, daß ich nicht stumm bleiben solle. „Ja, Herr Sekretär,“ sagte ich etwas beklommen, „ich kann alles bestätigen. Ihre Tochter ist wohl aufgehoben, da, wo sie ist, es kann ihr nichts Böses geschehen, und gewiß denkt sie an ihren lieben alten Vater und würde ihn gern besuchen, wenn man sie fortließe. Sie können ihretwegen ganz ruhig sein.“

Der Alte grinste wieder, bewegte mühsam den breiten Mund mit der hängenden Unterlippe und sagte mit einer rauhen, ganz eingerosteten Stimme: „Danke! danke schön!“ Dann verfiel er wieder in sein stumpfes Brüten.

Wir nahmen Abschied von ihm, und wie wir eine Strecke weit von ihm entfernt waren, sagte die junge Frau: „Wird uns unser Herrgott die Lüge nicht verzeihen, die den armen Alten nun wieder auf vierzehn Tage glücklich macht? Glücklicher gewiß als den schlechten Menschen, der ihn um sein Kind gebracht hat, die harten Thaler seiner Frau. Sie müssen wissen, das Ehepaar hat sich in Ems niederlassen wollen, aber niemand ging mit ihnen um, man verachtete ihn zu sehr, da doch nach und nach seine Schurkerei gegen das Lischen unter die Leute kam. Dann verzogen sie noch vor Schluß der Saison nach Wiesbaden; auch dahin folgte ihnen der schlechte Leumund, und um Weihnachten hört’ ich, sie seien übers Meer gezogen, nach Amerika. Aber seiner Strafe konnte er doch nicht entfliehen, die zog mit ihm, in Gestalt seines Weibes, das ihn quält mit ihrem Geiz und ihm aus Eifersucht die Hölle auf Erden schafft. O, das Lischen hatte einen prophetischen Geist! Entsinnen Sie sich noch ihres Liedes, worin es immer hieß:

Nur Geduld! Dich trifft noch bittre Reue,
Wenn ich lange, lang’ schon nicht mehr bin!

Das ist nun früher, als sie dachte, in Erfüllung gegangen!“