Der Artushof der Kurländerinnen

Textdaten
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Autor: Ernst Hellmuth
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Titel: Der Artushof der Kurländerinnen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 571–574
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Artushof der Kurländerinnen.

Von Ernst Hellmuth.

Das bescheidene Herrenhaus des Gutes Löbichau, unweit Altenburg, an der Straße nach Ronneburg gelegen, war in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem ansehnlichen Schlosse ausgebaut worden. Ein schöner Park umgab es, der Hauptreiz der sonst landschaftlich nicht eben hervorragenden Gegend; Feld, Wald und Wiesen rings umher trugen das Gepräge sorgfältiger Kultur, die zugehörigen Dorfschaften glänzten durch Anstand und Sauberkeit. Die neue Landstraße von Altenburg her wurde zur Sommerszeit selten leer von Wagen, alle besetzt mit frohen Gästen, die nach dem Schlosse eilten; sehr viele von diesen Ankömmlingen waren eingeladen, sehr viele auch nicht, und doch durften auch diese überzeugt sein, die liebenswürdigste Aufnahme zu finden. Hundert Betten standen stets für Gäste bereit, und ging es auch ein oder das andere Mal etwas eng her, so verdarb das niemand die gute Laune. In der Welt draußen mochte der Krieg toben, mochte ein zu Boden getretenes Volk nach Erlösung seufzen, in diesem abgeschiedenen Winkel herrschte die reinste Idylle. Hier gaukelte in Garten und Park verliebter Sinn um lockende Blumen, schwärmte die Schöne am Arm ihres Verehrers, vergnügte sich jung und alt bei ländlichen Festen oder lauschte wohl auch im Salon dem Vortrag einer literarischen Berühmtheit.

Dieser Sitz der Grazien und Musen war die Residenz der [572] Herzogin Dorothea von Kurland, den sie 1796 käuflich erworben hatte. Bis zum Jahre zuvor noch hatte sie mit ihrem Gemahle Peter Biron den Thron des baltischen Herzogthums Kurland eingenommen, da aber hatte Rußland diesen Thron umgestoßen und den Herzog aus dem Lande vertrieben. Der enterbte Potentat tröstete sich mit den Millionen, die er wohlweislich vorher aus russischem Machtbereich gebracht und in schlesischen und nordböhmischen Gütern angelegt hatte; ihm gehörte unter anderem die Herrschaft Sagan, einst Wallensteins Besitz, und der König von Preußen verlieh ihm als Pflaster auf seine Wunden den alten Titel eines „Herzogs von Sagan“. Noch fünf Jahre führte der bejahrte Herr ein von künstlerischen und anderen Genüssen angenehm ausgefülltes Leben, dann starb er 1800 und hinterließ sein großes Vermögen seiner Gemahlin Dorothea und seinen vier Töchtern.

Die Herzogin Dorothea war bei dem Tode ihres Gemahls, dessen dritte Frau sie gewesen war, noch nicht vierzig Jahre an. Dem angesehenen Geschlechte der Reichsgrafen von Medem entsprossen, hatte sie dem Herzog Peter mit neunzehn Jahren die Hand gereicht. Jetzt war die sprudelnde Heiterkeit ihrer Jugend einer gütigen Freundlichkeit gewichen; mit der Würde einer vornehmen und an Huldigungen gewöhnten Dame des „ancien régime“ verband sie große Liebenswürdigkeit und Herzensmilde. Noch immer besaß sie Temperament und weiblichen Reiz genug, die Männer für sich persönlich einzunehmen; ein vollkommener Wuchs und eine anmuthige Fülle zeichneten sie aus, und daß sie vom Schminken und Haarefärben nicht lassen wollte, konnte ihr unter Kindern ihrer Zeit nicht schaden, da sie damit doch nur der Mode des Tages folgte. Ihr verständiger Rath galt auch bei politisch gewiegten Männern; ihre treue Anhänglichkeit in der Freundschaft, ihre gastliche Bereitschaft, den ererbten Reichthum auch von anderen mitgenießen zu lassen, sammelten und erhielten ihr einen großen Kreis von Verehrern und Verehrerinnen, wo immer sie ihre Residenz aufschlug.

Denn nicht das ganze Jahr war sie in Löbichau. Bald weilte sie auf Schloß Sagan in Schlesien oder auf ihren böhmischen Gütern, dann wieder in Karlsbad, wo sie ein Haus besaß, oder – zumal während der Winterszeit – in Berlin oder Paris. Merkwürdig! Sie schwärmte für die Königin Luise und doch gleichzeitig für den Kaiser Napoleon! Sie sah anfänglich in diesem ein großes Werkzeug der Vorsehung, und als sie erst Josephine, dann den bewunderten Cäsar selbst persönlich kennenlernte, war sie überglücklich. Sie hätte ihn heirathen mögen, äußerte sie.

Herzogin Dorothea von Kurland.

Löbichau war Sommersitz. Dort hielt sie sich in der schönen Jahreszeit kürzere oder längere Zeit auf, und ihre anmuthigste Gesellschaft bildeten stets ihre Töchter. Allerdings waren drei derselben bald nach dem Tode des Vaters vermählt worden, nach kurzer Frist aber an den mütterlichen Hof zurückgekehrt. Die älteste, Wilhelmine, durch Erbschaft Herzogin von Sagan, hatte einen Prinzen von Rohan geheirathet, sich jedoch bald wieder von ihm scheiden lassen, um mit dem russischen Fürsten Trubetzkoi eine zweite Ehe einzugehen und auch diese nach kurzer Zeit wieder zu lösen. Eine derartige leichte Auffassung der ehelichen Bande war damals leider etwas Alltägliches in den Kreisen der vornehmen Welt, und wenn man je aus Anstandsrücksichten oder um äußerer Vortheile willen eine förmliche Trennung unterließ, so gaben sich doch die Gatten beiderseitig volle Freiheit der Person zurück. So war es bei den beiden anderen verheiratheten Töchtern der Herzogin geschehen. Die eine, Pauline, im Gegensatz zu ihrer Mutter eine Gegnerin des Korsen, grollte ihrem Gemahl, dem regierenden Fürsten von Hohenzollern-Hechingen, weil er sich mit einer ihr widerlichen Aufdringlichkeit um die Gunst des Franzosenkaisers bewarb und im Jahre 1806 gegen sein eigenes Geschlecht die Waffen trug; die andere, Johanna, faßte gegen den ihr angetrauten Herzog Acerenza aus dem Hause Belmonte-Pignatelli aus anderen Gründen Mißachtung – kurz, beide Frauen lebten in völliger Ungebundenheit ihren Neigungen.

Alle drei aber waren jung und reizend genug, alten und jungen Männern die Herzen und die Köpfe zu verwirren, und sie liebten es, Schmachtende zu ihren Füßen zu sehen. Vor allem galt dies von Johanna von Acerenza. Sie war eine zarte Erscheinung, mit einem holden, von reichen blonden Locken umflossenen Gesichtchen, die feine Nase stark gebogen über einem lieblichen kleinen Mund, so daß sie aussah „wie ein Papagei, der eine Kirsche ißt“. Gentz, der verhätschelte Liebling der Damen, kam 1806 mit ihr in Prag zusammen und verliebte sich derart in sie, daß er an seinen Freund Adam Müller schrieb: „Die Reize dieser Frau machten mich ganz vergessen, daß es jenseit der Höhen um Prag eine Sonne und Sterne gebe.“

In dem ehemännerlosen Frauenkreise von Löbichau wuchs auch die vierte Tochter, Dorothea, auf und entwickelte sich zu einer nicht minder berückenden Schönheit. Ein Zeitgenosse schildert das damals dreizehnjährige Mädchen, dessen dunkle unergründliche Augen besonders wundersam wirkten. Stirn und Nase waren von vollendetem griechischen Ebenmaß, die Lippen von klassischem Schnitt, das Oval des Gesichts hatte die feinste Zeichnung; das schwarze seidenweiche Haar trug sie einfach gescheitelt und hinten in einen Knoten geschürzt. Und bald fand sich denn auch für sie ein vornehmer Bewerber.

Im Jahre 1808, nach dem Kongreß von Erfurt, erhielt die kurländische Familie in ihrem Sommeridyll Löbichau plötzlich einen überraschenden Besuch. Es war der Kaiser Alexander I. von Rußland in eigener Person mit glänzendem Gefolge. Die Herzogin schwelgte in der Ehre dieses hohen Besuchs, der für sie um so bedeutsamer war, als Alexanders Großmutter Katharina erst vor 13 Jahren den Kurländer seines Thrones entsetzt hatte. Bald sollte sie denn auch erfahren, daß der Zar nicht ohne politische Absichten nach Löbichau gekommen war, wenn sie auch nach einer anderen Seite zielten, als Dorothea vielleicht vermuthet hatte. In Erfurt hatte nämlich der einflußreiche Minister Napoleons, der geriebene Staatsmann Talleyrand, den russischen Kaiser um den Freundschaftsdienst gebeten, für den Grafen von Perigord, Talleyrands Neffen, sich bei der Herzogin Dorothea um die Hand ihrer jüngsten Tochter zu verwenden. Der Kaiser von Rußland als Freiwerber, die Aussicht auf eine nahe Verbindung mit dem allmächtigen französischen Hofe – die Herzogin hätte kein Kind ihrer Zeit sein müssen, wenn sie einer solchen Lockung widerständen hätte. Rasch wurde denn auch die Sache in Ordnung gebracht und die nunmehr fünfzehnjährige Dorothea dem französischen Grafen versprochen. Im Januar 1809 traf derselbe mit seinem Vater in Löbichau ein und schon im April wurde die Trauung zu Frankfurt a. M. durch den Fürstprimas von Dalberg vollzogen. Die Mutter begleitete dann die Neuvermählte nach Paris, um sie mit eigener Hand in die große Welt einzuführen, die ihr bis dahin denn doch noch fremd geblieben war.

Eine merkwürdige Genossin des in reichem Wechsel sich immer neu ergänzenden Gesellschaftskreises der Kurländerinnen war die ältere Schwester der Herzogin Dorothea, Elisa von der Recke. Auch sie war in jungen Jahren in Kurland unglücklich vermählt worden und hatte von ihrem Manne nichts als den Namen behalten. Zumeist lebte sie in Dresden und führte da ein bescheidenes, doch streng vornehm geordnetes Hauswesen. Ihre mystischen Neigungen, denen sie als junges Weib gehuldigt und mit denen einst der berühmte Cagliostro sein Spiel getrieben, hatte sie durch ihre Klugheit mehr und mehr überwunden und auf das Aufsehen, welches sie durch eine 1787 herausgegebene Schrift „Der entlarvte Cagliostro“ erregt hätte, that sie sich nicht wenig zu gute. Einer herrschenden Geistesrichtung ihrer Zeit folgend, versenkte sie sich in eine fromme Romantik, gab Reisebeschreibungen heraus und dichtete geistliche Lieder. Ihr Auftreten trug stets den Stempel [573] majestätischer Würde, immer sprach sie mit Pathos, immer fühlte sie sich aus der Prosa des Lebens entrückt in höhere reinere Sphären – die „hohe Elisa“ nannte man sie unter den Freunden.

Da sie keine eigenen Kinder hatte, so hielt sie es für ihre Christenpflicht, Pflegetöchter anzunehmen, und sie entsprach damit überdem einer vornehmen Mode ihrer Zeit, Kinder aus guten Familien, die vielleicht verarmt waren, zu sich zu nehmen, zu erziehen und später möglichst gut zu verheirathen. Nicht weniger als sechzehn solcher Pflegetöchter soll Frau von der Recke auf diese Weise nach und nach an den Mann gebracht haben. Fromme Theologen, ernste Philosophen, sittsame Dichter erfreuten sich ihres Umgangs und ihrer Huld. Unter den letzteren war es der brave Tiedge, der schließlich ihr besonders bevorzugter „Seraph“ wurde. Immer war er in ihrem Gefolge, in ihrem Hause zu finden, aber nie hätte man sich ein erdenmenschliches Liebesverhältniß denken dürfen zwischen ihr, der Hehren, Erhabenen, und dem stillen bescheidenen Dichter der „Urania“ und der vielgesungenen sentimentalen Liedchen „An Alexis send’ ich dich“ und „Schöne Minka, ich muß scheiden“. Alt und grau wurde die „hohe Elisa“, alt und grau ihr Minnesänger, der zeitlebens neben ihr hinging mit der Leier am blauen Bande und ihre zarten Saiten für seine Herrin ertönen ließ. So sah man diese beiden auch monatelang in Löbichau als Genossen der kurländischen Kolonie, so schwebten sie selbander dem Greisenalter zu, bis er 1833 an ihrer Bahre seine Trauergesänge anstimmen mußte. Acht Jahre lebte er dann noch allein von seinem verblassenden Dichterruhm und von der Jahresrente, die sie ihm ausgesetzt hatte.

Mit einem ganz eigenartigen Geschick verstand es die Herzogin Dorothea, geistig hervorragende Menschen an sich zu ziehen und so ihre Tafelrunde zu einer Art schöngeistigen Artushofes zu gestalten. Schriftsteller, Gelehrte, Künstler wurden von ihrem Zauber gefesselt, ja selbst die damals noch nicht für gesellschaftsfähig geltenden Schauspieler waren bei ihr zu Gast. An ihrem Theetisch plauderte sie mit Iffland, unter ihrem Dache schlief gar manche Nacht der junge Feuerkopf Theodor Körner, ihr Pathenkind, mit dessen Familie in Dresden sie schon lange Bekanntschaft geschlossen hatte. Theodor Körner war überhaupt ihr Liebling; sein erblühender Ruhm als dramatischer Dichter entzückte sie, seine sprudelnde Unterhaltung, seine gewandten Stegreifgedichte, die Vorträge seiner dramatischen Erstlinge hatten ihr manchen Tag in Löbichau verschönt. Als der Befreiungskrieg ausgebrochen und Körner als freiwilliger Lützowscher Jäger auf einem der ersten Streifzüge im Juni 1813 schwer verwundet worden war, ließ sie ihn zur Pflege in ihr Haus nach Karlsbad schaffen; er erholte sich dort überraschend schnell, um sogleich von neuem für die Befreiung des Vaterlandes ins Feld zu ziehen – diesmal dem Tode entgegen.

Schloß Löbichau.
Nach einer Zeichnung von Olof Winkler.

Mit Dorotheas Segen war er gegangen. Denn seit dem russischen Feldzuge haßte sie in dem einst bewunderten Eroberer einen Feind der Menschheit. „Tausend und tausend unschuldig Unglückliche sehe ich untergehen in dem allgemeinen Verderben, welches von dem Willen eines Einzigen, eines Sterblichen ausgeht, der die Erde mit Blut färbt. Ich begreife die Heldennatur nicht. Ein Mann, dem die Macht verliehen ward, der Segen der Menschheit zu sein, wie kann er nach dem Fluche greifen, um ihn von einem Ende der Welt zum andern zu tragen?“ So schrieb sie in ihr Tagebuch.

In jenem schwülen Sommer 1813 hielt sich die Herzogin Dorothea auf ihrem Schlosse Ratiborschitz in Böhmen auf. Als Preußen und Rußland während des Waffenstillstands mit Oesterreich unterhandelten, um es zum Anschluß an die Verbündeten zu bewegen, da setzte die Herzogin alle Hebel ein, Metternich für das Bündniß zu gewinnen; ihre Briefe an ihn glühten von Begeisterung für die Befreiung der Völker von Napoleons Tyrannei. Ratiborschitz wurde eines der Hauptquartiere der Verhandlungen, Kaiser Alexander, preußische, russische, österreichische Bevollmächtigte fanden sich ein, Kuriere und Ordonnanzen flogen ab und zu. Gentz, der Vertraute und Sekretär Metternichs, schrieb am 23. Juni 1813 an Rahel Varnhagen: „Die vier größten Souveräne Europas mit ihren Kabinetten, Ministern, Höfen und sechs- bis achtmalhunderttausend Mann Truppen sind hier auf einem kleinen Strich Landes konzentriert, und in diesem Augenblick versinken Paris, Wien, Berlin, Petersburg gegen Gitschin, Reichenbach, Ratiborschitz, Opotschna in nichts. Jetzt eben hat der Kaiser Alexander mit uns in Ratiborschitz bei der Herzogin gespeist; hier haben die ganze vorige Woche bald Metternich, bald Stadion, bald der Staatskanzler Hardenberg bald mehrere zusammen gehaust. Hier sind große Dinge getrieben worden. Humboldt ist mit Hardenberg hierhergekommen, hat sich ebenfalls hier fixiert und bleibt, bis das Weitere zur Reife kommt.“

Und „das Weitere“ kam zur Reife. Der große Krieg brach aus, Oesterreich stand an der Seite der Alliierten. Und als das Napoleonische Kaiserreich zusammengebrochen war, als die Völker aufathmeten nach dem ungeheuren Druck, der zwei Jahrzehnte lang auf ihnen gelastet, da versammelte sich zu Wien jener Kongreß von Fürsten und Staatsmännern, um über die neue Ordnung Europas zu berathen, aber auch, um in einem Strudel von Lustbarkeiten sich auszutoben. Feste reihten sich an Feste bei Kaisern, Königen, Fürsten und hohen Diplomaten. Die wahren Königinnen dieser Feste aber waren die vier kurländischen Prinzessinnen, während die Herzogin Mutter in Paris sich aufhielt, um dort am neuen Hofe der Bourbonen ihre weibliche Diplomatie zu entfalten.

Als nach der Rückkehr Napoleons von Elba Kongreß und Festgesellschaften in Wien jählings ein Ende nahmen, wartete die ganze kurländische Familie – auch die Mutter war aus Paris herbeigeeilt – in Karlsbad den Verlauf der Dinge ab. Ein Jahr später stattete Dorothea mit ihrer Schwester Elisa der preußischen Königsfamilie in Berlin einen Besuch ab, und wie vom Hofe, so wurde sie auch von der Bevölkerung als eine der gefeiertsten Frauen ihrer Zeit mit großer Auszeichnung empfangen.

Dann wieder sammelte sich der Artushof auf Schloß Sagan, wo die reizendsten Feste, häufig mit Aufführungen von Opern und Schauspielen verbunden, gegeben wurden. Auf dem prächtigen Theater, das hier schon der kunstliebende Herzog Peter hatte einrichten lassen, spielte wie einst zur Rokokozeit auf den französischen Edelsitzen die Familie des Hauses selber mit in der Komödie. Die Fürstin Pauline von Hohenzollern sang mit ihrer schönen Altstimme und bewies sich auch als Schauspielerin ersten Rangs. Wie sie die Maria Stuart so ergreifend spielte, daß die Zuhörer tief erschüttert in Thränen schwammen, so konnte sie wieder in Operetten durch ihre Drolligkeit alles in Entzücken versetzen.

Löbichau aber blieb, was es seit zwanzig Jahren schon für die Kurländerinnen gewesen war, die anmuthsvolle Sommeridylle. [574] Alle Jahre traten da neue interessante Gäste in den geistreichen, dem Weltlärm entrückten Kreis. Man sah dort den jungen, aber schon in geistlicher Würde sich fühlenden Berliner Prediger Marheineke ernste Gespräche mit der Herzogin Dorothea und ihrer Tochter Wilhelmine führen, daneben einer schönen Französin seine feurigen Huldigungen erweisen, des Abends an der Tafel des Hauses mit seinem angenehmen Organ den heiteren Erzähler, bei den ländlichen Vergnügungen den regen Theilnehmer spielen. Der Staatsrath Körner, der Vater des Dichters, kam mit seiner Frau und mit Tante Dorchen Stock, der talentvollen und hübschen Malerin, welche es Goethe nicht vergessen konnte, daß er einst ihrem Vater gerathen, seine Töchter nur gute Köchinnen und nichts weiter werden zu lassen. Sodann der Präsident Feuerbach, der berühmte Kriminalist, der in Liebe für die Fürstin Pauline erglüht war. Auch der Landesvater stellte sich ein, der Herzog August von Gotha, dem Altenburg damals noch zugehörte, ein seltsames Original, dessen barocke Einfälle und Witze sein thüringisches Volk höchlich belustigten. Zu Hause ging er geschminkt und in Weiberkleidern, in Karlsbad erschien er in einem Schlafrock aus weißem Atlas am Brunnen und setzte die Damen durch seine Schnurren und Glossen in Verlegenheit. „Was machen Sie da für ein hübsches Nierenstück?“ sagte er zu einem Fräulein, das einen Torso nachzeichnete. Den Namen seines Kammerherrn „Seebach“ faßte er gern in die Charade: „Mein Erstes ist naß, mein Zweites ist naß und mein Ganzes ist trocken.“

Ein großer Tag für Löbichau war es, als Jean Paul dort einzog. Im Mai 1819 erschien er und mit ihm sein vielgeliebter Pudel. Der Dichter war damals ein Fünfziger, ein großer starker Mann mit einem gerötheten Gesicht und einer Brille auf der Nase. Er wurde von den Damen wie ein Gott empfangen und in sein Zimmer geführt, das mit Blumen überfällt war. Alle Tage, alle Abende wollte man von seinem olympischen Geist eine Portion haben, und er gab sie gern, schrieb des Nachts Aphorismen, um sie morgens den Fürstinnen vorzulesen. Abends beim Thee, den er nicht mochte, weshalb man ihm allein Geraer Doppelbier kredenzte, trug er der Gesellschaft Dichtungen von sich vor, mit einer gewissen Schwerfälligkeit des Ausdrucks und oft von jener geheimnißvollen Dunkelheit der Gedanken, welche auf die Frauen einen so unwiderstehlichen Reiz ausübt. Aus den Aufzeichnungen von Personen jenes Kreises erfährt man auch, daß er beim Lesen Erklärungen von Ausdrücken in der naivsten Art einzuflechten liebte, z. B.: „Ein goldbeschwingter Engel – das ist ein Engel mit goldenen Flügeln“, oder: „Die rosige Morgendämmerungsstunde – das ist die Zeit des Tagesanbruchs“. Marheineke und Feuerbach geriethen manchmal darüber in stille Verzweiflung.

Die Morgenvorlesungen fanden meist im Freien statt, ein halbes Stündchen von Schloß Löbichau vor dem reizenden Waldhause Tannenfeld. Dort saß der Dichter auf dem Vorbau an der offenen Thüre nach der Freitreppe, und die jungen Mädchen hatten die Stufen derselben besetzt. Er rührte immer ihre Herzen, und der Weihrauch, den man ihm freigebig spendete, machte ihn ebenso glücklich wie die feinen Wohlgerüche, welche ihm die Herzogin Wilhelmine in sein Taschentuch sprühte. Bei den ländlichen Spielen des Nachmittags war er der Aufgeräumteste von allen und ließ es sich beim Blindekuhspielen nicht nehmen, seine Gefangenen herzhaft abzuküssen. Tiedge besang ihn, die Fürstinnen ersannen allerlei Auszeichnungen für ihn, Gartenfeste, Komödien und einmal auch ein richtiges Artushoffest. Präsident Feuerbach gab sich mit Hilfe einer schwarzseidenen Schürze das Ansehen eines Ordenskapitelsmeisters, alle Damen trugen weiße duftige Kleider mit röthlichem Bänderschmuck, die Herzogin Dorothea ließ ihr fürstliches Diadem von ihrer schönen Stirne leuchten. So stellten sie sich im Hintergrunde des Schloßsaals auf, den drei Kronleuchter mit Helle und Glanz erfüllten. Unter feierlichen Musikklängen öffneten sich die Thüren, und aus der Tiefe des anstoßenden Zimmers kam der damals in der Gesellschaft gern gesehene Gelegenheitsdichter Schink mit reichem Gefolge hervorgeschritten. Die Musik schwieg. In stilvoller Festrede erklärte man ihm seine Ernennung zum Minnesänger „Frauenlob dem Zweiten“, überreichte ihm das Diplom, und kniend vor der Herrin des Hauses, empfing er aus ihrer Hand den Lorbeerkranz auf seine Stirn. Die ganze Gesellschaft sang dann Tiedges eigens zu diesem Zwecke gedichtetes Festlied mit den etwas damogogisch angehauchten Strophen:

„Der Lorrbeer ziert den edlen Meistersänger,
Geweiht von Frauenhand;
Ein solcher Kranz hält doch ein wenig länger
Als eitler Ehrentand!

Ein Ordensband, wenn’s einen Thoren zieret,
Was ist es mehr als Band?
Es macht ihn doch nicht weis’ und strangulieret
Ihm vollends den Verstand.

Was ist am Thron der Tyrannei zu finden?
Wenn ihr es recht beseht:
Ein goldner Zwang und hochgebor’ne Sünden
Und etwas Majestät.“

Am liebsten wäre Jean Paul anstatt des bescheidenen Schink selbst der gekrönte Frauendichter gewesen, und deshalb entschädigte man ihn durch eine noch schönere Huldigung. Die kleine Insel im Gartenpark ward mit vielen Lichtflammen „gleich feurigen Blumensternen“ erleuchtet, „eine Insel der Seligen mit zauberhaftem Geisterwald“, um mit Tiedges Worten zu reden, und hier wurde der wohlgenährte behäbige Dichter des „Hesperus“ seiner „Vergötterung“ zugeführt. Seine Wonne war groß, denn die Ueberraschung war vollständig gelungen. Kein Wunder, daß auch Jean Paul für Löbichau schwärmte. „Die dort verlebte Zeit,“ sagt er, „mißt mit einer Sanduhr, worinnen der Sand so fein und durchsichtig ist, daß man ihn nicht laufen sieht und hört, und man kommt eher zu jedem andern als zu sich selbst.“

Und nun noch ein letztes Bild aus diesem Kreise! Einmal fehlte es für einen geplanten Chorgesang an einer schönen Männerstimme. Ein vorurtheilsloser Freund des Hauses besann sich nicht lange und holte aus der Redaktion von „Pierers Encyklopädie“ zu Altenburg einen ihm bekannten jungen Schriftgelehrten herbei, der die Lücke ausfüllen sollte. Der Mann machte freilich, als er kam, einen eigenthümlichen Eindruck auf die aristokratische Gesellschaft, denn er trug sich in altdeutscher Burschentracht, turnermäßig, mit umgeklapptem breiten Hemdkragen, ein mächtiger Vollbart umrahmte sein Gesicht; kurz, er war eine jener Gestalten, wie sie seit der kurz zuvor erfolgten Ermordung Kotzebues durch den Jenenser Burschenschafter Sand das Entsetzen der Regierungen bildeten. Und der junge Holsteiner – August von Binzer hieß er – hatte zudem noch eine ganz staatsgefährliche Vergangenheit hinter sich. Er war 1817 mit dreißig Kieler Kommilitonen zum Wartburgfest gezogen gekommen, zu Fuß, nach Turnerweise, mit einer Guitarre an blauem Bande, das ihm seine Herzensdame mitgegeben. Er hatte ferner ein paar der kräftigsten und beliebtesten Burschenlieder gedichtet und sogar die Musik dazu gemacht: jenes feurige „Stoßt an, Jena soll leben“, und das bewegliche Grablied auf die aufgelöste Burschenschaft „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus“. Aber die Herzogin von Kurland schlug doch keine drei Kreuze vor ihm, sie erfreute sich an seiner schönen Stimme, sie hörte seine Burschenlieder mit Entzücken, seine freisinnigen Bekenntnisse mit Theilnahme an und gewann ihn bei längerer Bekanntschaft so lieb, daß sie gern eine ihrer Pflegetöchter mit ihm vermählte.

So wurde auch Hochzeit auf Löbichau gefeiert. Ja, die Herzogin Wilhelmine von Sagan gab für ihre Person selber Veranlassung dazu, indem sie sich als eine schon alternde Dame noch in dritter Ehe mit einem Grafen von der Schulenburg vermählte, Bei solchen Gelegenheiten traten immer auch die Bauern der Herrschaft Löbichau auf die Bühne, hielten in weißen Röcken und Hosen ihren Aufzug und überreichten auf Atlasbändern selbstverfertigte Huldigungsgedichte, wie sie die Herzogin Dorothea besonders liebte und wofür sie sich allemal in herzlichen Anreden bedankte.

Als ihre älteste Tochter, die Gräfin von der Schulenburg, mehr auf ihrem Schlosse zu Sagan sich aufhielt, da ward es einsamer auf Löbichau, Auch begann die sechzigjährige Herrin des schönen Besitzes zu kränkeln, und überraschend erfolgte im August 1821 ihr Tod. Wie sie gewünscht, wurde sie in einem Hain bei Löbichau begraben. Die Feste hörten damit auf, das Feenleben versank. Keine Gesänge, keine Tänze, kein Frohsinn mehr, der mit Rosenflügeln über Löbichau schwebte und sein reiches Füllhorn über eine buntschillernde, sorgenlose Gesellschaft ausgoß. Den Herrensitz erbte die Herzogin Johanna von Acerenza, und sie behielt ihn bis in ihr Greisenalter. Aber was er in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gewesen war, das wurde er nicht mehr.