Der Abschiedskuß
[772] Der Abschiedskuß. (Zu dem Bilde S. 761.) Sie gehört nicht zu den vergnügungssüchtigen Müttern, die junge Frau im lichten Putz und kostbaren Pelzmantel; sie bleibt am liebsten, auch wenn sie ihr herziges Mädelchen zu Bett gebracht hat, daheim und findet das behagliche Geplauder mit ihrem Mann am eigenen Theetisch viel unterhaltender als das Gespräch in Gesellschaft. Ehe ihr Liebling entschlummert, pflegt sie noch einmal an sein Bett zu gehen, zu einem letzten Gutenachtkuß. Darum ist der Abschied, wenn Mutter einmal mit dem Vater doch in Gesellschaft geht, eine sehr schwere Sache. Ach, wie gern möchte Klein-Gertrud die schöne Mama dabehalten – sie giebt sich kaum halb mit dem Versprechen zufrieden, daß der Papa etwas sehr Süßes für sie beim Nachtisch einstecken wird! … Und obgleich die Frau Doktor ihr Kind wohlgeborgen weiß in der Hut des treuen Mädchens, wird ihr doch mehr als einmal heute abend sein flehender Abschiedsblick einfallen, und sie wird sich unter Gläsergeklirr und Redegeschwirr heimlich auf den Augenblick des nächsten Morgens freuen, wo sie den frischerwachten Liebling in die Arme nehmen und voll Mutterwonne sein rosiges Gesichtchen küssen kann.