Textdaten
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Autor: J. Schuhmann
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Titel: Der „heilige David“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 632–635
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[632]
Der „heilige David“.
Ein religiös-communistischer Fanatiker der neuesten Zeit.


Genaueres könnte man nur durch Solche erfahren,
          die ein Interesse haben, zu schweigen.

In einer Zeit, wo die sociale Frage im Vordergrunde des öffentlichen Interesses steht, wo sich in Staat und Gesellschaft die religiösen und confessionellen Gegensätze immer auf’s Neue gefahrdrohend zuspitzen, gewinnt das Bild eines Mannes, dessen Wirken als religiös-communistischer Agitator vorwiegend einen blos provinciellen Charakter trägt, eine psychologische Bedeutung von allgemeiner Tragweite; möge es, wie im vorliegenden Falle, auch nur den Werth einer interessanten Krankheitserscheinung haben, [633] sie wird dem Beobachter, der die Symptome der Zeit mit ärztlichem Forscherblick betrachtet, den Weg finden helfen, wie die allgemeine Krankheit zu erkennen, wie sie zu heilen sei.

David Lazzaretti wurde am 6. November 1834 in Arcidosso in Toscana geboren. Der Unterricht, den er in seiner Jugend genoß, war dürftig; früh genug mußte er als Fuhrmann seinem Vater Beistand leisten, dessen Geschäft es war, die hauptsächlichsten Erzeugnisse des Berges Amiata, Holz und Kohlen, auf die Märkte Toscanas zu führen. Hohen Wuchses, außerordentlich kräftig und gewaltthätig, fluchte er wie ein Heide oder, wie man eben so richtig sagen könnte, wie ein Toscaner und machte sich durch sein Auftreten einen gewissen Namen. Im Alter von 23 Jahren heirathete er gegen den Willen der Eltern des Mädchens; drei Jahre später (1860) kämpfte er als Freiwilliger in einem Reiterregiment gegen die Päpstlichen bei Castelfidardo. Seine Geschäfte als Fuhrmann gingen nach dem Kriege schlecht; er fand viele Zeit, zu lesen, und versuchte sich im Verseschreiben. Als er auf Anrathen von Freunden es aufgab, Lust- und Trauerspiele zu verfassen, warf sich sein unruhiger Geist auf das Studium der Theologie. Visionen und außerordentliche Offenbarungen blieben nicht aus; schließlich soll er wegen derselben dem Papste Pius dem Neunten vorgestellt worden sein, nachdem er vorher zwei- oder dreimal vergeblich versucht hatte, sich mit hohen Würdenträgern der Kirche in Verbindung zu setzen. Wichtig für sein späteres Auftreten wurde das zurückgezogene Leben, das er mehr als vier Monate lang in einer Einsiedelei führte, wo ihm Erscheinungen von Engeln und Heiligen seine künftige Größe enthüllten und ihm die Gabe der Weissagung verliehen. Welche Fortschritte er in der allgemeinen Bildung machte, ist schwer zu sagen. Mit der Rechtschreibung stand er noch am 18. September 1868 auf sehr gespanntem Fuße, als er von der Einsiedelei aus seine Frau aufforderte, sich zu beruhigen, die Kinder gut zu erziehen und ihm zu vertrauen. Classisch ist, wie er in jenem Briefe den Geldpunkt mit den Worten abthut: „Sieh, wie du durchkommst!“

Als der „Prophet“ – denn diesen Namen legte sich nun David Lazzaretti bei – am 8. Januar 1869 in feierlicher Abendstunde wieder nach Hause zurückkam, wurde ihm ein großer Empfang zu Theil. Er hatte einen gravitätischen Gang angenommen, erschien im unvermeidlichen langen und ungepflegten Prophetenbart und befleißigte sich einer langsamen Redeweise. Auf der Stirn trug er ein Zeichen, das ihm der heilige Petrus aufgedrückt haben sollte: zwei C, von denen eines auf den Kopf gestellt, mit dem Kreuze darüber in der Mitte. (Auch sonst war er tätowirt, was Irrenärzte und Polizeibeamte mit Interesse hören werden.)

Bauern und kleine Grundbesitzer kamen nun herbei, um von ihm Weissagungen und ascetische Reden zu vernehmen oder Rath in weltlichen Angelegenheiten einzuholen. Hauptsächlich spielt der Kampf gegen den Steuerdruck in seinen Reden eine große Rolle, und daß er hiermit sich viele Anhänger warb, erklärt sich aus den Verhältnissen der zur Provinz Grosseto im früheren Toscana gehörigen fünf Gemeinden des Berges Amiata, welche den vorzüglichsten Schauplatz der Thätigkeit des „heiligen David“ bildeten. Dieselben haben beiläufig eine Ausdehnung von 697 Quadratkilometern und zählen 28,000 Einwohner. Es herrscht dort das in Toscana übliche Halbscheidsystem, die sogenannte Mezzadria vor, wonach der Bauer die eine Hälfte des Ertrags für sich behält und die andere dem Eigenthümer abliefert. In vier Orten erhebt Provinz und Gemeinde einen mehr als doppelt so großen Zuschlag zu der hohen Gebäude- und Grundsteuer; in Arcidosso ist dieser Zuschlag zur Staatssteuer mehr als dreimal so groß. Mitte des Jahres 1869 genoß der „heilige David“ bereits des größten Ansehens bei einem ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Arcidosso und den nächsten Dörfern. Auf dem Monte Labbro, einem sich 1194 Meter über den Meeresspiegel erhebenden Berge in der Nähe von Arcidosso, wurde auf seine Anstiftung zuerst ein kolossaler Thurm, dann eine Kirche mit Einsiedelei errichtet, ohne daß er dafür einen Pfennig ausgegeben hätte. Das exaltirte Volk arbeitete nicht nur umsonst, sondern schaffte auch das zum gottgefälligen Werke nöthige Material als freiwillige Gabe herbei, und der Bischof von Montalcino entsendete zwei Geistliche zur Verrichtung des Gottesdienstes. David verweilte ein volles Jahr unter seinen Gläubigen, welche ihm Geld- und Geldeswerth zu bringen anfingen; dann empfand er das Bedürfniß, sich „in fremden Ländern“ der Gnade, die Stimme Gottes zu vernehmen, würdig zu machen. Eines Tages aber fand er sich plötzlich, als wäre er vom Himmel gefallen, unter einer jubelnden Menge von 1500 Köpfen wieder ein und verlas, auf einem Felsen stehend, eine aufrührerische Rede. Nachdem man schon früher einen politischen Proceß gegen ihn angestrengt hatte, ohne eine Verurtheilung zu erlangen, wurde er wegen dieser Rede vor Gericht gestellt, indessen wiederum frei gesprochen. Als er hierauf Gesellschaften gründete, deren Hauptzweck nach der Ansicht den Behörden der war, ihm Geld und Ansehen ohne Mühe und Arbeit zu verschaffen, schritt man zu seiner Verhaftung. Aber nach sieben Monaten zwangsweisen Aufenthalts in Scansano, wo ihn ein hochangesehener Mann, Oberstaatsanwalt unter der Regierung des Großherzogs, in sein Haus aufnahm, wurde er abermals in Freiheit gesetzt.

Nunmehr dehnte er seine Wanderungen auf entferntere Bezirke aus, wo ihm die Erweckung des religiösen Fanatismus reiche Geschenke eintrug. Auf’s Neue verhaftet und wegen fortgesetzten Betrugs und Landstreicherei zu fünfzehn Monaten Gefängniß, zu einem Jahr polizeilicher Beaufsichtigung und zur Tragung der Kosten verurtheilt, kam er mit heiler Haut davon durch das freisprechende Erkenntniß des Appellationsgerichtes von Perugia vom 20. September 1874. Um die Kosten dieses Processes zu decken, wandte er sich an seine Freunde und Gönner und brachte eine hübsche Summe Geldes zusammen, hauptsächlich von Franzosen. Da ihm indessen die sechs Monate Untersuchungshaft seines letzten Processes Bedenken über seine Sicherheit einflößten, so begab er sich mit seiner Familie nach Frankreich, wo er seine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, in Erziehungsanstalten that. Erst am 6. März vorigen Jahres tauchte der Apostel wieder in Monte Labbro auf; in der Zwischenzeit hatte er die Oberleitung seiner Gemeinde von der Fremde aus gehandhabt und Einiges an seiner Lehre modificirt.

Das religiöse Gesetzbuch des Propheten besteht aus nur zehn Capiteln, von denen das erste die Oberherrlichkeit des Papstes über alle Fürsten der Erde ausspricht; er wird Schiedsrichter zwischen den Völkern sein. Die Einnahmen des Staates stehen ebenso gut wie die Güter und Capitalien der Kirche zur Verfügung Seiner Heiligkeit, und die geistlichen Güter werden den alten Besitzern für Cultuszwecke zurückgegeben. Auch das politische Gesetzbuch zeichnet sich durch Kürze aus; dasselbe umfaßt dreizehn Artikel und bespricht die neue Regierungsform, die Wahl der zweiundsiebenzig Fürsten, die dem Papste, dem einzigen König von Italien, zur Seite stehen sollen, den Kriegsdienst etc.. Das Steuersystem ist prächtig ausgedacht. Mit Ausnahme der Priester, der Mönche und Nonnen, der Kinder unter zwanzig und der Greise über siebenzig Jahre sollen alle Bürger eine Personalclassensteuer von fünfzig Centesimi bis zu sechs Lire (vierzig Pfennig bis etwas weniger als fünf Mark), die Frauen galanter Weise nur die Hälfte bezahlen.

Das moralische Gesetzbuch handelt von der Erziehung der Jugend, welche den Orden anvertraut werden soll. Zu diesem Zwecke würde in jeder Gemeinde von 5000 Einwohnern ein Kloster existiren. Wenn man erwägt, daß Anno 1873 Rom allein 221 Klöster gehabt hat, so wundert man sich über die Mäßigung des clericalen Reformators. In zwölf Hauptstädten sollen unter der Aufsicht der geistlichen Obrigkeit Universitäten bestehen. Die Preßfreiheit ist selbstverständlich abgeschafft. Das bürgerliche Gesetzbuch erschöpft seine Aufgabe in zwölf Artikeln; die Wiedereinführung der amtlichen Preise der nothwendigsten Lebensbedürfnisse fehlt in diesem Zukunftsprogramm nicht.

Man glaubt gern, daß die Abfassung dieser vier Gesetzbücher nicht einmal zwei Monate in Anspruch genommen habe. 1871 forderte Lazzaretti in einer „Ein unbekannter Prophet“ benannten Weissagung den Papst, alle Monarchen und Staaten auf, seine künftige Größe anzuerkennen. Er nennt sich in dieser Schrift einen bisher noch unbekannten Fürsten, der die Fahne der Erlösung der Völker entrollen werde. Ganz genau beschreibt er die Kleidung, an welcher man den vom italienischen Apennin Herabsteigenden werde erkennen können. Dem König Victor Emanuel sagt er höchst anzügliche Dinge über seine Minister; er würde ihn um seiner Ahnen willen retten können, wenn er an seiner Seite wäre. Frankreich – von den andern Ländern wußte der gute Mann sehr wenig – solle die gottlose Bildsäule Voltaire’s zerbrechen und seine Werke in’s Feuer werfen. [634] Von den drei von Lazzaretti gegründeten Gesellschaften suchte die „der Hoffnung“ die Grundsätze des Communismus durchzuführen. Bald gehörten derselben sechszig Familien von Besitzenden an; die Zeitdauer der Gesellschaft wurde vorerst vom 1. Januar 1872 bis zum 31. December 1890 festgesetzt. Zu den Gütern der Theilhaber kamen im gemeinsamen Pacht die Grundstücke eines Gönners des Propheten. Jeder Theilhaber bekam sein Büchlein, wo die von ihm abgelieferten Producte und Gelder verzeichnet und die zum Lebensunterhalt etc. zurückgezogenen Werthe in Rechnung gestellt wurden. Die Verwaltung führte im Auftrag des Gründers ein Bruder desselben. Welchen materiellen Nutzen der Prophet aus der Leichtgläubigkeit seiner Genossen gezogen habe, dürfte schwerlich jemals genau ausgemacht werden. Thatsache ist, daß durch ihn viele Familien in’s Unglück gestürzt worden sind. Eine Frau mußte zusehen, wie ihr Mann dem Propheten oder dessen Genossenschaft 1400 ererbte Lire und die ganze Kornernte des laufenden Jahres abtrat. Der Mann ist nun im Gefängniß, und die Frau hat nichts für sich und ihre Kinder.

Am 8. März vorigen Jahres verkündete der Prophet, daß er der David Isaia’s sei, der wahre Priester. „Mit mir ist der Papst,“ sagt er emphatisch, „mit mir ist der König; die Bischöfe sind mit mir; mit mir sind die Geistlichen. Ich, ja ich, werde am 14. März nach der ungeheuer großen Stadt Italiens, nach Rom abgehen; von hier aus werde ich mich auf den Weg machen, damit sich die Prophezeiung vollende, und dann wird mich der Apennin herabsteigen sehen wie Moses vom Berge Sinai; ich werde mich unter die kriegsgeübten Völker mischen und Frieden schaffen und Gesetze und Religionsgebräuche reformiren.“ Vorerst unterblieb die Expedition. Ein Räthsel ist, warum er bald darauf, nach einem abermaligen Aufenthalt in Frankreich, sich gegen einige Dogmen des Katholicismus, namentlich gegen die Ohrenbeichte, wendet, an deren Stelle er eine öffentliche Erklärung setzte, gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst gesündigt zu haben.

Leidenschaftlich donnert er gegen die „abscheuliche Secte der päpstlichen Abgötterei“, die er ein Ungeheuer der Hölle mit sieben Köpfen als Symbol der sieben Todsünden nannte. Die Folge dieses anticlericalen und selbst antikatholischen Auftretens war, daß der Bischof von Montalcino die Kirche mit dem Interdikt belegte, die daselbst im Ungehorsam verbleibenden Priester a divinis suspendirte und zweimal den Präfecten der Provinz und außerdem den Justizminister anging, ihm zur Ausführung seiner geistlichen Anordnungen den weltlichen Arm zu leihen. Einer der Priester unterwarf sich nach einiger Zeit in aller Regel. Die Sicherheitsbehörde hätte gern den andern in seine Heimath zurückgeschickt, aber der Prophet hielt ihn zurück, wohl wissend, wie wichtig es für ihn war, daß seine Gläubigen jeden Tag die Messe hören konnten.

Von Frankreich aus hatte er am 21. Mai vorigen Jahres an einen Vertrauten geschrieben: „Aus den zwei Hymnen, die ich Dir beischließe (die eine spielte auf die allgemeine Republik an), wirst Du verstehen, daß die Zeit nahe ist, da wir das Schlachtfeld betreten und für den größten Theil der Erde die gemeinsamen Feinde des Vaterlandes und des Glaubens besiegen müssen.“ Die Anhänger Lazzaretti’s rüsteten sich denn auch in der That zum Angriff, der am 14. August (es wurde schließlich der 18. daraus) von Arcidosso aus erfolgen sollte, um von da nach Rom zu gehen und dort mittelst eines Wunders die seit so vielen Jahren ersehnten und gepredigten Reformen durchzuführen. Zu den Vorbereitungen gehörte das Absingen revolutionärer Lieder, die Ausrufung der allgemeinen Republik mit der Vernichtung der Throne, mit dem Umsturz der bestehenden Ordnung, während geistliche Functionen aller Art dazu beitrugen, die Aufregung zu vermehren. Die Hauptanhänger, die Vertrauten waren durch förmlichen Eid zur Geheimhaltung der näheren Pläne des Propheten verpflichtet.

Vom 5. Juli bis zum verhängnißvollen Tage war der Prophet wieder in Arcidosso, und zum Unglück wurde die Verstärkung des Gensd’armerie-Postens nach dem 14. August beinahe gänzlich zurückgezogen. Am Morgen des 18. August wurde unter dem Geläute der Glocken und unter Gesang und Zuruf der erregten Menge die rothe Fahne mit dem Motto: „die Republik ist das Reich Gottes“ auf dem Thurme des Berges aufgepflanzt. Nach dem Schlusse der Messe stieg man langsam in drei Haufen, die Kinder voraus, wie in einer Procession, mit sieben wehenden Fahnen den Berg herab. Von der Brust des Propheten leuchtete das bekannte Zeichen; sein Helm war mit drei Federn geschmückt und zeigte eine Taube, die zwei Olivenzweige im Schnabel hielt. Die Kleider der Getreuen, wozu die Stoffe aus Frankreich gekommen waren, hatten einen phantastischen Schnitt, der dem Sicherheitsbeamten zur Genehmigung vorgelegt worden war. Nicht mehr als sechszig bis achtzig Individuen trugen diese Kleider, die nichts mit einer militärischen Uniform zu thun hatten. Allen anderen gab Lazzaretti ein rothes Kreuz, welches Zeichen den großen Untergang der Völker und das allgemeine Blutvergießen verkünden sollte.

Je weiter der Zug vorrückte, desto größer wurde in Arcidosso die Angst aller derjenigen, die nicht zur Secte gehörten. Die Läden schlossen sich im Nu, desgleichen die Thüren und die Fenster der Privathäuser. Die Familienväter bewaffneten sich, so gut sie konnten; die Kinder, Frauen und Greise weinten und schrieen. Der Staatsbeamte für die öffentliche Sicherheit und der Bürgermeister des Ortes gingen den Haufen entgegen, um Lazzaretti zu bewegen, daß er seine Leute zurückhalte und sich mit der Procession auf dem Gipfel des Berges begnüge, wie in den vorhergehenden Tagen. Der Prophet war diesen Vorstellungen unzugänglich; der Bürgermeister zog sich unverrichteter Dinge zurück. Der Polizeibeamte nahm seine Schörpe um und forderte Lazzaretti und seine Haufen auf, aus einander zu gehen. Der Prophet verlangte von den Carabinieri die Niederlegung der Waffen und rief dem Volke zu: „Ich bin der König. Vorwärts, Volk, vertheidigt Euch, entwaffnet sie!“ Die Carabinieri schossen in die Luft; der Prophet schlug mit seinem „Stab“ (es war ein recht dicker Stock) den Polizeibeamten, der gleichzeitig mit dreien seiner Leute von einem Hagel von Steinen überschüttet wurde, die nachweislich vom Berge mitgenommen worden waren. Die acht Carabinieri feuerten nun im Ernste auf die Masse, die allerdings keine langen Feuerwaffen, wohl aber Pistolen etc. mit Jagdmunition hatte und im Getümmel Leute aus ihrer Mitte verwundete.

Nach einem späteren Berichte hätten die Aufrührer zuerst geschossen und Gewalt gebraucht. Vier Todte und vierzehn Verwundete – das war das Ergebniß des verhängnißvollen Tages.

An der Stirn getroffen, fiel gleich im Anfang der Prophet und mit ihm der Muth und das Vertrauen seiner Anhänger, welche er durch die Zusicherung angefeuert hatte, er werde mit der flachen Hand die Flinten- und Kanonenkugeln gegen die Soldaten zurückschleudern. Nach dem blutigen Zusammentreffen verbarricadirten sich, um Verstärkung abzuwarten, die Carabinieri und die Bürger in der Caserne, beziehungsweise in ihren Wohnungen. Auch die Aufrührer zogen sich zurück; die Flucht lichtete bald ihre Reihen. Um neun Uhr Abends starb der Prophet, umgeben von einer geringen Zahl seiner Allertreuesten.

Das Aufsehen, welches die Vorkommnisse von Arcidosso erregten, war ein großes. In Italien selbst haben sich die politischen Parteien der Angelegenheit bemächtigt, und es regnete Anklagen gegen die Regierungsgewalt, welche nicht zeitig genug eingeschritten sei, um das Unglück zu verhüten.

Die interessanteste, aber auch schwierigste Seite der Frage ist die psychologisch-politische, die Frage: aus welchen Antrieben Lazzaretti handelte und ob jemand und wer die geistigen Fäden in der Hand hielt, die ihn leiteten.

Ohne über die Redaction der vier Gesetzbücher ein Urtheil zu fällen, ehe uns dieselben vollinhaltlich vorliegen, können wir doch auf Grundlage des Mitgetheilten sagen, daß die in denselben enthaltene Weisheit recht wohl aus den öffentlichen Blättern der socialistischen und clerikalen Partei zu gewinnen war. Die Clericalen thun sich etwas zugut darauf, den heiligen David rechtzeitig den Behörden denuncirt zu haben, ehe derselbe gefährlich wurde. Wir wissen, daß die Behörden seit Jahren ein Auge auf ihn hatten und ihn unschädlich zu machen suchten, und daß die Clericalen sich von ihm zurückzogen, als er einige Hauptpunkte des katholischen Glaubens angriff. Dadurch, daß die katholischen Geistlichen in Arcidosso von der Kanzel herab den Abfall Lazzaretti’s geißelten, wurde der Thatbestand sogar verdunkelt. Man glaubte mit Unrecht, ein Gezänke auf religiösem Boden vor sich zu haben, und übersah die communistische Seite. Viele aus der Gegend, welchen die communistische Richtung [635] Lazzaretti’s peinlich war, glaubten wenigstens an seine göttliche Inspiration als Religionsmann. Daß derselbe mit der clericalen Partei in Verbindung stand, wurde schon vor sieben Jahren durch in Beschlag genommene Briefe erwiesen. Einiges in dieser Beziehung ließ auch der Prophet selber dem obenerwähnten Sicherheitsbeamten gegenüber durchblicken, mit dem er gelegentlich einmal unter Aufgebung der mystischen Redeweise rein geschäftlich verkehrte. Auf den Rath einer höheren Intelligenz, gab er an, habe er in seinen Broschüren neben vielen Wahrheiten Einiges zu Gunsten der bestehenden Ordnung sagen müssen, um nicht in Ungelegenheiten zu gerathen. Er erzählte von seiner indirecten Verbindung mit Don Carlos, dessen Photographie er in einem Strohsacke verborgen hielt.

Das erste Auftreten Lazzaretti’s fällt in die Zeit nach dem unglücklichen Gefecht bei Mentana. Wie amtlich festgestellt ist, wurde 1872 der gewesene Fuhrmann von vier Franzosen, drei Geistlichen und einem Laien, und bald darauf von einer Fremden besucht, die als Abgesandte einer hohen Persönlichkeit, des Hauptes der legitimistischen Partei, galt. Dieselbe erschien als Bäuerin verkleidet mit einem Empfehlungsschreiben bei einem Domherrn in Roccalbegna, welcher Ort südöstlich von Arcidosso liegt, und ließ sich von demselben zum Propheten begleiten, der darauf bestand, den Dolmetscher zu entlassen und das Gespräch ohne Zeugen mit der Dame weiter zu führen. Die Kosten seines Aufenthalts in Frankreich bestritt, abgesehen von der Gemeinschaft in Arcidosso, die reactionäre Partei.

Die Leiter der dem Königreich Italien feindlichen Partei mögen die Leistungsfähigkeit und Bedeutung des Mannes überschätzt haben, der das ihnen angenehme Geschäft der Hetzerei gegen die bestehenden Zustände betrieb; sie mögen auch der Ansicht gewesen sein, daß er auf alle Fälle ein brauchbares Werkzeug für die Zwecke der Reaction sein könne. Das Wunderbare bleibt immer, daß Leute von Stand und Bildung, bei denen schwerlich politische Beweggründe maßgebend waren, hohe Stücke auf ihn gehalten haben. Wir denken beispielsweise an den angeführten Exoberstaatsanwalt. Daß der „heilige David“ den religiösen Fanatismus als Deckmantel vorgenommen und mit kalter Berechnung auf die Verführung der Landleute hingearbeitet habe, wird aus von ihm gemachten Aeußerungen behauptet, wonach er reich zu werden wünschte.

Die Phantasie des gewesenen Fuhrmanns war ungemein rege; in seinen Büchern ist viel die Rede von Rache, Blut und Opfer. Ueber die Größe der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, ist er sich niemals klar gewesen; denn die Kenntniß der Welt und ihrer realen Verhältnisse ging ihm ab. Blind rannte er in sein Verderben; er kehrte in der ausgesprochenen Absicht vom Ausland zurück, die Expedition zu beginnen, die keinen guten Ausgang haben konnte. Eitelkeit, in der von ihm eingeschlagenen Richtung fortzufahren und die ihm zu Theil gewordene Verehrung durch Heldenthaten zu vermehren, mag ihn mitbestimmt haben. Die partielle Narrheit des Mannes liegt zu Tage, und seine Pfiffigkeit in einzelnen Dingen scheint uns nicht damit in Widerspruch zu stehen; der Prophet war hierin ein rechter Bauer, und das Vertrauen der Landleute zu ihm wird durch seine Beschränktheit erst recht verständlich. Wer von einem toscanischen Dorfe aus die ganze Welt reformiren und speciell den Communismus einführen will, bei dem kann es im Oberstübchen nicht geheuer sein. Das Geheimnißvolle des Propheten und der Ereignisse von Arcidosso, mitten in einer civilisirten Provinz – denn die Eisenbahn befindet sich in der Nähe des Ortes – ist indessen durch kein Raisonnement wegzuschaffen, ob wir den Mann mehr von der socialen, religiösen oder politischen Seite aus betrachten.

Die sich in dem „heiligen David“ darstellende merkwürdige Verquickung der socialen und religiösen Frage wird außerhalb Italiens mehr als ein Gegenstand psychologischer Betrachtung aufgefaßt werden; in Italien, wo bekanntlich die sociale Frage bis jetzt kaum in den Städten, wohl aber auf dem Lande besteht, wird man ohne Zweifel nicht die Mahnung verkennen, welche in dem gewaltsamen Tode des Propheten, sowie in dessen ganzem Lebensgange liegt.
J. Schuhmann.