Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Erstes Kapitel

Vorwort Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Zweites Kapitel
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[1]
Erstes Kapitel.




Indem ich[WS 1] mein Leben mit seinen interessantesten Schicksalen zu schildern beginne, erkläre ich zuvörderst, daß ich nur Wahres und wirklich Erlebtes mittheilen werde. Hierbei hoffe ich auf Theilnahme und Interesse, denn wer schaute nicht mit klopfendem Herzen dem tapfern Kampfe eines Schiffes mit dem stürmischen Meere zu? wer zitterte nicht bei seinem Versinken zwischen den thürmenden Wellen, wer begrüßte nicht sein Wiederauftauchen mit Entzücken? Und sollte der Kampf eines muthigen Menschen mit seinem Schicksale weniger interessant sein? Sagte doch das Alterthum, dies sei ein Schauspiel für Götter.

Mein Vater war Großhändler in einer der reizendsten Städte …ens[WS 2], verlor aber durch Napoleons Continentalsperre fast sein ganzes Vermögen, und dieses große Unglück brachte das noch größere des ehelichen Unfriedens über ihn. Meine Mutter, die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers, besaß nämlich nicht die Eigenschaften, welche uns über das Unglück erheben; sie gab sich der Verzweiflung hin und verfiel in eine Art von Geisteszerrüttung, die zuletzt zur halben Trennung der Gatten führte. War andererseits mein Vater von jeher sehr religiös gewesen, so wurde er es im Leide noch mehr; ja, seine Frömmigkeit wurde Schwärmerei, als er in die Gemeinde des später in D** berüchtigt gewordenen evangelischen Pfarrers St.[WS 3] gerieth, welcher in den 1830r Jahren nach Amerika auswanderte. Ich lebte mit Mutter und Geschwistern, zwei Brüder und zwei Schwestern, auf dem Gute der Großeltern, von wo uns mein Vater nach und nach, sobald wir höherer Bildung bedürftig wurden, nach D**[WS 4] brachte. Ich kam mit Antritt meines elften Jahres zu seiner ältesten Schwester[WS 5], einer ebenfalls armen, aber sehr gebildeten und rührigen Person, welche [2] für die Verdienste ihres Vaters als Regiments-Arzt der **schen Armee[WS 6] noch eine kleine Pension bezog. Mein ältester Bruder[WS 7] war damals auf der Universität Leipzig, der jüngere lernte das Tischlergewerbe, meine älteste Schwester arbeitete in einer größeren Modehandlung und die jüngste lebte noch bei den Großeltern.

Mein Herz klopfte dem Wiedersehen zärtlich entgegen, mein Entschluß war der eine und einzige, meiner Familie zur Zierde zu werden. Meine Tante empfing mich und meinen Vater sehr zärtlich; einige Stunden vergingen unter Herzensergießungen, wobei mir meine Verwandte als die strenge Erzieherin erschien, als welche sie sich schon gleich nach meines Vaters Abreise erwies. Meine Tante hieß mich neben sich an den Nähtisch setzen, gab mir ein Strickzeug in die Hand und sprach zu meinem Schrecken: „Liebe Marie, Du bist schon groß genug, um Deine Stellung zu begreifen, und damit Du Dir keine Illusionen machst, will ich sie Dir offen und wahr schildern. Du weißt, daß Dein Vater durch Führung eines Dorfgeschäftes[WS 8] nicht soviel gewinnt, um Dich für einen höheren Beruf zu erziehen, da er außer Dir noch vier Kinder hat; ich habe daher Deine Ausbildung übernommen und hoffe, daß Du mir nie zur Reue Anlaß geben wirst. Außer meiner kleinen Pension habe ich nichts als den Erwerb meiner Hände; Du wirst also bei mir lernen, durch Fleiß und Mäßigkeit zufrieden zu sein und hiermit den Grund zu Deinem künftigen Glücke legen. Zunächst übertrage ich Dir die Sorge für unsere kleine Wirthschaft. Von früh acht bis Mittags zwölf Uhr besuchst Du die Schule, die Nachmittagsstunden sind zu weiblichen Arbeiten und Erlernung der französischen Sprache bestimmt. Du wirst Dich freilich sehr zusammennehmen müssen, denn ich bin eine strenge Meisterin und theile beim ersten Versehen Ohrfeigen aus, um die Wiederholung desselben zu verhüten.“

Ich erschrak heftig über diese Einleitung, denn bis jetzt waren Pflicht und Neigung mir gleichbedeutend gewesen. Nach den Schulstunden hatte ich stets die Zeit zwischen Vergnügungsspielen und Lesen vertheilt; jetzt aber stand nur Arbeit, Entbehrung und Zucht in Aussicht. Jedoch versprach ich, den Wünschen meiner Tante in aller Art nachzukommen.

Wir führten ein sehr regelmäßiges Leben. Um sechs Uhr Morgens standen wir auf, bereiteten das Frühstück, dann kleidete mich die Tante sorgfältigst an, wir genossen den Kaffee und ich ging in die Schule. Nachmittags wurde gestickt oder genäht, auch mußte ich Filet zum Verkauf [3] stricken, worauf die französischen Uebungen folgten. Erst um acht Uhr Abends wurde nach einem äußerst frugalen Mahle eine Stunde spazieren gegangen. Als ein großes Glück mußte ich es ansehen, daß Fräulein, H., eine alte Sprachlehrerin, mich mit allem Eifer im Französischen unterrichtete, und da meine Tante diese Sprache ziemlich geläufig sprach, so brachte ich es darin bald zur ziemlichen Fertigkeit. Ein Hauptvortheil meiner Beziehung zu Fräulein H. bestand darin, daß sie mich in die Familien des Grafen K. und des Fürsten Basil G. einführte, wo ich im Umgange mit Gräfin Mathilde und Prinzessin Varinka feinen Ton lernte und trefflichen Unterricht genoß. Nebenbei gab es auch viele Vergnügungen, so daß diese Bekanntschaften meine Jugend nicht nur beglückten, sondern auch erheiterten. Die Fürstin G. wollte mich gänzlich in’s Haus nehmen, meine Tante lehnte dies jedoch ab, denn mein Umgang war ihr schon Bedürfniß geworden. Dabei erhielt ich auch manches werthvolle Geschenk von meinen hohen Beschützerinnen, so daß mein Glück alle meine Bekannten in Verwunderung setzte und meine geistige wie körperliche Entwickelung rascher von statten ging, als es außerdem geschehen sein würde. Und dies Alles dankte ich Fräulein H., die, wie meine Tante, ein altes hilfloses Mädchen war, das sich eigentlich selbst nicht helfen konnte. Wie rührend ist dieser Edelmuth der Armen gegen einander!

So waren fünf Jahre verstrichen, und es war mein Glück, daß ich sie gut angewendet hatte: denn da nun die Erziehung meiner jüngsten Schwester beginnen sollte, so mußte ich von jetzt an für mich selbst sorgen, obwohl ich eben erst confirmirt war.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Rufname Marie
  2. Sachsens, nach dem Bürgerbuch 1807 war er Kaufmann in Pirna
  3. Martin Stephan (Geistlicher)
  4. Dresden
  5. Sophia Helene Friedericke Steinmann, damals ca. 51 Jahre
  6. sächsischen Armee, bey Sr. königl. Hoheit des Hr. Herzog Carl von Curland u. anitz Prinz Clemens, Dragonerregiment, die Pension betrug 2 Taler monatlich
  7. Heinrich Ferdinand Steinmann
  8. in Kreischa