Dem Gedächtniß eines Heimgegangenen

Textdaten
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Autor: Theodor Drobisch
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Titel: Dem Gedächtniß eines Heimgegangenen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 628–630
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Erinnerung an Ferdinand Stolle
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Dem Gedächtniß eines Heimgegangenen.[1]
Von Theodor Drobisch.


Im Geiste ergreife ich des Lesers Hand, um ihn an das Grab eines Dichters, eines Humoristen, eines wahrhaft edeln Menschen zu führen. Jenes Grab steht nicht im Poetenwinkel der Westminsterabtei zu London; wir suchen es nicht auf dem Friedhof von Ottensen, nicht in der Fürstengruft zu Weimar. Es ist überhaupt kein Grab, zu dem die Nation eine Pilgerfahrt unternommen, um im Gefühl der Dankbarkeit einen Kranz der Verehrung darauf zu legen. Die Welt vergißt ja schnell, namentlich einen Schriftsteller, einen Dichter, wenn er es nicht verstand, sich in Einklang mit der Welt zu setzen.

Das Grab, von dem die Rede, das einfach schlichte Grab, befindet sich auf dem Neustädter Kirchhofe zu Dresden; der müde Schläfer darinnen ist Ferdinand Stolle. Er starb zu Dresden am 28. September 1872, an seinem sechsundsechszigsten Geburtstage. Sein Sohn, so wie ein kleines Häuflein von Freunden und Schriftstellern gaben ihm das Geleit zur Ruhestätte an einem Tage, wo schon der Herbst die Blätter von den Bäumen wehte. Mit Wehmuth standen die Freunde an dem Sarg des Dichters und Schriftstellers, den nun die „Palmen des Friedens“ umschatten.

Bereits im Jahre 1846 schrieb ich für den „Leuchtthurm“ eine kleine biographische Skizze des Verstorbenen. Eine Lithographie, das wohlgelungene Portrait von Ferdinand Stolle, zierte die Skizze, welcher er als Zeichen seiner Handschrift die Worte eines alten Liedes beigegeben. Sie lauteten:

„Wer es gut mit Gott und Menschen meint,
Der sei mein Liebling, sei mein Freund!“

Heute ergreife ich auf Veranlassung seines langjährigen Freundes Keil, des Redacteurs dieser Blätter, die Feder, nicht um ein in sich abgeschlossenes Bild des liebenswürdigen Schriftstellers und Menschen zu entwerfen, sondern lediglich, um dem Verklärten, ihm, dem ersten und ältesten Mitarbeiter der Gartenlaube, einige Worte der Anerkennung, gleichsam als letzte Scholle Erde, in das stille Grab nachzusenden. Eine eingehende Selbstbiographie des Heimgegangenen, auf welche ich hier ausdrücklich hinweise, befindet sich am Schluß seiner sämmtlichen Werke.

Ferdinand Stolle, in der Blüthezeit seines literarischen Wirkens oftmals der Boz, der Paul de Kock in deutschen Landen genannt, wurde am 28. September 1806 zu Dresden geboren. Nur kurze Zeit war es ihm vergönnt, sich in den Strahlen der Elternliebe zu sonnen, denn er verlor Vater und Mutter schon in der frühesten Kindheit. Einsam stand er in der Welt; er wäre in das Waisenhaus gekommen, wenn sich nicht ein Oheim des kleinen Ludwig Ferdinand Anders – dies war sein eigentlicher Name – angenommen hätte. Der Amtscassirer Stolle nahm ihn an Kindesstatt an, und aus Dankbarkeit für die vielen Wohlthaten, welche ihm der Oheim erzeigte, der mit der Gewissenhaftigkeit eines Vaters für ihn sorgte, entsprach der so Beglückte dem Wunsche desselben und bediente sich fortan seines Namens. Auf der Kreuzschule in Dresden für die Universität vorbereitet, wanderte er Ostern 1827 in Leipzig ein, wo ihn der damalige Rector der Universität, der berühmte Polyhistor Christian Daniel Beck, zur Fahne der Themis schwören ließ.

Er besuchte fleißig die betreffenden Collegia. In der Philosophie war der Professor Traugott Krug sein Mann, dem er nach Ablauf des dritten Semesters einen Besuch abstattete. Mit ernstem Denkerantlitz trat ihm der Philosoph entgegen, angethan mit dem bekannten Ueberrock in der Farbe ungebrannten Kaffees, mit bis über die Schultern herabhängendem Kragen, an den Stiefeln große, mit Kreuzriemen und Schnallen versehene Sporen. Mit kühnem Selbstvertrauen überreichte ihm Stolle einen weitläufig ausgearbeiteten „Entwurf zur Abschaffung des Duells auf Universitäten“. – Krug sah ihm etwas verstohlen in’s Gesicht, ob vielleicht so ein paar „Schmisse“ bemerkbar. Da hieß es aber in der That: „Sieh, Kind, kein Engel ist so rein!“ Der Professor legte das Manuscript zu „gelegentlicher Prüfung“ bei Seite – und, seines Sieges schon gewiß, ging Stolle von dannen. Die „Paukereien“ hatten aber ihren ungestörten Fortgang, namentlich unter denen, welche der Burschenschaft angehörten, oder zu den Landsmannschaften der Sachsen, Lausitzer oder Neupreußen zählten. Noch immer floß Blut im Saal der „grünen Linde“, im „Thüringer Hof“ oder bei Weber in der „kleinen Pleißenburg“, wie auch die Universitäts-Pedelle Conradi und Hildemann sich bestrebten, die Paukanten abzufassen.

Mit seinem wohlgemeinten Vorschlag „abgeblitzt“, ackerte Stolle auf einem andern Felde. Die geschichtlichen Collegia des Professor Wachsmuth hatten ihn begeistert. Opus Zwei war fertig; es führte den Titel: „Ueber das Fortschreiten der Menschheit in sittlicher und geistiger Beziehung“. Beide Schriften blieben Pultgründlinge. Dagegen sah man den Verfasser unverweilt in den Hörsälen von Heinroth und Erdmann, wo Anthropologie und Chemie gelehrt wurde. Was sein eigentliches Brodstudium, die Rechtswissenschaft, anbelangte, so waren Günther, Weise, Klien, Otto und Bruno Schilling seine vorzüglichsten Lehrer.

Geistige Speise genug; nur an der leiblichen mangelte es oft, obgleich man damals in der Wirthschaft „Zum schwarzen Brett“ ein warmes Mittagsessen, Fleisch und Gemüse, für zwei Groschen bekam. Um die Wohlthat der Speisung im Convictorio zu erlangen, antichambirte Stolle bei dem Hofrath Pölitz, der wohl keine Ahnung hatte, daß der Bittsteller ihm nach wenig Jahren einen so glänzenden Nekrolog schreiben werde. – Stolle bekam eine Freistelle und speiste jetzt zu Mittag und Abend nebst zweihundertfünfundzwanzig Commilitonen im Convict, nachdem der Inspector Nakonz ihre Ohren zuvor mit Hersagung des lateinischen Vaterunsers bewirthet hatte.

Er fühlte sich indeß nicht zum Advocaten berufen, und die für einige Zeit mit Mühe unterdrückte Vorliebe für schöngeistige Productionen brach mit verstärkter Kraft hervor. Er verhehlte sich nicht, daß Muth dazu gehöre, ein Schriftsteller zu werden, namentlich ein deutscher Schriftsteller. Aber auch bei ihm bewährten sich so recht die Worte des Plato im Phädon: „Was sich unbedingt als das Trefflichste in der Natur des Menschen erweist, ist jener unverwüstliche Trieb der Seele, zu dichten und zu gestalten, der selbst von dem Mißklange und Widerstreite des Weltlaufs nicht überwunden wird.“

Stolle, dessen erstes Gedicht der Buchdrucker Glück zu Leipzig druckte und verlegte und das ihn zu der scherzhaften Aeußerung veranlaßte, daß er seine literarische Laufbahn mit Glück begonnen habe, arbeitete zuerst für die Zeitschrift „Komet“, welche damals der Dr. Karl Herloßsohn redigirte. Große Schätze waren hier nicht zu heben, obgleich sich Stolle’s Beiträge den Beifall der Leserwelt errangen. Es kamen aber Stunden, wo die Anschaffung eines neuen Rockes, eines neuen Beinkleides sich für ihn zu einer Weltfrage gestalteten. Weltumfassende Gedanken im Kopfe, aber nichts in der Tasche, saß er eines Tages auf seinem Zimmer. Die Thür öffnete sich, und es erschien der bekannte Hofrath Dr. Ferdinand Philippi, der Besitzer des Verlags-Comptoirs, der sich von Dresden nach Grimma gewendet hatte.

Beide unternahmen einen Spaziergang nach Schönefeld, und hier richtete Philippi an Stolle die Frage, wie hoch sich die Summe seiner Schulden belaufe. Dieser zögerte mit der Antwort; endlich aber rückte er mit dem Bekenntniß heraus: „Achtzig Thaler!“ Philippi versprach ihm, ein Verständniß mit den Gläubigern zu treffen und die Schulden zu bezahlen, wenn er ihm seine literarische Thätigkeit widmen und zu diesem Zwecke nach Grimma übersiedeln wolle. „Sie scheinen mir Noth zu leiden; allerdings gut, denn – sie erweckt den Genius; das Behagen aber ist sein Erhalter. Wechsel des Standorts schlägt neue Triebe; Sie werden in ruhige, geordnete Verhältnisse kommen.“

Stolle war mit diesem Vorschlage zufrieden und – „Federleicht ist mein Gepäcke“ – kam im Februar 1834 in Grimma an. Gleichzeitig mit ihm erschien noch ein Schriftsteller, Namens Rohde. Beide speisten an Philippi’s Tische, und die Bekanntschaft mit Professoren der Fürstenschule, die schöne Natur des [629] Muldenthales, Alles wirkte wohlthätig auf Stolle’s Geist, Herz und Gemüth ein. Anderthalb Jahre lang schrieb er hier den „Literarischen Hochwächter“ und unterstützte den Herausgeber verschiedener Journale durch mancherlei publicistische Arbeiten.

Nebenbei erschienen aus seiner Feder eine Sammlung von Novellen und Erzählungen, ein Bändchen „Poesie und Humor“, sowie eine lyrische Anthologie, die sich Leipziger Verlagshandlungen aneigneten und gut honorirten. Großen Beifall errang sich der dreibändige Roman „1813“, sowie später „Elba und Waterloo“, nicht minder der Roman „Der Weltbürger“. An denselben reihte sich „Der neue Cäsar“, ein Gegenstück zu „1813“, welcher die Jahre 1804 und 1805 behandelt. Von sämmtlichen vier geschichtlichen Tableaux sind holländische Uebersetzungen erschienen; ein Theil derselben wurde in’s Französische und „1813“ in’s Englische übertragen. Ein Nachdruck der „Ausgewählten Novellen und Erzählungen“ entstand zu Philadelphia in Nordamerika. Von 1838 an führte Stolle die Redaction des Leipziger Modeblattes „Eilpost für alle Moden“, und der Humor, welcher sich bereits in vielfachen Erzählungen, Novellen und Phantasiestücken kundgegeben, brach in vollem Glanze hervor, als 1841 seine „Deutschen Pickwickier“ erschienen. Es war dieses dreibändige Werk nach Analogie des englischen Werkes von Boz abgefaßt, und der allgemeine Beifall, den sich der Verfasser mit demselben errang, war wohl Ursache, daß das Publicum seine im Jahre 1844 gegründete Zeitschrift „Der Dorfbarbier“ mit einem wahren Jubel aufnahm. Das Blatt erschien anfänglich in Grimma, „grau wie alle Theorie“, auf Löschpapier gedruckt. Dies hemmte aber nicht seine Beliebtheit, und in Sachsen, wie namentlich auch in Schlesien, gab es keine Dorfschenke, wo nicht der „Dorfbarbier“ zu finden war. Er wanderte ebenso gut auf das Rittergut und in die Pfarre, wie in das Forsthaus und in die Hütte des Landmannes.

Mit Freuden erinnere ich mich noch einer auf den Dorfbarbier bezüglichen kleinen Scene. Ich verweilte zu jener Zeit einen Tag lang zum Besuche in Oberspaar bei Meißen, wo ich mit einem Winzer ein Gespräch anknüpfte. Dieser äußerte den Wunsch, daß er sich glücklich schätzen würde, einmal den Schreiber des „Dorfbarbier“ zu sehen. „So spaßig, so gemüthlich und politisch, wie man’s gern hat; – ’s is in der Schenke zu Zaschendorf für uns allemal ein Festtag, wenn’s Blättel ankommt.“

Ich mußte ihm das Aeußere und Wesen des so Verehrten beschreiben, und als ich geendet, brach er in die Worte aus:

„Ach, ich möchte ihm gern eine Freude machen, so ein Plaisir! Sie haben heute Mittag die große schöne Weintraube an meinem Geländer gesehen, ein wahres Wunder, seit Jahren nicht dagewesen. Ich wollte sie dem Herrn Amtmann in Meißen zum Präsent machen; wenn ich aber wüßte, daß der Herr Dorfbarbier sie von mir als ein kleines Geschenk annehmen würde, ach, dies … würde mich unendlich freuen!“

Ich drückte dem einfach schlichten Manne die Hand und versprach ihm, die Absendung zu übernehmen. Kaum war das letzte Wort über meine Lippe, als er seine Holzpantoffeln abstreifte und sich seiner baumwollenen Aermeljacke entledigte. Eilenden Fußes entfernte er sich stillschweigend und kehrte erst nach Verlauf von zwei Stunden zurück. Er hatte zum Transport in Meißen eine große, weiße Holzschachtel gekauft. Die Weintraube von seltener Größe wurde abgeschnitten, sauber in Blätter gehüllt und – schon am andern Tage traf das Geschenk in Grimma ein. Ein mitfolgender Brief von meiner Hand gab vollständigen Aufschluß. Der Empfang bereitete dem „Dorfbarbier“ wahrhaft glückliche Momente.

Stolle gedachte des kleinen Intermezzos noch, als von Leipzig aus ihm etliche seiner Freunde einmal einen Besuch abstatteten. Ein lustiger Kumpan und Freund der schönen Literatur hatte in der Lotterie fünfzig Thaler gewonnen. Diese bestimmte er zu einer Fahrt per Omnibus nach Grimma, um den „Dorfbarbier“ zu überraschen. Früh um sieben Uhr bestiegen in höchst gemüthlicher Laune der Dichter und Romanschreiber Karl Herloßsohn, Eduard Maria Oettinger, Redacteur des „Charivari“, Adolf Böttger, der bekannte Byron-Uebersetzer und lyrische Dichter, Nicolay, der Componist der „lustigen Weiber von Windsor“, welcher sich zufällig in Leipzig befand, sodann Ballmann, der Komiker des Leipziger Stadttheaters, ein Maler, ein Tonkünstler und meine Wenigkeit den Wagen. Es war eine heitere Fahrt. Jeder fechtende Handwerksbursch, welcher des Weges kam, empfing ein Viergroschenstück und eben so viel jede arme, alte Frau. Den besten, unerwarteten Fang machten in der Schenke zu Pomßen zwei reisende Harfenmädchen. Als sie die frohe Schaar einkehren sahen, lüfteten sie schnell die graue Leinwandhülle ihrer Instrumente und fingen an zu spielen. Bei den ersten Tönen begann unter uns eine allgemeine Heiterkeit; es erklang das Lied: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n!“ Die Harfenistinnen ahnten nicht, daß sie den Dichter dieses Liedes, Karl Herloßsohn, vor sich hatten, der jetzt vorschlug, daß man einer Jeden für diese „wahrhaft künstlerische Leistung“ einen Gulden aus der bewußten Lotteriecasse verabreiche.

Zu Grimma angekommen, stiegen wir sämmtlich im Rathskeller ab; es wurde ein splendides Mittagsmahl bestellt und ein Bote an Stolle abgeschickt. Unterdessen – wir befanden uns Alle im obern Saal – verfiel Einer in toller Laune auf den Gedanken, die im Vorsaal stehende lange Bank hereinzuholen, und Mann an Mann mit Servietten um den Hals darauf zu setzen, wie Leute, die barbiert sein wollen. So sollte der „Dorfbarbier“ empfangen werden. Lustig ging es an die Ausführung. Anstatt einer Serviette hatte aber Ballmann ein weißes Betttuch übergehangen; noch Einige ahmten dies nach, was die Veranlassung zu einem ungeahnten Scherz gab. Ab- und zugehend waren die Verhüllten in dieser Costümirung an die Fenster getreten, was die Neugier Aller erweckte, die unten vorübergingen. Die Schaar wuchs von Minute zu Minute und – war es Combinationsgabe oder Laune eines Spaßvogels? – es ging die Kunde: „Die Beduinen, welche auf dem Leipziger Theater Vorstellungen gegeben, sind in Grimma angekommen; sie tanzen morgen auf dem Rathskeller. Seht nur, dort oben, da stehen so ein Paar Kerle mit schwarzen Bärten.“ Als sie nun den Dr. Stolle ankommen sahen, den Zeitungsschreiber, da war kein Zweifel mehr vorhanden. Bei Stolle’s Eintritt saßen wir sämmtlich auf der Barbierbank. Die freudige Ueberraschung läßt sich kaum mit Worten schildern; er erlebte einen seiner glücklichsten Tage und wir Alle mit ihm. Zur Tafel ließen wir den Stadtmusikus Hesse mit seinen Leuten kommen. Musik und ein wahrer Sprühregen von kleinen, witzerfüllten Toasten würzten das Mahl.

Allesammt spazierten wir später nach dem Hause des alten Freundes, das er sich als Eigenthum erworben. Wir sahen im Garten den Apfelbaum, dessen Blüthezeit sein Besitzer oftmals so dichterisch geschildert. Ruhig strömten die Wellen der Mulde an dem Gärtchen vorüber; ein wahrhaft seliger Friede beherrschte das kleine Tusculum. „Ja, hier ist Klima für das Herz!“ flüsterte Herloßsohn. Er dachte vielleicht an das Geräusch und den Trubel in der Hainstraße zu Leipzig, an die lästigen Besuche fremder Künstler, an die Heimsuchungen fahrender Literaten und was sonst noch Alles den Frieden des Hauses und der Seele behelligt. Wir genossen später auch die schöne Aussicht von der Gattersburg. Ein wahrhaftes Stück Idylle! Von Allen, die damals auf jener Höhe weilten, lebt außer dem Schreiber dieser Zeilen nur noch Einer.

Wenn der Wein reift und ich eine Frucht desselben in seltener Größe erblicke, gedenke ich jener freundlichen Gabe, die den wackern Stolle mehr erfreute, als wenn er eine goldene Tabaksdose empfangen hätte.

Stolle war Humorist in des Wortes schönster Bedeutung und mir ist es schon oftmals begegnet, daß irgend Einer die Frage aufwarf: „Wie kann Einer, der religiöse Lieder dichtet, auch anderwärts in seinen Schriften humoristisch sein? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht schwer. Nur der Religiöse kann, wenn ihn der Blitz des Muthwillens entzündet, wahrhaft witzig sein. Nur dem reinsten Ernste ist reiner Scherz möglich, weil sich im reinsten Menschen, das heißt im Dichter, die scheinbaren Gegensätze in uralter Liebe umfassen und Ernst und Scherz, Andacht und Muthwille nicht feindlich widerstrebende Stoffe sind.

Wer dies nicht beobachtet, der wird frivol, wie dies leider in unserer ätzenden und zersetzenden Zeit unter Schriftstellern vorkommt, von denen etliche nicht unterlassen, das Gefühl lächerlich zu machen. Hiervon blieb Stolle fern, und wenn sein Witz auch einmal auf Abwege gerathen sollte, bösartig war er nie. Wie vortrefflich war überhaupt sein Charakter! Seine Herzensgüte hatte stets eine Thräne für den Leidenden, einen Rath für [630] den Freund und eine Gabe für den Hülflosen. Im schönsten Lichte steht hier seine „Marienstiftung“, ein zur Unterstützung der armen Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges veranstaltetes Unternehmen, deren Ertrag ein unerwartetes Resultat erzielte. Wie oft hat er sein „Weihnachtsbäumchen“ für jene Armen angezündet! Ihm wurde keine Anerkennung dafür als das Bewußtsein, eine gute That vollbracht zu haben, und eher setzte er sich der Undankbarkeit aus, als einem Bedürftigen gegenüber sich einer Unterlassung schuldig zu machen.

Nach neunzehnjähriger Thätigkeit, die er dem „Dorfbarbier“ gewidmet, welcher seit 1852 in Keil’s Verlag als „Illustrirter Dorfbarbier“ erschien und sich rasch einen Leserkreis von 22,000 Abonnenten errang, gab er 1864 ein Werkchen heraus, das gleichsam als Abschieds- und Erinnerungsbüchlein für die „Kundschaft“ des „Dorfbarbiers“ galt: „Der Frühling“. Das Buch hatte hauptsächlich den Zweck, den Frühling in seinen unterschiedlichen Wandlungen und zwar vom ersten Veilchen bis zur letzten Rose vorzuführen. Wie voll Gemüth sind darin die Capitel: „Erwachen des Frühlings“ – „Waidmannsheil“ – „Ein weinumranktes Fenster“ etc.! Einige Jahre früher hatte er die Freude, eine Gesammtausgabe seiner Werke erscheinen zu sehen, welche in verschiedenen Auflagen die weiteste Verbreitung unter den Deutschen aller Länder gefunden hat.

Mitte der fünfziger Jahre war Stolle nebst Frau und Kind nach Dresden übergesiedelt. Hier traf ihn vor einigen Jahren ein schwerer Schlag durch den Verlust seiner geliebten Gattin. Von jener Stunde an umflorte der Kummer seine Seele. Ihm fehlte die treue, sorgsame Hausfrau, denn zwei brave, in Allem übereinstimmende Eheleute gleichen zwei alten, in einander verwachsenen Bäumen, die sich gegenseitig vor Wind und Wetter schützen. Knickt der eine, hat auch der andere keine rechte Dauer mehr. Als die ersten Veilchen des Jahres 1872 sich zeigten, fing Stolle an zu kränkeln, und im August suchte er Trost in frischer Bergesluft. Gut situirt – denn er hielt das mit seiner Feder verdiente Geld redlich zusammen – fand er auf seinen Wunsch in der Heilstätte auf den Loschwitzer Höhen ein Asyl, das ihm allen Comfort gewährte.

Hier besuchte ich ihn zu Anfang des Septembers. Auf meinen Arm gestützt, schritt er mit mir hinaus in das helle Sonnenlicht. Wir ließen uns auf einer Bank im Blattgesäusel der alten ergrauten Ulmen, der ehrwürdigen Eichen nieder und lenkten noch einmal den Blick auf vergangene Zeiten, gedachten der alten werthen Freunde, die noch lebten oder eingegangen waren in ein schöneres Leben. Oben in lichter Himmelshöhe prüften die Staare ihren Flug, um baldigst nach dem Süden zu ziehen. Die Astern, die Blumen des Herbstes, blickten von den Beeten zu uns herüber; ich sah mit stiller Wehmuth in das bleiche Antlitz des alten Freundes und flüsterte mir zu: auch Dein Herbst ist gekommen. Als der Abend zu dämmern begann, als die letzten Strahlen der scheidenden Sonne noch einmal drüben über dem Elbstrom die Wipfel der Schiller-Linde im Garten zu Blasewitz rötheten, reichten wir uns die Hände. „Kurz ist der Abschied für die lange Freundschaft!“

Sieben Tage vor seinem Tode empfing ich noch ein Brieflein von seiner Hand; es waren die letzten Schriftzüge, die er gethan. Ich bin kein Autographensammler; aber zwei an mich gerichtete Briefe, welche seltsamer Weise die letztgeschriebenen zweier edeln Menschen sind, verwahre ich mit inniger Pietät. Der erstere stammt von Herloßsohn, der ihn aus dem Jacobshospital zu Leipzig vom 29. November 1849 schrieb. Er schließt mit den Worten: „Auch mein Himmel ist trübe, lieber Freund! ich kann keinen neuen Planeten entdecken. Ich glaube, es ist Schlafenszeit!“ Nach Verlauf einer trüben Decemberwoche trat der Genius mit der umgekehrten Fackel an sein Lager. Der zweite Brief, das letzte Lebenszeichen von Stolle, lautet am Schluß: „Ich wünsche Dir, lieber Drobisch, alles Glück zu Deinem Eintritt in die Redaction der ‚Dresdner Presse‘. Ein freisinniges Blatt thut uns in Sachsen Noth. Kämpfe muthig mit Deinen Collegen für das Bessere, ich kann’s nicht mehr!“

Er kämpfte bald den harten Kampf mit dem Tode. Seine reine, unbefleckte Seele schwang sich empor – uns blieb nur die Erinnerung an ihn, an einen Mann von stets heiterer Gemüthsstimmung, von regem Gefühl für Recht und Gerechtigkeit und einer über sein ganzes Wesen und über alle seine Handlungen sich verbreitenden Humanität. Bekannt war seine Gefälligkeit und Bereitwilligkeit, jede kleine häusliche Freude und Feier mit seinen Talenten zu unterstützen. Seine stets frischen und gesunden Gedichte reden die Sprache des Herzens. Besonders günstig waren ihm die Musen in seinen launigen Poesien wie in seinen volksthümlichen Schriften. Die in denselben enthaltenen scherzhaften Beziehungen und Anspielungen mögen nicht selten dem tiefsten Hypochonder ein Lächeln des Beifalls abgewonnen haben. Seine Stiftungen, dereinst von ihm zum Wohl der Armuth in’s Leben gerufen, werden noch lange in unserer Erinnerung fortleben, gleich wie seine Schriften, namentlich die „Palmen des Friedens“. Mag auch Manches, was er geschaffen, im Laufe der Zeit schwinden, bleiben wird das, was er dem Allgemeinen geweiht hat.

Dies als Gedenkstein auf das Grab des Todten, der, wenn er noch lebte, mit manchem Geistesverwandten der Worte Gutzkow’s im „Baum der Erkenntniß“ gedenken würde: „Ein Weiheaugenblick ist es, zu entdecken, daß unser Leben im Herzen eines Freundes gebucht wurde, und daß bei ihm Dinge, Handlungen und Aeußerungen verzeichnet bleiben, an die wir uns selbst im Drang des Weiterlebenmüssens kaum noch würden erinnert haben.“

  1. Der Redacteur der Gartenlaube, der vierunddreißig Jahre inniger Freundschaft mit Ferdinand Stolle verlebt hat, behält es sich vor, binnen Kurzem noch einige weitere Erinnerungen an den Heimgegangenen folgen zu lassen.
    D. Red.