Dem Andenken eines großen Todten

Textdaten
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Titel: Dem Andenken eines großen Todten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 318–319
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Dem Andenken eines großen Todten.

Wenn ein großes Leben erlischt„ so geht eine feierliche Stille durch die Welt, Plötzlich schweigen sie alle, die Leidenschaften„ welche durch die Thätigkeitsäußerungen dieses Lebens wachgerufen waren. Eine tiefe Trauer senkt sich in die Seelen der Menschen und wie Grabgeläut klingen dem Ohr die Stimmen, die dem Todten einen Nachruf in seine Gruft mitgeben. Eine solche Stille, eine solche Trauer hat die Botschaft, daß Abraham Lincoln unter Mörderhänden seinen edlen Geist ausgehaucht, über beide Hemisphären verbreitet. Nun er dahingegangen ist, erkennt man die Größe dieser Gestalt an der breiten Lücke, die ihr Verschwinden zurückläßt. Sein Tod hat uns den Maßstab gegeben, nach dem wir die Bedeutung seines Lebens schätzen. Selbst die, welche sich immer geweigert haben ihn anzuerkennen, fühlen und sagen jetzt, daß er mehr als der Lootse gewesen ist, der in wilder Brandung das Schiff fest und ruhig steuert, daß er der Leucht­thurm gewesen, zu dem ein ganzes Volk vier schwere Jahre lang aufgeblickt hat, um sich der Richtung zu versichern, in welcher der einzige Weg der Rettung lag.

Die Wandlung, die in dem öffentlichen Urtheil über Lincoln vor sich gegangen ist, reicht allein schon hin, seine Bedeutung zu beweisen. Schritt für Schritt hat er sich die Achtung der Welt erkämpfen müssen, aus einem Meer von Spott und Schmähung hat er sich mit Haupt und Schultern gehoben, um vor unsern Augen immer mehr zu wachsen und endlich in seiner vollen wahren Größe dazustehen. Als er vor vier Jahren gewählt wurde, wollte man ihn tödten durch das Wort, das Goethe den falschen Freund in Clavigo’s Ohr flüstern läßt, um ihn zum Schurken zu machen. „Er ist kein Cavalier!“ ging das Geflüster durch die südstaatliche und demokratische Presse Nordamerikas und schwoll, durch das Echo aller Organe der englischen Tories und Baumwollenbarone verstärkt, zu einem vollen Chor an. Man schilderte mit Behagen seine eckige, von schwerer Arbeit auseinandergereckte Gestalt, seine große, am Griff der Holzaxt und des Floßruders hart gewordene Hand; man malte seine ungelenken Bewegungen aus und stellte ihn als einen Bauer dar, der, von seinem bösen Stern in einen glänzenden Saal geführt, in hülfloser Verlegenheit nicht weiß, wie er auf dem glatten Parket gehen und wie er eines der vielen zier­lichen Geräthe rings um ihn her anfassen soll. Alle Anekdoten, die über ihn umliefen, waren mit einem Zusatz gewürzt, der ihn als roh und bärenhaft ungelenk erscheinen ließ. Wie man sich aber auch anstrengen mochte, dieses Bild in der Phantasie der Menschen unvergänglich zu machen, die falschen Farben, mit denen man ihn überpinselt hatte, schwanden doch dahin und seine wirk­lichen Züge traten hervor wie ein edles Frescobild, wenn der Kalk abgefallen ist, mit welchem rohe Hände die Wand beworfen haben. Gewiß, ein Cavalier ist Lincoln nicht gewesen. Nicht mit noblen Passionen hat er sich beschäftigt, nicht von den Blüthen am Baume der Künste wählerisch gepflückt, nein, ein Charakter und ein Staatsmann altrömischer Art war er, einer jener Dicta­toren, die so einfach und so groß waren, die man vom Pfluge wegrief, auf daß sie den Staat retteten, und deren Thaten mit ehernen Zügen in den Tafeln der Geschichte eingegraben bleiben, während die feinen Reden und Manieren der Stutzer von der Via sacra mit ihnen selbst verschollen und vergessen sind.

Ein gütiges Schicksal leitete Lincoln’s Jugend auf die rauhesten Wege. In den Riesenwäldern, auf den Riesenflüssen seines Vater­landes errang er sich für Geist und Körper die Stahlkraft, die ein tägliches Ringen um die Existenz in denen erzeugt, welche ein tapferes Herz in diesen Kampf mitbringen. Nie hat ihm sein bitterster Feind nachsagen können, daß er sich einen Augenblick auf einen der tausend Nebenpfade verloren habe, die zu einem mühe­loseren und unehrenhafteren Erwerb führen. Dem Regen und Sturm entgegen schritt er gerade aus. Eines Tages befand er sich vor der verschlossenen Thür der Wissenschaft und erbrach sie. Ein neues Ringen hob an und reichlich floß der Schweiß, den die Götter als Preis der Tugend gesetzt haben. Aber den muthigen Kämpfer belohnte der Sieg und nun verwerthete er für Andere, was er sich selbst so mühevoll errungen hatte. Abraham Lincoln wurde der geschickteste und redlichste Advocat von Illinois. Nie vertheidigte er eine schlechte Sache und oft erlebte er den Triumph, einen Unschuldigen zu retten, den mächtige Feinde mit einem Lügengewebe umstrickt hatten. Während er als junger Mann seine [319] Selbststudien machte, ließ ihn ein armer Landwirth Armstrong an seinem Tische mit essen und gewährte ihm einen Platz am wär­menden Kaminfeuer. Lincoln war schon Congreßmitglied und ein berühmter Advocat, als er hörte, daß der Sohn dieses alten arm gebliebenen Freundes des Mordes angeklagt sei. Auf der Stelle bot er sich als Vertheidiger an. Die Sache schien hoffnungslos zu sein, die bestimmtesten Zeugnisse lagen vor, die öffentliche Meinung war ganz gegen den Angeklagten. Der Tag der Ver­handlung kam; blaß, ein Bild der Hoffnungslosigkeit saß der An­geklagte da und bog sich unter der Wucht der Beweise, die jede neue Zeugenaussage auf ihn wälzte. Der Staatsanwalt hatte nur ganz kurz gesprochen, als Lincoln sich erhob. Seine klare Geschichtserzählung beseitigte die künstliche Verwirrung, die man zum Verderben des Schuldlosen hervorgerufen hatte. Noch eine Zeugenaussage lag lastend in der Wagschale des Schuldig, und diese warf Lincoln mit einem Schlage zu Boden. Der Zeuge hatte den Angeklagten im Mondlicht erkannt, und Lincoln bewies, daß der Mond zu der angegebenen Zeit noch nicht aufgegangen sei. „Wenn noch Gerechtigkeit ist,“ schloß er, „so wird die Sonne, ehe sie untergeht, den Angeklagten als freien Mann bescheinen.“ Und die Sonne stand noch am Himmel, da führte Lincoln den Freigesprochenen der weinenden Mutter zu.

Wie er selbst Stufe auf Stufe erstieg, so führte er auch die Sache, der er sich mit Leib und Seele gewidmet hatte, stufenweise aufwärts. Illinois war ein demokratischer Staat, Lincoln machte ihn zu einem republikanischen. Sobald er in seinem Wohnort Springfield festen Fuß gefaßt hatte, war für ihn der Punkt des Archimedes gefunden, von dem aus er das feste Gefüge der De­mokratie aus den Angeln hob. Er forderte Douglas, den „klei­nen Riesen des Westens“, zu einem Zweikampf auf der Redner­bühne heraus und besiegte den berühmten Obmann der Demokra­ten. In den Congreß gewählt, war er unter denen, welche das Verbot der Sclaverei in dem neuen Staate Texas forderten, der Unermüdlichsten einer. Je klarer das Streben der südlichen Ba­rone wurde, mit Hülfe ihrer Schildknappen im Norden die Scla­venstaaten in die Mehrheit zu bringen, um so eifriger arbeitete Lincoln ihnen entgegen. Um Illinois durch einen Republikaner im Senat vertreten zu lassen, entsagte Lincoln 1855 der eigenen Candidatur und bestimmte alle seine Freunde, den Republikaner Trumbull, dessen Anhang die gute Sache mit einer Stimmenzersplitterung bedrohte, zu wählen. Die Uebergriffe der Sclaven­halter begannen nun die Deutschen, die er stets geachtet und geliebt hatte, zur republikanischen Partei hinüberzuführen. Zu einem Feste in Chicago, dem er beizuwohnen verhindert war, schickte er folgenden Toast: „Unsere deutschen Mitbürger – stets der Frei­heit, der Union und der Verfassung treu, treu der Freiheit, nicht aus Selbstsucht„ sondern aus Princip, nicht der Freiheit für be­sondere Classen von Menschen, sondern für alle Menschen, treu der Union und der Verfassung als den besten Mitteln, jene Freiheit zu fördern – sie leben hoch!“

Nicht als ein Nothbehelf, zu dem man zu greifen gezwungen ist, nein, als einer der besten und edelsten Männer der Partei, wurde Lincoln 1860 von den Republikanern als Candidat für die Präsidentschaft aufgestellt. Kaum war seine Wahl erfolgt„ so beschleunigten die Sclavenhalter in richtiger Würdigung dieses Tod­feindes der Sclaverei ihre Vorbereitungen zum Abfall. An der Schwelle des Weißen Hauses empfing ihn der Bürgerkrieg und schwoll bald genug, von Zehntausenden von Leichen genährt, zu einem Ungeheuer an. Als Lincoln starb, waren dem riesigen Scheusal die Sehnen durchschnitten, Wir haben diesen großen Erfolg mit erlebt und oft gesagt, unter welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten er erreicht worden ist. Aber unsere Blicke haben doch mehr auf den kämpfenden Heeren und Flotten geruht, als auf den Staatsmännern in Washington; das Getöse der Schlach­ten hat uns mehr beschäftigt, als die stille und wenig sichtbare Arbeit des Cabinets, und so werden wir uns wohl jetzt erst bewußt, daß der größere und schönere Antheil des Erfolgs auf die Seite Lincoln’s und seiner Gehülfen fällt. Denn seiner Geduld, Mäßigung und Milde ist es gelungen, den Bundesgenossen zu entwaffnen, ohne den der Süden seinen Aufstand nie begonnen hätte und mit dessen fortdauernder Unterstützung er alle Verluste und Niederlagen hätte ausgleichen können. Lincoln hat durch seine Politik die Demokratie des Nordens besiegt und gesprengt.

Die Ungeduld seiner eigenen Partei zu zügeln, wurde ihm vielleicht noch schwerer, als jener Sieg über seine Gegner. Die Republikaner betrachteten ihn als einen Bevollmächtigten, der einen übernommenen Auftrag rasch und vollständig auszuführen hat. Mehr als einmal suchte man ihn zu zwingen, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, indem man diesen oder jenen General be­stimmte, die Initiative in Abschaffung der Sclaverei zu ergreifen. Lincoln erklärte dann die voreilige Handlung für ungültig und fuhr fort, den rechten Tag und die rechte Stunde abzuwarten. Sah er den günstigen Augenblick gekommen, so handelte er, ohne daß er um eine Linie über die Grenze hinausging, die ihm von dem momentanen Stande der öffentlichen Meinung gezogen wurde. Um das große Ziel ganz sicher zu erreichen, wollte er von dem Volk Alles dahin mitnehmen, was sich überzeugen und gewinnen ließ. In wie hohem Grade er das erreicht hat, beweist die un­geheure Mehrheit, die bei der Präsidentenwahl des vorigen Spät­herbstes für ihn stimmte. Sein überlegener Geist hatte ihm jetzt Vertrauen, seine fleckenlose Rechtlichkeit Achtung, sein warmes Herz Liebe verschafft. Es war jetzt Jedem bekannt, daß dieser Mann, gegen den der Haß seine Pfeile in Wolken fliegen ließ, nicht Gleiches mit Gleichem vergalt und in denen, welche gegen die Union kämpften, nur verirrte Brüder sah. In den letzten Momenten seines Lebens beschäftigte er sich mit nichts so sehr, als mit Abwehr von Handlungen der Rache gegen den Süden, der sich zum Fall neigte. In denselben Berathungen im Angesicht von Petersburg, die den Plan der letzten Entscheidungsschlacht feststellten, schrieb er den Generalen die Bedingungen vor, welche sie dem Gegner gewähren sollten. Wir kennen sie aus Lee’s Ca­pitulation. Der Südländer, gleichviel ob General oder Soldat, der die Waffen niederlege, sollte in die Brüderschaft der Union zurückkehren, als ob nichts geschehen sei. Eben hatte er auf den von Blut rauchenden Schlachtfeldern die Palme des Friedens ge­pflanzt, als die Kugel des Mörders ihn traf. Wie beneidens­werth ist ein Leben, das mit einem solchen Act der Feindesliebe geschlossen hat!

Die Rede, die Lincoln am 12. April in Washington gehalten hat, ist als sein politisches Testament zu betrachten. Sie zieht in großen Zügen die Linien der Politik, die er dem Süden gegen­über beobachten wollte. Alle Kräfte müßten aufgeboten werden, um die praktischen Beziehungen zwischen den abgefallenen Staaten und der Union wieder herzustellen. Man möge sich nie einmischen, wenn man zu gewahren glaube, daß einer jener Staaten sich der neuen Ordnung der Dinge nicht ganz füge. Was sei in Louisiana geschehen? Man habe ihn getadelt, daß er die Verfassung jenes Staates nicht beseitigt, den Farbigen nicht das Wahlrecht bewilligt habe. Allerdings würde es ihm lieber sein„ wenn es dort statt zwölftausend Wähler fünfzigtausend gäbe. „Aber diese zwölftausend Männer des ehemaligen Sclavenstaates haben der Union gehuldigt, eine freie Verfassung angenommen, Schwarzen und Weißen die gleichen Wohlthaten der öffentlichen Schulen ge­schenkt und dem Gesetzgeber die Vollmacht ertheilt, den Farbigen das Wahlrecht zu ertheilen. Wenn die neue Verfassung Louisia­na’s im Verhältniß zu dem, was sie sein sollte, das wäre, was das Ei ist im Verhältniß zum Huhn, kommen wir dann schneller zum Huhn, wenn wir das Ei zerbrechen, oder wenn wir es aus­brüten?“

Nur ein paar Tage verflossen, nachdem Lincoln diese Politik der Selbstconstituirung des Südens empfohlen hatte, und er war als „Tyrann“ ermordet. Sein Werk aber war gethan, zerbrochen waren die Ketten von vier Millionen Sclaven und wieder flatterte das Banner der Union über Charleston und Richmond. In den dankbaren Herzen der Schwarzen wird „Vater Abe“ fortleben für alle Zeiten, die Bürger der Union werden ihn gleich Washington und Jefferson verehren und die Geschichte wird ihn den wenigen Staatsmännern zuzählen, die rein und makellos ihre Bahn gegangen sind und vielleicht in einem Uebermaß von Güte gefehlt, aber nie eines Mißbrauchs der Gewalt sich schuldig gemacht haben.