Das tote Mädchen
Es waren einmal fünf Karrenschieber. Die kamen des Abends an eine Herberge und wollten übernachten. Der Wirt wies sie ab, weil alle Räume überfüllt waren. Doch ließen sie nicht ab mit Bitten. Da führte sie der Wirt in einen inneren Hof. Auf der Ostseite stand ein kleines Häuschen mit drei Zimmern. Im mittleren Zimmer war die [204] Leiche eines Mädchens aufgebahrt, und ihr Gesicht war mit einem weißen Papier bedeckt. Bei diesem Anblick erschraken die fünfe und wagten sich nicht hinein.
Der Wirt erklärte ihnen: „Das ist meine Schwiegertochter, die kürzlich verstorben ist. Mein Sohn ist fort, um einen Sarg zu kaufen, und noch nicht wieder da, darum ist sie noch aufgebahrt. Sonst hab ich keinen Platz zum Übernachten. Ihr müßt eben vorlieb nehmen.“
Die fünfe dachten: „Es ist schon dunkle Nacht und nirgends sonst ein Unterkommen. Da können wir schon eine Nacht hier verbringen. Wir sind ja auch zu fünft, und vor was sollten wir uns schließlich fürchten?“
So gingen sie denn miteinander in das Haus. Im Nebenzimmer war eine gemauerte Schlafstelle, die war groß und bequem. Der Wirt zündete eine Lampe an und brachte ihnen etwas zu essen. Nach dem Essen schliefen vier von ihnen, da sie rechtschaffen müde waren, sogleich ein. Der fünfte aber war ängstlich von Natur. Er legte sich auf die Seite, aber konnte nicht schlafen. Plötzlich hörte er im Nebenzimmer vom Bett der Leiche her ein knitterndes Geräusch. Er machte die Augen auf und blickte hin. Da sah er, wie der Schein der Lampe völlig grün geworden war. Und schon stand auch das Mädchen auf und kam in das Zimmer herein. Sie blies seinen vier Kameraden allen ins Gesicht. Er war starr vor Schrecken, und weil er keinen Ausweg sah, zog er die Decke über das Gesicht und blieb zusammengekrümmt liegen. Die Leiche wandte sich ihm zu. Sie neigte den Kopf und blies ihn an. Dreimal blies sie; dann ging sie wieder hinaus. Er hörte, wie das Bett krachte, öffnete die Decke und blickte verstohlen nach ihr hin. Da lag die Leiche wieder ausgestreckt mit dem Gesicht nach oben. Nun stieß er mit dem Fuß seine Kameraden an; kein einziger wachte auf. Er schüttelte sie am Arm; keiner regte sich. Er hörte genau hin; ihr Atem ging nicht mehr. Da merkte er, daß seine vier Kameraden tot waren. Es überfiel ihn eine entsetzliche Angst, und er dachte, es sei vielleicht [205] am besten, einfach davonzulaufen. Aber kaum hatte er sich bewegt, da hörte er auf dem Bette wieder ein Geräusch. Er richtete sich auf und wollte von seiner Schlafstelle herab. Da saß auch schon die Leiche aufgerichtet. Er nahm sich keine Zeit mehr, die Kleider zuzuknöpfen oder in die Schuhe zu schlüpfen, sondern riß den Riegel auf und stürzte hinaus. Er kletterte über die Hofmauer und entfloh. Aber die Leiche rannte hinter ihm her. Er wollte den Wirt rufen; doch fürchtete er, sie könnte ihn einholen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als geradewegs ins Feld hinauszulaufen, so schnell er nur konnte. Die Leiche blieb ihm auf den Fersen. So liefen sie wohl eine Meile weit. Da kam er an ein Kloster. In größter Hast schlug er an die Pforte. Der Bonze aber, der in dieser tiefen Nachtstunde den Lärm vernahm, fürchtete, es sei ein Räuber und zögerte aufzumachen. Schon war der Leichnam herangekommen. In seiner Todesangst erblickte er vor der Klosterpforte eine große Kiefer, die so dick war, daß man sie nicht umfangen konnte. Schleunigst versteckte er sich hinter dem Baum. Die Leiche griff mit beiden Armen um den Baum herum und wollte ihn packen. Da stieg sein Schreck aufs äußerste; er fiel zu Boden und blieb bewußtlos liegen. Da erstarrte auch die Leiche, die noch immer den Baum umfangen hielt.
Als der Bonze hörte, daß draußen plötzlich alles still geworden war, da zündete er ein Licht an, machte die Pforte auf und guckte nach. Da sah er eine Frau, die den Baum umfangen hatte mit geschlossenen Augen, und ein Mann lag dahinter auf dem Boden, laut röchelnd. Er rüttelte ihn am Arm. Da kam er wieder zu sich und erzählte alles, was er erlebt hatte.
Als der Tag zu dämmern anfing, da kam auch der Wirt herbei, der auf der Suche nach dem Leichnam war. Er sagte, die vier Gäste seien alle gestorben und er wisse sich nicht zu helfen. Der Bonze riet ihm, sofort dem Beamten Anzeige zu erstatten. Der Beamte kam und befahl, [206] daß die Leiche der Frau zurückgebracht werden sollte. Aber die Leiche hielt den Baum so fest umfangen, daß man sie nicht losbekommen konnte. Man sah nach, und es zeigte sich, daß die Finger beider Hände tief in das Holz eingedrungen waren. Man mußte alle Kraft anwenden, um sie herauszureißen.
Da begann der Mann zu weinen und sprach: „Wir sind zu fünfen ausgezogen, und ich komme nun allein zurück. Wie soll ich mich von dem Verdacht reinwaschen, daß ich die andern umgebracht?“
So sandte denn der Beamte eine Feststellung des Sachverhalts in die Heimat des Mannes und ließ auch die vier Toten zur Beerdigung dorthin überführen.
Anmerkungen des Übersetzers
[400] 68. Das tote Mädchen. Vgl. Liau Dschai.