Das singende Thal bei Thronecken

Textdaten
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Autor: Carus Sterne
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Titel: Das singende Thal bei Thronecken
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 34–36
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[34]

Das singende Thal bei Thronecken.

Von Carus Sterne.

Man höret oft im fernen Wald
Von oben her ein dumpfes Läuten,
Doch Niemand weiß, von wann es hallt,
Und kaum die Sage kann es deuten.
                         Uhland.

Im December 1827 veröffentlichte der gelehrte, in seinen älteren Jahren etwas zum Mysticismus, neigende Tübinger Professor Autenrieth im „Morgenblatt“ einen Vortrag über „Stimmen aus der Höhe“, in welchem allerlei unerklärte Naturtöne in dem Sinne behandelt wurden, als offenbarten sich dem höheren Sinne des Ohres in ihnen überirdische Mächte, die unsichtbar über unseren Häuptern dahinziehen. Eine Hauptrolle spielte dabei die sogenannte „Teufelsstimme von Ceylon“, ein Entsetzen einflößendes Geschrei, welches man daselbst des Nachts hoch in den Wolken vernimmt und von welchem, im Gegensatze zu der „Harmonie der Sphären“ und dem bei Shakespeare mit sanften Accorden daherziehenden Luftgeiste Ariel, dem Leser nahegelegt wird zu glauben, es könne sich dabei doch vielleicht um die Raserei des bekanntlich auf dieser Insel verehrten Beherrschers der Finsterniß handeln. Schleiden hat sich in einem Aufsatze seiner „Studien“, der den Titel trägt: „Die Natur der Töne und die Töne der Natur“, die Mühe gegeben, den Quellen nachzugehen, und er hat aus dem Tagebuche des Reisenden Davy, eines Bruders des berühmten englischen Chemikers, dessen Nachrichten von Autenrieth sehr mystisch entstellt wiedergegeben worden waren, gezeigt, daß es sich bei der sogenannten „Teufelsstimme“ nur um den unangenehmen Schrei eines Nachtvogels handele, den die Eingeborenen in ähnlicher Weise als unheilverkündend betrachten, wie unsere Landleute den Schrei des Uhus.

Autenrieth’s Artikel übte eine ungemeine Nachwirkung, und noch heute scheinen die „geheimnißvollen Naturtöne“ an Stelle der etwas aus der Mode gekommenen Gespenstergeschichten eine sehr bedeutende Rolle in der Journalliteratur zu spielen. Noch vor wenigen Monaten sahen wir den Geist Autenrieth’s wieder einmal leibhaftig und zwar in einer naturhistorischen Zeitschrift (!) spuken, und das Schönste war, daß darin nunmehr Schleiden als derjenige bezeichnet wurde, welcher die Ceyloner Teufelsstimme für etwas Unbegreifliches erklärt hätte, während dem alten Autenrieth und dem noch tiefer in Mysticismus versunkenen G. H. von Schubert nachgerühmt wurde, daß sie nach einer natürlichen Entstehungsursache geforscht hätten. Wir freuen uns im Nachfolgenden über die vorurtheilsfreiere Untersuchung einer nicht minder ergreifenden und das Gemüth aufregenden akustischen Erscheinung berichten zu können, die denn auch eine physikalische Erklärung derselben anbahnen dürfte.

Von der Memnonssäule des alten Theben an, zu welcher die römischen Touristen wallfahrteten, bis zu den versunkenen Schlössern und Kirchen des Mittelalters, deren Glocken man um Mitternacht aus der Tiefe erschallen hört, wird über eine Menge von akustischen Eigenthümlichkeiten berichtet, die sich an ganz bestimmte Oertlichkeiten knüpfen. So wird ein Aussichtspunkt auf einem der Vorberge der Sierra nevada, von welchem man eine entzückende Aussicht auf Granada und die Alhambra genießt, der letzte Seufzer des Mauren (el Ultimo sospiro del Moro) genannt, weil dort die Klage Boabdil’s, des von Ferdinand dem Katholischen aus seiner herrlichen Residenz vertriebenen Maurenfürsten, bis auf den heutigen Tag fortdauern soll, wie es G. Pfitzer in dem Schlußverse seines diese Sage behandelnden Gedichtes ausdrückt:

„Und der letzte Seufzer des Mauren
Tönt auf dem Berge noch immer fort.“

Wir werden eine Reihe ähnlicher tonerfüllter Oertlichkeiten weiterhin zu erwähnen haben, nachdem wir dem Leser über die kürzliche Wiederentdeckung eines ähnlichen „singenden Thales“ in unserem deutschen Vaterlande berichtet haben werden. Wir meinen das Röderbachthal, eine der Terrainfalten, welche den im rheinischen Hochwald, zwischen Nahe und Mosel belegenen höchsten Berg der Rheinprovinz, den Erbeskopf umlagern, und welchem Herr H. Reuleaux kürzlich eine lesenswerthe Schilderung[1] gewidmet hat. Wie sich erst nachträglich herausstellte, ist dieses „singende Thal“ schon früher als solches bekannt gewesen, und der jetzige Bürgermeister von Remagen, Herr von Lassaulx, hatte daselbst auf einer Jagd schon in den sechsziger Jahren langgedehnte tiefe Glockentöne vernommen, die einen starken und unvergeßlichen Eindruck auf sein Gemüth machten, sodaß er dem damaligen Oberförster Helbron von Thronecken, dessen Gast er war, davon Mittheilung machte, und die Antwort erhielt, diese seltsamen Klänge seien in „seinem singenden Thale“, das heißt in eben diesem Röderbachthale, schon öfter wahrgenommen worden.

Auf einer am 21. November 1877 abgehaltenen Hirschjagd geschah es nun auch, daß unser Gewährsmann die Musik des singenden Thales von Neuem vernahm. Das Wetter war klar, und mit gleichmäßigen ruhigen Brisen eines nicht heftigen Südwestwindes wechselten unvermittelt auftretende kurze Stöße ab.

Schon bei der Fahrt den Hochwald hinan hörte er tiefe, glockenartig verhallende Töne, die er dem Geläute eines nahen Dorfes zuschrieb, obwohl in der ganzen Gegend, wie sich nachher herausstellte, gar keine größeren Glocken vorhanden sind. Nachher auf dem ihm für die Treibjagd angewiesenen Platze an der einen Seitenwand des waldbedeckten, muldenartig bis zur Höhe des Gebirgsrückens aufsteigenden Thales angelangt, vernahm er die Klänge, die sich bisweilen zu einer Art Sphärenmusik verbanden, um vieles deutlicher. Doch lassen wir den Beobachter selbst erzählen:

„Gedankenlos anfangs, dann aufmerksamer,“ berichtet er, „hörte ich den Tönen zu und wunderte mich über ihren auffallend reinen Klang, über das ungewöhnlich deutliche, seufzerartige Anschwellen und Verwehen, über die ungemeine Lebhaftigkeit, mit welcher die Töne einander folgten, mit welcher ein Ton den andern drängte, noch ehe dieser ganz verklungen war … in ewiger Wiederholung derselbe einförmige, in seiner Höhe nie, auch nur um Haaresbreite, schwankende oder modulirende Ton.“

Es war, wie nachher durch Vergleichung mit einem Jagdhorn festgestellt wurde, das Keine c, und der Beobachter erhielt den Eindruck, als ob die Töne in der Tiefe der von unten nach oben ziehenden Thalfurche entstünden, dann, mit dem Winde aufsteigend, sich strahlenförmig in den obern Theil des Thales ergössen, aber meist an der gegenüberliegenden Bergwand hinzögen und nur wenige Male nahe bei seinem Standorte vorüberkämen. Der sinnliche Eindruck war der, als ob das tönende Instrument selbst, also die tönende Glocke, in bestimmter, abschätzbarer Richtung vorüberzöge, [35] an die Sage von den Glocken erinnernd, welche die Hexen rauben und durch die Lüfte entführen.

„Wieder beginnt unten im Thale ein Ton, er schwillt stärker und stärker an, aber er zieht nicht das jenseitige Ufer entlang, nein, das Unerhörte geschieht – er kommt auf uns zu; er zieht in prächtiger Schwellung langsam an uns vorüber und entwickelt sich dabei zu solch eigenartiger Schönheit und Fülle, daß ich kaum zu athmen wage; dann schwächt er sich im Weiterziehen langsam ab und erstirbt verhauchend in der Ferne. Mit der wachsenden Intensivität trat mehr und mehr ein immer lebhafter werdendes Vibriren hervor, und was den unerhörten Vorgang noch wunderbarer machte, war ein anfangs leises, dann immer deutlicher werdendes Mitschwingen der obern Octave des in idealster Reinheit dahinwehenden Tones. Und nun die Klangfarbe! Beginnend und verwehend wie schwacher Orgelklang, nahm der Ton mit der Schwellung immer mehr das unnennbar Reizvolle des Harfentones an, und zwar vollzog und steigerte sich diese fremdartige, nie gehörte Klangwandlung gleichzeitig mit dem Auftreten der Octave, die wie feiner zitternder Geigenstrich hinzutrat und namentlich bei dem Weiterziehen des Tones noch von fern deutlich hörbar blieb. ... Der Gesammteindruck bei der Empfindung: es zieht da etwas durch die Luft, etwas Unsichtbares, Unfaßbares, etwas Wesenloses und dennoch Vorhandenes, ist nicht zu beschreiben ... Ganz unverkennbar hingen die Töne vom Winde ab. ... Es gab kurze Unterbrechungen, in denen sowohl das Tönen im Oberthale etwas nachließ als auch durch den Mittelgrund keine Töne zogen, gerade aber dann empfand man, wie das Thal in seiner ganzen Ausdehnung tonerfüllt, wie allenthalben, auch in der Ferne, die zitternd ersterbenden Töne ausklangen, wahrlich: des Pythagoras wundersamer Gesang der Sphären!“

Wir haben sowohl die Beobachtungen selbst, wie die Gemüthseindrücke mit des Verfassers eigenen Worten wiedergeben wollen, da es das erste Mal ist, daß dieses Phänomen von einem gewissenhaften und vorurtheilsfreien Beobachter genau geschildert wurde. Dennoch scheint es an sich nicht allzu selten zu sein, wie schon der Vers andeutet:

Man höret oft im fernen Wald,
Von oben her ein dumpfes Läuten ...

Aber es wird oftmals überhört, und von allen Jagdgenossen hatte es nur noch ein Einziger vernommen, der beim Aufbruche sich Herrn Reuleaux näherte und ihm zurief. „Aber mein Gott, was war denn das in der Luft?“ Die Anderen hatten es wahrscheinlich im Eifer der Jagd völlig überhört. Und doch war das Phänomen an diesem Tage so beständig, daß unser Beobachter es von Neuem vernahm, als er fünf Stunden später seinen früheren Standort wieder betrat. Außer dem von dem Verfasser zum Vergleiche herangezogenen Sospiro del Moro sind mir in der Literatur nun noch mehrere andere Oertlichkeiten aufgestoßen, von denen ganz dasselbe Phänomen berichtet wird. Die älteste mir bekannte Erwähnung finde ich im neunundsechszigsten Capitel des dritten Abschnittes der um 1211 verfaßten „Otia imperiala“ des Gervasius von Tilbury.

„In Großbritannien,“ heißt es daselbst, „ giebt es einen Wald, reich an mannigfachen Jagdthieren, welcher zum Bezirk der Stadt Carlisle gehört. Etwa in dessen Mitte befindet sich ein von Bergen umwandetes Thal neben der großen Straße. In diesem Thale, sage ich, wird täglich zur ersten Stunde des Tages der süße Klang von Glockengeläute (classicum campanarum dulce resonans) vernommen, wonach die Eingeborenen dem einsamen Orte im gallischen Idiom den Namen Laikibrait beigelegt haben.“[2]

Die zweite mir aufgefallene Stelle findet sich in des alten Scheuchzer’s Beschreibung der Alpen,[3] wo es von der Sandalp beim Tödi heißt: „Von dieser sandigen Alp oder Sandalp berichten die Alpenbewohner, daß daselbst zu gewissen Zeiten in der Luft der angenehmste Wettkampf musikalischer Töne (suavissimus sonorum musicorum concertus) gehört würde.“ Das scheint heute noch der Fall zu sein; wenigstens sagt Berlepsch in seinem Reisebuch (ohne Scheuchzer zu erwähnen): „Die Hirten erzählen von einer Sphärenmusik, die sie hier hören.“

Einen dritten ähnlichen Fall berichtet Schleiden in seinem oben erwähnten Aufsatz. Ein Reisender besuchte im Herbst 1828 die Hochpyrenäen und stieg über den wildesten Paß derselben nach Spanien hinüber. „Nachdem wir uns,“ so erzählt der Reisende, dessen Worte ich nicht ohne Grund genau anführe, „durch dichtes Gehölz und Schluchten durchgewunden, gewannen wir morgens gegen zwei Uhr das Hospiz, von wo wir nach kurzer Rast mit dem ersten Tagesgrauen zu dem engen, senkrechten Felsenpaß aufbrachen, der mitten durch das Gestein emporsteigt. Ich will hier nicht die einzigen Züge des herrlichen Schauspiels beschreiben, das sich plötzlich vor unseren Augen aufthat, als wir aus dem mächtigen Portal heraustraten und auf spanischem Boden standen, noch die Empfindungen, welche uns unbeweglich an diesen Fleck fesselten, als wir mit wortloser Bewunderung auf die einsame, öde, wenn ich sagen darf, geisterhafte Gestalt der mit Recht so genannten Maladetta hinüberschauten. Ich führe dieselben blos an, um zu bemerken, daß wir höchst betreten wurden über einen dumpfen, langsamen, klagenden, der Windharfe ähnlichen Ton, der allein durch das todtengleiche Schweigen daherbebte und offenbar von jenen mächtigen Massen ausging, obwohl wir uns vergebens bemühten, irgend einen bestimmten Ort seines Ursprungs oder eine Ursache dieser schauerlichen Töne ausfindig zu machen. Ich will nicht behaupten, daß die Sonnenstrahlen, welche eben in jenem Augenblicke in voller Glorie auf jeden Punkt der schneeigen Höhe sich warfen, irgend einen Antheil gehabt, die Saiten des Berges in Schwingungen zu setzen, muß jedoch bemerken, daß, als ich mich einige Tage später noch einmal allein nach dem Orte begab und zur selben Stunde an demselben Flecke stand, ich vergebens auf die klagenden Töne horchte. Die Luft war ebenso ruhig, aber die Sonne von Wolken bedeckt, und ein dichter Nebelschleier hing über dem größeren Theile des Gebirges.“

Wir sehen, dieser gewissenhafte Beobachter hat an die Memnonssäule gedacht, aber trotz des beim mangelnden Sonnenaufgang ausgebliebenen Tones keinen bestimmten Schluß in dieser Richtung gewagt. Wir haben also nun drei bis vier gleiches Zutrauen verdienende Berichte über analoge Beobachtungen, aus denen wir vielleicht allgemeinere Schlüsse über die Entstehungsweise des merkwürdigen Phänomens ziehen können, als es Herr Reuleaux aus seiner, übrigens mit echt wissenschaftlichem Geist angestellten Einzel-Untersuchung vermochte. Da ähnliche Tonbildungen im Röderbachthal wiederholt beobachtet worden sind, so muß diese Terrainfalte, sagte er sich, eine Bildungseigenthümlichkeit aufweisen, welche die Entstehung solcher Töne begünstigt. Wie ein genaueres Studium ergab, hat nun diese Thalfurche die Gestalt einer sanft gehöhlten Mulde oder Muschel, die sich gegen das niedrigere Land zu einer engen, fast einen Kilometer langen gradlinigen, von ziemlich steilen Wänden begrenzten Schlucht zusammenzieht, durch welche der Röderbach abwärts fließt. Von dem Punkte, an welchem sich diese enge Schlucht plötzlich zu der weitgeöffneten Thalfurche erweitert, kamen, wie Reuleaux deutlich wahrnahm, sämmtliche Töne her; die Schlucht, durch welche der Wind heraufblies, war das stets tonerfüllte Mundstück des singenden Thales.

Wir wollen nun hier zunächst darauf aufmerksam machen, wie genau die Form dieses singenden Thales im Hochwald mit derjenigen der musikalischen Sandalp und des eben geschilderten Pyrenäenpasses übereinstimmt. In allen drei Fällen öffnet sich ein langer Engpaß plötzlich in einem weiten Raum, und die Beschreibung, welche Washington Irving von seinem Ritt zum Sospiro del Moro giebt, läßt eine ähnliche Terrainbildung vermuthen. Noch unmittelbarer schließt sich eine Mittheilung an, die sich in der oben angedeuteten kritiklosen Sammlung ähnlicher Erscheinungen erwähnt findet, die ich aber nicht mit dem Originalbericht vergleichen konnte.

„Eine Abhandlung von Kolb über das Großherzogthum Badens,“ heißt es daselbst, „erzählt, daß gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts mehrere Soldaten, welche im Schwarzwalde, in der Nähe des Städtchen Triberg im Breisgau, lagerten, entzückende Klänge in den Wipfeln der Tannenbäume vernahmen, begleitet von der rauschenden Bewegung des Windes, der durch die enge Thalschlucht gedrängt wurde.“ Wir wissen nun wohl, daß in engen Thalschluchten heulende, seufzende und stöhnende Windtöne ebenso wohl wie in unsern Schornsteinen erzeugt werden, aber wodurch könnten dieselben in so reine, wohllautende Töne verwandelt werden?

In einem Nachworte seiner Schrift sagt Herr Reuleaux, [36] daß zwei unserer ersten Physiker sich ihm gegenüber dahin ausgesprochen hätten, daß eine streng wissenschaftliche Lösung des Problems vor der Hand unmöglich sei, weshalb auch der Beobachter selbst die Hoffnung auf eine befriedigende Lösung aufgegeben hat. Wir halten indessen den Fall keineswegs für so hoffnungslos und glauben vielmehr, daß sich aus den genauen Beobachtungen unseres Gewährsmanns eine wenn auch nicht mathematisch beweisbare, so doch vorläufige Erklärung ableiten läßt. Wiederholt und mit Nachdruck spricht derselbe sich dahin aus, daß die vernommenen Töne zwar aus der Schlucht kamen, aber keineswegs das hergewehte Tönen des Windes in der Schlucht gewesen seien. Sie ergaben sich vielmehr nach den stundenlang fortgesetzten Beobachtungen als „selbsttönende Luftgebilde oder tönende Körper, welche gleich unsichtbaren singenden Schwänen durch die Lüfte segelten“, aber sämmtlich aus dem mehr als 1200 Meter von dem Standpunkte des Beobachters entfernten „Mundloche“ des Thales heraufzogen. So konnte er sich denn nur denken, daß diese Töne von kleineren isolirten Luftwirbeln gebildet würden, die er nach Flug, Richtung, Schnelligkeit und Entfernung ebensowohl oder besser schätzen und verfolgen konnte, wie einen an unserem Ohre vorüberschwirrenden Pfeil. Meist segelten sie an der gegenüberliegenden Thalwand dahin; manchmal kamen sie dicht bei ihm vorbei, ja er ging unter den langsam vorüberziehenden Wirbeln hindurch und vernahm jedesmal das Anschwellen der sich nähernden Töne, die gleichmäßige Stärke beim oft sehr langsamen Vorüberziehen und das seufzerartige Dahinschwinden bei der allmählichen Entfernung der Wirbel. Keine andere Ursache als wirklich im Fluge weitertönende Massen, also muthmaßlich Luftwirbel, können nach des Beobachters Ueberzeugung diese durch das Thal ziehenden Glockentöne erzeugt haben.

Wie aber könnten derartige Wirbel entstehen? Der Urheber dieser wahrscheinlich richtigen Wirbeltheorie zweifelt ernsthaft daran, daß man ihre Entstehung demonstriren könne; machen wir also selbst einen Versuch! Er spricht von kurzen unvermittelten und länger andauernden Windstößen, welche, durch die enge Schlucht gepreßt, in das Thal strömten, und wir glauben, man kann experimentell nachweisen, daß sich dabei sehr eigenartige Luftwirbel bilden mußten. Wir verfertigen uns aus Spielkarten einen Hohlwürfel, schneiden in die Mitte der einen Fläche ein beliebig gestaltetes Loch und füllen durch dasselbe den Würfel mit Tabaksdampf. Wenn wir jetzt einen kurzen Stoß gegen die dem Loche gegenüberliegende elastische Wand ausführen, so tritt aus dem Loche eine Portion Tabaksrauch und zwar in Gestalt eines ringförmigen, in der Stoßrichtung fortschreitenden Wirbels.

Durch kurze Windstöße aus der Lunge kann man bekanntlich dieselben Wirbel oder Rauchringe direct aus dem Munde senden, und es ist dabei ganz unnöthig, den Mund so rund zuzuspitzen, wie es gewöhnlich geschieht, denn aus einem vollkommen quadratischen Loche kann man aus dem Kartenwürfel ebenso schön gerundete Ringe hervortreiben, wie aus einem kreisrunden. Die Bildung der Ringe ist, wie E. Reusch gezeigt hat, eine Folge des Austritts der Luftmasse aus einer engern Wandöffnung in einen ganz freien Raum. Rings um die Oeffnung entsteht an der Wand eine Luftverdünnung; von allen Seiten strömt Luft nach, und es bildet sich ein Luftkegel, der, hinter der ausgestoßenen Rauchmasse hereilend, sie in der Mitte durchbohrt und dadurch einen Ring erzeugt, der sich fortschreitend erweitert, während die Rauchtheilchen um seine kreisförmige Ringachse rotiren. Dieselben Gesetze gelten für Flüssigkeiten aller Art, und wir können durch einen dem Kartenwürfel ähnlichen Apparat Ringe aus gefärbtem Wasser erzeugen, die in ungefärbtem Wasser fortschreiten.

Dieselben Wirbel sind, natürlich unsichtbar, vorhanden, wenn die unter ähnlichen Verhältnissen austretenden Luft- oder Wassermassen nicht durch Rauch oder Farbstofflösung unterscheidbar gemacht sind. Sie mögen sich auch aus tönender Luft und, wie es scheint, unter Erhöhung der Reinheit des Klanges hervorbilden, wenn wir gleich nicht sagen können, welche complicirtere Schwingungsformen dadurch entstehen mögen. Man könnte nun zwar sagen, ein oben offener Engpaß oder eine Thalschlucht sei keine genügend abgeschlossene Ausströmungsöffnung. Allein man muß bedenken, daß der im Allgemeinen in horizontaler Richtung strömende Wind, sobald er auf einen ansteigenden Engpaß trifft, sich darin von selbst zusammenpressen muß, sodaß die Luft in demselben, wie in einem rings geschlossenen Rohre zusammengedrückt, weiterströmt. Man ersieht ferner, daß sich bei ihrem Austritte in den offenen Raum ziemlich unvermeidlich ähnliche Wirbel bilden müssen. Diese Wirbel mögen unter Umständen von beträchtlicher Größe sein; denn der Ton schien oft neun bis zehn Secunden zu brauchen, ehe seine langsam erreichte Stärke wieder abnahm, er schien in der Luft eine Weile still zu stehen, und der Beobachter deutete dies auf langgestreckte röhrenförmige Wirbel, die so lange gebraucht hätten, um vorüberzuziehen.

Nach demselben Princip würden sich auch der Harfenton auf dem Pyrenäenpaß und manche Eigenthümlichkeiten des reichen Sagenkreises, der sich um die Glockentöne der singenden Bergthäler gewoben hat, erklären lassen. In dem obigen Berichte heißt es, daß die Morgensonne, als die Reisenden aus dem Portale des Felsenpasses traten, auf die gegenüberliegende Gebirgswand geschienen habe und zur gleichen Zeit der Harfenton erschienen sei. Nichts kann aber selbstverständlicher sein, als daß sich bei der im Uebrigen ruhigen Luft ein Luftstrom aus der Felsenschlucht gegen das sonnenbeschienene Gebirge, an welchem Luftverdünnung stattfand, richten mußte, der in der Morgenstille zum sanft tönenden Wirbel umgewandelt werden konnte. An dem zweiten Tage, an welchem die Sonne und mithin auch die Luftverdünnung an der gegenüberliegenden Felswand ausblieb, konnte demnach auch kein Ton entstehen.

Wir können uns ferner erklären, weshalb in dem Glockenthal bei Carlisle die Töne alltäglich zur bestimmten Stunde auftraten. Das Thal muß der Beschreibung nach nicht weit vom Meere gelegen haben, und man weiß, mit welcher Pünktlichkeit See- und Landwinde von gleichbleibender Richtung in der Nähe der Küsten auftreten. Wie leicht würde daraus die Sage von einem versunkenen Kloster entstehen können, dessen Mönche zur Frühmette oder Vesper läuten. Ob in diesem Erklärungsversuch einer mächtig die Phantasie erregenden Naturerscheinung das Richtige getroffen wurde, ob sich der Vorgang experimentell nachahmen läßt, mögen Akustiker von Fach entscheiden. Jedenfalls glaubte ich, auf eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der singenden Thäler die Aufmerksamkeit der Physiker richten zu sollen.



  1. „Das singende Thal bei Thronecken.“ Ein Hochwald-Räthsel. Mit einer Karte. Coblenz, Dankert und Gross, 1880.
  2. Ausgabe von Liebrecht. S. 34.
  3. Itinera per Helvetiae alpinas regiones. Lugd. Batav. 1723. T. II., p. 186.