Das harte Brod des Locomotivführers

Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das harte Brod des Locomotivführers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 174–175
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[174] Das harte Brod des Locomotivführers. Eine Schreckensstunde auf der Bahn. Die Gartenlaube hat schon im Jahre des hoffentlich „letzten deutschen Kriegs“, als sie in dem Artikel „Der Dampf auf der Flucht“ die unter den größten Gefahren unternommene und gelungene Bergung sächsischer Locomotiven vor den eindringenden Preußen schilderte, mit Freude die Gelegenheit benutzt, über das schwere, aufreibende und so verantwortungsreiche Amt der Locomotivenführer sich auszusprechen. Der Locomotivführer ist in der That, wie jüngst eine gewichtige Stimme betonte, „einer jener wackeren Kämpfer im Dienste der Civilisation, die ihre Lorbeeren nicht auf dem blutigen Schlachtfelde erobern, aber dennoch Tag und Nacht ihr Leben einsetzen, um rastlos auf dem eisernen Friedensgürtel zu arbeiten, der Länder und Völker verbindet“. Die Wahrheit dieser Worte wird an Eindringlichkeit gewinnen, wenn wir ein Bild der Gefahren dieses Berufs von einem Berufsgenossen selbst uns vorführen lassen, wie dies in den nachstehenden Mittheilungen geschieht, die wir einem sächsischen Locomotivführer, Herrn. H. P., verdanken. Er erzählt:

Am 28. December 1866 hatte ich den von Hof nach Zwickau Nachmittags vier Uhr vierzig Minuten abgehenden Postzug als Locomotivführer zu fahren. Nachdem ich meine Maschine auf das Gewissenhafteste untersucht und alle Theile in gehöriger Ordnung gefunden, fuhr ich aus dem Maschinenhause, um mich an die Spitze des bald abgehenden Zuges zu setzen. Doch hatte ich denselben noch nicht erreicht, als ein Knall und eine augenblickliche Umhüllung von Wasser und Dampf mich belehrten, daß mir das Wasserstandsglas gesprungen sei, jene wichtige Vorrichtung an jeder Maschine, durch welche dem Locomotivführer der Stand des Wassers im Kessel angezeigt wird und ohne die es, hauptsächlich zur Nachtzeit, die größte Aufmerksamkeit erfordert, um den Stand des Wassers durch eine anderweite Vorrichtung zu erkennen, bei welcher nicht das Gesicht, sondern das Gefühl und Gehör maßgebend sein muß. Ein schlechter Anfang zu meiner Fahrt; doch galt hier kein langes Besinnen. Nachdem Maschine und Wagen durch die Ketten verbunden waren, suchte ich den entstandenen Schaden nach Möglichkeit zu heilen, und dies gelang mir nach einiger Anstrengung, [175] von welcher die mir vom Gesicht herabperlenden Schweißtropfen zeugten, auch vollständig.

Das Läuten und die drei dumpfen Schläge der Perronglocke in der Passagierhalle zeigten mir an, daß die Zeit der Abfahrt gekommen sei, und nachdem ich durch die Dampfpfeife das Achtungs- und Abfahrtssignal des Zugführers erwidert, begann ich in mäßigem Tempo meine Maschine in Bewegung zu setzen, und so fuhr ich mit allmählich steigender Geschwindigkeit durch die von Regen und Schneesturm durchbrauste Finsterniß einem ungeahnten schweren Schicksale entgegen. Trotz der ungünstigen Witterungsverhältnisse gelang es mir, die kommenden Stationen zur vorgeschriebenen Zeit zu erreichen, und nach anderthalbstündiger Fahrt fuhr ich in den Bahnhof Plauen, eine Station im sächsischen Voigtlande, wohlbehalten ein. Die dichtgedrängte Menschenmenge auf dem Perron überzeugte mich, daß mein Zug diesmal hier viele Passagiere werde aufnehmen müssen. Da ich nach Vorschrift auf dieser Station fünf Minuten Aufenthalt hatte, benutzte ich diese Zeit, um meinen Tender mit Wasser zu füllen, meine Maschine aber nochmals in ihren einzelnen Theilen zu untersuchen und dieselbe so vorzubereiten, um den Zug mit seiner zunehmenden Belastung in der vorgeschriebenen Schnelligkeit weiterfahren zu können. Nachdem dies Alles in der gewohnten Ordnung geschehen und die Maschine mit dem Zuge wieder in Verbindung gebracht war, trotzdem aber noch kein Signal zur Abfahrt erfolgte, erkundigte ich mich nach der Ursache des so langen Aufenthaltes und erfuhr, daß unter den auf dem Perron stehenden Leuten eine starke Anzahl sächsischer Kriegsreservisten sei, welche wegen Mangel an Personenwagen nicht sämmtlich untergebracht werden könnten, und daß, da sie die Fahrt in Gepäckwagen verweigerten, ich den mir nachkommenden Eilzug vorbei lassen müßte, um demselben an seiner Weiterfahrt nicht hinderlich zu sein. In dem nun angekommenen Eilzuge wurde ein Theil der Passagiere mit untergebracht, und nachdem derselbe den Bahnhof verlassen und die übrigen Passagiere in dem Postzuge Platz gefunden, erhielt ich endlich nach vierzig Minuten Aufenthalt das Signal zur Weiterfahrt. Abermals keuchte die schwer belastete Maschine durch die dichte Finsterniß den fernen Stationen entgegen. Auf der nächsten Station, Reichenbach, ebenfalls im sächsischen Voigtlande, wurde mein Zug getheilt, indem die nach Leipzig bestimmten Wagen hier abgingen und ich nur die Wagen, welche für die Linie nach Chemnitz bestimmt waren, an meiner Maschine zur Weiterbeförderung behielt.

Hier wollte ich, da die Zeit es mir erlaubte, einen mir übergebenen Auftrag an einen Collegen besorgen, wurde aber durch meinen Lehrling darauf aufmerksam gemacht, daß derselbe heute hier nicht anwesend sei und daß wir morgen ja wieder hierher kämen, wo ich denselben treffen würde. – Armer Lehrling, du solltest diese Station nie wiedersehen! –

Nach ungefähr zehn Minuten Aufenthalt erhielt ich das Signal zur Weiterfahrt, und mit frohem Herzen setzte ich meine Maschine in Bewegung, denn die nächste Station war Zwickau, das Ziel meiner Fahrt. Kaum hatte ich den Bahnhof verlassen, so fühlte ich schon, mit welcher Furchtbarkeit das Unwetter zugenommen hatte. Der Sturm trieb Regen und Schnee mit solcher Gewalt mir entgegen, daß es mir unmöglich war, die Augen offen zu erhalten. Deshalb ermahnte ich meinen Lehrling und den auf meiner Maschine mitfahrenden Zugwagenwärter, ja recht aufmerksam zu sein, weil die andere Seite der Maschine, auf welcher diese standen, der Luftströmung nicht so ausgesetzt war wie die meinige und von da aus eher ein freier Blick auf die Bahnstrecke gethan werden konnte; ich selbst begab mich von Zeit zu Zeit dorthin, um einen prüfenden Blick nach vorwärts zu werfen. Mit größter Vorsicht ließ ich meine Maschine in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit gehen, und trotzdem der Wind uns wüthend umheulte, kamen wir doch unserem Ziele rasch näher. Da, kurz vor Zwickau, ertönte der Ruf meines Wagenwärters: „Ach Gott, uns scheint ein Zug entgegen zu kommen!“ was ich von meiner Seite aus, in Folge einer Biegung der Bahn und der mir entgegenwehenden Schneemassen, nicht sehen konnte. Ein Sprung nach der anderen Seite überzeugte mich von der vollen Wahrheit: in ganz kurzer Entfernung sah ich den von Zwickau nach Hof gehenden Zug auf dem falschen Geleise mir entgegen kommen. Er war durch falsche Weichenstellung, die in dem entsetzlichen Wetter von Niemand bemerkt worden war, auf mein Geleise geleitet worden!

Aber trotz des furchtbaren Anblicks blieb die Besinnung mir treu und eine unerklärliche Kraft, verbunden mit Muth und Entschlossenheit, ließ mich noch alle mir zu Gebote stehenden Mittel ergreifen, um den Zug so schnell wie möglich zum Stehen zu bringen. Doch alle Bemühungen waren umsonst, die Entfernung bei doppelter Geschwindigkeit der beiden Züge zu gering, und wohl einsehend, daß hier menschliche Kraft nicht mehr hinreichend sei, eine furchtbare Katastrophe zu verhüten, empfahl ich mich mit dem Gedanken an meine Familie dem Schutze Gottes. Mit ungeheurer Gewalt geschah der Zusammenstoß, und fast unglaublich ist es, daß ein einziger Augenblick solche Verwüstungen bringen kann.

Die Maschinen hatten sich tief und fest in einander gebohrt, und fast an allen Theilen auf das Furchtbarste zerstört. Die vier ersten Wagen meines Zuges waren so zertrümmert, daß von ihren Holztheilen nur kleine Splitter zu sehen wären. Der fünfte Wagen, der der königlichen Post, war über meine Maschine hinweggeflogen und saß auf dem Kessel der anderen Maschine. Ein Personenwagen stand auf meiner Maschine und hatte einen wichtigen Theil des Kessels hinweggerissen, durch welche Oeffnung alle Dämpfe und das kochende Wasser desselben mit ungeheuerer Gewalt durch den zertrümmerten Fußboden in den Personenwagen einströmten und die Passagiere furchtbar verbrannten. Ringsum nur schreckliche Zerstörung, Gepäck, Holz und Eisentrümmer wüst durcheinander! Ich selbst lag schwer verwundet auf dem andern Schienengeleise der Bahn; ob ich dahin gesprungen bin oder geschleudert wurde, weiß ich nicht. Ueber mir war ein förmlicher Berg von Trümmern aufgehäuft, die mich nur deshalb nicht todtdrücken konnten, weil mein Tender durch den Zusammenstoß von der Maschine getrennt war und über mir stand. Neben mir ertönte das furchtbare Brausen der Maschinen, indem der darin befindliche Dampf durch die Oeffnungen der vom Kessel getrennten Theile mit aller Gewalt entströmte. Heftiger aber und markerschütternder war das Jammern und Hülferufen der armen verwundeten Passagiere in der dichten Finsterniß. Es war, als ob man sich in Mitte eines Schlachtfeldes mit all’ seinen Schrecken befände. Lange dauerte es nicht, so erschien die nöthige Hülfe vom Bahnhof Zwickau aus, wohin die Schreckensbotschaft gedrungen war, und es gelang nach kurzer Zeit dem herbeigeeilten höheren Maschinenbeamten, den Platz von Verwundeten zu räumen und sie in den Zimmern des Stationsgebäudes, später in dem Kreiskrankenstift zu Zwickau unterzubringen.

Der Trieb zur Selbsterhaltung gab endlich auch mir die Kraft nach Hülfe zu rufen, und bald erschien der Wagenwärter meines Zuges, der durch einen glücklichen Sprung sich gerettet hatte; seinen Anstrengungen gelang es, mich unter den Trümmern hervorzuarbeiten. Mit aufopfernder Kraft schaffte mich derselbe in’s nächste Bahnwärterhaus, und die Bewohner desselben wendeten Alles an, meine traurige Lage soviel wie möglich erträglich zu machen. Nach kurzer Zeit gesellte sich unter Jammern und Wimmern der Wagenwärter des andern Zuges zu mir, der, sehr schwer verwundet und ganz entstellt, doch noch das Leben davon gebracht hatte. So groß auch seine Schmerzen sein mußten, das Andenken an Weib und Kinder war noch größer, denn sein einziges Verlangen war, dieselben noch einmal zu sehen.

In derselben Nacht wurden wir zwei Leidensgefährten in die Stadt geschafft; ich in meine Behausung, der andere in das Krankenhaus. Auf diesem Wege war es mir vergönnt, noch einmal den Trümmerhaufen zu übersehen, der, von lodernden Feuern düster beleuchtet, einen schaurigen Anblick bot. Von den wehmüthigsten Gefühlen hingerissen, faltete ich unwillkürlich meine Hände und dankte Gott für die wunderbare Erhaltung meines Lebens. Meinem armen Lehrling war es nicht vergönnt, das junge Leben zu retten; er wurde als Leiche mit unter den Trümmern aufgefunden; seine schweren Verletzungen lassen auf einen schnellen Tod schließen.

Ein ähnliches Schicksal hatte der Lehrling der anderen Maschine, der an demselben Morgen seinen Wunden erlag, während der Führer ziemlich unbeschädigt davongekommen war. Zwei Postbegleiter meines Zuges waren sofort todt, während der Postsecretair ein paar Tage darnach an seinen schweren Brandwunden starb.

Im Ganzen hatten wir neun Todte zu beklagen, und von den sechsundzwanzig Verwundeten wird mancher von den Nachwehen dieses Unglücks sein ganzes Leben zu leiden haben; die große Mehrzahl derselben gehörte dem von mir geführten Zuge an. Der mir entgegenkommende Zug war weit besser davon gekommen; kein einziger Passagier desselben hatte eine bedeutende Verletzung erhalten.

Sowie im gewöhnlichen menschlichen Leben oft von Augenblicken das Geschick Vieler abhängt, so war es auch hier. Wären mir nur fünf Minuten von meinem großen Aufenthalte in Plauen erspart worden, so hätte ich den Bahnhof Zwickau erreicht, ehe der verhängnißvolle Zug denselben verlassen, und das große Unglück wäre ungeschehen geblieben. –

Soweit unser trefflicher Gewährsmann. Uns aber, und gewiß Jeden unserer Leser, drängt es, nach einer solchen Schilderung von Gefahren und Leiden im Beruf, zu der Frage: werden diese Männer nach Verdienst belohnt? Die Antwort lautet: Nein! – Bei allen Bahnen, ohne Ausnahme, sehen wir sämmtliche höheren Verwaltungsämter auf das Glänzendste dotirt, die der schönsten Sicherheit in den bequemsten Bureaus genießenden Herren können sich ihrer Einnahmen wahrhaft erfreuen, während das der Hauptsache, dem Betrieb der Eisenbahnen selbst und unmittelbar dienende Personal, vom Weichensteller bis zum Locomotivführer, dem Proletarierstand einverleibt erscheint. Sind doch einzelne Eisenbahngesellschaften in der Sorge für den Schutz ihrer Cassen vor jeglichen Humanitätsausgaben so weit gegangen, daß sie nicht blos Bahnwärter und Weichensteller, nicht blos Schaffner und Heizer, sondern sogar die Locomotivführer nur unter der Bedingung anstellten, daß dieselben sich contractlich verpflichteten, auf die ihnen bei unverschuldeten Unglücksfällen gesetzlich zustehenden Entschädigungsansprüche zu verzichten! Und solche Versicherungsscheine auf den Bettelstab, wenn ihr Beruf sie zu Krüppeln gemacht, müssen noch heute die beklagenswerthen Männer unterschreiben, welche des Lebens Nothdurft zu dergleichen Gesellschaften hinzwingt!

Hier haben wir es nicht mehr mit der bloßen Vorsicht des Capitals zu thun, welche verhüten will, daß diese Arbeiter das Lebensgefährliche ihres Berufs nicht durch Leichtsinn und Uebermuth noch vermehren, – denn so lieb ist Jedem das Leben, daß er es nicht ohne Noth auf das Spiel setzt, und wegen etwaiger Versündigung Einzelner gegen diese Annahme hat man nicht Alle in so rücksichtsloser Weise zu strafen! –, sondern hier übt das Capital Tyrannei aus gegen Wehrlose, von keinem Gesetz Geschützte. Ebendarum war es die höchste Zeit, daß zugleich mit der Presse auch die deutschen Land- und Reichstage diese Unbill gegen die Männer des schwersten Berufs vor ihr Forum ziehen, um ihr ein Ende zu machen. Den Mann der Arbeit muß die Zuversicht erheben, daß auch er unter dem Schutze der Wahrheit und des Rechts steht!