Das erste Urtheil über Anzengrubers „Meineidbauer“
[835] Das erste Urtheil über Anzengrubers „Meineidbauer“. Anfangs der siebziger Jahre wurde Anzengruber zu einer Festvorstellung des „Pfarrers von Kirchfeld“ nach Graz geladen, Als ihm dort Rosegger, der sich ihm in jugendlicher Begeisterung anschloß, auf einem Spaziergang nach dem waldigen Mariagrün vorschwärmte, es würde ihm niemals ein besseres Volksstück gelingen, antwortete der Wiener gelassen, „ich werde ein noch größeres schreiben“. Denn schon stand ihm die dämonische Gestalt des Matthias Ferner vor Augen, der nach dem Tod seines erstgeborenen Bruders vor Gericht schwört: das Testament, in dem die unehelichen Kinder des Gestorbenen zu Erben eingesetzt wurden, „sei nicht da“, d. h. in der vom Aufbewahrungsort meilenweit entfernten Gerichtsstube. Heimgekehrt, verbrennt der „Meineidbauer“ das Testament, wird aber dabei von seinem zwölfjährigen Sohn Franz überrascht, den er nun um jeden Preis unschädlich machen will. Er schickt den Jungen in die Stadt, wo er „geistlich“ werden soll, um dem Vater dereinst in der letzten Stunde die Beichte zu ersparen und vollen Ablaß zu gewähren. Statt dessen bildet sich Franz dort nach dem Wunsch seiner Großmutter zum Landwirth aus, der das Gut des „Meineidbauers“ in eigenen Betrieb übernehmen will. Der Alte fürchtet den Jungen als seinen grimmigsten und gefährlichsten Gegner, ja, er hält ihn der Frevelthat fähig, der Angeber des eigenen Vaters zu werden. Im Wahn, daß Franz sich eines Schriftstückes bemächtigt habe, das die Schuld des Meineidbauers schwarz auf weiß erhärtet, verfolgt er den Sohn in stürmischer Wetternacht bis in die weltabgeschiedene Schwärzerschlucht, von deren schwankendem Steg er den Fliehenden nach einem wilden Wort- und Ringkampf herunterschießt. Franz indessen wird nur verwundet und durch die Schwärzer gerettet, während der alte Ferner bald nach seiner That unter den durch ein zufälliges Wort aufgerührten Qualen seines Gewissens zusammenbricht und stirbt.
Der sittliche Ernst, der das geniale Werk durchwaltet, hat von Anfang an die Bewunderung der Kenner gefunden. „Mit packender Kraft,“ so schrieb Berthold Auerbach 1878 in seinen „Dramatischen Eindrücken“, „weiß der Dichter die Geschichte des Meineids zu erzählen – alles von Scene zu Scene gegipfelt, wie breit und in festen Quadern der Unterbau, und immer eine Spannungskraft, die wahrhaft staunenerregend.“ So verständige Anerkennung wurde dem Dichter aber nicht von Anfang an zu theil; der erste Mann, dem Anzengruber das Stück im November 1871 zu lesen gab, ein ehrenfester, namhafter Altwiener Schriftsteller, „ging nicht auf Eine Intention, auf Eine Charakterzeichnung ein. Ich habe den Schmerz erlebt“ – so schrieb unser Dramatiker damals an Rosegger – „mich von einem Mann, den wir beide schätzen, nicht verstanden zu sehen. Ich saß eine halbe Stunde vor ihm wie ein Schulbub, dem ein Professor das Pensum korrigiert, wie ein litterarischer Bettler. So ließ er mich sitzen – eine peinvolle halbe Stunde“.
Aus der ersten, gelinden Verzweiflung über dies unverständige Urtheil, das sein tragisches Meisterwerk traf, befreite Anzengruber erst ein enthusiastischer Brief Roseggers, der dem Wiener Freunde jubelnd zurief, er habe das Beste gewollt und vollbracht. „Wie ein Lichtstrahl kam Ihr Schreiben in mein verstimmtes Gemüth – da jauchzte ich auf! Verstanden! Ihr Urtheil gilt mir in einem und allem für maßgebend, mag der äußere Erfolg dieses Stückes wie immer sein!“ Nun denn, der Erfolg hat mittlerweile gegen den grämlichen Wiener Tadler dem Urtheil des steirischen Volksdichters recht gegeben.
Der „Meineidbauer“ gehört zu den Schmuckstücken der deutschen
Volksbühne. Und die Meisterspieler des Burgtheaters, allen voran die
von Heinrich Laube entdeckte Katharina Schratt, zur Stunde wohl die
erste deutsche Volksschauspielerin, haben ihre ganze reiche Kraft eingesetzt,
um dies „wahrhaft bedeutende, gut und sittlich wirkende Volksstück“, das
die Verkettung von Schuld und Sühne nach Roseggers Wort in dem
Leben des „Verbrechers aus dem Volk“, des Meineidbauers, dichterisch
überzeugend, menschlich versöhnend dem Gedächtniß in unvergeßlichen
Gestalten einprägt, in würdiger Darstellung auf der Nationalbühne von
Kaiser Joseph zu vergegenwärtigen. --o--