Das britische Museum und die neue Central-Lesehalle

Textdaten
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Autor: N. N.
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Titel: Das britische Museum und die neue Central-Lesehalle
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 636–637
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die neue Central-Lesehalle im britischen Museum.

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Das britische Museum und die neue Central-Lesehalle.


London ist jetzt sehr bedeutend in Motion, in Bewegung, Agitationen, Demonstrationen, Associationen, Leaguen gegen theures Brot und für billigeres, Arbeiter-Meetings für den Frieden (da der Krieg unter diesen Herrschaften, mögen sie auch zuweilen in Namen und Personen wechseln, doch nur zum Verderben Englands ausfallen könne), Vereine gegen Sonntags-Beschränkungen, zur Eröffnung des Krystallpalastes, des britischen Museums, der Nationalgalerie an Sonntagen, zur frühen Schließung der Geschäftslokale Abends, besonders Sonnabends (um zwei Uhr) und ein paar Dutzend andere Verbindungen für irgend eine Befreiung und gegen irgend eine historische Last halten die Klassen der Bevölkerung, welche kein Interesse an den Privilegien „der obersten Zehntausend“ haben, in sehr mannigfaltiger Bewegung. Bewegung ist Leben und Leben ist immer interessant, mag es Früchte tragen oder nicht. Viele dieser Bewegungen werden, wie unzählige andere, sich spurlos wieder zur Ruhe begeben; aber die Friedens-Agitationen unter den arbeitenden Klassen gegen den Krieg, der immer „des Volkes Krieg“ titulirt ward und die Hyde-Park-Demonstrationen gegen theures Brot und die Leaguen für wohlfeileres, geistiges Brot scheinen so viel Lebenskraft zu haben, daß sie wohl nicht spurlos verlaufen werden. Es macht dem Volke Ehre, daß es nicht blos für wohlfeilen türkischen Weizen agitirt, sondern auch für das Brot des Lebens und der Bildung, das es hauptsächlich an Sonntagen essen will. Brot der Bildung, der Erholung, der geistigen Erquickung nach sechstägigem Plack in Rauch und Dunst, im Donner und Dampf der Maschinen: also Eröffnung der Bildungs- und Erholungsanstalten an Sonntagen, des Krystallpalastes, des britischen Museums, der Nationalgalerie und anderer Tempel der Wissenschaft, Kunst und Schönheit, welche Aristokratie und Geistlichkeit gerade an dem einzigen Tage, an welchem es Zeit hat, verschloß.

Wir erwähnen hier besonders die „nationale Sonntags-League“ zur Eröffnung des britischen Museums, der Nationalgalerie und des Krystallpalastes an Sonntagen nach der Kirche. An der Spitze derselben stehen die reichsten Gewerbe-Innungen der Goldschmiede, Silberschmiede und Juweliere mit Sir Josua Walmsley, dem Parlamentsmitgliede, als ihrem Führer, der die betreffende Petition dem Parlamente vortragen will. Die Petition wird von allen Sorten der nicht privilegirten Bevölkerung unterstützt und unterschrieben. Es heißt darin unter Anderem ganz treffend und schön: „Wir wollen den Vortheil der Einwirkung des Wissens, der Kunst, des Schönen nicht blos für uns, die arbeitenden und bildenden Klassen, die allerdings eine wesentliche Bedingung ihres Gedeihens in dem Geschmacke finden, womit sie Rohstoffe zur Verschönerung und Erheiterung des Lebens, zu Werthgegenständen, zu Ornamenten veredeln, sondern für das ganze Volk, da wir überzeugt sind, daß zur Bildung wahren Geschmackes und gesunder Kultur nicht blos die künstlerische Hand des Producenten gehört, sondern auch der Consument und Käufer im Stande sein muß, wahre Kunst und Schönheit zu würdigen.“

Das ist ein edles und schönes Motto für diese Agitation, die sich jedenfalls durchsetzen wird. Und dann beginnt eine neue Zeit für England. Dann erst fangen die reichen Saaten der Wissenschaft und Schönheit, aufgespeichert im Museum, im Krystallpalaste u. s. w. in Millionen Köpfen und Herzen an zu keimen und zu knospen, zu blühen und zu fruchten.

Wer im Volke hat jetzt eine Ahnung von der unerschöpflichen, unzähligen Masse gebuchter Weisheit aller Zeiten, Zonen, Völker und Wissenschaften im britischen Museum, diese Centralbibliothek der ganzen Erde! Das Seltenste, Kostbarste, Aelteste, Wichtigste, Vollständigste für jedes Studium – hier findet man es. Bücher und Manuscripte und Denkmäler, die Jahrtausende vor Christi Geburt vergegenwärtigen, die einzige wirkliche Handschrift Shakespeare’s, vollständige Placatensammlungen aus allen Revolutionen der Erde, Quellen für jeden Mann der Wissenschaft in jeder Sphäre – sie vereinigen sich im britischen Museum. Will man Quellenstudien über Dinge machen, die Tausende von Meilen oder Tausende von Jahren abliegen, muß man in’s britische Museum gehen. Will man wissen, wer eigentlich „Aujust Buddelmeier mit ’n jroßen Bart,“ wer eigentlich „Isaak Moses Hersch“ in Berlin war, will man die ausnahmslos vollständigste Sammlung aller Placate und Broschüren von 1848 u. s. w. mit Datum, wirklichem Namen der Verfasser und deren Verhältnisse beisammen haben, muß man das britische Museum besuchen, diese endlos lange Stadt von [637] Straßen mit sechs Stockwerk hohen Häuserreihen, mit Mauern von Büchern, deren seit dreißig Jahren neuerscheinender Katalog allein eine reiche, lange Bibliothek bildet, und der nie vollendet werden kann, da immer mehr Bücher hinzukommen, als katalogisirt werden können.

(Der Kuriosität wegen erwähne ich hier, daß Verfasser dieser Zeilen und von mehr als einem Schock Büchern und Broschüren, die er nicht einmal dem Namen nach mehr kennt, im britischen Museum allein erfahren und sehen kann, was er Alles für typographische Sünden begangen.)

Es fehlt auch im britischen Museum, wie in jeder englischen Administration, an Ordnung und Organisation, so daß namentlich Fremde, die hierher kommen, um „Quellen“ zu studiren, oft länger daran studiren müssen, wo und wie sie diese Quellen entdecken können als in ihnen selbst. Jetzt aber wird’s besser und heiterer. Für die Leser hat man in dem freien Quadrat innerhalb des Museums eine Lesehalle von der imposantesten Größe zu bauen angefangen, und von diesem Centrum aus alle Bücher und Kunstschätze leichter zugänglich gemacht. Diese Lesehalle, ist jedenfalls die großartigste Halbkugel der Gelehrsamkeit und des Studiums auf dem ganzen Erdglobus, eine auf die Erde gesenkte St. Paulskuppel, 140 Fuß im geradlinigen Durchmesser, 106 Fuß hoch, erleuchtet von 20 großen Fenstern oben, die durch die erste Biegung des Domes Licht einfangen, während das große, offene, mit Glas bedeckte Auge der Krone oben, 40 Fuß im Durchmesser, es geradstrahlig heruntergießt. Die Mitte der ungeheuern Rundung unten bildet eine erhöhte Plateforme für den Aufseher des Ganzen, mit zwei concentrischen Reihen von Pulten herum. Von diesem Centrum aus laufen die Tische und Bänke zum Lesen und Studiren in geradlinigen Radien nach der Peripherie des Kreises, mit 4 Fuß Raum für jeden Leser, so daß im Ganzen 336 gleichzeitig Platz finden. Dabei bleiben natürlich die Tausende von Plätzen innerhalb der Bücherstraßen. Der eingeschlossene Raum der Lesehalle enthält 11/4 Millionen Kubikfuß Luft mit guter Sommer- und Winterventilation. Die Wände innerhalb gewähren in gußeisernen Schränken Raum für mehr als eine Million Bücher. Oben Galerien, Freskogemälde u. s. w., wozu noch Statuen kommen sollen. Das äußere Dach ist von Kupfer, der Fußboden auf den Galerien von Schiefer. Die Kosten des Ganzen sind auf 100,000 Pfund Sterling veranschlagt worden. So bekommt die wissenschaftliche Menschheit hier die splendideste, großartigste Lesehalle, die, wie die reichen, herrlichen Kunst- und antiquarischen Schätze untergegangener Völker, jedem Volke jeden Tag zugänglich und genießbar gemacht werden wird.