Das Weir Mitchel’sche Kurverfahren

Textdaten
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Autor: Enoch Heinrich Kisch
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Titel: Das Weir Mitchel’sche Kurverfahren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 531–532
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[531] Das Weir Mitchel’sche Kurverfahren, dessen wir in dem Artikel „Neurasthenie“ in Nr. 1 der „Gartenlaube“ 1887 erwähnt haben und über dessen Wesenheit uns mehrfache Anfragen aus dem Leserkreise dieses Blattes zugekommen sind, ist eine Art Fütterungskur, welche den Zweck verfolgt, in verhältnißmäßig kurzer Zeit, innerhalb weniger Wochen, den Ernährungszustand des ganzen Körpers zu verbessern, speciell das Nervensystem zu kräftigen. Eine überreichliche Zufuhr von stärkenden Nahrungsmitteln, absolute geistige Ruhe, möglichste Einschränkung aller aktiven körperlichen Bewegung, Massage und passive Körperbewegungen bilden die wesentlichen Momente dieser Kurmethode, zu deren Durchführung sogar die Entfernung der Patienten aus ihrer gewohnten Umgebung und Versetzung in neue Verhältnisse unter besonderer Wartung gefordert wird. Man beginnt die Kur bei geschwächten Individuen, welche nur ganz wenig zu essen gewohnt sind, mit Darreichung von Milch und geht erst allmählich zu großen Mahlzeiten über. Anfangs werden nur alle zwei bis drei Stunden Mengen von 90 bis 120 Kcm. Milch gegeben, und diese Portionen werden binnen wenigen Tagen so gesteigert, daß zwei bis drei Liter Milch innerhalb 24 Stunden genossen werden. Erst wenn die Verdauungsorgane durch solche mehrtägige Milchdiät in geeigneter Weise vorbereitet sind, wird die Menge der Speisen stätig gesteigert, so daß die Nahrungszufuhr am fünfzehnten Kurtage bereits eine erstaunliche Höhe erreicht.

Die Details dieser Fütterungskur und die Art der Steigerung der Ernährung wird am besten durch die von Dr. Burkart (Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge Nr. 245) mitgetheilten Speisezettel ersichtlich, die er bei einer Patientin anwendete, bei welcher wegen des guten Zustandes der Verdauungsorgane es nicht nöthig war, eine vorbereitende Milchdiät einige Tage hindurch vorzunehmen. Am Tage des Kurbeginnes bot der Speisezettel Folgendes: siebeneinhalb Uhr Morgens einen halben Liter Milch, zehn Uhr Morgens einen drittel Liter Milch; zwölfeinhalb Uhr eine Suppe mit Ei, 50 Gramm gebratenes Fleisch, Kartoffelpurée; dreieinhalb Uhr einen drittel Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen halben Liter Milch; acht Uhr einen halben Liter Milch, 50 Gramm kaltes Fleisch, Weißbrot, Butter.

[532] Am fünften Kurtage war die Nahrungszufuhr bereits folgendermaßen gesteigert: Morgens siebeneinhalb Uhr einen halben Liter Milch und zwei Zwieback; achteinhalb Uhr Kaffee mit Sahne, Weißbrot, Butter; zehn Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback; zwölf Uhr einen halben Liter Milch; ein Uhr Suppe mit Ei, 100 Gramm Fleisch, Kartoffelbrei, 75 Gramm Pflaumenkompot; dreieinhalb Uhr einen halben Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback; acht Uhr einen halben Liter Milch, 60 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter; neuneinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback. Nach weiteren acht Tagen lautete die Liste der Nahrungsmittel bereits folgendermaßen: siebeneinhalb Uhr Morgens einen halben Liter Milch, zwei Zwieback; achteinhalb Uhr Kaffee mit Sahne, 80 Gramm Fleisch, Weißbrot, Butter, geröstete Kartoffeln; zehn Uhr einen viertel Liter Milch, drei Zwieback; zwölf Uhr einen halben Liter Milch; ein Uhr Suppe mit Ei, 200 Gramm Fleisch, Kartoffelbrei, Gemüse, 125 Gramm Pflaumenkompot, süße Mehlspeise; dreieinhalb Uhr einen halben Liter Milch; fünfeinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, 80 Gramm Fleisch; neuneinhalb Uhr einen drittel Liter Milch, zwei Zwieback.

Es ist begreiflich, daß bei solchem Speisezettel das Gewicht der Patienten ganz bedeutend zunimmt und mit dieser reichlichen Bildung von Fett und Blut das Allgemeinbefinden der Kranken wesentlich gebessert wird. Wir müssen aber doch aufs Dringendste anrathen, eine solche Mästungskur nur auf Empfehlung und unter der beaufsichtigenden Beobachtung eines Arztes vorzunehmen, da sich während der gesteigerten Nahrungszufuhr zuweilen Erbrechen und andere unangenehme Zufälle einstellen. Die Kurmethode ist nach dem amerikanischen Arzte Dr. Weir Mitchel, der sie zuerst empfahl, benannt; in Europa wurde sie demnächst von Dr. Plaifair in London und von Professor Binswanger in Jena eingeführt, dann von Burkart in Bonn geübt; in jüngster Zeit wird sie von Professor Leyden in Berlin gerühmt. Ich selbst habe diese Mastdiät, mit dem Gebrauche von Eisenwässern kombinirt, bei schweren Fällen von Blutarmuth und Nervenschwäche mit sehr günstigem Erfolge angewendet. Eine meiner Klientinnen nahm während vierwöchiger derartiger Kur um acht Kilo an Körpergewicht zu. Prof. Kisch in Prag-Marienbad.