Die äußeren: Eigenschaften des Vogelsberger Rindes Das Vogelsberger Rind und seine Zucht (1896)
von Erst Ludwig Leithiger
Das Züchtungsziel


[24]
V. Die Leistungsfähigkeit des Vogelsberger Rindes.

Das Vogelsberger Rind ist in erster Linie Milchvieh. Hierin liegt der Hauptwert dieses Schlages für unsere kleineren Bauerngüter. Erhöht wird der Wert dieses Kleinleuteviehs durch die vorzügliche Zugtauglichkeit und die Genügsamkeit. Der Bewirtschafter eines größeren Gutes macht allerdings andere Ansprüche an sein Nutztier, besonders bei reichlichen Futterverhältnissen. Er will einen möglichst großen Körper, hohe Leistungsfähigkeit bei reichlicher Fütterung. Unsere kleinbäuerlichen Besitzer aber, mit ihrem meist zersplitterten Besitz, können oft so anspruchsvolle Tiere gar nicht ernähren. Heu, Stroh und Spreu, etwas Wurzelwerk, wenn es hoch kommt, einige Mühlenabfälle (Kleien) und vielleicht zu manchen Zeiten etwas Getreideschrot sind die Futtermittel, mit denen das Rind dieses Besitzers auskommen muß. Zum Ankauf von größeren Mengen eiweißreicherer Kraftfuttermittel kann sich der Kleinbauer nur schwer entschließen. Wird dieser daher, sei es aus Unkenntnis der Verhältnisse, oder aus anderen Gründen, dazu bewogen, schwerere anspruchsvollere Tiere zu halten, so ist er in den meisten Fällen großen wirtschaftlichen Nachteilen ausgesetzt. Und doch haben sich viele kleinere Landwirte in den letzten zwei Jahrzehnten verleiten lassen, ihr gutes kleines Landvieh ab- und größeres Vieh anderer Rassen anzuschaffen. Der Grund für diese nicht gerade erfreuliche Thatsache lag meistens in einer Selbsttäuschung. Getäuscht wurde der kleinere Besitzer durch das größere Körpergewicht, die schöneren Formen, das größere Kalb, welches geboren wurde und an den Metzger verkauft, mehr Geld einbrachte, durch die größere Frühreife. Die Mode trug das ihrige dazu bei, daß jeder Bauer, der als Landwirt etwas gelten wollte, auch das moderne große Vieh haben mußte. Der Hauptnutzen aber, den das Rind des kleineren Besitzers demselben bringen muß, die Milchnutzung blieb außer [25] Betracht, zumal die Milchverwertung, bis in die neueste Zeit herein, in den Händen der Frauen lag, die mit ihrem Widerspruch gegen die Haltung des schweren Schweizer Viehes einfach auf die Seite geschoben wurden. Die Folge davon ist, daß man in großen Gebieten, wo früher das Vogelsberger Vieh heimisch war, ausschließlich Kreuzungsvieh antrifft, das eine Grundlage für eine rationelle Zucht nicht abgiebt. Zweifelhaftes Nutzvieh, ohne bestimmten Rasse-Charakter aufzuziehen, ist aber heute nicht mehr rentabel. Wer heute eine lohnende Zucht betreiben will, muß sich für eine bestimmte Rasse entscheiden, und wer eine Rasse mit Erfolg züchten d. h. Verbessern will, muß deren Eigenschaften kennen und wissen, was er durch die Zucht erreichen will.

In den Kreisen unserer Viehhalter gilt ein jählicher Milchertrag, der das 5 fache des Körpergewichtes der Kuh ausmacht, als ein mittlerer. Man könnte demnach fordern:

von einer 600 Pfund schweren Kuh jährlich 1500 Liter,
800 2000
1000 2500
1200 3000

Prüfen wir die Vogelsberger Kuh hierauf, so ergiebt sich, daß dieselbe im Allgemeinen diese Forderung übertrifft, also zu dem guten Milchvieh gehört. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Fütterung eine entsprechende ist, denn aus nichts vermag auch eine gute Milchkuh nichts zu machen, oder mit anderen Worten, wenn man im Futter nicht die Stoffe zur Erzeugung der Milch liefert, kann auch die gute Milchkuh dauernd keine große Menge Milch erzeugen.

Wie hoch sich der Milchertrag der Vogelsberger Kuh der besseren Zuchten im Durchschnitt etwa stellt, dürfte sich am besten aus den Aufzeichnungen der Zuchtviehhöfe, soweit dieselben schon länger bestehen, ergeben. Die Kühe der Zuchtviehhöfe sind durchschnittlich ca. 800–1000 Pfund schwer, also infolge der besseren Fütterung, Haltung und Pflege schwerer wie die Durchschnittskuh [26] dieses Schlages. Nach diesen Aufzeichnungen stellten sich die Milcherträge auf:

Milchertrag auf Zuchtviehhof Zwiefalten im Jahre 1894:
Der Kuh Jährlicher Milchertrag
Liter
Fettgehalt der Milch
%
Bemerkungen
Name No des Zuchtregisters
  1. Kora
  2. Klara
  3. Alma
  4. Hertha
  5. Lotti
  6. Wachtel

14
10
4
1
24
13

3013
2912
3009
2425
2326
2255

4,0
3,8
4,6
4,1
3,7
4,5

6 Kühe: 15940 Liter.
Im Durchschnitt 1 Kuh: 2658 Liter mit 4,25 % Fett.

Der niedrigste Fettgehalt beträgt 3,7 %, der höchste 4,6 %.

Die Fütterung besteht in der Wintertrockenfütterungsperiode pro Kopf und Tag aus:

15 Pfund Heu oder Grummet,
6 Stroh und Spreu,
25 Runkeln,
2 Getreideschrot,
2 Palmkuchen,

im Sommer tritt Grünfütterung, der Hauptsache nach mit Kleegras, und ca. 1/4 Jahr Weidegang ein.

Da auf Zuchtviehhof Zwiefalten außer den eigentlichen Stammtieren noch etwa 30 Kühe des Vogelsberger Schlages gemolken werden, so dürfte es von Interesse sein, das Melkergebnis des ganzen Stalles zu erfahren. Dasselbe beträgt bei etwa 35 Kühen täglich 220 Liter, mit einem Fettgehalt von 4,1 %, wobei allerdings auch kleinere und Erstlingskühe einbegriffen sind. Der Durchschnitt des ganzen Stalles ergiebt also pro Kuh ca. 2300 Liter mit einem Fettgehalt von 4,1 %.

[27]
Zuchtviehhof Bingmühle bei Grünberg:

Die zwei besten Kühe brachten:

Mienchen (8 Jahre alt, 1028 Pfund schwer):
1890 1891 1892 1893 1894
tägl. durchschnittl. 8,4 Ltr. 7,95 Ltr. 8 Ltr. 8,88 Ltr. 7,9 Ltr.
jährlich 3020 2917 2900 3247 2890
Judith (9 Jahre alt, 850 Pfund schwer):
1890 1891 1892 1893 1894
tägl. durchschnittl. 7,3 Ltr. (gest.) 9 Ltr. 6,2 Ltr. 8,7 Ltr.
jährlich 2074 3285 2227 3132

Der Fettgehalt der Milch schwankt zwischen wenig über und unter 4 %. Für den ganzen Stall – es werden durchschnittlich 8–10 Kühe gehalten – beträgt er 4,1 %, gemolken werden täglich etwa 62 Liter, so daß das Melkergebnis des Jahrestages pro Kuh sich auf 6,55 Liter, das durchschnittliche jährliche Milchergebnis pro Kuh auf Zuchtviehhof Bingmühle auf ca. 2400 Liter, mit einem Fettgehalt von 4,1 % stellt.

Gefüttert wird auf Zuchtviehhof Bingmühle den Kühen pro Tag und Kopf:

10–12 Pfund Heu und Grummet,
10–12 Stroh und Spreu,
15–20 Runkeln,
2 Kleie,
2 Erdnußkuchen.

Im Sommer wird Grünfütterung mit Klee eingehalten, so lange dieser reicht. Regelmäßiger Weidegang findet hier nicht statt, jedoch wird dem ganzen Viehstand häufiger freie Bewegung auf dem Hof und im Garten gewährt.

Die beiden anderen Zuchtviehhöfe in Engelrod und Eschenrod sind erst in neuerer Zeit errichtet worden, haben also noch kein Zahlenmaterial nach dieser Richtung liefern können. Von anderer Seite sind mir genauere, einwandfreiere Angaben über die Milchleistung einzelner Kühe dieses Schlages nicht bekannt. Wenn [28] daher auch genauere, zahlenmäßig belegte Beobachtungen über die Milchergiebigkeit dieses Viehes nicht sehr reichlich vorliegen, so bestätigen sie doch die allgemein behauptete Ansicht, daß das Vogelsberger Vieh in seinen besseren Exemplaren ein ausgezeichnetes Milchvieh ist. Denn eine Leistung von durchschnittlich 2300–2400 Liter Milch pro Jahr, mit einem Fettgehalt von über 4 %, ist für eine Kuh von 900 Pfund eine Durchschnittsleistung, die kaum von den besten Milchviehrassen übertroffen wird. Aufgabe der Zucht wird es sein, diese Eigenschaft bei allen Tieren des Schlages so konstant zu machen, daß jeder Landwirt, der eine Vogelsberger Kuh im Stalle hat, auch die Sicherheit der hohen Milchleistung dabei erhält.

Als Mastvieh steht das Vogelsberger Rind den eigentlichen Fleischviehrassen nach. Der Hauptgrund liegt darin, daß es weniger frühreif ist. Das ist aber eine Eigenschaft, die allen Milchviehrassen eigen ist. Frühreife Tiere sind als Milchkühe kaum länger wie 4–6 Jahre zu benutzen, sie werden dann sehr leicht fleischig, lassen im Milchertrag nach, oder bleiben unfruchtbar und müssen dann durch andere ersetzt werden. Die Vogelsberger Kuh aber bleibt bei richtiger Haltungsweise bis zum 12.–14. Jahre als Zucht- und Nutztier gleich leistungsfähig. Diese Eigenschaft kommt aber auch den Anforderungen des kleinbäuerlichen Besitzers im Zuchtgebiete dieses Schlages vollkommen entgegen. Derselbe will ein Milchtier, das sich zum Zuge eignet. Muß er einmal eine Kuh, die zu fleischig, oder nicht trächtig wird, oder aus anderen Gründen abschaffen, also mästen und an den Metzger verkaufen, so ist das für ihn immer mit pekuniären Verlusten verbunden. Also der Mangel zu großer Frühreife, die eine Vorbedingung für alle Mastviehrassen ist, ist hier eher als ein Vorteil für den wirtschaftlichen Wert zu betrachten.

Und trotzdem darf man das Vogelsberger Rind, besonders aber den Vogelsberger Ochsen, wenn er ausgewachsen ist, nicht als ein schlechtes Masttier betrachten. Die Tiere dieses Schlages mästen sich leicht und geben, was besonders von seiten der [29] Metzger anerkannt wird, ein zartes, feinfaseriges Fleisch, für das sie selbst, wenn gut gemästet, einen etwas höheren Preis anlegen. Gut ausgemästete Ochsen geben von 100 Pfund Lebendgewicht 60–62 % Schlachtgewicht.

Als Zugtier ist das Vogelsberger Rind unübertroffen. Diese Zugtüchtigkeit ist aber eine Anpassung an die gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse. Da fast überall im Zuchtgebiet die Kuh zum Zuge benutzt wird, so hat sich diese Eigenschaft von Generation auf Generation vererbt und ist jetzt eine dem Schlage so sicher anhaftende Eigenschaft, wie keine andere. Unter den Vogelsberger Kühen und Ochsen trifft man wohl nie schlechte Zugtiere. Jedes einzelne Individuum ist als Zugtier, wenn angelernt, gängig, leicht lenkbar und willig, zugfest und bewältigt Lasten, die im Verhältnis zum Körpergewicht von keiner anderen Rasse fortbewegt werden. Die Vogelsberger Kühe haben auf den Zugprüfungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, wenn die konkurrierten, stets erste Preise davon getragen, so z. B. 1889 in Magdeburg und im Jahre 1895 in Köln. Auf der letzteren Ausstellung erhielten 2 Kühe des Zuchtviehhofes Bingmühle den 1. Preis. In der Preiszuerteilung heißt es: „Die beiden Vogelsberger Kühe, 8 bezw. 5 1/2 Jahr alt, 479 bezw. 488 Kgr. Schwer, zogen einen Wagen mit 45 Ctr. Beladen auf der sog. Wallstraße, 4 Kilometer lang, in 38 Minuten. Der Weg hatte zuerst eine Steigung von 1 : 2,9 und dann einen Fall von 1 : 2,8; da derselbe nur 1 Kilometer lang war, so mußten die Gespanne diesen viermal zurücklegen und dreimal drehen. Die Vogelsberger Kühe waren ausgezeichnet eingefahren, zogen sehr gut, blieben aber im ersten Hindernis (30 cm hoher Sandhaufen) stecken, aus dem sie aber ohne Hülfe wieder herauskamen.“ Bezüglich der anderen konkurrierenden Glaner Kühe heißt es, daß sie aus dem ersten Hindernis herausgegraben werden mußten.

Unterstützt und gefördert wird die Zugtüchtigkeit des Vogelsberger Viehes durch die allgemein anzutreffenden vorzüglichen [30] Hufe. Während andere Rassen, besonders wenn sie in steinigem, hartem Terrain arbeiten sollen, beschlagen werden müssen, ist das beim Vogelsberger Rind nicht nötig, geschieht auch niemals. Selbst die anderen Schläge des roten mitteldeutschen Landviehes stehen in dieser Beziehung den Vogelsbergern nach.


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