Das Schachspiel und seine Meister

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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Das Schachspiel und seine Meister
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 437–440
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Schachspiel und seine Meister.

Von Rudolf von Gottschall.      Mit Zeichnungen von A. Liebing.

„Komm, die schattige Laube hält
Fern dem sinnenden Geist jedes Geräusch der Welt,
Streut nur selten ein fliegend Blatt
Aufs gewürfelte Brett – komm, vom Gespräche matt,
Das ein modischer Kreis dort pflegt,
Das nur Richtiges rühmt, Geist nicht und Herz bewegt,
Fliehend leerer Gesellschaft Zwang,
Bannen wir an dies Brett ernsten Gedankengang!“

So konnte ich vor mehr als dreißig Jahren eine Ode an das Schach beginnen; denn es war damals noch die Zeit der Schachidyllen, wo man das „Königliche Spiel“ in aller Ruhe und Stille pflegte, wo der Name eines tüchtigen Schachspielers an seinem Wohnort bekannt war und gelegentlich auch, bei der Begegnung mit einem auswärtigen Spieler, in weiteren Kreisen genannt wurde. Im vorigen Jahrhundert konnte sogar Heinse in seinem Romane „Anastasia und das Schachspiel“ dies Spiel in einen Liebesroman verflechten. Wohl hatte man damals schon zahlreiche Lehrbücher und Musterspiele, und in dem Heinseschen Roman findet sich sogar die eingehende Zergliederung einer Spielweise, des sogenannten giuoco piano, der einfachsten und regelmäßigsten Spieleröffnung. Italiener und Franzosen waren aber in Bezug auf diese Lehrbücher und gesammelten Spielproben von Meistern den Deutschen bedeutend überlegen. Das Schachspiel war im ganzen ein häuslicher Genuß; es wurde auf Schlössern wie in Bürgerhäusern, im Familienkreise, gelegentlich wohl auch in Gasthäusern gespielt, immer aber nur zur Unterhaltung und ohne daß ein weiterer Kreis sich daran beteiligt hätte. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts dauerte diese Schachidylle, und wenn sich hier und dort einzelne Schachklubs bildeten, so ging der idyllische Reiz des Spiels, das nur zuweilen ein mehr wissenschaftliches Gepräge annahm, nicht verloren.

Seitdem ist aber eine große Wandlung eingetreten; das Schachspiel, außerordentlich vervollkommnet durch hervorragende Meister und eine fortschreitende Theorie, ist ein internationaler Sport geworden; ehrgeizige Ritter turnieren jetzt um Zeitungsruhm und hohe Geldpreise, und das Schachspiel in der stillen Laube gehört zu den patriarchalischen Vergnügungen einer längst verschollenen Zeit.

Man trete jetzt in einen größeren Schachklub - da wird man allerlei hören und erfahren, was selbst einen neuauferstandenen Philidor und andere Größen des vorigen Jahrhunderts aufs höchste befremden würde. Auch unser großes Publikum liest ja in den Schachspalten der illustrierten Blätter und der politischen Zeitungen vielerlei, worauf es sich keinen Vers zu machen weiß. Das Schachtreiben hat eben eine ganz andere Gestalt angenommen, und auch denjenigen, die nur gelegentlich von seinen Genüssen gekostet oder einen Blick in seine tieferen Rätsel gethan haben, wird es willkommen sein, etwas Näheres über diese Wandlung zu erfahren.

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Das Blindlingsspiel.   Im Schachklub.
( gemeinfrei ab 2028)

Aus dem Tabaksgewölk, das in der Regel über einer Schachgemeinde schwebt, lösen sich verschiedene Gruppenbilder ab, die man in jedem Klub beobachten kann. Da giebt es zunächst noch einige Duellanten der alten Schule, die zufrieden sind, wenn sie irgend einen Spieler am Schachbrett sich gegenüber haben und sich um alles andere, was in der Schachwelt vorgeht, nicht im entferntesten kümmern. In der Regel ist es ein bevorzugter Gegner, denn es sind Paare, die immerfort gleichsam zusammengewachsen sind; sie sind sehr eifrig in ihr Spiel vertieft, nicht weniger als die Meisterspieler, von denen ja auch der Lichtwersche Vers gilt:

„Wenn sie nicht hören, sehen, fühlen,
Mein Gott, was thun sie denn? Sie spielen.“

Jeder kennt die Redensarten des anderen auswendig; denn wie der eifrige Skatspieler, so hat auch der Schachspieler einen Hausschatz von geflügelten Worten, die er gewohnheitsmäßig in das Spiel einstreut. Die Gegner gehören oft den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten an; wie Klopstock von einer Gelehrtenrepublik sprach, so kann man auch von einer Schachrepublik sprechen. Vor einigen Jahrzehnten [438] spielte in Leipzig allabendlich ein Graf aus einer der ersten sächsischen Familien, der auch Vorsitzender der Schachgesellschaft „Augustea“ war, mit einem Markthelfer. Im Klub giebt es nur eine Rangordnung, die der guten und der schlechten Spieler.

Neben diesen harmlosen Schachkämpfern sieht man andere sich gegenübersitzen, welche mit dem Bleistift in der Hand jeden Zug, den sie selbst oder der Gegner gemacht haben, auf ein zur Seite liegendes Blatt notieren. Es sind die Mitspieler im Winterturnier, das der Klub alljährlich zu veranstalten pflegt. Da giebt es allerlei Bedingungen, denen sich die Mitspieler fügen müssen, und Preise für diejenigen, welche die meisten Partien gewinnen. Hier herrscht ein gewisser ehrgeiziger Eifer, über jeden Zug wird lange nachgesonnen und meist die Zeit nach der Uhr zugemessen. Das Spiel hat einen ernsteren Charakter, denn es handelt sich um eine Geldfrage, und in Geldsachen hört bekanntlich die Gemütlichkeit auf. Die „Kibitze“, die es beim Schachspiel wie beim Skatspiel giebt, enthalten sich hier des Hineinredens, geben nur gelegentlich durch einen halb unterdrückten Ausruf, durch ein leises Mienen- und Gebärdenspiel den kritischen Erwägungen Ausdruck, zu denen sie der eine oder der andere Zug veranlaßt hat. Die eifrigsten Zuschauer gehen an einen anderen Tisch, stellen dort die Partie auf, wie sie zuletzt stand, und beweisen im Flüsterton einigen anderen mit überlegener Einsicht, wie Schwarz oder Weiß hätte ziehen müssen, um die Partie zu gewinnen.

In einer anderen Gruppe geht es etwas lauter zu – da findet ein lebhaftes Gespräch über ein großes Meisterturnier statt, welches gerade im Gange ist, da wird gezählt und gerechnet, man erwägt die Aussichten, die der eine oder der andere berühmte Spieler hat, man gerät darüber in lebhaften Streit, und wenn man bei uns noch nicht auf einen oder den anderen wettet, wie auf die Pferde der Rennbahn, so beweist dies nur, daß der Schachsport glücklicherweise noch nicht ganz die Höhe der Entwicklung erreicht hat, zu welcher er sich noch emporschwingen kann.

Einsiedlerisch neben diesen Gruppen sitzen hier und dort einzelne in die Lektüre der Schachblätter, in das Nachspielen von Partien, in die Lösung von Problemen vertieft, oft stundenlang unbeweglich wie die Säulenheiligen und nur bisweilen einen mißvergnügten Blick auf einen unliebsamen Störer werfend, der ihnen das Licht absperrt.

Zu den großen Veranstaltungen der Neuzeit auf dem Gebiete des Schachs gehören die internationalen Meisterturniere, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Zahl und Bedeutung gewonnen haben. Es war im Jahre 1851, als ein Deutscher, der Gymnasiallehrer Adolf Anderssen, in einem solchen Turnier in London den ersten Preis gewann und seitdem als der erste der deutschen Schachspieler galt, denn auch in einem späteren Londoner Turnier 1862 und in dem großen internationalen Turnier zu Badend-Baden 1870 war er der erste Preisträger. Bis zur Gegenwart ehrt ihn die ganze deutsche Schachgemeinde mit allen ihren neuauftauchenden Größen als den Meister. Professor Anderssen ruht schon seit 1879 auf dem Breslauer Friedhof, aber die Pietät der Nachstrebenden feiert sein Angedenken, in fast allen Klubzimmern hängt sein Bildnis. Der biedere, kurzangebundene, etwas barsche Mathematiker war ritterlich im Schachspiel wie die höflichsten Meister der Neuzeit und allgemein beliebt. Im Jahre 1877 veranstaltete der Leipziger Schachklub „Augustea“ zur Feier der 50jährigen Wirksamkeit des Meisters eine Anderssenfeier[1], bei welcher die namhaftesten Spieler sich in einem großen Turnier bekämpften. Zwei Jahre darauf, 1879, wurde in Leipzig der Deutsche Schachbund gegründet, der auch in der Gegenwart noch fortbesteht, bis vor kurzem unter der thatkräftigen Leitung des schon damals zum Generalsekretär erwählten Hermann Zwanzig, dessen Tod wir leider zu Anfang dieses Jahres unsern Lesern melden mußten. Es gab schon früher einzelne landschaftlich beschränkte Schachverbindungen, einen westdeutschen, einen mitteldeutschen Schachbund u. a.; aber erst auf dem Leipziger Rütli versammelten sich die Vereine zum Bunde, wurde die große Eidgenossenschaft der deutschen Schachspieler ins Leben gerufen.

Der Deutsche Schachbund umfaßt gegenwärtig ungefähr 85 Schachklubs, er hat seine Satzungen, denen sich auch die ausländischen Meister unterwerfen müssen, wenn sie zu seinen Turnieren kommen. Durch ihn hat das Schachleben in Deutschland großen Aufschwung genommen; freilich hat es auch immer mehr sein früheres häusliches Gepräge verloren und ist an die Öffentlichkeit gedrängt worden. Der Schachbund veranstaltet alle zwei Jahre an diesem oder jenem Vorort große Turniere, mit welchen Generalversammlungen verbunden sind. Die Turniere bestehen aus einem Meisterturnier, einem Hauptturnier und kleineren Nebenturnieren.

Zum Meisterturnier werden die bisher anerkannten Schachspieler aus Deutschland und dem Ausland zugelassen; ferner ist zur Teilnahme an demselben derjenige berechtigt, der im letzten Hauptturnier den ersten Preis gewonnen hat, in zweifelhaften Fällen entscheidet der Ausspruch des Komitees. Es hat sich also allmählich eine gewisse Schachhierarchie herausgebildet und man muß eine Art von Examen bestehen, um die höheren Weihen als Schachmeister zu erhalten. Im Meisterturnier spielt jeder mit jedem; im Hauptturnier wird in Gruppen gespielt und die Sieger der einzelnen Gruppen kämpfen dann miteinander um die Preise. Für jeden Zug ist eine bestimmte Zeit festgesetzt (zwanzig Züge in der Stunde); sie wird durch die sogenannten Schachuhren geregelt, die ersparte Zeit kommt den anderen Zügen zugute. Zeitüberschreitung zieht den Verlust der Partie nach sich. Die Frage wird in streitigen Fällen von erwählten Schiedsrichtern entschieden. Die Spielregeln sind genau festgestellt, es werden keinerlei besondere Abmachungen geduldet. Solche Turniere haben in Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg, Frankfurt a. M., Breslau, Dresden stattgefunden und in einigen Städten hat sich ein zahlreiches Publikum dazu gedrängt. Die ausländischen Meister, namentlich die berühmten englischen Schachspieler, sind dabei in letzter Zeit von den jüngeren deutschen Kräften geschlagen worden. Neuerdings hat man beschlossen, in den Jahren zwischen den internationalen Turnieren nationale einzuschieben, bei denen nur deutsche Spieler Zutritt finden; das erste derartige Turnier hat im August vorigen Jahres in Kiel stattgefunden. Auch die einzelnen Schachklubs veranstalten bei Jubiläumsfesten und sonstigen Anlässen Turniere. Die Lanzen splittern daher gehörig in deutschen Landen und von Jahr zu Jahr mehren sich die preisgekrönten Häupter. Nun giebt es aber auch im Ausland, besonders in England und Amerika, häufige Turniere, und deutsche Kämpen haben besonders in England schon mehrfach erste Preise davongetragen.

Neben den Turnieren beschäftigen aber auch die Matchspiele die Aufmerksamkeit der Schachfreunde, es sind dies Wettkämpfe von zwei Gegnern, bei denen eine bestimmte Zahl gewonnener oder zuerst gewonnener Partien den Ausschlag giebt. In der Regel sind die Preise, welche von Schachklubs oder Schachmillionären gestiftet oder durch Sammlungen aufgebracht sind, sehr hoch. In diesen Matchspielen prägt sich die Eigenheit der Spieler noch schärfer aus als bei den Turnieren, sie haben sich gegenseitig die beliebtesten Fechterstellungen abgelauscht und suchen sich in dieser oder jener Weise die Paraden zu durchhauen. Es kommt dabei sehr viel auf die Spielweise an. Schon bei den Turnieren zeigt es sich oft, daß der eine gegen einen andern niemals aufkommen kann, während er doch die Sieger über denselben zu besiegen pflegt. Die Persönlichkeit der Feldherren entscheidet ja auch oft im Kriege, und einem Fabius Cunctator gewinnt ein Hannibal, der sonst die Feinde über den Haufen stürmt, keinen Sieg ab. Die Matchspiele berühmter Schachmeister gehören zu den großen Sensationsstücken des Schachspiels. Solches Aufsehen erregte 1858 der Wettkampf des deutschen Meisters Anderssen gegen den jungen genialen Amerikaner Morphy in Paris, bei welchem der Deutsche unterlag. Vor einigen Jahren (1886) erregte der große Match zwischen Steinitz und Zukertort, der in Nordamerika ausgefochten wurde und bei dem der letztere die Waffen strecken mußte, die allgemeinste Teilnahme und erst in den letzten Tagen hielt der Wettkampf zwischen Steinitz und Lasker die Schachwelt in Spannung. Die Schachmeister sind jetzt mehr oder weniger zu Weltreisenden geworden, die von einem Festland zum andern hinüberschiffen. Für die internationale Bedeutung des Schachspiels ist es bezeichnend, daß der Schachklub zu Habana auf der Insel Kuba jetzt ein Mittelpunkt der Matchspiele geworden ist und von ihm Einladungen an russische Meister wie Tschigorin und an jüngere deutsche Schachspieler ausgegangen sind.

Eine eigentümliche Abart, die das Schach neuerdings gezeitigt hat, ist das Blindlingsspiel. Wer einer solchen Schaustellung beiwohnt, der wird schon durch die Einrichtung des Spielraums einen befremdenden Eindruck erhalten. An einem langen Tische sitzen die Spieler, welche sich bereit erklärt haben, Partien gegen den Blindlingsspieler zu übernehmen, sie haben die Schachbretter vor [439] sich. Aber der Partner scheint zu fehlen, sie scheinen mit Geistern zu kämpfen, die in der leeren Luft hausen. Doch in einem Winkel, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, sitzt der Meister, der, ohne auf irgend ein Brett zu sehen, alle diese Partien spielt und in der Regel die große Mehrzahl derselben gewinnt.

Die Bretter sind numeriert, und von dem einen zum andern gehend, sagt irgend ein Mitglied des Klubs die Züge auf denselben an, worauf der Blindlingsspieler den Gegenzug nach kürzerem oder längerem Besinnen angiebt. Es ist klar, daß diese Art zu spielen einen großen geistigen Kraftaufwand verlangt, eine gesammelte Thätigkeit der inneren Anschauung; dem Blindlingsspieler müssen alle diese Partiestellungen in jedem Augenblick gegenwärtig sein und er darf sich durch den kaleidoskopischen Wechsel derselben nie verblüffen lassen. Ein hoher Grad von Geistesgegenwart und nicht zu verwirrender Ruhe und Klarheit gehört dazu, um alle diese Spiele in ihrem jedesmaligen Stand, im bisherigen Entwicklungsgang und in den sich darbietenden Möglichkeiten der Weiterführung zu beherrschen – man bedenke nur, wie manche Fehler und Mißgriffe, ja Zerstreutheiten sich selbst Meister zu Schulden kommen lassen, welche das Schachbrett vor Augen haben und einem einzigen Gegner gegenübersitzen! Von vielen Blindlingsspielern ist bekannt, daß sie sich am Tage der Vorstellung geistig „trainieren“, um am Abend recht sattelfest zu sein. Ein vorzüglicher Blindlingsspieler war der Deutsche Louis Paulsen, der in Amerika mit seiner Kunst Triumphe feierte, und auch Zukertort hat darin oft seine siegreiche Meisterschaft bewiesen. Es ist natürlich, daß die Gegner des Blindlingsspielers nicht gleichstehende erste Schachhelden sein können, eine Regel, die auch bei einer andern Kraftleistung der Schachmeister gilt, bei dem Simultanspiel, welches darin besteht, daß ein einzelner gleichzeitig eine Mehrzahl von Partien, aber sehenden Auges spielt. Diese Zahl kann eine weit größere sein als beim Blindlingsspiel, hier werden höchstens zwölf, dort in der Regel mehr als zwanzig Partien in Betracht kommen. Der Geistesgegenwart bedarf auch der Simultanspieler; doch ihm genügt meistens der rasche Blick, mit dem er sich den Charakter der Partie und der Stellung stets frisch vergegenwärtigt. Der Simultanspieler geht von einer Partie zur andern und macht die Gegenzüge selbst.

Sehr verbreitet sind gegenwärtig auch die Korrespondenzpartien, welche zwischen verschiedenen Klubs, bisweilen auch zwischen einzelnen Meistern gespielt werden. Hier übermittelt die Post die geschehenen Züge und die Bedenkzeit beläuft sich auf mehrere Tage. Eine größere Vertiefung des Spiels als bei den Meisterturnieren, eine genauere Durchprüfung aller Möglichkeiten wird durch die längere Zeitdauer ermöglicht. In der Regel wählen die Klubs Spielkomitees, die sich gegenübertreten, und wenn in den Klubs selbst bisweilen sogenannte „Konsultationspartien“ veranstaltet werden, bei denen auf beiden Seiten sich mehrere Spieler über die Züge beraten, so haben die Korrespondenzpartien denselben Charakter, nur daß bei ihnen die Einheit von Zeit und Ort nicht gewahrt ist und die Post in Mitleidenschaft gezogen werden muß.

Neben der praktischen Partie, welche vorzugsweise in den Klubs und bei den Kongressen gepflegt wird, spielt das Problem im Schachleben der Gegenwart eine große Rolle, eine viel größere als früher. In der Form des Problems wird das edle Schach insbesondere von den illustrierten Zeitschriften und so auch von der „Gartenlaube“ gepflegt. Diese Schachaufgaben zu lösen, ist eine willkommene Beschäftigung für ländliche Einsamkeit, für müßige Stunden, für die stillen Denker, die sich vom Lärm der Welt zurückgezogen haben, es giebt aber auch geübte Leser, welche den gordischen Knoten der Probleme sehr rasch zu zerhauen wissen. Das Problem hat man mit Recht die Poesie des Schachspiels genannt; hier herrscht die freie geniale Erfindung, das Ueberraschende, Blendende, während die Partien sich längere Zeit in einem durch die Theorie vorgezeichneten Gang bewegen und auch später das Streben nach strenger Regel jedes kühnere, irgendwie zweifelhafte Wagnis ausschließt. Bei den großen Meisterturnieren wird die Spielweise um so leichter ins Nüchterne verfallen, als der Hauptzweck, den Preis zu erlangen, ebenso durch kleine, allmählich eingeheimste Vorteile wie durch glänzendes Spiel erreicht werden kann. In der That findet man, wenn man die Partien der Meisterturniere durchspielt, recht viel dürre Heide, während sich geniale Wendungen häufig in den Spielen einzelner junger Kräfte zeigen, die man aber trotz mancher glänzend gespielter Partien nicht in den Reihen der ersten Preisträger trifft. Um so mehr tritt das Problem in sein Recht, das Epigramm des Schachspiels. Es ist ein künstlich zusammengestelltes Endspiel, das in einer bestimmten Zahl von Zügen, zwei, drei, vier, selten mehr, zum Abschluß, zum „Matt“ führen soll. Es ist natürlich, daß diese Züge nicht auf der Hand liegen dürfen, sondern daß der Scharfsinn herausgefordert wird, sie herauszufinden. Je nach den Zügen des Gegners muß auch der Anziehende verschiedene Züge machen, die aber den Abschluß in der von Hause aus bestimmten Zahl erreichen müssen. Das macht den Reichtum der sogenannten Varianten aus, je mannigfacher und überraschender sie sind, desto mehr glänzt das Genie des Erfinders. Durch labyrinthische Verschlingungen, die ein kühner Zug entwirrt, durch gewagtes Opfern von Figuren üben viele Probleme auf die Phantasie der Schachfreunde eine ebenso anregende wie befriedigende Wirkung aus. Dem Wesen der Zeit gemäß findet auch auf dem Gebiete des Problems großer Wettkampf und eifrige Preisjagd statt. Die Problemturniere sind noch häufiger als die Meisterturniere, mit denen sie in der Regel verbunden werden. Ueber die Preisverteilung entscheiden mehrere Preisrichter, die durch Kenntnis des Problemwesens oder auch als Schöpfer auf diesem Gebiete ihre Berechtigung dazu erwiesen haben. Die Problemkunst hat nicht nur ihre Regeln, sondern auch ihre verschiedenen Richtungen, so daß hier bei den Preisverteilungen die Sicherheit fehlt, mit welcher bei gespielten Partien die Preise an die unzweifelhaften Gewinner vergeben werden, aus diesem Grunde können auch die Urteile höchst unparteiischer Preisrichter von der einen oder andern Seite angefochten werden. Bei den Schachkongressen findet in der Regel auch ein kleines Lösungsturnier statt – den Preis erhält dabei derjenige, welcher ein zu diesem Zweck ausgewähltes Problem am raschesten mit vollständiger Angabe aller Varianten löst.

Das Schachleben steht, wie wir sehen, in voller Blüte, überall Klubs und Turniere, und die Probleme wuchern in allen Zeitungsspalten. Die Namen berühmter Schachspieler liest man fast so oft in den Blättern wie die Namen berühmter Schauspieler, und allerlei Auswüchse, welche mit dem Streben nach Tagesruhm verbunden sind, lassen sich von den einen so wenig fernhalten wie von den anderen. Sie hängen auch damit zusammen, daß das Schachspiel nicht bloß ein Sport, sondern auch ein Erwerbszweig geworden ist – weniger in Deutschland, wo die älteren Schachmeister auch in bürgerlichen Stellungen ihre Tüchtigkeit bewährten, als in England und Amerika, wo es schon seit längerer Zeit Kongreßreisende giebt, die bald auf der einen, bald auf der andern Halbkugel auftauchen, wo nur irgend ein Preis in Sicht ist, und die, wenn sie keine Preise gewinnen, bisweilen in großer Verlegenheit sind, wie sie sich wieder nach Hause finden sollen.

Durch den bisherigen Charakter unserer Schachklubs sind die Frauen ausgeschlossen, keineswegs durch den Charakter des Spiels und ihre eigene Fähigkeit für dasselbe. Die jetzige Frauenbewegung wird allmählich auch das „Königliche Spiel“ in ihre Kreise ziehen. Namhafte Problemdichterinnen giebt es in England, aber auch in Deutschland, und es haben auch schon Frauenschachturniere in Berlin und London stattgefunden. Die reiche Phantasie, welche sich in den Werken der schriftstellernden Frauen kundthut, kann auch im Schachspiel zur Geltung kommen, und die kleinen Listen der versteckten Pläne und maskierten Züge darf man den Frauen im Schachspiel wohl zutrauen.

Fragen wir nach den Namen der berühmten Schachmeister der neueren Zeit, so haben so viele hier und dort Erfolge errungen, erste Preise gewonnen und Zeitungsstaub aufgewirbelt, daß nur ein langes Namenregister allen diesen Preisträgern gerecht werden könnte. Hier gilt es, einige Namen hervorzuheben, deren Ruf unbestreitbar ist. Am hellsten leuchtet das Doppelgestirn Anderssen–Morphy, und die geniale Spielweise dieser beiden Meister ist bis auf den heutigen Tag kaum übertroffen worden. Adolf Anderssen (1818 bis 1879), wie schon erwähnt, Oberlehrer in Breslau, unterlag 1858 im Wettkampf gegen den jungen amerikanischen Juristen Morphy, in einer Weise, die seinen Weltruhm gefährdete, doch stellte er denselben durch zwei gewonnene erste Preise in großen Meisterturnieren wieder her. Paul Morphy (1837 bis 1884), in New Orleans geboren, glich einem glänzenden Meteor: so rasch, wie es emporstieg, so rasch erlosch es auch wieder. Der zwanzigjährige Jüngling errang beim Kongreß zu New York den ersten Preis, und zwar ließ er alle Mitspieler weit [440] hinter sich. In Europa schlug er nacheinander in Zweikämpfen Harrwitz, Löwenthal und Anderssen – und nachdem er durch diesen letzten Sieg den Zenith seines Schachruhms erreicht hatte, zog er sich auf einmal gänzlich vom Schachspiel zurück und widmete sich seiner Advokatenpraxis. Er hatte kaum den Schachthron bestiegen, als er schon Krone und Scepter wieder niederlegte. Man hörte nur noch einmal von ihm, als er Ende der sechziger Jahre in eine schwere Krankheit verfiel, von welcher er sich nicht wieder erholte, er starb in geistiger Umnachtung.

Wie Anderssen und Morphy, so haben später zwei andere Meister, Zukertort und Steinitz, in Amerika um den Ruhm gekämpft, die ersten Schachmeister der Welt zu sein. Zukertort (1842 bis 1888) gehörte der Schule Anderssens an und hatte in Breslau, wo er Medizin studierte, vielfach mit dem Meister gespielt. Als freiwilliger Arzt beteiligte er sich an dem Feldzug von 1866, begab sich dann 1867 nach Breslau, wo er als Schachlitterat lebte, und 1872 nach London, wo er dauernd seinen Wohnsitz nahm. Bei verschiedenen Meisterturnieren hatte er erste Preise gewonnen, besonders glänzend in London 1883, und in zahlreichen Wettkämpfen erste Meister besiegt. Steinitz, den er in dem Londoner Turnier in vier Gewinnpartien überholt hatte, forderte jenen 1886 zu einem großen Match nach Amerika, wo Zukertort gänzlich geschlagen wurde, er konnte dies nie ganz verwinden und starb einige Jahre darauf. Er war schon kränklich gewesen in letzter Zeit und dies mag auch zum Teil an seiner letzten Niederlage schuld gewesen sein. Der Sieger, der über ein Vierteljahrhundert lang allgemein für den ersten Schachmeister der Welt galt, Wilhelm Steinitz, ist 1837 zu Prag geboren, machte schon nach 1860 in der Wiener Schachgesellschaft von sich reden, kam 1862 nach London und 1884 nach New York. Wie er Zukertort schlug, so hat er auch später den Russen Tschigorin, den stärksten Spieler des Czarenreichs, in zwei Wettkämpfen 1889 und 1892 geschlagen. Und erst in den letzten Tagen hat der Meister seinen Meister gefunden in dem noch nicht sechsundzwanzigjährigen Neumärker Emanuel Lasker, gegen den er in einem gewaltigen Match zu New York, Philadelphia und Montreal unterlag. Lasker, geboren am 24. Dezember 1868 zu Berlinchen, ist von Beruf Mathematiker und hat außer diesem jüngsten und glänzendsten bereits eine ganze Reihe von Erfolgen auf dem Schachbrett errungen.

Von älteren Schachmeistern erwähnen wir noch den stillen bescheidenen Louis Paulsen (1833 bis 1891), der seit 1854 in Amerika lebte, seit 1861 in Nassengrund, Lippe-Detmold; er war Sieger in zahlreichen Turnieren und Wettspielen, auch mit Anderssen, und ein ausgezeichneter Blindlingsspieler, als welcher er besonders in Amerika Aufsehen erregte.

Von der nachstrebenden begabten Jugend hat sich außer Lasker Siegfried Tarrasch, geboren 1862 zu Breslau, jetzt Arzt in Nürnberg, großen Ruf erworben, da er in drei Turnieren hintereinander, in Breslau 1889, in Manchester 1890 (beide Male ohne Verlustpartie) und in Dresden 1892, den ersten Preis errang. Doch auch andere Namen jüngerer Meister verdienten hier genannt zu werden, denn alljährlich tauchen neue Talente auf und die auswärtigen Meister gehen jetzt mit Zagen zu einem deutschen Turnier, wo ihnen stets neue, hochbegabte und oft siegreiche Spieler entgegentreten.