Das Pfingstbier der Halloren
Das Pfingstbier der Halloren.
Die Halloren sind jener alte in Halle ansässige Volksstamm,
dessen Herkunft man bisher trotz vieler Bemühungen nicht
mit Sicherheit hat bestimmen können. Die einen betrachten sie
als Abkömmlinge der alten wendischen Bevölkerung,
andere
wollen keltisches Blut
in ihnen konstatieren,
und eine dritte Meinung
geht dahin, daß
sie die Nachkommen
des unfreien Teiles
der ältesten fränkischen
Kolonie seien.
Sie bildeten in früherer
Zeit eine abgeschlossene
Gemeinde
für sich und sahen
mit Sorgfalt darauf,
daß sie sich nicht
durch Heirat mit den
anderen Bewohnern
Halles vermischten.
Auf die Dauer war
dies Prinzip jedoch
nicht gut durchführbar.
Welcher Abkunft
sie deshalb auch
immer sein mögen –
ungemischtes Blut
fließt wohl schwerlich
noch in einer
der heutigen Hallorenfamilien. – Die Halloren haben sich ihre
alte, eigentümliche Tracht und manche Besonderheit in ihrer
Lebensführung bewahrt. Früher waren sie ohne Ausnahme
Salzwirker von Beruf. Seitdem aber die Hallische Saline ihre
einstige Bedeutung zum größten Teil eingebüßt hat, ist
die Anzahl der Salinenarbeiter
eine ungleich geringere geworden.
Die Halloren sahen
sich genötigt, auch zu anderen
Berufsarten zu greifen. Sie
dienen jetzt in erster Linie bei
Begräbnisfeierlichkeiten als
Träger des Sarges, wozu
ihre stimmungsvolle Kleidung,
die dann natürlich ganz in
Schwarz gehalten ist, wie geschaffen
erscheint. Für gewöhnlich
ist diese Kleidung
allerdings eine überaus farbenfrohe.
Sie tragen langschößige
Röcke aus blauem, rotem, lila
oder rosa Tuch, das unten
an den Aermeln mit Pelz besetzt
ist; bunte Seidenwesten
mit großen Silberknöpfen und
auf dem Haupt schwarze Dreimaster
aus Filz. Ihre schwarzen
Sammethosen reichen ihnen
bis zum Knie, daran schließen
sich weiße Wadenstrümpfe. Die
Füße sind mit Schnallenschuhen
bekleidet.
Von den mannigfachen Sitten und Gewohnheiten, welche die Halloren aus alter Zeit bis auf den heutigen Tag bei behalten haben, ist wohl die Feier des sogenannten Pfingstbieres die bekannteste. Vierzehn Tage nach Pfingsten wird das fröhliche Fest von der Salzwirkerbrüderschaft begangen. Es hat seinen Ursprung in einem alten Abkommen, welches den nahe bei Halle gelegenen staatlichen Gutshof Giebichenstein verpflichtet, den Halloren alljährlich zu Pfingsten eine bestimmte Menge Bier zu spenden. Bis in die vierziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein wurde das Bier auch pünktlich zu jedem Pfingstfest in natura. geliefert. Dann, als die Giebichensteiner Gutsbrauerei einging, wandelte man die Spende in eine entsprechende Geldsumme um, welche die Halloren noch heute beziehen und für welche sie sich im „Paradies“, dem ältesten Schanklokal der Stadt Halle, das zugleich einen der schönsten Restaurationsgärten sein eigen nennt, ihr Pfingstbier herrichten lassen.
Im heurigen Jahre wurde das Fest mit besonderem Pomp begangen. Es war am 3. Juni in den ersten Nachmittagsstunden, als sich die festlich gewandeten Nachkommen der Ureinwohner Halles in dem ehrwürdigen Hofe des alten Residenzgebäudes einfanden. Die jüngeren unter ihnen hatten sich statt der Dreimaster frische Kränze von Frühlingsblumen aufs Haar gelegt und trugen blütenumrankte Thyrsusstäbe. Viele unter den älteren waren mit den Abzeichen ihrer besonderen Würde versehen. Die schönen, wertvollen Silberbecher, welche die Brüderschaft ihr eigen nennt, wurden aus der Residenz, wo sie gewöhnlich aufbewahrt werden, hervorgeholt und mit den ersten kühlen Tropfen gefüllt, die bei der großen Hitze doppelt labend waren. Auf ihre silbernen Pokale sind die Halloren nicht wenig stolz. Sie haben sie bei den Huldigungen, welche sie jedem preußischen König persönlich darbringen dürfen, als Zeichen fürstlichen Wohlwollens empfangen, jedesmal zugleich mit einer kostbar gestickten Fahne.
Man reichte die Pokale, von denen der ausnehmend prächtige, [438] welchen Kaiser Friedrich geschenkt hat, mit besonderer Begeisterung gepriesen wurde, herum und labte sich, bis die lichtgekleideten Hallorenmädchen in Wagen herbeigefahren kamen und somit der Umzug beginnen konnte. Unter Vortritt des sogenannten „Boten“ mit dem lenkenden Stab nahm die Musikkapelle Aufstellung; es folgten der Hauptmann der Brüderschaft, die Vorstände, der Fahnenträger mit der neuen Fahne Kaiser Wilhelms II, sodann die Kranzjungfrauen in Wagen. Es läßt sich schwerlich etwas Lieblicheres denken als so ein frisches Hallorenmädchen in seiner überaus kleidsamen Stammestracht.
Es trägt einen steifen, hellblauen Glockenrock mit einer darüber geworfenen Spitzenhülle. Ein Mieder von der gleichen Farbe legt sich um die Brust; daraus hervor, sich leicht um Arme und Nacken schmiegend, bauscht sich ein reichgesticktes weißes Hemd. Auf dem Haar sitzt ein prächtiges Häubchen aus Goldfiligran, und um den Hals sind kostbare goldene Kettchen gewunden. Im Zuge stellten sich hinter den jungen Mädchen noch mehrere Fahnenträger auf, dann kamen die übrigen Mitglieder der Brüderschaft, alt und jung. Die Musikkapelle setzte ein und der Zug verließ den Hof der Residenz; durch die dichtgedrängten Scharen der Hallischen Bevölkerung, die dem Treiben der Halloren immer mit regem Interesse folgt, nahm er seinen Weg über die Oleariusstraße am alten Solbrunnen vorbei nach dem schattigen Garten des „Paradieses“, wo er sich dann auflöste. Man nahm an den festlich bereiteten Tischen unter den prachtvollen Bäumen des Paradiesgartens Platz, um beim Klang der Kapelle einen der silbernen Humpen nach dem andern in fröhlicher Stimmung zu leeren. Der Hauptmann der Brüderschaft trat nach einiger Zeit auf das Podium und brachte ein Hoch auf den Kaiser aus, der an den Sitten der Halloren besonderen Anteil nimmt. Darauf ergriff der würdige Obersiedemeister Andreas Ebert, dessen imposante, eindrucksvolle Gestalt allen Hallensern aufs beste bekannt ist, die Fahne des Kaisers, um sie zu den Klängen der Musik auf kunstvolle Weise in schönen, rhythmischen Bewegungen zu schwenken. Diese alte Gepflogenheit, die, wenn sie zu ihrer vollen Wirkung kommen soll, eine besondere Künstlerschaft erheischt, ist mit der Feier des Pfingstbieres von alters her aufs engste verknüpft und macht sozusagen ihren Höhepunkt aus. Der „alte Ebert“ in seinem farbenprächtigen, ordengezierten Kleide, den Dreimaster auf dem mächtigen Haupt, schwenkte die Fahne mit geradezu überraschender Kunstfertigkeit.
Nach der Beendigung des Fahnenschwenkens schickte man sich in lustiger Stimmung an, einer zweiten alten Gepflogenheit nachzukommen, nämlich dem Tanz um die Pfingstmaie. Das gab ein froh bewegtes Bild von einem Farbenspiel, wie es dem Auge nur selten geboten wird. Die Salzbrüder mit ihren langen Röcken schwangen in ihren Armen die schönen Hallorenmädchen, die in Lichtblau und Weiß erglänzten. Auch der eigenartige Zappeltanz, ein Nationaltanz der Halloren, that gute Wirkung. Seit jeher wird er von den beiden Platzknechten beim Pfingstfeste ausgeführt. Ringsum aber war das junge Grün des Frühlings und duftende Blüten. Hier an den Tischen ließ sich die Jugend den altberühmten, reich mit Rosinen versetzten „Hallorenkuchen“ munden, dort plauderten in Gruppen zusammenstehend die älteren der Halloren, indem sie die silbernen Pokale kreisen ließen und sich voll sehnsüchtiger Erinnerung in die goldenen Tage zurückversetzten, wo sie einst selber als junge Bursche um die Pfingstmaie tanzten, jauchzend und blühende Mädchen im Arm. Jene aber, die damals die blühenden Mädchen waren, saßen nun still am dampfenden Kaffeetisch und sahen glücklich dem Tanz ihrer gesunden Söhne und Töchter zu. – Wenn die Jugend einmal beim Tanzen ist, so findet sie so schnell kein Ende, und die Hallorenjugend macht keine Ausnahme darin. So kam denn die Dämmerung und der Abend herauf, und der Mond und die zahllosen Sterne begannen herrlich zu glänzen, die jungen Halloren und ihre Mädchen aber wiegten sich noch immer im Takt der Musik, lachten und sangen und waren glücklich. Ob sich auch hin und wieder ein hübsches Paar verstohlen tiefer in den Garten hinein verirrte, um dort dem schmelzenden Klang der Nachtigall zu lauschen, das weiß ich nicht. Dies aber weiß ich: noch mancher, mancher silberne Humpen köstlichen Pfingstbieres wurde über Nacht geleert.